Der Arbeitgeber zwischen Pflicht und Kür - Wege zur
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Der Arbeitgeber zwischen Pflicht und Kür - Wege zur
„Ich kann nicht mehr!“ Zur rechtlichen Bedeutung sogenannter Überlastungsanzeigen durch Arbeitnehmer Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Jörn Hülsemann, Hameln Folgen von Belastungen Durch die Zunahme von Arbeitsbelastungen werden Beschäftigte an ihre Leistungs- und Belastbarkeitsgrenzen geführt. Arbeitsbelastungen können u.a. durch Personalmangel oder Defizite bei der Organisation des Personaleinsatzes entstehen. Dies kann zu Fehlern in der Erledigung der Arbeitsaufgaben führen und negative Folgen für alle Beteiligten haben. Dr. Hülsemann Was ist überhaupt geschuldet? Der Arbeitsvertrag verpflichtet den Arbeitnehmer, die versprochenen Dienste zu leisten, § 611 I BGB. Die Art und der Umfang der Tätigkeit werden in aller Regel durch den Arbeitsvertrag beschrieben. Dem Arbeitgeber steht ergänzend und ausfüllend ein Direktions- oder auch Weisungsrecht zu. Aus der Weisung des Arbeitgebers können sich weitere Konkretisierungen ergeben. Dr. Hülsemann Und wieviel Arbeit ist zu leisten? Tarifverträge oder Arbeitsverträge regeln, wie lange jemand zu arbeiten hat. Betriebsvereinbarungen und Arbeitsverträge regeln, wann jemand zu arbeiten hat. Das Arbeitszeitgesetz regelt, wann und wie lange jemand arbeiten darf. Nirgendwo steht, wie viel Arbeit ein Arbeitnehmer in dieser Zeit zu leisten hat. Wie hoch hat der workload zu sein? Dr. Hülsemann Das Bundesarbeitsgericht spricht Ein Arbeitnehmer muss tun, was er soll – und zwar so gut, wie er kann. BAG, Urteil v. 17.01.2008, A AZR 536/06 Er soll sich mithin anstrengen, eine „subjektive Mühewaltung“ zeigen. Niemand – auch das Bundesarbeitsgericht nicht – erwartet, dass man sich überarbeitet. Dr. Hülsemann Und wenn es nun doch zu viel wird? Aus dem Arbeitsvertrag resultieren wechselseitige Nebenpflichten für die Vertragsparteien, § 241 BGB: „Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten.“ Der Arbeitgeber schuldet Fürsorge. Er darf den Arbeitnehmer daher nicht überfordern. Der Arbeitnehmer schuldet Loyalität – seinem Arbeitgeber und sich selbst gegenüber. Er muss den Arbeitgeber daher auf bestehende Gefahren hinweisen. Dr. Hülsemann Die Überlastungsanzeige Das Instrument der Überlastungsanzeige ist gesetzlich nicht gesondert geregelt. Man versteht hierunter allgemein eine Mitteilung von Arbeitnehmern über nicht mehr akzeptable Arbeitsbedingungen an den Arbeitgeber, vor allem wegen einer Arbeitsüberlastung. Die Form ist nicht vorgeschrieben. Die Einhaltung der Schriftform ist zu empfehlen. Eine Kopie der Anzeige sollte dem BR/PR oder MAV zugeleitet werden. Dr. Hülsemann Die Überlastungsanzeige Ist ein Instrument, um Vorgesetzten gegenüber darauf hinzuweisen, dass das gebotene Niveau der Auftragserfüllung angesichts des Arbeitsanfalls oder der personellen Besetzung des betreffenden Bereichs nicht jederzeit gewährleistet ist. Sie stellt den betreffenden Mitarbeiter keineswegs von der Pflicht der Aufgabenerfüllung frei. Sie betont mögliche Gefahren, insbesondere Haftungsrisiken für den Arbeitgeber und/oder den Arbeitnehmer. Dr. Hülsemann Die Reaktion des Arbeitgebers Guter Arbeitgeber • Greift die Überlastungsanzeige auf • Beschäftigt sich mit den geschilderten Auswirkungen • Geht den Ursachen auf den Grund • Verbessert die Situation Böser Arbeitgeber • Versteht die Anzeige an Kritik • Sieht als Grund für die Überlastung des AN dessen persönlicher Schwäche • Ignoriert die geschilderte Umstände und Auswirkungen • Leitet die Kündigung ein Dr. Hülsemann Recht zur Anzeige? Das Stellen einer Überlastungsanzeige beim Arbeitgeber ist die berechtigte Wahrnehmung eines Rechts, an die der Arbeitgeber keine Sanktionen knüpfen darf, § 612a BGB. Gerade die Anzeige gegenüber der Aufsichtsbehörde setzt doch den innerbetrieblichen Klärungsversuch voraus. § 17 ArbSchG. Rechte der Beschäftigten: (2) Sind Beschäftigte […] der Auffassung, dass die vom Arbeitgeber getroffenen Maßnahmen […] nicht ausreichen, um die Sicherheit […] zu gewährleisten, und hilft der Arbeitgeber darauf gerichteten Beschwerden […] nicht ab, können sich diese an die zuständige Behörde wenden. Dr. Hülsemann Pflicht zur Anzeige! § 241 BGB. Pflichten aus dem Schuldverhältnis. (2) Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten. § 242 BGB. Leistung nach Treu und Glauben. Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Nochmals: der Arbeitnehmer schuldet Loyalität – seinem Arbeitgeber, dem Kunden und sich selbst gegenüber. Dr. Hülsemann Pflicht zur Anzeige! § 15 ArbSchG. Pflichten der Beschäftigten (1) Die Beschäftigten sind verpflichtet, nach ihren Möglichkeiten sowie gemäß der Unterweisung und Weisung des Arbeitgebers für ihre Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit Sorge zu tragen. Entsprechend Satz 1 haben die Beschäftigten auch für die Sicherheit und Gesundheit der Personen zu sorgen, die von ihren Handlungen oder Unterlassungen bei der Arbeit betroffen sind. Dr. Hülsemann Pflicht zur Anzeige! § 16 ArbSchG. Besondere Unterstützungspflichten (1) Die Beschäftigten haben dem Arbeitgeber oder dem zuständigen Vorgesetzten jede von ihnen fest-gestellte unmittelbare erhebliche Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit sowie jeden an den Schutzsystemen festgestellten Defekt unverzüglich zu melden. (2) […] sollen die Beschäftigten von ihnen festgestellte Gefahren für Sicherheit und Gesundheit und Mängel an den Schutzsystemen auch der Fachkraft für Arbeitssicherheit, dem Betriebsarzt oder dem Sicherheitsbeauftragten […] mitteilen. Dr. Hülsemann Und jetzt? Der Arbeitnehmer lehnt sich entspannt zurück. Er hat ja Bescheid gesagt… Schließlich ist jetzt der Arbeitgeber wieder voll verantwortlich, oder? Ist der Arbeitnehmer wirklich „raus aus der Nummer?“ Dr. Hülsemann Die Rechtsfolgen Der Arbeitnehmer erfüllt seine Verpflichtung aus dem Arbeitsvertrag, den Arbeitgeber vor Gefahren für sich oder andere zu informieren. Die Verpflichtung zu größtmöglicher Sorgfalt in der auszuübenden Tätigkeit bleibt bestehen. Die Haftung des Arbeitnehmers wird nach einer berechtigten Überlastungsanzeige anders zu bewerten sein. Die Anzeige wirkt sich auf den für die Haftung wichtigen Fahrlässigkeitsmaßstab aus. Dr. Hülsemann Innerbetrieblicher Schadensausgleich (1) Wer geschädigt wurde, kann sich grundsätzlich an den Schädiger wegen seines Schadensersatzes wenden. Dies ist oft der Arbeitnehmer. Daneben haftet auch der Arbeitgeber, wenn der Arbeitnehmer als „Erfüllungsgehilfe“ des Arbeitgebers tätig geworden ist. Wenn der Arbeitgeber wegen Pflichtverletzung des Arbeitnehmers haftet, wird er im Innenverhältnis (Arbeitsverhältnis) den Arbeitnehmer in Haftung nehmen wollen. Dr. Hülsemann Innerbetrieblicher Schadensausgleich (2) Wird ein Arbeitnehmer direkt in Anspruch genommen, so kann er vom Arbeitgeber ggf. die Freistellung von dieser Verpflichtung verlangen. Hier gelten die Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs, durch welche die „scharfen“ Voraussetzungen des BGB entschärft werden. Diese Grundsätze hat die Rechtsprechung über lange Jahre entwickelt. Die Rechtsprechung hat hierbei verschiedene Male die Richtung gewechselt. Dr. Hülsemann Innerbetrieblicher Schadensausgleich (3) Bei betrieblich veranlasster Tätigkeit gibt es eine Haftungserleichterung bei der Fahrlässigkeit. Bei leichter Fahrlässigkeit („kann mal passieren“) haftet nur der Arbeitgeber. Bei grober Fahrlässigkeit („wie kann man nur so doof sein“) haftet grundsätzlich der Arbeitnehmer voll. Bei mittlerer Fahrlässigkeit wird eine Haftungsquote gebildet. Für Vorsatz haftet immer der Arbeitnehmer. Dr. Hülsemann Ein Beispiel – Seite 1 Überlastungsanzeige Hiermit zeige ich an, dass die ordnungsgemäße Erfüllung meiner beruflichen Aufgaben nicht mehr gewährleistet ist ! Meine Meldung gilt voraussichtlich ab sofort ab dem Datum: bis auf Weiteres bis zum Datum: und wird voraussichtlich anhalten Ursache der Überlastung ist nach meiner Ansicht Gefährdet durch die Überlastung ist nach meiner Ansicht Unzureichende Personalbemessung Einhaltung gesetzlicher Vorschriften Organisatorische Defizite: Einhaltung betrieblicher Vorschriften Personalausfall wegen Krankheit Sicherheitsvorschriften und -standards Fehlerhafte Urlaubsplanung berufliche Standards Fehlerhafte Aufgabenzuordnung Qualitätsstandards Qualifizierungsdefizite Serviceversprechen, Kundenorientierung Technische Gründe: soziale Standards Zutreffendes ankreuzen / Ergänzungen selber eintragen Dr. Hülsemann Ein Beispiel – Seite 2 Mein Arbeitszeitsaldo / Überstundensaldo weist aus zum Ende des letzten Monats aktuell Werte eintragen / Unzutreffendes streichen ......... Plusstunden / Überstunden ......... Plusstunden / Überstunden Ich erkläre hiermit, das ich im og. Zeitraum im Rahmen meiner vertraglichen Arbeitszeit meinen beruflichen / fachlichen / betrieblichen Aufgaben mit der gebotenen Gründlichkeit und Sorgfalt nachkommen werde. Ohne Risiko im Hinblick auf meine Gesundheit werde ich das Maß der mir zumutbaren Arbeitsbelastung nicht überschreiten können. Ich weise darauf hin, dass ich für eventuell eintretende Folgen im Rahmen der og. Gefährdungssituationen keine persönliche Verantwortung übernehme. Bitte teilen Sie mir bis zum mit, welche Maßnahmen Sie auf der Grundlage meiner Überlastungsmeldung ergreifen werden. Für ein persönliches Gespräch stehe ich gerne zur Verfügung. Feld für die Empfangsbestätigung: Datum: Empfang wird bestätigt: Datum: Unterschrift Unterschrift der FK: Dr. Hülsemann Empfehlungen für die Anzeige Stellen Sie dar, wie sich die Überlastung für sie auswirkt oder auswirken könnte. Stellen Sie dar, welche Ursachen die Überlastung verursacht haben oder verursachen könnten bzw. werden. Beschreiben Sie, wie viele Aufgaben und Arbeit Sie selbst in der nächsten Zeit noch bewältigen können bzw. werden. Beschreiben Sie, welche Aufgaben Sie selbst in der nächsten Zeit abzuarbeiten beabsichtigen. Dr. Hülsemann Fazit Die Überlastungsanzeige ist ein Recht der Arbeitnehmer. Sie begründet auch eine Pflicht für Arbeitnehmer. Der Arbeitgeber hat die Pflicht, der Anzeige nachzugehen. Beide verletzten ihre Pflichten, wenn sie das Instrument nicht für sich nutzen. Bei Haftungsfragen kommt es auf die Anzeigen an. Beide können hier Verantwortung leben! Dr. Hülsemann Verantwortung! „Adieu“, sagte der Fuchs. „Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, wiederholte der kleine Prinz, um es sich zu merken. […] „Die Menschen haben diese Wahrheit vergessen“, sagte der Fuchs. „Aber du darfst sie nicht vergessen. Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“ Dr. Hülsemann Diplom-Verwaltungswirt (FH) Rechtsanwalt Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Jörn Hülsemann Anwaltshaus seit 1895 Ostertorwall 9 31785 Hameln Telefon: (05151) 9477-21 Telefax: (05151) 9477-66 www.anwaltshaus-1895.de [email protected]