Winter 2011 Glücklich mit dem Drahtesel
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Winter 2011 Glücklich mit dem Drahtesel
Nr. 5 Winter 2011 Das Magazin von und mit Beschäftigten der Göttinger Werkstätten gemeinnützige GmbH Liebe Leserinnen und Leser, Foto: Christian Mühlhausen wieder haben wir eine Werkstattzeitung fertig. Diesmal geht es in vielen Beiträgen um Aktivitäten behinderter Menschen. Wir zeigen zum Beispiel, dass man auch mit nur einem Arm sehr gut Rad fahren kann. So gut, dass man Goldmedaillen gewinnen kann. Und wir berichten darüber, wie Werkstattbeschäftigte aus Gimte einen Malkurs besuchten, der alle richtig glücklich machte. Die Teilnehmer lernten mit Farbe umzugehen und richtig kreativ zu sein. Das machte sogar dem Maler viel Spaß, der die Gruppe anleitete. Da in diesen Tagen der Karneval zuende geht, befassen wir uns auch mit den Narren. Ein Beschäftigter aus der Werkstatt ist nämlich ein Karnevalsprinz von Göttingen geworden. Und ist darauf jetzt mächtig stolz. Und wir zeigen in der Werkstattzeitung, dass selbst blinde Vögel ein schönes Leben haben können. Jedenfalls wenn man ihnen ein behindertengerechtes Umfeld bietet. Damit möglichst viele Menschen die Zeitung lesen können, haben wir wieder Texte in leichter Sprache. Diese Texte kann man an den drei Pfeilen errkennen. Wir hoffen, dass Ihnen unsere Arbeit gefällt. Glücklich mit dem Drahtesel Mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren tut gut Fahrradgruppe der Göttinger Werkstätten Wer mit dem Fahrrad in die Werkstatt fährt, tut etwas für seine Gesundheit. Und wird selbstständiger. Darum fördert die Werkstatt das Radfahren. Ein Fahrrad zählt in der heutigen Zeit nicht nur zu den umweltfreundlichen Fortbewegungsmitteln, es hilft dem Nutzer auch, viele Kalorien zu verbrennen. Deshalb benutzen viele Menschen ihr Fahrrad nicht nur in ihrer Freizeit, sondern auch, um damit regelmäßig zur Arbeit zu fahren. Aber wie sieht es damit in der Göttinger Werkstatt für behinderte Menschen aus? Nur sehr wenige Beschäftigte nehmen den ökologischen Pendlerverkehr auf sich und kommen mit dem Fahrrad zur Werkstatt. „Bedauerlicherweise ziehen einige Beschäftigten den Bus vor, weil dies natürlich bequemer ist“, sagt Jörg Plitzko, Unterweiser im Berufsbildungsbereich. Er fände es gut, wenn mehr mit dem Rad zur Arbeit kämen. Denn das Radfahren hilft nicht nur gegen Übergewicht, sondern ist auch ein guter Beitrag zu mehr Selbstständigkeit. Lange Ausflüge Plitzko leitet in der Werkstatt eine Fahrradgruppe, in der regelmäßig sieben Beschäftigte einen Teil ihrer Freizeit auf dem Drahtesel verbringen. Die Beschäftigten nehmen sehr gern daran teil, so Plitzko. Die Gruppe macht regelmäßig Ausflüge, die bis zu 30 Kilometer weit sind. Zwei Mal im Jahr finden noch größere Fahrradtouren statt. Es gibt in der Werkstatt nicht nur Freizeitradler, einige sind auch richtig sportlich aktiv. Im vergangenen Jahr nahmen einige Mitarbeiter und einige Beschäftigte an der Lauf- und Mountainbikeveranstaltung „run and bike 4 help“ teil. Fortsetzung nächste Seite 2 Sport Jörg Plitzko und der Beschäftigte Timm Junge absolvierten dabei den Mountainbike-Marathon. An Rennen teilgenommen Plitzko benötigte für die 41 Kilometer lange Strecke 2 Stunden 58 Minuten und erreichte damit den 85. Platz. Timm Junge brauchte für dieselbe Strecke 3 Stunden 10 Minuten und erreichte damit Platz 90. Für den, der noch nicht so gut Fahrrad fahren kann, bietet die Fachkraft für Gymnastik und Sport, Ingrid Dunkel-Tofahrn, als arbeitsbegleitende Maßnahme ebenfalls eine Fahrradgruppe an. Dort lernen die Beschäftigten das richtige Verhalten im Straßenverkehr, so DunkelTofahrn. Es werden Verkehrsregeln gelehrt und darauf geachtet, dass diese auch eingehalten werden. Außerdem geht es um Ausdauer- und Kreislauftraining, die Kräftigung der Muskulatur und die Verbesserung der Atmung. Das soll das körperliche und psychische Wohlbefinden erhöhen, sagt Dunkel-Tofahrn. Die Fahrradgruppe findet von April bis Oktober innerhalb der Arbeitszeit statt. Zwei Stunden sind dafür wöchentlich vorgesehen. Werkstatt fördert Alltagsradeln Auch die Werkstattleitung befürwortet allgemein sportliche Aktivitäten, darunter insbesondere das Fahrrad fahren. Dazu hat die Werkstatt sieben Fahrräder angeschafft. Letztes Jahr wurden zwei neue Trekkingräder mit Nabenschaltung gekauft, zwei weitere sollten im Herbst noch hinzukommen. Sicherheit wird bei den Radangeboten der Werkstatt groß geschrieben. Alle Touren der Freizeitradler erfolgen grundsätzlich nur mit Fahrradhelmen. Und auch die werkstatteigenen Leihräder werden nur mit Fahrradhelm ausgegeben. Marcus Urban Kämpfer mit einem Arm Mr. 16.000 Volt will behinderten Menschen Mut machen Wolfgang Sacher hat nur einen Arm. Daran ist ein Unfall schuld. Doch der Mann gab sich nicht auf. Durch Radsport wurde er wieder glücklich. Weil er so gut ist, gewann er Gold. Nun dient er behinderten Kindern als Vorbild. In jungen Jahren hatte Wolfgang Sacher einen schicksalhaften Unfall. Die Schule hatte der Penzberger gerade abgeschlossen und einen Ausbildungsplatz zum Maschinenschlosser angetreten. Die ersten sieben Monate hatte der Lehrling erfolgreich hinter sich gebracht, als der damals sechzehnjährige Teenager mit seinen Freunden auf einem stillgelegten Bahnhof unüberlegt über die Dächer ausgedienter Waggons tollte. Bei seinen Freunden ging alles gut, leider war Sacher größer als seine Freunde. Der Halbwüchsige geriet mit seiner linken Hand in das Spannungsfeld einer Oberleitung und flog wie von einer Kugel getroffen vom Waggon. In diesem Moment waren 16.000 Volt durch seinen Körper geschossen. Wie durch ein Wunder überlebte der Minderjährige den Starkstromschlag. Die Folgen waren jedoch verheerend: Sein linker Arm und alle Zehen am rechten Fuß waren verbrannt. Der Verunglückte kam in das Krankenhaus, wo ihm die Gliedmaßen chirurgisch entfernt werden mussten. Das Unglück veränderte schlagartig das Leben des sportlichen jungen Mannes. Durch den Unfall musste Sacher fast zwei Jahre im Krankenhaus verweilen. Seine Ausbildung zum Maschinenschlosser sowie seine Karriere als Fußballer musste der Oberbayer an den Nagel hängen. Sacher war damals total am Boden zerstört und brauchte lange, bis er verstanden hatte, was geschehen war. Auf Druck des Arbeitsamtes hätte er eine Umschulung durchfüh- Foto: Sacher ren sollen. Doch der eigenwillige Mann wollte sich vom Arbeitsamt keinen Beruf aufdrücken lassen und bewarb sich stattdessen selbst bei der Stadt Penzberg um eine Lehrstelle als Verwaltungsangestellter, die er auch bekam. Zu dieser Zeit deutete noch nichts auf eine Karriere als Sportler hin. „In dieser Zeit haben wir uns fast jeden Tag in der Kneipe an der Ecke getroffen und ein paar Weißbiere hineingeschüttet“, sagt Sacher. Ein halber Kasten Weißbier und ein paar Schnäpse waren sein täglicher Begleiter. Zu den Weißbieren kamen wahre Fressorgien. Fast immer kam ein Teller Schweinebraten oder ein wenig Süßes hinzu. Auf diese Weise nahm er auf 107 Kilogramm Gewicht zu. Das änderte sich erst, als er in der Verwaltung seine heutige Frau Sabine kennenlernte. Eines Tages fragte ein Standesamtskollege, wann beide denn heiraten würden. „Wenn der Wolfgang 25 Kilo abnimmt“, antwortete Sabine. Daraufhin überlegte sich Sacher, wie er das Abnehmen am besten in die Tat umsetzen könnte. Er stellte seine Ernährung um und begann mit dem Joggen, um Pfunde zu verlieren. So schaffte Sacher es, seine „Traumfrau“ zu heiraten. Fortsetzung nächste Seite 3 Sport Das Abnehmen gelang auch deshalb, weil ihn sein Bruder Mario zum Radfahren animierte, für einen Einarmigen eigentlich keine leichte Aufgabe. Aber der Bruder konnte als gelernter Maschinenschlosser und Werkzeugmachermeister ein normales Trekkingrad behindertengerecht umbauen, so dass alles mit einer Hand bedient werden konnte. Zwei Jahre später kauft sich Wolfgang Sacher sein erstes Rennrad. Auch dieses Standardrad arbeitete Mario zu einer behindertengerechten Spezialanfertigung um. Nach Arbeitsschluss war Sacher nun regelmäßig mit seinen neuen Rädern unterwegs. Zwar ließ der armamputierte Bayer zunächst noch keinen Biergarten links liegen, mit der Zeit strich der Genussradler jedoch das Weißbier und den Presssack von seinem Speiseplan und bastelte fleißig an seiner sportlichen Spätkarriere. Tolle Karriere begonnen Die sollte wenig später ihresgleichen suchen. Sacher wandelte sich vom Hobby- und Genussradler zum Leistungssportler. Mit zunehmender Übung begann der Kämmerer den Sport zu mögen, dann zu lieben. Seinen ersten Wettkampf bestritt Sacher 1999. Danach nahm der Verwaltungsangestellte regelmäßig an Wettkämpfen im Umkreis seiner Heimat teil. Mit jedem Jahr wurde Sacher besser. Die Konkurrenz staunte nicht schlecht über den Newcomer und frotzelte bereits, dass die 16.000 Volt wohl immer noch in Sachers Körper stecken würden und damit ein gigantischer Fahrradmotor angetrieben werden würde. „Richtig ernst haben sie mich trotzdem nicht genommen, auch nicht nach dem Gewinn der Bayerischen Meisterschaft“, sagt der sympathische Radfahrer. Durch die Siege wurde der Landessportfachwart des Behinderten- und Versehrtensportverbandes Bayern, Franz Zissler, auf den Penzberger Wunderradler aufmerksam und holte ihn 2004 zum Sichtungstraining nach Ruhpolding. Der armamputierte Penzberger schaffte den sportlichen Ritterschlag und wurde gleich in den A-Kader des Deutschen Nationalteams berufen. Seither trainiert der weiß-blaue Newcomer unter fachlicher Leitung. „Der Radsport ist mein Leben geworden, ohne ihn hätte ich jeden Lebensmut verloren“, sagt Sacher. „Keine Medizin, keine Klinik kann und konnte mir nach meinem Unfall besser helfen als der Ausdauersport mit dem Rad.“ Sein Motto: Wer kämpft, kann verlieren – wer nicht kämpft, hat schon verloren. Gesponsort wird der Behindertenradsportler vom Penzberger Pharmaunternehmerehepaar Drachenfels und deren Unternehmen ORCA pharm, die damit Sachers Kampf ehrt. „Wir unterstützen Wolfgang Sacher, weil er ein Beispiel dafür ist, wie man sich aus einer richtig schlechten Lebenslage nach oben bringt – und das ist ganz besonders“, begründet ErnstOtto von Drachenfels sein Engagement. Sacher zeige, dass nichts so schlimm sein könne, dass man aufgeben müsse. Wenn man nur ehrgeizig und lebenslustig genug sei, könne man alles schaffen. Dem stimmt der Sportler zu: „Man darf sich langfristig nie aufgeben!“ Man müsse nur ausreichenden Willen zeigen. 2008 bei den Paralympics in Peking gewann Sacher schließlich Gold, Silber und Bronze. Und wurde Behindertensportler des Jahres – die Krönung seiner bisherigen Erfolge. „Wolfgang Sacher zeigt mit seinem Leben die starke und motivierende Kraft des Sports“, lobte der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer. Sein Beispiel belege, dass der Sport Halt und Unterstützung auch in schwierigen Lebensphasen geben könne. Kinder ermuntern Den Halt versucht Sacher nun auch an behinderte Kinder weiterzugeben, denen er als positives Beispiel dient. In den Gesichtern der Kinder und Jugendlichen finde er immer ein großes Staunen aber auch große Freude, wenn er erzähle, was Behinderte für sportliche Leistungen bringen könnten. „Es ist schön zu sehen, wie man Kids mit Handicap mit geringem Aufwand und ein bisschen Engagement begeistern und Auftrieb geben kann.“ Ein Ende von Sachers Karriere ist noch nicht in Sicht. Anfang vergangenen Jahres gründete der offenherzige und sympathische Radsportler zusammen mit dem Unternehmerehepaar Drachenfels das Radsportteam Nutridual. Noch drei Jahre will der 44-Jährige seinen Sport professionell ausüben – bis zu den Paralympics 2012 in London. „Da möchte ich unbedingt noch einmal eine Medaille für Deutschland gewinnen“, hofft er. Marcus Urban Foto: Ralf Roletschek 4 Behinderung Sommerfest im Wohnheim Keplerstraße Das Wohnheim in der Keplerstraße, eines von vier Wohnheimen der Göttinger Werkstätten, feierte vergangenen August wieder sein alljährliches Sommerfest. Heimleiter Hans-Reiner Bergmann begrüßte die anwesenden Gäste und wünschte allen einen schönen Nachmittag. Das Wetter spielte erfreulicherweise mit, doch die Tische und Bänke waren vorsichtshalber überdacht. Neben anderen Werkstattangestellten waren auch der pädagogische Leiter Eberhard Taege, Geschäftsführer Holger Gerken und der Bereichsleiter für Wohnen, Jörg Schumacher, anwesend. Der sonst übliche Zauberer fehlte. Als einziges Highlight ist der Alleinunterhalter zu nennen. Er erfreute die wenigen Gäste mit Musik. Eine Mitarbeiterin des Heimes, Bettina von Schutzbar, amüsierte die Gäste zeitweise mit Gesang. Foto: Brigitte Braun-Hüsch Da der angrenzende Garten des Heimes nicht viel Platz für Aktivitäten bot, blieb den Bewohnern und den wenigen Werkstattbeschäftigten nichts anderes übrig, als sich miteinander zu unterhalten. Nebenbei konnten sich die Gäste an den unterschiedlichsten Ständen mit kulinarischen Leckereien ver- sorgen. Es gab Kaffee und Kuchen sowie verschiedene Salate und Gegrilltes. Dazu konnte sich jeder alkoholfreie Getränke nehmen. Doch nicht jedem gefiel das Sommerfest. Einige fanden die Veranstaltung etwas phantasielos. Marcus Urban Neuer Behindertenbeirat für Göttingen Die Stadt Göttingen hat einen neuen Behindertenbeirat. Der Behindertenbeirat ist ein selbstständiges und unabhängiges Gremium zur Wahrnehmung der Belange der behinderten Menschen aus Göttingen. Der Behindertenbeirat Göttingen wird alle vier Jahre von den Behinderten gewählt. Gewählt werden neun stimmberechtigte Mitglieder und neun Vertreter. 50 Prozent der gewählten Mitglieder müssen selbst behindert sein. Zusätzlich sitzen neun beratende Mitglieder aus Politik, Verwaltung, Rehabilitation und Seniorenarbeit in dem Gremium. Vier der stimmberechtigten Mitglieder werden als Vorstand des Behindertenbeirats gewählt, darunter auch Andreas Südbeck-Bujara von den Göttinger Werkstätten. Der Behindertenbeirat Göttingen wird bei der Planung von öffentlichen Gebäuden einbezogen oder bei Verbesserungen des öffentlichen Personennahverkehrs. Der Behindertenbeirat kann themenorientierte Arbeitsgruppen bilden, etwa zur Kontrolle der Behindertentoiletten. Zudem ist der Behindertenbeirat sowohl im Fahrgastbeirat als auch im Landesbehindertenrat vertreten. Als Vorsitzender des Behindertenbeirats wurde Christian Herwig gewählt. Sein Vertreter wurde Jochen Krohn. Zum Kassenführer wurde Wolfgang Peter und zur Schriftführerin Christine von Hammel gewählt. Eine Beschäftigte aus den Göttinger Werkstätten, Kristina Schulz, wurde in den Sportaus- schuss des Göttinger Stadtparlaments gewählt. Die Sitzungen des Beirats sind öffentlich. Alle Menschen mit Behinderung dürfen an ihnen teilnehmen, auch die, die in einer Werkstatt beschäftigt sind. Leider war die Wahlbeteiligung nicht sehr hoch. Nur dreißig der mehreren tausend behinderten Göttinger sind wählen gegangen. Positiv war aber, dass sich auch mal jemand mit einer geistigen Behinderung zur Wahl aufstellen ließ, Steffen Fischer aus der Behindertenwerkstatt. Sie sind genauso wie Menschen mit einer psychischen Behinderung in der Politik kaum vertreten und werden nicht ernst genommen. Kristina Schulz 5 Tierwelt Blinder Vogel Auch Haustiere können behindert sein Auch Vögel können behindert sein. Ein blinder Vogel braucht Unterhaltung, damit er nicht leidet. Wenn ein Vogel spielen kann, geht es ihm gut. Das macht die Besitzer glücklich. Nimue ist fast blind. Sie leidet an Grauem Star. Was für einen Menschen eine schwierige Behinderung ist, ist für einen Vogel auch nicht einfach. Der Sittich kann nur bei sehr hellem Sonnenlicht noch schemenhaft etwas erkennen. Es ist für Nimue schwierig, das Futter zu finden, und immer besteht die Gefahr, dass sie sich irgendwo anstößt. Bei Vögeln gibt es viele Behinderungen. Bei der Staubwedelkrankheit haben Vögel einen genetischen Defekt. Die Federn hören nicht mehr auf zu wachsen, so dass das Gefieder wild in alle Richtungen absteht. Die Vögel sind dann flugunfähig. Psychische Probleme können beim Federvieh zu Selbstverstümmelungen und Federrupfen führen. Oder den Vögeln fehlt beim Schlüpfen ein Bein. Blindheit kann bei Ziervögeln vom Schlüpfen an auftreten oder mit dem Alter. Die betroffenen Tiere finden dann ihr Futter und Wasser nur schwer, so dass sie meist stark abmagern. Weil sie den Dreck nicht sehen, stellen sie die Gefiederpflege ein. Anders als wilden Vögeln kann Ziervögeln in einem behindertengerecht eingerichteten Käfig das Leben vereinfacht werden. Die fast blinde Nimue wohnt in einem Käfig, der gut ausgepolstert ist, damit sie sich nicht stößt und Stürze abgefedert werden. Der Schnabel hilft Nimue dabei, sich vorsichtig fortzubewegen, denn sie setzt ihn wie einen Blindenstock ein. Auch behinderte Vögel haben ein Recht auf ausreichend Lebensqualität. Weil sie ihre Umwelt nicht betrachten können, leiden blinde Vögel stärker unter Langeweile. Dann ist es nötig, ihnen Ersatz für das Sehen zu bieten. Tast- und Geruchssinn sowie das Gehör müssen angeregt werden. Beispielsweise kann man aus Jute raschelnde Kugeln basteln, die der Vogel mit dem Schnabel vor sich her schubsen kann. Auch in Spielzeug verstecktes Futter regt die Lust zum Entdecken an. Der Besitzer von Nimue gestaltete die Fensterbank als Abenteuerspielplatz, um dem Vogel ein angenehmes und möglichst helles Leben zu ermöglichen. Das Tier turnt auf einem Klettergestell herum und kann in Röhren aus Naturmaterial gehen, um zu dösen. Oder Nimue kann Kork zernagen und sich dort an ihren Partner Merlin kuscheln, der sie oft besucht und sich mit ihr gemeinsam den Bauch mit leckerer Frischkost vollschlägt. „Aus dem gelangweilten, blinden Vogel wurde ein aktives, neugieriges, lebensfrohes KatharinasittichWeibchen“, so dessen Besitzerin Gaby. Der Sittich genieße sein Leben in vollen Zügen. Gaby ist glücklich Ganz billig ist es nicht, einem behinderten Vogel ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Eine Krankenversicherung gibt es für geflügelte Zweibeiner anders als für Hunde oder Katzen nicht. Bei Vögeln kostet eine schwierige OP mit Röntgen, Narkose und Medikamenten um die 100 Euro, eine behindertengerechte Einrichtung ist ebenfalls nicht umsonst. Trotzdem ist, Gaby, die Besitzerin von Nimue, froh über den Vogel. „Ich bin dem Schicksal sehr dankbar, dass es Nimue zu mir geführt hat.“ Die „ganz wundervolle Seele“ lasse sich von ihrer Blindheit nicht unterkriegen. Es rührt sie, wie das Tier trotz der Behinderung den Menschen vertraut. Benjamin Hellmann 6 Aus der Werkstatt Glitzernde Farbenspiele Beim Malen kann man seine Fähigkeiten entwickeln Am Ende entstand ein gemeinsames Werk,das allen Beteiligten viel Freude machte. Foto: Sjuts Für den Hann. Mündener Maler Stefan Bettge war es ein besonderes Ereignis: In der Betriebsstätte Gimte der Göttinger Werkstätten leitete er von August bis November ein Malprojekt, an dem acht Beschäftigte der kreativen „Aktionsgruppe“ teilnahmen. „Ich war vom Anfang bis zum Ende von den Teilnehmern und Helfern der Malgruppe begeistert“, so Bettge. Besonders aufgefallen sei ihm die Leidenschaft und Konzentration, mit der die ganze Gruppe gearbeitet habe. In dem Kurs ging es nicht darum, einfach „nur“ ein Bild zu malen, sondern es wurden Techniken wie das Licht- und Schattenspiel, das Farbenzusammenspiel oder mehrdimensionales Zeichnen vermittelt und dann von den Teilnehmern umgesetzt. Während die Aktionsgruppe malte und gestaltete, stand ihr der Maler Bettge mit Rat und Tat zur Seite. „Ich habe die Augenblicke genossen, wenn Melanie eigenständig Kreis für Kreis zog und sie bunt ausmalte, Astrid mit mir über die Wirkung der verschiedenen Farben sprach und Peter die Gruppe mit seiner Unbefangenheit immer wieder erheiterte“, so Bettge. Kay und Dieter hätten ihre Stärken im Zeichnen gezeigt, während Heike die Farbe in ihren Bildern harmonisch fügte. „Katharina ließ sich auf ein glitzerndes Farbenspiel mit dem Seerosenteich ein und Christina hat ganz geduldig ihre Delfine gemalt.“ Schöne Erfahrung Auch für die Teilnehmer war es eine schöne Erfahrung. „Es hat Spaß gemacht, mit den Farben zu arbeiten“, freute sich Kursteilnehmer Kay Dietrich über den Kurs. Katharina Schütze hat es „sehr gut gefallen“, Peter Sommer fand es lustig. Neben dem Spaß stand jedoch auch die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten im Mittelpunkt. „Kunst ist der Spaß, seine eigene Kreativität freizulassen und andere Menschen zu begeistern“, beschreibt Bettge seine Aufgabe. In seinen Kursen sollen die Teilnehmer persönliche Ausdrucksmittel entdecken und Selbstvertrauen entwickeln. Zudem soll das Malen die Feinmotorik, das schöpferische Gestalten und das Lernen trainieren. Überraschende Kreativität Von der Kreativität, die sich beim Malen entlud, waren auch die Teilnehmer überrascht. „Es war spannend zu sehen, wie viele Ideen zu Papier gebracht wurden“, wundert sich Astrid Beuermann. Der Kurs habe allen Beteiligten zu einem persönlichen Stil verholfen. Und die Kursteilnehmer konnten die Schönheiten der Malerei entdecken. „Die Bilder mit den Kreisen und Dreiecken haben mir besonders gefallen“, findet Melanie Winkler. Christina Schramm gefiel besonders ihr Bild mit dem Baum. Fortsetzung übernächste Seite Aus der Werkstatt Der Malkurs und einige dabei entstandene Bilder: 7 8 Behinderung Dass das Malen wertvoll ist, bestätigt auch Davor Stos von den Göttinger Werkstätten, der die kreative Gruppe bereits seit längerer Zeit leitet. Von den gesamten Angeboten der Aktionsgruppe sei dieses Projekt etwas Besonderes gewesen. Wie beim jetzt angebotenen Malkurs sei er bei jeder neuen Aktion von den Fähigkeiten der Gruppenmitglieder überrascht. „Jeder Teilnehmer hat seine individuellen Stärken im Künstlerteam gefunden und konnte diese umsetzen.“ Auch die Zivildienstleistenden und er hätten beim Malen ihre kreative Ader entdecken können. Lesermeinung Unterstützt wurde das Malprojekt von der Lebenshilfe Hann. Münden, die 500 Euro beisteuerte. Nicht zuletzt da Farben und Papier verbraucht wurden, war die Teilnahme kostenpflichtig. Dank der Lebenshilfe mussten die Teilnehmer nur noch einen geringen Eigenbeitrag leisten. Schöne Gemeinschaftsarbeit Am Ende waren sich die Teilnehmer einig, dass so etwas wiederholt werden solle. „Ich würde mich über einen erneuten Kurs freuen“, sagt Christina Schramm. Und auch Ka- tharina Schütze meint, „man könnte es wieder machen.“ Gruppenleiter Stos findet „ein solches Angebot unbedingt wiederholenswert“. Die Folgen der Malarbeit werden nun noch länger zu sehen sein. Neben den Einzelarbeiten ist auch ein Gemeinschaftswerk entstanden, das in Gimte aushängt. „Das große Gemeinschaftsbild war für uns ein wunderschöner Abschluss, wobei alle, auch die Zivildienstleistenden, Davor und ich, viel Spaß miteinander hatten“, freut sich der Maler Stefan Bettge. Sina Sjuts Verkauft Die Auswirkungen der Privatisierung des ehemaligen LKHs durch einen Klinikkonzern 2008 wurde das psychiatrische Landeskrankenhaus an den Asklepios-Konzern verkauft. Die Privatisierung von Krankenhäusern ist großes Wirtschaftsmonopoly, das in Deutschland gespielt wird. Krankenhäuser sind seither keine sozialen Einrichtungen mehr, sondern normale Wirtschaftsbetriebe. Der Staat zieht sich immer mehr aus der Finanzierungsverpflichtung des Gesundheitssystems zurück, mit weitreichenden Konsequenzen für die Qualität der Behandlung. Ursula Helmhold von den Grünen kritisierte bereits 2006, dass Kaufinteressenten zurückgestellt wurden, die eher eine Garantie für den Erhalt des klinisch-therapeutischen Konzepts und für die Wahrung der Patientinnen-Interessen in Aussicht gestellt hätten. Der Zwang zum Geldverdienen hat Folgen. 2008 wurden 5078 Patienten ambulant betreut. 2004 waren es nur 3064. Obwohl es deutlich mehr Kranke gab, blieb die Anzahl der Ärzte gleich. Mitarbeiter berichten, dass Druck ausgeübt wird, viele neue ambulante Patienten ranzuschaffen. „Die Auswirkungen sind, dass Patienten immer seltener Gesprächstermine mit ihrem Behandler haben“, sagt Anne Schneider*, die viele Jahre Patientin in der Institutsambulanz war. „Meine Ärztin hatte nur noch alle sechs Wochen Zeit für mich.“ Schlechterer Betreuungsschlüssel Die Wartezeiten stehen im Widerspruch zu den Ankündigungen aus der Werbung: „Ziel der milieutherapeutisch gestalteten Behandlungsangebote ist, Menschen dabei zu unterstützen, psychische Erkrankungen zu bewältigen und ihr Leben so selbstständig wie möglich im eigenen sozialen Umfeld weiterzuführen“, kündigt das Klinikum in einem Werbeblättchen an. Die Klinik sagt, sie habe das Ziel, das vorstationäre ambulante Angebot auszuweiten. Doch wie wird das erreicht? Die Grünen-Politikerin Sabine Rieser kritisiert, dass einige Träger der privatisierten Landeskliniken immer mehr Leihund Zeitarbeitskräfte beschäftigen, die bis zu 400 Euro weniger verdie- nen als die damals vom Land übernommenen Fachkräfte. Wie sollen Mitarbeiter, die unter solchen Bedingungen arbeiten, die in der Werbung angekündigte Qualität leisten können? Trotz der Privatisierung steigen die Kosten in der Psychiatrie weiter. Die Landtagsgrünen haben deshalb eine Unterrichtung des Sozialausschusses über die Kostensteigerung bei den 2008 verkauften psychiatrischen Landeskliniken gefordert. Es sei zu befürchten, dass die innerhalb eines Jahres um 26 Millionen Euro gestiegenen Kosten nicht auf höhere Qualität zurückzuführen seien, sondern die Träger ihre Kaufkosten refinanzieren, stellte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Miriam Staudte fest. Die Käufer erhöhen einfach ihre Gewinne. Die Grünen-Politikerin forderte von der Fachaufsicht des niedersächsischen Sozialministeriums mehr Engagement bei der Kontrolle der privaten Betreiber. * Name geändert Kristina Schulz Karneval Einer von uns ist Prinz 9 Inklusion im Karneval Der Werkstattbeschäftigte Jörg ist glücklich. Denn er ist ein richtiger Karnevalsprinz geworden. In Göttingen dürfen viele Behinderte beim Göttinger Karneval mitmachen. Wenn die Werkstatt Karneval feiert, kommen aber kaum Menschen ohne Behinderung. Jörg Jung ist glücklich. Der Mann sitzt im Rollstuhl und arbeitet im Metallbereich der Göttinger Werkstätten. Er hatte wie alle Karnevalsjecken einen Traum, so wie Martin Luther King, ein Kopf der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, in einer berühmten Rede sagte. Jörgs Traum ist Realität geworden. Trotz seiner Behinderung ist Jörg in einem regulären Karnevalsverein zum Prinzen ernannt worden. Er wurde für die Session 2011 gewählt. Und er gehörte von Anfang an dazu. Denn für seinen Karnevalsverein, die „Szültenbürger Karnevalsgesellschaft Schwarz-Gold von 1948“, ist ein Rollstuhl fahrender Prinz Normalität. „Der Prinz ist Karnevalist durch und durch, warum soll er es dann nicht machen?“, fragte die Präsidentin der Proklamationssitzung, Renate Wallbrecht. Jörg I. fühle sich im Verein wohl und ist von den Mitgliedern gewählt und akzeptiert. Auch aus der Dransfelder Wohnstätte für Menschen mit geistiger Behinderung hat eine Truppe den Weg in den regulären Karneval geschafft. Jedes Jahr macht die Gruppe eine Shownummer, bei der professionell eingekleidet Gags gemacht und getanzt wird. Dem Publikum gefällt’s. Inklusion bedeutet, dass Menschen mit Behinderung ganz normal dazu gehören. Während für Jörg I. die Inklusion wenigstens im Karneval schon Realität ist, wird in der Werkstatt noch Foto: Christian Mühlhausen fleißig daran gebastelt, dass Behinderte am normalen Leben teilhaben können. Deshalb veranstalten auch die Werkstätten einen Karneval, zu dem nicht nur die behinderten Beschäftigten kommen sollen, sondern auch nichtbehinderte Karnevalisten. Der Göttinger Karnevalsprinz und sein Hofstaat kommen jedes Jahr, Publikum ohne Behinderung ist jedoch selten. Die Narren und Närrinnen der Werkstatt lassen sich den Spaß trotzdem nicht nehmen. Polonäsen mit Rollator, Krücken und E-Rolli sorgen für Stimmung. Behinderte mit Down-Syndrom versprühen pure Lebensfreude. Die Werkstattjecken lassen sich dass Lachen nicht verbieten. Die Karnevalsitzung der Werkstätten gilt als einer der Höhepunkte des Göttinger Karnevals. „Das ist mein Lieblingstermin im Karne- val“, sagt Renate Wallbrecht. Wenn Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam feiern, wird Inklusion ahnbar. Kristina Schulz Kommentar Die Werkstatt zeigt, wie es geht Ich finde im Werkstattkarneval wird mehr gelacht als im übrigen Karneval. Das haben die nichtbehinderten Jecken noch nicht so richtig gelernt. Vielleicht sollten wir für sie eine Fördergruppe gründen. Die Beschäftigten der Göttinger Werkstätten sind bestimmt gerne dabei behilflich. Schließlich gehören auch die Nichtbehinderten dazu. Darauf ein dreifach donnerndes Göttingen helau. Kristina Schulz 10 Aus der Werkstatt Lustige Holzhackerbuam Mit Kaminholz aus den Werkstätten gegen Kälte Die Werkstätten verkaufen auch Kaminholz. Dafür gibt es besondere Maschinen, die aus ganzen Bäumen kleine Holzstücke machen. Wenn es kalt ist, kann man damit heizen. Seit Mai vergangenen Jahres verkaufen die Göttinger Werkstätten Kaminholz. Im Angebot sind Eiche, Buche, Kiefer und Fichte. Es werden lose Holzscheite verkauft, aber auch Säcke mit je einem Kubikmeter verpacktem Kaminholz. Damit sind die Göttinger Werkstätten zwar nicht die einzigen, die Kaminholz verkaufen. Doch der Leiter der Holzabteilung, Rolf-Dieter Gulke, sieht die Konkurrenz entspannt. „Die Baumärkte bieten das Kaminholz zu relativ hohen Preisen an, vielleicht können wir erreichen, dass deren Holz billiger wird.“ Im Baumarkt kostet ein Kubikmeter bis zu 200 Euro, im Brennholzhandel die Hälfte. Erst einmal gehe es jetzt jedoch für die Werkstätten darum, sich mit dem neuen Angebot einen Namen zu machen. „Im Moment befindet sich die Kaminholzproduktion noch im Aufbau.“ Den Anstoß für die Kaminholzproduktion gab die Lebenshilfe Gifhorn, sagt Gulke. In den dortigen Werkstätten werde damit schon seit Jahren Geld verdient. Spaltfix als Helferlein Das Brennholz wird nicht im Wald aufgesammelt oder Bäume selbst gefällt, die der Förster zuvor gekennzeichnet hat, so Gulke. Das wäre eine zu mühsame und gefährliche Arbeit. Die Göttinger Werkstätten würden dann neben schweren und komplexen Maschinen eine Baumfällgenehmigung benötigen. Der beste Weg sei deshalb ein pro- Der Spaltfix hilft den Beschäftigten bei der Brennholzproduktion. Foto:Gulke fessioneller Dienstleister gewesen. „Wir haben einen Lieferanten gefunden, der uns die waldfrischen Baumstämme direkt aus dem Forst anliefert“, sagt Gulke. Die angelieferten Stämme sind sieben bis acht Meter lang und noch nicht entastet und entrindet. „Wir schneiden die Stämme klein und hacken das Holz, dann geht es in den Verkauf.“ Die Arbeit beginnt damit, dass die Stämme in kürzere Abschnitte zerlegt werden. Das, was traditionell mit dem Beil oder der Axt erledigt wird, übernimmt in den Werkstätten eine halbautomatische Maschine, der Spaltfix S-300 von Posch. Die Maschine sägt das Holz und spaltet es in mehrere Scheite. Nach dem Spaltvorgang wird das Holz über ein Förderband zu einer Befülltrommel transportiert. Sobald die Trommel mit Brennholzscheiten gefüllt ist, umwickelt ein seitlicher Rotationsarm den Inhalt mit einem luftdurchlässigen Netz. Sind alle Scheite im Netz verpackt, wird es am oberen Ende einfach ab- geschnitten und verknotet. Der fertige „Holzpack“ kann abschließend mit dem Hubwagen abtransportiert werden. Trocken genug Völlig durchgetrocknet ist das Kaminholz beim Verkauf noch nicht. Diese Aufgabe müsse der Kunde schon selbst übernehmen, sagt Gulke. Künstlich getrocknetes Holz wäre zu teuer, das passt nicht in die Philosophie der Werkstätten. Eigentlich müsste es noch zwei Jahre gelagert werden, erst dann ist dem Brennholz genügend Feuchtigkeit entzogen worden, um seine ideale Brennleistung entwickeln zu können. Das Holz ist aber auch so nutzbar. Würde die Werkstatt völlig trockenes Kaminholz anbieten, wäre dies stark kapitalbindend, platzintensiv und unflexibel bei der Produktionsmenge. „Aus diesem Grunde wird alles frisch aber doch ofenfertig gespalten verkauft.“ Marcus Urban 11 Musik Freude über einen Unfall Melody Gardot begeistert als junge Jazz-Diva Melody Joy Gardot trägt ihre große Liebe bereits im Namen. Was auf den ersten Blick als Pseudonym erscheint, ist der wirkliche Name des im Februar 1985 im Bundesstaat New Jersey (USA) geborenen Ausnahmetalentes. Melody singt. Ihr Werdegang ist unkonventionell und teilweise beschwerlich. Die in Philadelphia aufgewachsene Künstlerin erhielt als Neunjährige die ersten Musikstunden am Klavier. Als alleinerziehende Gelegenheitsarbeiterin musste sie immer wieder Sonderschichten machen, um genug Geld zum Überleben zu verdienen. Dennoch finanzierte sie so auch noch ihren Klavierunterricht. Aber der Unterricht lohnte sich. Melody konnte sehr bald auch anspruchsvolle klassische Werke spielen. Als sie sich damit langweilte und Improvisationen in die Stücke einbaute, holte ihr Klavierlehrer sofort eine Platte von Duke Ellington und erklärte ihr, dass er ihr von nun an Jazz und Blues beibringen werde. Obwohl Melody nach etwa zwei Jahren Unterricht eine hoch versierte Pianistin war, dachte sie nie daran, Berufsmusikerin zu werden. Stattdessen begann sie am College ein Modedesign-Studium und verdiente sich den Unterhalt als Kneipenpianistin in den lokalen LoungeBars. Die Musik betrachtete sie zu diesem Zeitpunkt allerdings als reines Hobby. Wäre ihr Leben nach Plan verlaufen, würde sie heute irgendwelchen Models in irgendwelchen Modemetropolen Kleider überstülpen, drapieren, frisieren und alles zurechtmachen für deren große Schau. Erst durch einen tragischen Autounfall rückte die Musik in ihren Lebensmittelpunkt. Im November 2003 radelte die Studentin vom College nach Hau- se, als ein schwerer Geländewagen das Rot einer Ampel missachtete. Das Auto erfasst Melody, die halbtot liegen blieb. Mit Blaulicht kam sie ins Krankenhaus, wo sie anderthalb Jahre verbringen sollte. Per Zufall erfuhr Dr. Jermyn aus New Jersey von dem Unfall. Um Melodys gestörtes Kurzzeitgedächtnis zu verbessern, hielt er es für eine gute Idee, die Musik im Genesungsprozess als therapeutisches Schlüsselelement zu nutzen. Noch ans Spitalsbett gefesselt begann die einfühlsame Sängerin mit der musikalischen Selbsttherapie. Sie erlernte im Krankenhausbett autodidaktisch Gitarre und entdeckt ihre Fähigkeiten als Komponistin. Gleichzeitig begann sie sich auch für den Jazzgesang als Teil der Musiktherapie zu interessieren. Gesang im Krankenbett Zu der Zeit ahnte niemand, wie weitreichend die Konsequenz der Musiktherapie sein würde. Um ihre im Bett komponierten jazzgetränkten Balladen nicht zu vergessen, nahm sie diese mit dem Laptop auf und brannte CDs davon. Mit den CDs machte sie ihren Mitpatienten eine Freude und beeindruckte ihre Freunde damit. Einer dieser Freunde stellte die Musik ins Internet. Schließlich fielen ihre „Bedroom Sessions“ einer lokalen Rundfunkangestellten in die Hände, die sie im Nachtprogramm sendete. Ergriffene Hörer riefen an und wollten wissen, wo man die Scheibe der lasziv singenden Diva kaufen könnte. Trotz der anderthalb Jahre, die die Künstlerin im Krankenhaus verbrachte, um ihre Mobilität wiederzuerlangen, leidet sie bis heute unter den Folgen des Unfalls. Sie muss wegen ihrer Behinderungen eine dunkle Brille und Gehhilfen einsetzen – nicht um auszusehen wie ein weiblicher Ray Charles. Mit der Unterstützung des Radiosenders ging sie nach ihrer weitgehenden Rekonvaleszenz in ein Studio und nahm ein Demoband auf, welches zu einem Plattenvertrag bei einem großer Musikkonzern führte. Aus einer unbekannten Studentin für Modedesign mit klangvollem Vornamen ist binnen sieben Jahren die talentierte Sängerin Melody Gardot geworden, die sich zum Vamp stylen lässt und die mit einer leisen, verruchten Mischung aus Jazz, Blues und Pop etablierten Größen wie Norah Jones oder Madeleine Peyroux Konkurrenz macht. Momentan hat die Blues- und Jazzsängerin ihr Domizil in Philadelphia aufgegeben und reist mit zwei Koffern von einem Konzert zum nächsten. „Ich weiß nicht, wo ich heute ohne diesen Unfall wäre“, sagt Melody Gardot. Letztendlich sei sie dankbar für den Unfall. „Obwohl es sehr schwer für mich war, er hat mich verändert.“ Sie sei auch beruflich zur Musik gekommen. „Es gibt nun Tage, die sind unglaublich hart, aber auch andere, die sind voller Leichtigkeit“, freut sich die junge Jazzsängerin über ihr Schicksal. Marcus Urban Foto: Shervin Lainez 12 Aus der Werkstatt Der Winter behindert Rollifahrer kommen bei Schnee kaum vorwärts Behinderter aufstellen, damit der Räumdienst dort keine Schneebarrieren aufbaut. Für diejenigen, die wie Sandra Adamczyk im Schnee stecken bleiben, hat Stockfisch-Bock ein paar Tipps fürs Rollstuhl fahren im Winter. „Bittet um Hilfe wenn ihr stecken bleibt.“ Wer ein Handy habe, solle wenn nötig auch die Polizei rufen. Claudia Grosse freut sich jetzt erst einmal auf den herannahenden Frühling und hofft, dass sich einiges ändern wird bis zum nächsten Winter. Ursula Schreiber Impressum Auch Nadine Weiland ärgert sich über den Schnee. Foto: Eva Stockfisch-Bock Wenn es schneit, können lernen Rollifahrer mit ihrem Stuhl Rollstuhlfahrer nicht fahren. Der umzugehen. Normalerweise lautet Schnee verhindert das Vorwärts- Stockfisch-Bocks Trainingsdevise, kommen. Vor allem die Stadt „wer alleine mit dem Rolli fahren räumt die Straßen schlecht. Wer kann, soll versuchen alleine zu fahstecken bleibt, soll die Polizei ru- ren“. Sie hat das Ziel, dass die Gruppenteilnehmer im Alltag möglichst fen. Wenn Claudia Grosse im Winter selbstständig zurecht kommen. Doch das ist im Winter gar von ihrem Arbeitsplatz, der Druckerei, zum Essen will, hat sie häufig nicht so einfach. E-Rolli-Fahreein Problem: Auch dieses Jahr lag rin Nurcan Degermenci klagt etwa auf dem Weg zur Kantine Schnee, über die schlecht geräumten Wege viel Schnee. „Die Wege könnten et- in der Stadt. Bei Schnee könne man was besser geräumt werden“, sagt häufig nicht fahren. Auch Sandra Grosse. Denn sie komme durch die Adamczyk kann darüber berichten, weiße Masse kaum mit dem Roll- dass sie vor dem Haus schon im stuhl hindurch. Zwar sei sie in der Schnee stecken geblieben ist. Selbst wenn die Gehwege geDruckerei die einzige Rollifahrerin, aber es gebe ja noch Menschen, die räumt sind, türmen die Räumdiensmit Gehhilfen unterwegs seien und te an den Rändern der Bürgersteige nicht so gut laufen könnten. Für alle hohe Schneehaufen auf. Dadurch müsste der Weg richtig geräumt und werde der Weg vom Bürgersteig auf gestreut sein. „Wenn die Schnee- die Straße und zu den Rollstuhlbusräumung besser funktionieren wür- sen des Fahrdienstes versperrt. Vielleicht wäre es eine Idee, de, wären alle Beteiligten glücklich Kontakt mit der Stadt aufzunehmen, und zufrieden“, sagt Grosse. In der Behindertenwerkstatt meint Gruppenleiterin Stockfischkennt auch Eva Stockfisch-Bock Bock. Die könne dann vielleicht das Winterproblem. In ihrer Gruppe Schilder vor den Hauseingängen Herausgeber : Elliehäuser Weg 20, 37079 Göttingen Telefon : 0551 / 5065 - 0 Fax : 0551 / 5065 - 200 Homepage : www.goettinger-werkstaetten.de E-Mail: [email protected] V.i.S.d.P.: Holger Gerken – Geschäftsführer – Redaktion: Dr. Stefan Matysiak (Leitung), Jan Hendrik Gotthardt, Benjamin Hellmann, Timo Loth, Ursula Schreiber, Kristina Schulz, Marcus Urban Gestaltung, Layout, Satz: Marcus Urban und Dr. Stefan Matysiak Druck: Götinger Werkstätten gemeinnützige GmbH Auflage: 800 Stück Mit Namen gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder der Göttinger Werkstätten gGmbH wieder. Die Redaktion behält sich Kürzungen, Überarbeitung und (auszugsweise) Abdruck von eingesendeten Beiträgen. Kopie und Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion.