Winter 2011 Glücklich mit dem Drahtesel

Transcription

Winter 2011 Glücklich mit dem Drahtesel
Nr. 5
Winter 2011
Das Magazin von und mit Beschäftigten der Göttinger Werkstätten gemeinnützige GmbH
Liebe Leserinnen und Leser,
Foto: Christian Mühlhausen
wieder haben wir eine Werkstattzeitung fertig.
Diesmal geht es in vielen Beiträgen um Aktivitäten behinderter
Menschen. Wir zeigen zum Beispiel, dass man auch mit nur einem
Arm sehr gut Rad fahren kann. So
gut, dass man Goldmedaillen gewinnen kann.
Und wir berichten darüber, wie
Werkstattbeschäftigte aus Gimte
einen Malkurs besuchten, der alle
richtig glücklich machte. Die Teilnehmer lernten mit Farbe umzugehen und richtig kreativ zu sein. Das
machte sogar dem Maler viel Spaß,
der die Gruppe anleitete.
Da in diesen Tagen der Karneval
zuende geht, befassen wir uns auch
mit den Narren. Ein Beschäftigter
aus der Werkstatt ist nämlich ein
Karnevalsprinz von Göttingen geworden. Und ist darauf jetzt mächtig stolz.
Und wir zeigen in der Werkstattzeitung, dass selbst blinde Vögel
ein schönes Leben haben können.
Jedenfalls wenn man ihnen ein behindertengerechtes Umfeld bietet.
Damit möglichst viele Menschen
die Zeitung lesen können, haben wir
wieder Texte in leichter Sprache.
Diese Texte kann man an den drei
Pfeilen  errkennen.
Wir hoffen, dass Ihnen unsere
Arbeit gefällt.
Glücklich mit dem Drahtesel
Mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren tut gut
Fahrradgruppe der Göttinger Werkstätten
 Wer mit dem Fahrrad in die
Werkstatt fährt, tut etwas für seine Gesundheit. Und wird selbstständiger. Darum fördert die
Werkstatt das Radfahren.
Ein Fahrrad zählt in der heutigen Zeit nicht nur zu den umweltfreundlichen Fortbewegungsmitteln, es hilft dem Nutzer auch, viele
Kalorien zu verbrennen. Deshalb
benutzen viele Menschen ihr Fahrrad nicht nur in ihrer Freizeit, sondern auch, um damit regelmäßig
zur Arbeit zu fahren. Aber wie sieht
es damit in der Göttinger Werkstatt
für behinderte Menschen aus?
Nur sehr wenige Beschäftigte
nehmen den ökologischen Pendlerverkehr auf sich und kommen mit
dem Fahrrad zur Werkstatt. „Bedauerlicherweise ziehen einige Beschäftigten den Bus vor, weil dies
natürlich bequemer ist“, sagt Jörg
Plitzko, Unterweiser im Berufsbildungsbereich. Er fände es gut,
wenn mehr mit dem Rad zur Arbeit
kämen. Denn das Radfahren hilft
nicht nur gegen Übergewicht, sondern ist auch ein guter Beitrag zu
mehr Selbstständigkeit.
Lange Ausflüge
Plitzko leitet in der Werkstatt
eine Fahrradgruppe, in der regelmäßig sieben Beschäftigte einen Teil
ihrer Freizeit auf dem Drahtesel
verbringen. Die Beschäftigten nehmen sehr gern daran teil, so Plitzko.
Die Gruppe macht regelmäßig Ausflüge, die bis zu 30 Kilometer weit
sind. Zwei Mal im Jahr finden noch
größere Fahrradtouren statt.
Es gibt in der Werkstatt nicht
nur Freizeitradler, einige sind auch
richtig sportlich aktiv. Im vergangenen Jahr nahmen einige Mitarbeiter und einige Beschäftigte an
der Lauf- und Mountainbikeveranstaltung „run and bike 4 help“ teil.
Fortsetzung nächste Seite
2
Sport
Jörg Plitzko und der Beschäftigte
Timm Junge absolvierten dabei den
Mountainbike-Marathon.
An Rennen
teilgenommen
Plitzko benötigte für die 41 Kilometer lange Strecke 2 Stunden 58
Minuten und erreichte damit den
85. Platz. Timm Junge brauchte für
dieselbe Strecke 3 Stunden 10 Minuten und erreichte damit Platz 90.
Für den, der noch nicht so gut
Fahrrad fahren kann, bietet die Fachkraft für Gymnastik und Sport, Ingrid Dunkel-Tofahrn, als arbeitsbegleitende Maßnahme ebenfalls eine
Fahrradgruppe an. Dort lernen die
Beschäftigten das richtige Verhalten im Straßenverkehr, so DunkelTofahrn. Es werden Verkehrsregeln
gelehrt und darauf geachtet, dass
diese auch eingehalten werden. Außerdem geht es um Ausdauer- und
Kreislauftraining, die Kräftigung
der Muskulatur und die Verbesserung der Atmung. Das soll das körperliche und psychische Wohlbefinden erhöhen, sagt Dunkel-Tofahrn.
Die Fahrradgruppe findet von April
bis Oktober innerhalb der Arbeitszeit statt. Zwei Stunden sind dafür
wöchentlich vorgesehen.
Werkstatt fördert
Alltagsradeln
Auch die Werkstattleitung befürwortet allgemein sportliche Aktivitäten, darunter insbesondere das
Fahrrad fahren. Dazu hat die Werkstatt sieben Fahrräder angeschafft.
Letztes Jahr wurden zwei neue
Trekkingräder mit Nabenschaltung
gekauft, zwei weitere sollten im
Herbst noch hinzukommen.
Sicherheit wird bei den Radangeboten der Werkstatt groß geschrieben. Alle Touren der Freizeitradler erfolgen grundsätzlich nur
mit Fahrradhelmen. Und auch die
werkstatteigenen Leihräder werden
nur mit Fahrradhelm ausgegeben.
Marcus Urban
Kämpfer mit einem Arm
Mr. 16.000 Volt will behinderten Menschen Mut machen
 Wolfgang Sacher hat nur einen Arm. Daran ist ein Unfall
schuld. Doch der Mann gab sich
nicht auf. Durch Radsport wurde
er wieder glücklich. Weil er so gut
ist, gewann er Gold. Nun dient er
behinderten Kindern als Vorbild.
In jungen Jahren hatte Wolfgang
Sacher einen schicksalhaften Unfall.
Die Schule hatte der Penzberger gerade abgeschlossen und einen Ausbildungsplatz zum Maschinenschlosser
angetreten. Die ersten sieben Monate hatte der Lehrling erfolgreich
hinter sich gebracht, als der damals
sechzehnjährige Teenager mit seinen
Freunden auf einem stillgelegten
Bahnhof unüberlegt über die Dächer
ausgedienter Waggons
tollte.
Bei seinen Freunden ging alles gut,
leider war Sacher größer als seine
Freunde. Der Halbwüchsige geriet
mit seiner linken Hand in das Spannungsfeld einer Oberleitung und flog
wie von einer Kugel getroffen vom
Waggon. In diesem Moment waren
16.000 Volt durch seinen Körper
geschossen. Wie durch ein Wunder
überlebte der Minderjährige den
Starkstromschlag.
Die Folgen waren jedoch verheerend: Sein linker Arm und alle Zehen
am rechten Fuß waren verbrannt. Der
Verunglückte kam in das Krankenhaus, wo ihm die Gliedmaßen chirurgisch entfernt werden mussten.
Das Unglück veränderte schlagartig das Leben des sportlichen jungen
Mannes. Durch den Unfall musste
Sacher fast zwei Jahre im Krankenhaus verweilen. Seine Ausbildung
zum Maschinenschlosser sowie seine Karriere als Fußballer musste der
Oberbayer an den Nagel hängen.
Sacher war damals total am Boden zerstört und brauchte lange, bis
er verstanden hatte, was geschehen
war. Auf Druck des Arbeitsamtes
hätte er eine Umschulung durchfüh-
Foto: Sacher
ren sollen. Doch der eigenwillige
Mann wollte sich vom Arbeitsamt
keinen Beruf aufdrücken lassen und
bewarb sich stattdessen selbst bei
der Stadt Penzberg um eine Lehrstelle als Verwaltungsangestellter, die er
auch bekam.
Zu dieser Zeit deutete noch nichts
auf eine Karriere als Sportler hin.
„In dieser Zeit haben wir uns fast jeden Tag in der Kneipe an der Ecke
getroffen und ein paar Weißbiere
hineingeschüttet“, sagt Sacher. Ein
halber Kasten Weißbier und ein paar
Schnäpse waren sein täglicher Begleiter. Zu den Weißbieren kamen
wahre Fressorgien. Fast immer kam
ein Teller Schweinebraten oder ein
wenig Süßes hinzu. Auf diese Weise nahm er auf 107 Kilogramm Gewicht zu.
Das änderte sich erst, als er in der
Verwaltung seine heutige Frau Sabine kennenlernte. Eines Tages fragte
ein Standesamtskollege, wann beide
denn heiraten würden. „Wenn der
Wolfgang 25 Kilo abnimmt“, antwortete Sabine. Daraufhin überlegte
sich Sacher, wie er das Abnehmen
am besten in die Tat umsetzen könnte. Er stellte seine Ernährung um und
begann mit dem Joggen, um Pfunde
zu verlieren. So schaffte Sacher es,
seine „Traumfrau“ zu heiraten.
Fortsetzung nächste Seite
3
Sport
Das Abnehmen gelang auch deshalb, weil ihn sein Bruder Mario
zum Radfahren animierte, für einen
Einarmigen eigentlich keine leichte
Aufgabe. Aber der Bruder konnte
als gelernter Maschinenschlosser
und Werkzeugmachermeister ein
normales Trekkingrad behindertengerecht umbauen, so dass alles mit
einer Hand bedient werden konnte.
Zwei Jahre später kauft sich Wolfgang Sacher sein erstes Rennrad.
Auch dieses Standardrad arbeitete
Mario zu einer behindertengerechten Spezialanfertigung um.
Nach Arbeitsschluss war Sacher
nun regelmäßig mit seinen neuen Rädern unterwegs. Zwar ließ
der armamputierte Bayer zunächst
noch keinen Biergarten links liegen, mit der Zeit strich der Genussradler jedoch das Weißbier und den
Presssack von seinem Speiseplan
und bastelte fleißig an seiner sportlichen Spätkarriere.
Tolle Karriere
begonnen
Die sollte wenig später ihresgleichen suchen. Sacher wandelte
sich vom Hobby- und Genussradler
zum Leistungssportler. Mit zunehmender Übung begann der Kämmerer den Sport zu mögen, dann zu
lieben.
Seinen ersten Wettkampf bestritt
Sacher 1999. Danach nahm der
Verwaltungsangestellte regelmäßig an Wettkämpfen im Umkreis
seiner Heimat teil. Mit jedem Jahr
wurde Sacher besser. Die Konkurrenz staunte nicht schlecht über den
Newcomer und frotzelte bereits,
dass die 16.000 Volt wohl immer
noch in Sachers Körper stecken
würden und damit ein gigantischer
Fahrradmotor angetrieben werden
würde.
„Richtig ernst haben sie mich
trotzdem nicht genommen, auch
nicht nach dem Gewinn der Bayerischen Meisterschaft“, sagt der sympathische Radfahrer.
Durch die Siege wurde der Landessportfachwart des Behinderten- und Versehrtensportverbandes
Bayern, Franz Zissler, auf den Penzberger Wunderradler aufmerksam
und holte ihn 2004 zum Sichtungstraining nach Ruhpolding. Der armamputierte Penzberger schaffte den
sportlichen Ritterschlag und wurde
gleich in den A-Kader des Deutschen Nationalteams berufen. Seither trainiert der weiß-blaue Newcomer unter fachlicher Leitung.
„Der Radsport ist mein Leben
geworden, ohne ihn hätte ich jeden
Lebensmut verloren“, sagt Sacher.
„Keine Medizin, keine Klinik kann
und konnte mir nach meinem Unfall besser helfen als der Ausdauersport mit dem Rad.“ Sein Motto:
Wer kämpft, kann verlieren – wer
nicht kämpft, hat schon verloren.
Gesponsort wird der Behindertenradsportler vom Penzberger
Pharmaunternehmerehepaar Drachenfels und deren Unternehmen
ORCA pharm, die damit Sachers
Kampf ehrt. „Wir unterstützen
Wolfgang Sacher, weil er ein Beispiel dafür ist, wie man sich aus
einer richtig schlechten Lebenslage nach oben bringt – und das ist
ganz besonders“, begründet ErnstOtto von Drachenfels sein Engagement. Sacher zeige, dass nichts
so schlimm sein könne, dass man
aufgeben müsse. Wenn man nur
ehrgeizig und lebenslustig genug
sei, könne man alles schaffen. Dem
stimmt der Sportler zu: „Man darf
sich langfristig nie aufgeben!“ Man
müsse nur ausreichenden Willen
zeigen.
2008 bei den Paralympics in
Peking gewann Sacher schließlich
Gold, Silber und Bronze. Und wurde Behindertensportler des Jahres
– die Krönung seiner bisherigen
Erfolge. „Wolfgang Sacher zeigt
mit seinem Leben die starke und
motivierende Kraft des Sports“,
lobte der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer. Sein Beispiel
belege, dass der Sport Halt und Unterstützung auch in schwierigen Lebensphasen geben könne.
Kinder ermuntern
Den Halt versucht Sacher nun
auch an behinderte Kinder weiterzugeben, denen er als positives
Beispiel dient. In den Gesichtern
der Kinder und Jugendlichen finde
er immer ein großes Staunen aber
auch große Freude, wenn er erzähle, was Behinderte für sportliche
Leistungen bringen könnten. „Es ist
schön zu sehen, wie man Kids mit
Handicap mit geringem Aufwand
und ein bisschen Engagement begeistern und Auftrieb geben kann.“
Ein Ende von Sachers Karriere ist
noch nicht in Sicht. Anfang vergangenen Jahres gründete der offenherzige und sympathische Radsportler
zusammen mit dem Unternehmerehepaar Drachenfels das Radsportteam Nutridual. Noch drei Jahre
will der 44-Jährige seinen Sport
professionell ausüben – bis zu den
Paralympics 2012 in London. „Da
möchte ich unbedingt noch einmal
eine Medaille für Deutschland gewinnen“, hofft er.
Marcus Urban
Foto: Ralf Roletschek
4
Behinderung
Sommerfest im Wohnheim Keplerstraße
Das Wohnheim in der Keplerstraße, eines von vier Wohnheimen
der Göttinger Werkstätten, feierte
vergangenen August wieder sein
alljährliches Sommerfest.
Heimleiter Hans-Reiner Bergmann begrüßte die anwesenden
Gäste und wünschte allen einen
schönen Nachmittag. Das Wetter
spielte erfreulicherweise mit, doch
die Tische und Bänke waren vorsichtshalber überdacht. Neben anderen Werkstattangestellten waren
auch der pädagogische Leiter Eberhard Taege, Geschäftsführer Holger
Gerken und der Bereichsleiter für
Wohnen, Jörg Schumacher, anwesend.
Der sonst übliche Zauberer fehlte. Als einziges Highlight ist der
Alleinunterhalter zu nennen. Er erfreute die wenigen Gäste mit Musik. Eine Mitarbeiterin des Heimes,
Bettina von Schutzbar, amüsierte
die Gäste zeitweise mit Gesang.
Foto: Brigitte Braun-Hüsch
Da der angrenzende Garten des
Heimes nicht viel Platz für Aktivitäten bot, blieb den Bewohnern und
den wenigen Werkstattbeschäftigten nichts anderes übrig, als sich
miteinander zu unterhalten.
Nebenbei konnten sich die Gäste
an den unterschiedlichsten Ständen
mit kulinarischen Leckereien ver-
sorgen. Es gab Kaffee und Kuchen
sowie verschiedene Salate und Gegrilltes. Dazu konnte sich jeder alkoholfreie Getränke nehmen.
Doch nicht jedem gefiel das
Sommerfest. Einige fanden die Veranstaltung etwas phantasielos.
Marcus Urban
Neuer Behindertenbeirat für Göttingen
Die Stadt Göttingen hat einen
neuen Behindertenbeirat. Der Behindertenbeirat ist ein selbstständiges und unabhängiges Gremium
zur Wahrnehmung der Belange der
behinderten Menschen aus Göttingen. Der Behindertenbeirat Göttingen wird alle vier Jahre von den
Behinderten gewählt.
Gewählt werden neun stimmberechtigte Mitglieder und neun
Vertreter. 50 Prozent der gewählten
Mitglieder müssen selbst behindert
sein. Zusätzlich sitzen neun beratende Mitglieder aus Politik, Verwaltung, Rehabilitation und Seniorenarbeit in dem Gremium. Vier
der stimmberechtigten Mitglieder
werden als Vorstand des Behindertenbeirats gewählt, darunter auch
Andreas Südbeck-Bujara von den
Göttinger Werkstätten.
Der Behindertenbeirat Göttingen
wird bei der Planung von öffentlichen Gebäuden einbezogen oder
bei Verbesserungen des öffentlichen
Personennahverkehrs. Der Behindertenbeirat kann themenorientierte Arbeitsgruppen bilden, etwa zur
Kontrolle der Behindertentoiletten.
Zudem ist der Behindertenbeirat
sowohl im Fahrgastbeirat als auch
im Landesbehindertenrat vertreten.
Als Vorsitzender des Behindertenbeirats wurde Christian Herwig
gewählt. Sein Vertreter wurde Jochen Krohn. Zum Kassenführer
wurde Wolfgang Peter und zur
Schriftführerin Christine von Hammel gewählt. Eine Beschäftigte aus
den Göttinger Werkstätten, Kristina Schulz, wurde in den Sportaus-
schuss des Göttinger Stadtparlaments gewählt.
Die Sitzungen des Beirats sind
öffentlich. Alle Menschen mit Behinderung dürfen an ihnen teilnehmen, auch die, die in einer Werkstatt beschäftigt sind.
Leider war die Wahlbeteiligung
nicht sehr hoch. Nur dreißig der
mehreren tausend behinderten Göttinger sind wählen gegangen. Positiv war aber, dass sich auch mal
jemand mit einer geistigen Behinderung zur Wahl aufstellen ließ,
Steffen Fischer aus der Behindertenwerkstatt. Sie sind genauso wie
Menschen mit einer psychischen
Behinderung in der Politik kaum
vertreten und werden nicht ernst
genommen.
Kristina Schulz
5
Tierwelt
Blinder Vogel
Auch Haustiere können behindert sein
 Auch Vögel können behindert
sein. Ein blinder Vogel braucht
Unterhaltung, damit er nicht leidet. Wenn ein Vogel spielen kann,
geht es ihm gut. Das macht die
Besitzer glücklich.
Nimue ist fast blind. Sie leidet an
Grauem Star. Was für einen Menschen eine schwierige Behinderung
ist, ist für einen Vogel auch nicht
einfach. Der Sittich kann nur bei
sehr hellem Sonnenlicht noch schemenhaft etwas erkennen. Es ist für
Nimue schwierig, das Futter zu finden, und immer besteht die Gefahr,
dass sie sich irgendwo anstößt.
Bei Vögeln gibt es viele Behinderungen. Bei der Staubwedelkrankheit haben Vögel einen genetischen Defekt. Die Federn hören
nicht mehr auf zu wachsen, so dass
das Gefieder wild in alle Richtungen absteht. Die Vögel sind dann
flugunfähig. Psychische Probleme
können beim Federvieh zu Selbstverstümmelungen und Federrupfen
führen. Oder den Vögeln fehlt beim
Schlüpfen ein Bein.
Blindheit kann bei Ziervögeln
vom Schlüpfen an auftreten oder
mit dem Alter. Die betroffenen Tiere finden dann ihr Futter und Wasser
nur schwer, so dass sie meist stark
abmagern. Weil sie den Dreck nicht
sehen, stellen sie die Gefiederpflege
ein.
Anders als wilden Vögeln kann
Ziervögeln in einem behindertengerecht eingerichteten Käfig das
Leben vereinfacht werden. Die fast
blinde Nimue wohnt in einem Käfig, der gut ausgepolstert ist, damit
sie sich nicht stößt und Stürze abgefedert werden.
Der Schnabel hilft Nimue dabei, sich vorsichtig fortzubewegen,
denn sie setzt ihn wie einen Blindenstock ein.
Auch behinderte Vögel haben
ein Recht auf ausreichend Lebensqualität. Weil sie ihre Umwelt nicht
betrachten können, leiden blinde
Vögel stärker unter Langeweile.
Dann ist es nötig, ihnen Ersatz für
das Sehen zu bieten. Tast- und Geruchssinn sowie das Gehör müssen
angeregt werden. Beispielsweise
kann man aus Jute raschelnde Kugeln basteln, die der Vogel mit dem
Schnabel vor sich her schubsen
kann. Auch in Spielzeug verstecktes Futter regt die Lust zum Entdecken an.
Der Besitzer von Nimue gestaltete die Fensterbank als Abenteuerspielplatz, um dem Vogel ein
angenehmes und
möglichst
helles Leben zu ermöglichen. Das
Tier turnt auf einem Klettergestell
herum und kann in Röhren aus Naturmaterial gehen, um zu dösen.
Oder Nimue kann Kork zernagen
und sich dort an ihren Partner Merlin kuscheln, der sie oft besucht und
sich mit ihr gemeinsam den Bauch
mit leckerer Frischkost vollschlägt.
„Aus dem gelangweilten, blinden
Vogel wurde ein aktives, neugieriges, lebensfrohes KatharinasittichWeibchen“, so dessen Besitzerin
Gaby. Der Sittich genieße sein Leben in vollen Zügen.
Gaby ist
glücklich
Ganz billig ist es nicht, einem
behinderten Vogel ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Eine
Krankenversicherung gibt es für
geflügelte Zweibeiner anders als
für Hunde oder Katzen nicht. Bei
Vögeln kostet eine schwierige OP
mit Röntgen, Narkose und Medikamenten um die 100 Euro, eine behindertengerechte Einrichtung ist
ebenfalls nicht umsonst.
Trotzdem ist, Gaby, die Besitzerin von Nimue, froh über den Vogel.
„Ich bin dem Schicksal sehr dankbar, dass es Nimue zu mir geführt
hat.“ Die „ganz wundervolle
Seele“ lasse sich von ihrer
Blindheit nicht unterkriegen. Es rührt sie,
wie das Tier trotz
der Behinderung
den Menschen
vertraut.
Benjamin
Hellmann
6
Aus der Werkstatt
Glitzernde Farbenspiele
Beim Malen kann man seine Fähigkeiten entwickeln
Am Ende entstand ein gemeinsames Werk,das allen Beteiligten viel Freude machte. Foto: Sjuts
Für den Hann. Mündener Maler
Stefan Bettge war es ein besonderes
Ereignis: In der Betriebsstätte Gimte der Göttinger Werkstätten leitete
er von August bis November ein
Malprojekt, an dem acht Beschäftigte der kreativen „Aktionsgruppe“
teilnahmen. „Ich war vom Anfang
bis zum Ende von den Teilnehmern
und Helfern der Malgruppe begeistert“, so Bettge. Besonders aufgefallen sei ihm die Leidenschaft und
Konzentration, mit der die ganze
Gruppe gearbeitet habe.
In dem Kurs ging es nicht darum, einfach „nur“ ein Bild zu malen, sondern es wurden Techniken
wie das Licht- und Schattenspiel,
das Farbenzusammenspiel oder
mehrdimensionales Zeichnen vermittelt und dann von den Teilnehmern umgesetzt. Während die Aktionsgruppe malte und gestaltete,
stand ihr der Maler Bettge mit Rat
und Tat zur Seite.
„Ich habe die Augenblicke genossen, wenn Melanie eigenständig
Kreis für Kreis zog und sie bunt
ausmalte, Astrid mit mir über die
Wirkung der verschiedenen Farben sprach und Peter die Gruppe
mit seiner Unbefangenheit immer
wieder erheiterte“, so Bettge. Kay
und Dieter hätten ihre Stärken im
Zeichnen gezeigt, während Heike
die Farbe in ihren Bildern harmonisch fügte. „Katharina ließ sich
auf ein glitzerndes Farbenspiel mit
dem Seerosenteich ein und Christina hat ganz geduldig ihre Delfine
gemalt.“
Schöne Erfahrung
Auch für die Teilnehmer war
es eine schöne Erfahrung. „Es hat
Spaß gemacht, mit den Farben zu
arbeiten“, freute sich Kursteilnehmer Kay Dietrich über den Kurs.
Katharina Schütze hat es „sehr gut
gefallen“, Peter Sommer fand es
lustig.
Neben dem Spaß stand jedoch
auch die Entwicklung der eigenen
Fähigkeiten im Mittelpunkt. „Kunst
ist der Spaß, seine eigene Kreativität
freizulassen und andere Menschen
zu begeistern“, beschreibt Bettge
seine Aufgabe. In seinen Kursen
sollen die Teilnehmer persönliche
Ausdrucksmittel entdecken und
Selbstvertrauen entwickeln. Zudem
soll das Malen die Feinmotorik, das
schöpferische Gestalten und das
Lernen trainieren.
Überraschende
Kreativität
Von der Kreativität, die sich
beim Malen entlud, waren auch
die Teilnehmer überrascht. „Es war
spannend zu sehen, wie viele Ideen
zu Papier gebracht wurden“, wundert sich Astrid Beuermann. Der
Kurs habe allen Beteiligten zu einem persönlichen Stil verholfen.
Und die Kursteilnehmer konnten
die Schönheiten der Malerei entdecken. „Die Bilder mit den Kreisen
und Dreiecken haben mir besonders
gefallen“, findet Melanie Winkler.
Christina Schramm gefiel besonders ihr Bild mit dem Baum.
Fortsetzung übernächste Seite
Aus der Werkstatt
Der Malkurs und einige dabei entstandene Bilder:
7
8
Behinderung
Dass das Malen wertvoll ist,
bestätigt auch Davor Stos von den
Göttinger Werkstätten, der die kreative Gruppe bereits seit längerer
Zeit leitet. Von den gesamten Angeboten der Aktionsgruppe sei dieses
Projekt etwas Besonderes gewesen.
Wie beim jetzt angebotenen Malkurs sei er bei jeder neuen Aktion
von den Fähigkeiten der Gruppenmitglieder überrascht. „Jeder
Teilnehmer hat seine individuellen
Stärken im Künstlerteam gefunden und konnte diese umsetzen.“
Auch die Zivildienstleistenden und
er hätten beim Malen ihre kreative
Ader entdecken können.
Lesermeinung
Unterstützt wurde das Malprojekt von der Lebenshilfe Hann.
Münden, die 500 Euro beisteuerte.
Nicht zuletzt da Farben und Papier
verbraucht wurden, war die Teilnahme kostenpflichtig. Dank der
Lebenshilfe mussten die Teilnehmer nur noch einen geringen Eigenbeitrag leisten.
Schöne
Gemeinschaftsarbeit
Am Ende waren sich die Teilnehmer einig, dass so etwas wiederholt
werden solle. „Ich würde mich über
einen erneuten Kurs freuen“, sagt
Christina Schramm. Und auch Ka-
tharina Schütze meint, „man könnte
es wieder machen.“ Gruppenleiter
Stos findet „ein solches Angebot
unbedingt wiederholenswert“.
Die Folgen der Malarbeit werden nun noch länger zu sehen sein.
Neben den Einzelarbeiten ist auch
ein Gemeinschaftswerk entstanden,
das in Gimte aushängt. „Das große
Gemeinschaftsbild war für uns ein
wunderschöner Abschluss, wobei
alle, auch die Zivildienstleistenden,
Davor und ich, viel Spaß miteinander hatten“, freut sich der Maler
Stefan Bettge.
Sina Sjuts
Verkauft
Die Auswirkungen der Privatisierung des ehemaligen LKHs durch einen Klinikkonzern
2008 wurde das psychiatrische
Landeskrankenhaus an den Asklepios-Konzern verkauft. Die Privatisierung von Krankenhäusern ist
großes Wirtschaftsmonopoly, das
in Deutschland gespielt wird. Krankenhäuser sind seither keine sozialen Einrichtungen mehr, sondern
normale Wirtschaftsbetriebe.
Der Staat zieht sich immer mehr
aus der Finanzierungsverpflichtung
des Gesundheitssystems zurück,
mit weitreichenden Konsequenzen
für die Qualität der Behandlung.
Ursula Helmhold von den Grünen
kritisierte bereits 2006, dass Kaufinteressenten zurückgestellt wurden, die eher eine Garantie für den
Erhalt des klinisch-therapeutischen
Konzepts und für die Wahrung der
Patientinnen-Interessen in Aussicht
gestellt hätten.
Der Zwang zum Geldverdienen
hat Folgen. 2008 wurden 5078 Patienten ambulant betreut. 2004 waren es nur 3064. Obwohl es deutlich
mehr Kranke gab, blieb die Anzahl
der Ärzte gleich. Mitarbeiter berichten, dass Druck ausgeübt wird,
viele neue ambulante Patienten ranzuschaffen.
„Die Auswirkungen sind, dass
Patienten immer seltener Gesprächstermine mit ihrem Behandler haben“, sagt Anne Schneider*,
die viele Jahre Patientin in der Institutsambulanz war. „Meine Ärztin
hatte nur noch alle sechs Wochen
Zeit für mich.“
Schlechterer
Betreuungsschlüssel
Die Wartezeiten stehen im Widerspruch zu den Ankündigungen
aus der Werbung: „Ziel der milieutherapeutisch gestalteten Behandlungsangebote ist, Menschen dabei
zu unterstützen, psychische Erkrankungen zu bewältigen und ihr Leben so selbstständig wie möglich
im eigenen sozialen Umfeld weiterzuführen“, kündigt das Klinikum
in einem Werbeblättchen an.
Die Klinik sagt, sie habe das
Ziel, das vorstationäre ambulante
Angebot auszuweiten. Doch wie
wird das erreicht? Die Grünen-Politikerin Sabine Rieser kritisiert,
dass einige Träger der privatisierten
Landeskliniken immer mehr Leihund Zeitarbeitskräfte beschäftigen,
die bis zu 400 Euro weniger verdie-
nen als die damals vom Land übernommenen Fachkräfte. Wie sollen
Mitarbeiter, die unter solchen Bedingungen arbeiten, die in der Werbung angekündigte Qualität leisten
können?
Trotz der Privatisierung steigen
die Kosten in der Psychiatrie weiter.
Die Landtagsgrünen haben deshalb
eine Unterrichtung des Sozialausschusses über die Kostensteigerung
bei den 2008 verkauften psychiatrischen Landeskliniken gefordert. Es
sei zu befürchten, dass die innerhalb
eines Jahres um 26 Millionen Euro
gestiegenen Kosten nicht auf höhere Qualität zurückzuführen seien,
sondern die Träger ihre Kaufkosten refinanzieren, stellte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende
Miriam Staudte fest. Die Käufer
erhöhen einfach ihre Gewinne. Die
Grünen-Politikerin forderte von der
Fachaufsicht des niedersächsischen
Sozialministeriums mehr Engagement bei der Kontrolle der privaten
Betreiber.
* Name geändert
Kristina Schulz
Karneval
Einer von uns ist Prinz
9
Inklusion im Karneval
 Der Werkstattbeschäftigte
Jörg ist glücklich. Denn er ist
ein richtiger Karnevalsprinz
geworden. In Göttingen dürfen
viele Behinderte beim Göttinger
Karneval mitmachen. Wenn die
Werkstatt Karneval feiert, kommen aber kaum Menschen ohne
Behinderung.
Jörg Jung ist glücklich. Der
Mann sitzt im Rollstuhl und arbeitet im Metallbereich der Göttinger
Werkstätten. Er hatte wie alle Karnevalsjecken einen Traum, so wie
Martin Luther King, ein Kopf der
US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, in einer berühmten
Rede sagte. Jörgs Traum ist Realität
geworden.
Trotz seiner Behinderung ist Jörg
in einem regulären Karnevalsverein zum Prinzen ernannt worden.
Er wurde für die Session 2011 gewählt. Und er gehörte von Anfang
an dazu. Denn für seinen Karnevalsverein, die „Szültenbürger Karnevalsgesellschaft Schwarz-Gold
von 1948“, ist ein Rollstuhl fahrender Prinz Normalität. „Der Prinz ist
Karnevalist durch und durch, warum soll er es dann nicht machen?“,
fragte die Präsidentin der Proklamationssitzung, Renate Wallbrecht.
Jörg I. fühle sich im Verein wohl
und ist von den Mitgliedern gewählt und akzeptiert.
Auch aus der Dransfelder Wohnstätte für Menschen mit geistiger
Behinderung hat eine Truppe den
Weg in den regulären Karneval
geschafft. Jedes Jahr macht die
Gruppe eine Shownummer, bei der
professionell eingekleidet Gags gemacht und getanzt wird. Dem Publikum gefällt’s.
Inklusion bedeutet, dass Menschen mit Behinderung ganz normal dazu gehören.
Während für Jörg I. die Inklusion
wenigstens im Karneval schon Realität ist, wird in der Werkstatt noch
Foto: Christian Mühlhausen
fleißig daran gebastelt, dass Behinderte am normalen Leben teilhaben
können. Deshalb veranstalten auch
die Werkstätten einen Karneval, zu
dem nicht nur die behinderten Beschäftigten kommen sollen, sondern
auch nichtbehinderte Karnevalisten. Der Göttinger Karnevalsprinz
und sein Hofstaat kommen jedes
Jahr, Publikum ohne Behinderung
ist jedoch selten.
Die Narren und Närrinnen der
Werkstatt lassen sich den Spaß
trotzdem nicht nehmen. Polonäsen
mit Rollator, Krücken und E-Rolli
sorgen für Stimmung. Behinderte mit Down-Syndrom versprühen
pure Lebensfreude. Die Werkstattjecken lassen sich dass Lachen
nicht verbieten.
Die Karnevalsitzung der Werkstätten gilt als einer der Höhepunkte des Göttinger Karnevals. „Das
ist mein Lieblingstermin im Karne-
val“, sagt Renate Wallbrecht. Wenn
Behinderte und Nichtbehinderte
gemeinsam feiern, wird Inklusion
ahnbar.
Kristina Schulz
Kommentar
Die Werkstatt zeigt,
wie es geht
Ich finde im Werkstattkarneval
wird mehr gelacht als im übrigen
Karneval. Das haben die nichtbehinderten Jecken noch nicht
so richtig gelernt. Vielleicht sollten wir für sie eine Fördergruppe
gründen. Die Beschäftigten der
Göttinger Werkstätten sind bestimmt gerne dabei behilflich.
Schließlich gehören auch die
Nichtbehinderten dazu.
Darauf ein dreifach donnerndes Göttingen helau.
Kristina Schulz
10
Aus der Werkstatt
Lustige Holzhackerbuam
Mit Kaminholz aus den Werkstätten gegen Kälte
 Die Werkstätten verkaufen
auch Kaminholz. Dafür gibt es
besondere Maschinen, die aus
ganzen Bäumen kleine Holzstücke machen. Wenn es kalt ist,
kann man damit heizen.
Seit Mai vergangenen Jahres
verkaufen die Göttinger Werkstätten Kaminholz. Im Angebot sind
Eiche, Buche, Kiefer und Fichte. Es
werden lose Holzscheite verkauft,
aber auch Säcke mit je einem Kubikmeter verpacktem Kaminholz.
Damit sind die Göttinger Werkstätten zwar nicht die einzigen, die
Kaminholz verkaufen. Doch der
Leiter der Holzabteilung, Rolf-Dieter Gulke, sieht die Konkurrenz entspannt. „Die Baumärkte bieten das
Kaminholz zu relativ hohen Preisen
an, vielleicht können wir erreichen,
dass deren Holz billiger wird.“ Im
Baumarkt kostet ein Kubikmeter
bis zu 200 Euro, im Brennholzhandel die Hälfte.
Erst einmal gehe es jetzt jedoch
für die Werkstätten darum, sich mit
dem neuen Angebot einen Namen
zu machen. „Im Moment befindet sich die Kaminholzproduktion
noch im Aufbau.“ Den Anstoß für
die Kaminholzproduktion gab die
Lebenshilfe Gifhorn, sagt Gulke.
In den dortigen Werkstätten werde
damit schon seit Jahren Geld verdient.
Spaltfix als
Helferlein
Das Brennholz wird nicht im
Wald aufgesammelt oder Bäume
selbst gefällt, die der Förster zuvor
gekennzeichnet hat, so Gulke. Das
wäre eine zu mühsame und gefährliche Arbeit. Die Göttinger Werkstätten würden dann neben schweren und komplexen Maschinen eine
Baumfällgenehmigung benötigen.
Der beste Weg sei deshalb ein pro-
Der Spaltfix hilft den Beschäftigten bei der Brennholzproduktion. Foto:Gulke
fessioneller Dienstleister gewesen.
„Wir haben einen Lieferanten gefunden, der uns die waldfrischen
Baumstämme direkt aus dem Forst
anliefert“, sagt Gulke. Die angelieferten Stämme sind sieben bis acht
Meter lang und noch nicht entastet
und entrindet. „Wir schneiden die
Stämme klein und hacken das Holz,
dann geht es in den Verkauf.“
Die Arbeit beginnt damit, dass
die Stämme in kürzere Abschnitte zerlegt werden. Das, was traditionell mit dem Beil oder der Axt
erledigt wird, übernimmt in den
Werkstätten eine halbautomatische
Maschine, der Spaltfix S-300 von
Posch. Die Maschine sägt das Holz
und spaltet es in mehrere Scheite.
Nach dem Spaltvorgang wird das
Holz über ein Förderband zu einer
Befülltrommel transportiert. Sobald die Trommel mit Brennholzscheiten gefüllt ist, umwickelt ein
seitlicher Rotationsarm den Inhalt
mit einem luftdurchlässigen Netz.
Sind alle Scheite im Netz verpackt,
wird es am oberen Ende einfach ab-
geschnitten und verknotet. Der fertige „Holzpack“ kann abschließend
mit dem Hubwagen abtransportiert
werden.
Trocken genug
Völlig durchgetrocknet ist das
Kaminholz beim Verkauf noch
nicht. Diese Aufgabe müsse der
Kunde schon selbst übernehmen,
sagt Gulke. Künstlich getrocknetes
Holz wäre zu teuer, das passt nicht
in die Philosophie der Werkstätten.
Eigentlich müsste es noch zwei
Jahre gelagert werden, erst dann ist
dem Brennholz genügend Feuchtigkeit entzogen worden, um seine
ideale Brennleistung entwickeln zu
können. Das Holz ist aber auch so
nutzbar.
Würde die Werkstatt völlig trockenes Kaminholz anbieten, wäre
dies stark kapitalbindend, platzintensiv und unflexibel bei der
Produktionsmenge. „Aus diesem
Grunde wird alles frisch aber doch
ofenfertig gespalten verkauft.“
Marcus Urban
11
Musik
Freude über einen Unfall
Melody Gardot begeistert als junge Jazz-Diva
Melody Joy Gardot trägt ihre
große Liebe bereits im Namen. Was
auf den ersten Blick als Pseudonym
erscheint, ist der wirkliche Name
des im Februar 1985 im Bundesstaat
New Jersey (USA) geborenen Ausnahmetalentes. Melody singt.
Ihr Werdegang ist unkonventionell und teilweise beschwerlich.
Die in Philadelphia aufgewachsene
Künstlerin erhielt als Neunjährige
die ersten Musikstunden am Klavier.
Als alleinerziehende Gelegenheitsarbeiterin musste sie immer wieder
Sonderschichten machen, um genug
Geld zum Überleben zu verdienen.
Dennoch finanzierte sie so auch
noch ihren Klavierunterricht.
Aber der Unterricht lohnte sich.
Melody konnte sehr bald auch anspruchsvolle klassische Werke spielen. Als sie sich damit langweilte
und Improvisationen in die Stücke
einbaute, holte ihr Klavierlehrer sofort eine Platte von Duke Ellington
und erklärte ihr, dass er ihr von nun
an Jazz und Blues beibringen werde.
Obwohl Melody nach etwa zwei
Jahren Unterricht eine hoch versierte Pianistin war, dachte sie nie
daran, Berufsmusikerin zu werden.
Stattdessen begann sie am College
ein Modedesign-Studium und verdiente sich den Unterhalt als Kneipenpianistin in den lokalen LoungeBars. Die Musik betrachtete sie zu
diesem Zeitpunkt allerdings als
reines Hobby. Wäre ihr Leben nach
Plan verlaufen, würde sie heute irgendwelchen Models in irgendwelchen Modemetropolen Kleider
überstülpen, drapieren, frisieren und
alles zurechtmachen für deren große
Schau. Erst durch einen tragischen
Autounfall rückte die Musik in ihren Lebensmittelpunkt.
Im November 2003 radelte die
Studentin vom College nach Hau-
se, als ein schwerer Geländewagen
das Rot einer Ampel missachtete.
Das Auto erfasst Melody, die halbtot liegen blieb. Mit Blaulicht kam
sie ins Krankenhaus, wo sie anderthalb Jahre verbringen sollte. Per
Zufall erfuhr Dr. Jermyn aus New
Jersey von dem Unfall. Um Melodys gestörtes Kurzzeitgedächtnis zu
verbessern, hielt er es für eine gute
Idee, die Musik im Genesungsprozess als therapeutisches Schlüsselelement zu nutzen. Noch ans
Spitalsbett gefesselt begann die einfühlsame Sängerin mit der musikalischen Selbsttherapie. Sie erlernte
im Krankenhausbett autodidaktisch
Gitarre und entdeckt ihre Fähigkeiten als Komponistin. Gleichzeitig
begann sie sich auch für den Jazzgesang als Teil der Musiktherapie zu
interessieren.
Gesang im Krankenbett
Zu der Zeit ahnte niemand, wie
weitreichend die Konsequenz der
Musiktherapie sein würde. Um ihre
im Bett komponierten jazzgetränkten Balladen nicht zu vergessen,
nahm sie diese mit dem Laptop auf
und brannte CDs davon. Mit den
CDs machte sie ihren Mitpatienten
eine Freude und beeindruckte ihre
Freunde damit. Einer dieser Freunde stellte die Musik ins Internet.
Schließlich fielen ihre „Bedroom
Sessions“ einer lokalen Rundfunkangestellten in die Hände, die
sie im Nachtprogramm sendete. Ergriffene Hörer riefen an und wollten
wissen, wo man die Scheibe der lasziv singenden Diva kaufen könnte.
Trotz der anderthalb Jahre, die
die Künstlerin im Krankenhaus verbrachte, um ihre Mobilität wiederzuerlangen, leidet sie bis heute unter den Folgen des Unfalls. Sie muss
wegen ihrer Behinderungen eine
dunkle Brille und Gehhilfen einsetzen – nicht um auszusehen wie ein
weiblicher Ray Charles.
Mit der Unterstützung des Radiosenders ging sie nach ihrer weitgehenden Rekonvaleszenz in ein Studio und nahm ein Demoband auf,
welches zu einem Plattenvertrag bei
einem großer Musikkonzern führte.
Aus einer unbekannten Studentin für Modedesign mit klangvollem Vornamen ist binnen sieben
Jahren die talentierte Sängerin Melody Gardot geworden, die sich
zum Vamp stylen lässt und die mit
einer leisen, verruchten Mischung
aus Jazz, Blues und Pop etablierten
Größen wie Norah Jones oder Madeleine Peyroux Konkurrenz macht.
Momentan hat die Blues- und Jazzsängerin ihr Domizil in Philadelphia
aufgegeben und reist mit zwei Koffern von einem Konzert zum nächsten.
„Ich weiß nicht, wo ich heute
ohne diesen Unfall wäre“, sagt Melody Gardot. Letztendlich sei sie
dankbar für den Unfall. „Obwohl
es sehr schwer für mich war, er hat
mich verändert.“ Sie sei auch beruflich zur Musik gekommen. „Es gibt
nun Tage, die sind unglaublich hart,
aber auch andere, die sind voller
Leichtigkeit“, freut sich die junge
Jazzsängerin über ihr Schicksal.
Marcus Urban
Foto: Shervin Lainez
12
Aus der Werkstatt
Der Winter behindert
Rollifahrer kommen bei Schnee kaum vorwärts
Behinderter aufstellen, damit der
Räumdienst dort keine Schneebarrieren aufbaut.
Für diejenigen, die wie Sandra
Adamczyk im Schnee stecken bleiben, hat Stockfisch-Bock ein paar
Tipps fürs Rollstuhl fahren im Winter. „Bittet um Hilfe wenn ihr stecken bleibt.“ Wer ein Handy habe,
solle wenn nötig auch die Polizei
rufen.
Claudia Grosse freut sich jetzt
erst einmal auf den herannahenden
Frühling und hofft, dass sich einiges ändern wird bis zum nächsten
Winter.
Ursula Schreiber
Impressum
Auch Nadine Weiland ärgert sich über den Schnee. Foto: Eva Stockfisch-Bock
 Wenn es schneit, können lernen Rollifahrer mit ihrem Stuhl
Rollstuhlfahrer nicht fahren. Der umzugehen. Normalerweise lautet
Schnee verhindert das Vorwärts- Stockfisch-Bocks Trainingsdevise,
kommen. Vor allem die Stadt „wer alleine mit dem Rolli fahren
räumt die Straßen schlecht. Wer kann, soll versuchen alleine zu fahstecken bleibt, soll die Polizei ru- ren“. Sie hat das Ziel, dass die Gruppenteilnehmer im Alltag möglichst
fen.
Wenn Claudia Grosse im Winter selbstständig zurecht kommen.
Doch das ist im Winter gar
von ihrem Arbeitsplatz, der Druckerei, zum Essen will, hat sie häufig nicht so einfach. E-Rolli-Fahreein Problem: Auch dieses Jahr lag rin Nurcan Degermenci klagt etwa
auf dem Weg zur Kantine Schnee, über die schlecht geräumten Wege
viel Schnee. „Die Wege könnten et- in der Stadt. Bei Schnee könne man
was besser geräumt werden“, sagt häufig nicht fahren. Auch Sandra
Grosse. Denn sie komme durch die Adamczyk kann darüber berichten,
weiße Masse kaum mit dem Roll- dass sie vor dem Haus schon im
stuhl hindurch. Zwar sei sie in der Schnee stecken geblieben ist.
Selbst wenn die Gehwege geDruckerei die einzige Rollifahrerin,
aber es gebe ja noch Menschen, die räumt sind, türmen die Räumdiensmit Gehhilfen unterwegs seien und te an den Rändern der Bürgersteige
nicht so gut laufen könnten. Für alle hohe Schneehaufen auf. Dadurch
müsste der Weg richtig geräumt und werde der Weg vom Bürgersteig auf
gestreut sein. „Wenn die Schnee- die Straße und zu den Rollstuhlbusräumung besser funktionieren wür- sen des Fahrdienstes versperrt.
Vielleicht wäre es eine Idee,
de, wären alle Beteiligten glücklich
Kontakt mit der Stadt aufzunehmen,
und zufrieden“, sagt Grosse.
In der Behindertenwerkstatt meint Gruppenleiterin Stockfischkennt auch Eva Stockfisch-Bock Bock. Die könne dann vielleicht
das Winterproblem. In ihrer Gruppe Schilder vor den Hauseingängen
Herausgeber :
Elliehäuser Weg 20,
37079 Göttingen
Telefon : 0551 / 5065 - 0
Fax : 0551 / 5065 - 200
Homepage :
www.goettinger-werkstaetten.de
E-Mail:
[email protected]
V.i.S.d.P.: Holger Gerken
– Geschäftsführer –
Redaktion:
Dr. Stefan Matysiak (Leitung), Jan Hendrik
Gotthardt, Benjamin Hellmann, Timo Loth,
Ursula Schreiber, Kristina Schulz, Marcus
Urban
Gestaltung, Layout, Satz:
Marcus Urban und Dr. Stefan Matysiak
Druck:
Götinger Werkstätten gemeinnützige GmbH
Auflage:
800 Stück
Mit Namen gekennzeichnete Artikel geben
nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder der Göttinger Werkstätten gGmbH
wieder. Die Redaktion behält sich Kürzungen, Überarbeitung und (auszugsweise) Abdruck von eingesendeten Beiträgen. Kopie
und Nachdruck nur mit Genehmigung der
Redaktion.