zum Gesamtext - Eva Maria Tepperberg
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1 Eva-Maria Tepperberg Etüden über Leben oder Ein langer Weg vom Wahn zum Sinn Band I und II Heidelberg: © Edition Eramo 22007 ISBN 978-3-936666-00-7 Impressum PD Dr. phil. Eva-Maria Tepperberg © Edition Eramo 2, Rue des Aires Vielles 34230 St Pons de Mauchiens E-Mail : [email protected] Fon/Fax : 0049(0)4.67.32.30.06 2 Eva-Maria Tepperberg Etüden über Leben oder Ein langer Weg vom Wahn zum Sinn Lasciate ogni speranza, voi qu’entrate. Laßt, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren! Dante Alighieri: La Commedia. Inferno (Canto Terzo) Die göttliche Komödie. Die Hölle (Dritter Gesang) Dem Andenken an meinen Patensohn Dirk Ludwig (13.4.1968 – 2.4.1989) Heidelberg: © Edition Eramo 12003/22007 ISBN 978-3-936666-00-7 Alle Rechte vorbehalten 3 Inhalt Kapitel I II Seite WahnS INNiger Wunsch .................................................................. 04 Eines Tages bin ich explodiert, bis in den siebenten Himmel hinauf ... ........................................................................... 05 „BINDUNG“ [AKROSTICHON 1 / „Versspitzengedicht“ 1] III ........ Die Trennungs-Bindungsdrangsal hinsichtlich der sogenannten „Klangwelt Mutterleib“ ............................................ IV 06 07 Dabei hatte alles so seligsüß begonnen ... Kindertagebuch der Mutter 23.3.38 ............................................. 10 V Die Mutter Ende 1942, noch bin ich 4 Jahre ... .............................. 12 VI Ängste? In die werd ich hineingeboren. Hineingezüchtet VII VIII und –gezüchtigt ... ......................................................................... 14 „Kindheit unterm Hakenkreuz“ ..................................................... 16 Vorbei der Krieg. Wir haben überlebt ... ...................................... 17 Mit der allgegenwärtigen Möglichkeit des Todes meiner (...) suizidalen Mutter ... IX ............................................................... 20 Mehr als fünf Jahre leb ich (...) in ganz normalen, geordneten Verhältnissen ... ............................................................ 22 X Der Sturz aus allen Himmeln und kosmischen Dimensionen ins Magma der psychiatrischen Hölle ... ................. 26 XI Die vulkanisch aufgebrochenen Energien werden mit brachialer Gewalt gestoppt. XII ................................................. 29 Eigenfolter? Bin ich zyklo-bipol-manisch-depressiv beziehungsweise schizoaffektiv geboren? ................................... 32 „HALDOL“ [AKROSTICHON 2] ...................................................... 29 „DEPRESSION“ [AKROSTICHON 3] ............................................. 30 XIII „’Was wollen Sie denn eigentlich noch, Frau K.’“.......................... 34 XIV Die geschlossene Uni-V 4 meiner Stadt hat es in sich ... ............ 38 XV Schnee von gestern 21 oder 70 000 oder 275 000 ... ................... 40 XVI Die von früh an gedrosselten Lebensenergien ... ......................... 43 4 VII Jede / jeder um mich herum weiß um Daseinssinn ... ................. 47 XVIII Bin ich wirklich nach jeder Manie zum Tode verurteilt, schlimmer noch: zum Dauersterben? ......................................... 49 XIX Werd ich zu Lebzeiten noch erfahren ... .................................... 50 „MANIE ALS SUCHT“ [AKROSTICHON 4] .................................. 52 XX Die Achterbahn meiner Bipolaritäten dreht sich immer schneller ... .................................................................................. 53 XXI Daß bei so viel solarer Erleuchtung (...) die totale Sonnenfinsternis nicht auf sich warten läßt ... ............................ 56 XXII Könnte ich doch eingehn. Endlich ... ......................................... 58 XXIII Der Countdown läuft. Himmel oder Hölle ... „EKSTASIS“ [AKROSTICHON 5] .............................................. 61 XXIV Countdown Stufe drei: „NACHT“ [AKROSTICHON 6] .................................................. 64 Countdown Stufe zwei: „HOFFNUNG“ [AKROSTICHON 7] ........................................... 64 Countdown Stufe eins: „HILFE“ [AKROSTICHON 8] ..................................................... 65 Countdown Stufe null: „ENDE“ [AKROSTICHON 9] ..................................................... 65 XXV Ein leises flüchtiges Vibrieren in den Genitalien ... .............. 66 „TOD“ [AKROSTICHON 10] ..................................................... 67 „STERBEN“ [AKROSTICHON 11] ........................................... 69 XXVI Das ist schlimmer als alles was war, davor ... ........................ 70 XXVII Die nackte Verzweiflung hatte mich gepackt ... .................... 72 XXVIII Zeit- und kostenintensive Sanierungsarbeiten an Körper und Seele. ... .......................................................... 74 XXIX Es ist ein zuversichtliches Wissen in mir ... ......................... 75 XXX „STIRB UND WERDE“ [AKROSTICHON 12] .......................... 77/78 5 I WahnS INNiger Wunsch Meinen W a h n S i n n auch nur einmal wirklich leben dürfen N i e m e h r bittre Drogen schlürfen müssen N i e m e h r mich fixieren lassen müssen brachial N i e m e h r voller Qual verdursten und in weiße Laken urinieren müssen N i e m e h r toll vor Angst und Panik vollgespritzt mit Folterinjektion welch ein Hohn auf Menschenwürde in der Isozelle fern von jeder Hilfequelle vegetieren müssen wie ein Tier Ja dies wünsch ich mir seit ungezählten Jahren schon M e n s c h e n w ü r d e Endlich meinen W a h n S i n n bis ans Ende auch nur einmal leben dürfen 6 II Eines Tages bin ich explodiert, bis in den siebenten Himmel hinauf, oder ist es doch erst der sexte? Oder erfahr ich einfach nur die vierte Dimension? Vielleicht auch alle Dimensionen und alle Himmel auf einmal? Jedenfalls bin ich am Ziel angelangt. Endlich. Plötzlich. Es hat mich hinausgeschleudert aus Raum und Zeit. Ich schwebe in jenen Paradiesen, nach denen ich mich lange schon sehne, vermutlich schon seit meiner Zeugungsempfängnis anno 1937. Noch bin ich 33 Jahre, noch ist es mitten im Winter. Auf einmal ist alles ganz anders, in mir und um mich herum. Alles ist mir gleichzeitig urvertraut. Es ist „wie im Himmel so auf Erden“ beziehungsweise umgekehrt. Kaum drei Monate vorher stirbt meine Mutter, 58 Jahre alt, in einem normalen Krankenhaus, nach kurzer schwerer Krankheit. Sechs Monate vorher überlebt sie ihren letzten und schwersten Suizid-versuch. Anschließend soll sie in die Psychiatrie. Zum ersten Mal im Leben. Mit Händen und Krallen verschaff ich ihr einen Platz in meiner Stadt. Sie will nicht in die Anstalt nah bei ihrer Stadt. Will nicht in der Nähe meines Vaters sein. Seit wievielen Jahren / Jahrzehnten will sie das nicht? Die Nixtu-Verwahrung in der Geschlossenen meiner Stadt ist ihr unerträglich. Nach nur zwei Tagen: „Bitte hol mich hier raus. Ich halte das nicht aus“. Mit Krallen und Händen hol ich sie wieder raus. Nehme sie zu mir ins Haus, in die Wohnung von Ex-Mann und mir. Wie kann ich anno 71 ahnen, daß kaum ein Jahr später mir die Geschlossene zum Gefängnis würde, mir, der Erstgeborenen ihrer drei Kinder? Und das nicht nur für zwei banale Tage, sondern für Jahre Jahre Jahre – für immer verlorene Jahre ... Fürs leben Leben LEBEN Arbeiten Lieben Produktivsein Schöpferischsein Genießen: Wieviele unwiederbringlich verlorene Jahre? Mit der chronischen Todes(sehn)sucht der Mutter wachse ich auf. Seit Säug-lingstagen. Oder schon seit meiner Zeugungsempfängnis? Seit jener Schreck-sekunde, in der mein Abschied von der anderen Welt sich vollzieht – erbarmungs-los und unwiderruflich? Ich sehe fühle erleide diesen Sekundenbruchteil wieder, während einer Atemsitzung (Rebirthing): Unter mir die Eltern im Bett – dabei, mich zur Erde zu bringen. Der Akt – bar jeder Zärtlichkeit Sinnlichkeit Erotik. Wo bleibt 7 die Liebe? Der Vater – ein geiler Bock? Die Mutter – eine Heilige, die sich schämt, einen Körper zu haben? Die Eltern – vereint und doch getrennt: Wo bleibt die Liebe? ... Qualmoment der sich einkörpernden Seele: „Ich halt das nicht aus“. Will schnell wieder raus. Kurzes heftiges Sträuben. Versuch mißglückt. Kann mich nicht mehr selbst abtreiben. Bin schon „drin“. Gefangen. Ausweglos. Bin ich seit dieser Trennungssekunde verrückt? Sind es meine Erzeuger – Kinder ihrer verrückten Zeit? Der Rest: Wenig Freude kommt da auf. Statt „Urvertrauen“: Lebenspanik, Schuldangst, Furcht vor Bindung Trennung, tief verborgen depressive Dauerwut. Kommt dennoch Freude auf: Selbstbestrafung – ohne Ende. 62 ½ Jahre Zickzack-Marathon. Endlich die ums Haar gelingende Selbstauslöschung: Bindung zwischen mir und (Un-)Mutter Erde? B odenloses Sein I n fremder Welt N iemals ganz geboren D ieser Existenz ... U nd doch die stete Hoffnung N och, es werde spät G enesung mir gelingen 8 III Die Trennungs-Bindungs-Drangsal hinsichtlich der sogenannten „Klangwelt Mutterleib“ (Alfred Tomatis) – meine Karma-/Reinkarnationstherapie [RT] hat sie gestreift. „Unstillbares Schwangerschaftserbrechen“, so die Außenperspektive. Paradies im Mutterleib? ... Nächster Trennungsschritt: Abschied von der ungemütlichen Höhle. Kampf ums Gebären und Geborenwerden(wollen). Wer hat mehr Drangsal auszustehen, trägt mehr Folge- und Spätschäden davon: Mutter oder Kind? Hier hat die Karmatherapie mir ein Licht aufgesteckt, das ich gerne weiterreichen möchte ... Heute käm auch ich, anno 38 klinikgeboren, als sectio caesarea beziehungsweise kaiserschnittig zur Welt. Genauso wie die Hälfte der Babys in den USA schon seit langem. Nicht anders als demnächst die halbe Babybrut und -flut auch bei uns. Angeblich. So will es das schmerzfrei autonom gebärende Weib von heute. Angeblich. Die Klinikfabrik will es sowieso. Ihr geht es ums Geschäft. Um Bettenkalkül. Um entbindungsfreie Wochenenden ... Meinen zwei Babygeschwistern bleibt die Klinikgeburt erspart. Meinem Bruder, 1940 mit Landhebamme hausgeboren. Rooming-in. Meiner Schwester, 1944 hausgeboren, mit derselben Hebamme. Rooming-in. Kein Hauch von Lebensangst wird die beiden jemals streifen. Sogenanntes Ur-Vertrauen. Hab ich nie gekannt. Muß eine wunderbare Mitgift sein. Fürs ganze Leben. Leg ich Erstgeborene, „Steißbeckenlage“, fötal mich quer, probier ein letztes Mal die Selbstabtreibung? Bin ich kein „normaler“ Föt, will nicht vertikal geburtsaktiv zur Erde nieder? Oder kann die Mutter mir nicht den nötigen Gravitationsraum geben? (Alle ihre Schwangerschaften waren flachbäuchig verlaufen). Gottseidank – eine ganz normale Erstgeburt. Ohne Narkose. So die Wahrnehmung beider Eltern. „Atmen Sie weiter“ sagt mein Reinkarnationstherapeut. „Was sehen Sie? fragt er, den Hautwiderstandsmesser [„Lügendetektor“] in der Hand ... „Ich seh ... meine 9 Mutter – im Kreißsaal. Sie liegt schräg unter mir ... Jemand steht daneben. Vermutlich eine Krankenschwester, Hebamme oder so“. „Atmen Sie immer weiter [sagt der Therapeut], geben Sie nicht auf. Was sehen Sie jetzt?“ „Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Komisch. Die Schwester hält meiner Mutter was vor die Nase, eine Maske oder so. Keine Ahnung“ ... „Was geschieht weiter?“... Die Schwester sagt zu meiner Mutter: Atmen Sie tief ein, ganz tief einatmen ... [immer wieder]. „Was ist das, was Ihre Mutter da einatmet?“ „Ich weiß nicht ...? ... Irgendein Gas, oder was ... Ein Gas ... ?“ Ich wank aus der Praxis hinaus. Schlepp mich zum Hauptbahnhof der Kapitale. Reiße letzte Kraft zusammen, widersteh der Versuchung, mich auf den nächsten Kiosk zu stürzen, nach einer Schachtel Zigaretten zu grapschen: Ich – in „normalen“ Zeiten frei von Nikotin, von Alkoholika, überhaupt immun gegen jede Versuchung zum Drogenkonsum. Trennungsstrapaze, Geburtsstrapaze: Voll bewußtloser Lachgas-Rausch. Niemand hat davon gewußt. Ich erfahr es – 50 Jahre später. Im Vollrausch das „Licht der Welt erblickt“. Lachgasgeburt: „Folgenschwere Schuldbindung an die Mutter“, sagen die Psycho-Perinatal-Experten von heute [perinatal: „den Zeitraum kurz vor, während und nach der Entbindung betreffend“]. Lachgasgeburt: Disposition für drogenfreies Psychoseprogramm im Erwachsenenleben: Bei Trennungsstreß und Psychostreß überhaupt – sage ich, Expertin in eigenpsychiatrischer Sache. Wie alle Babys der Zeit, werd auch ich der Mutter weggenommen. Sofort nach der Entbindung. Für endlos lange Zeit. Für die Wahrnehmung des Säuglings – eine Ewigkeit. Programm-„Engramm“: Panik und Depression. Anfälligkeit für gestörten Schlaf. Bin ich die störanfällige Ausnahme von der Regel? Lachgas, Trennung, ungestillter Hunger. Mutterlosigkeitsverzweiflung. Leicht zu (er)lösen – via Lachgasprogramm und –„engramm“ [„im Zentralnervensystem hinterlassene Spur eines Reiz- oder Erlebniseindrucks, die dessen Reproduktion zu einem späteren Zeitpunkt möglich macht; Erinnerungsbild“ (Duden)] ... Nur eine Nacht zu wenig gepennt, die Nächte darauf fast ganz ohne Schlaf – schon ist es zu spät. Panik vorm „Dekompensieren“ überschwemmt mir das System. Wellen von Panikatta- 10 cken. Dann treten „Endorphine“ [körpereigene Glückshormone] in Aktion. Befreien mich von solchem Entsetzen. Schalten alle Panik aus. Wozu noch schlafen? Ab in den manischen Rausch. Lachgas-Manie. Außer Kontrolle. Von jetzt auf gleich – raus aus dem irdischen Jammertal. Endlich wieder Paradies auf Erden. „Krankheitseinsicht“? Freude, Seligkeit und „Dauerglück“ – das soll Krankheit sein? ... Endstation Geschlossene. Katastrophe. Wieder hab ich ES nicht gecheckt ... Unbegreiflich. Bin mir selbst ein Rätsel. Wieder dem Sog des leichten (Un-)Glücks verfallen. Der Illusion „Grünes Licht“. Die rote Lebensampel übersehen. Schlimmer als jede Droge. Ausweglos? Immer wieder niemals wieder Psychiatrie? Verrückt gezeugt-empfangen. Drogen-präpsychotisch aus dem Leib der Mutter gezogen. Zack zack die Nabelschur ab. Getrennt von Mutter-Boden-Body-Brust und Bauch und weg. Natur-Normal-Entbindung: Unterbunden. Abgeschnitten scherenschnell und kreißsaalgrell. Atemschock. Rasant getrennt = lebenslang in Angst und Schuld gefangen. Wann wird Abschied möglich sein? Unheilbare Trennungswunden. Bis daß der beiderseitige Fast-Suizid Euch scheidet ... 11 IV Dabei hatte alles so seligsüß begonnen ... Kindertagebuch der Mutter vom 23.3.38 [5 Tage nach der Geburt]: „Ein Mädchen haben Sie“, sagte der Arzt. Ein Mädchen hatten wir uns auch gewünscht. [? Ein Baby-Foto, ich im Alter von 2 Monaten, ist von meinem Vater, passionierter Amateur-Fotograf, rückseits beschriftet: „Sohn des G. T.“]. „Ist es auch ganz in Ordnung, und lebt es?“ war meine erste Frage, die mit „Ja“ beantwortet wurde, das Evchen alsbald mit einem zarten dünnen Stimmchen bekräftigte. Wie ein abgehäutetes Häschen sah Evchen zuerst aus [stimmt: hautlos geboren, ohne Fellchen über Herz-und-Seelen-Innereien], aber bald war sie verwandelt in ein kleines Menschlein mit appetitlich rosiger Haut. Daß das mein Kind sein sollte, daß ich jetzt wirklich ein lebendiges Kind haben sollte, das konnte ich in dem Moment und auch den ganzen ersten Tag nicht fassen [ ...]. D. h. „fassen“ läßt sich ja ein solches Wunder Gottes überhaupt nicht; man kann es nur allmählich als Tatsache hinnehmen. Am nächsten Tag besuchte mich Evchen das erstemal im Bett. Da lag sie neben mir, winzig klein und verschlafen – so süß. Der Vater war auch dabei. Und wir mußten nur immer schauen und schauen und konnten das Wunder nicht begreifen [nicht anfassen mit Händen und Armen, körperkontakt-konkret]. „Ist die bloß herzig“, sagte der Vater einmal ums andere, und ich hätte sie am liebsten in die Arme genommen und gestreichelt und geküßt. [Das haben die Mütter sich bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts verbieten lassen (müssen?). Die Nazi-Ärztin Dr. med. Johanna Haarer hat’s ihnen untersagt: Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, 1938. Mutter, erzähl von Adolf Hitler, 1943. ... Siehe auch unten Kap. VI, S.16)]. Zwei bis drei Wochen „zu früh“ gekommen, mit 5 ¼ Pfund Lebendgewicht – „Mangelgeburt“ für damalige Zeiten. Kann (oder will?) deshalb nicht trinken. Will zu Hause dann sehr. Darf aber nicht, wenn sie will. „Evchen muß sich an die achtstündige Nachtruhe gewöhnen“ [H.v.m.]. Zwei bis drei Stunden frühmor- 12 gendliches Hungergeschrei, und das zwei volle Monde lang. „[ ... ] ein Zeichen von Eigensinn?“, fragt sich bang die Tagebuchmutter und schiebt mich in ein entferntes Zimmer. „Zwei Monate durchgeschrien?“, wird meine Primärtherapeutin Ende der 70er des letzten Jahrhunderts staunen, „das ist ungewöhnlich. Normalerweise gibt ein Säugling schon nach zwei Tagen auf“. Weshalb nur hab ich nicht aufgegeben? Sollte meine arme (Un-)Mutter zur perfektesten aller (Tagebuch-) Mütter werden, durch mein hartnäckiges Überlebensgebrüll? Wozu hat mein Vater mir, seinem ab ovo chronisch kranken (Lieblings-)Kind, zweimal (mit 5 und 8 Jahren) das Leben retten müssen? Das werd ich mich nicht nur einmal fragen, in den Qualepochen meines späteren Erwachsenenlebens. Nicht nur einmal werd ich meinen fürsorglich um mich bemühten Kindervater posthum menschenlästerlich dafür verdammen. 13 V Die Mutter Ende 1942, noch bin ich 4 Jahre: Neuerdings redet Evchen dauernd vom Sterben: „Ich will sterben, Mama! Ich will in den Himmel!“ Sie erkundigt sich genau, wie es im Himmel ist. Sie will wissen, wie das „Neuwerden“ zustandekommt, ob man wieder die Augen aufmacht, sie möchte dort Locken haben, fragt, ob es im Himmel einen Weihnachtsbaum gibt. Andererseits steht sie aber mit beiden Füßen fest auf der Erde. Sie hat mit Wä sche gewaschen, gestern Kuchen gebacken! Und sie ist schrecklich wild (H.v.m.). ... Heute war ich zärtlich mit ihr. Sie fragte darauf in ihrer etwas trockenen Art: „Der Papa hat wohl geschrieben: ‚Viele Küsse‘?“ (H.v.m.). Der Vater meiner Kindheit wird mir zur „Mutter“ – soweit die wachsende Überlast von Beruf = Berufung zum Luther-Pfarrer es zuläßt. Der Irrsinn der Zeit läßt ihn, den einstigen Schulprimus des deutschen Gymnasiums von Tschernowitz (Bukowina) und doppelstudierten (Med./ev. Theol.) rumänischen Aus-landsstipendiaten (Graz und Halle/S.) zum Halbjuden mutieren: von Gnaden der Nürnberger [Rassen-]Gesetze vom 15. September 1935. Studienabschluß Anfang 1935 in Halle/S. Heimatpolitisch zwischen allen Stühlen. Die rumänischen Behörden verweigern ihm die Rückkehr in die Heimat. Erlassen Haftbefehl gegen ihn. Das „Reich“ verweigert ihm einen deutschen Paß. „Sudetenkrise“ September 1938: Unsere Internierung als „rumänische Staatsangehörige“ steht bevor ... Flucht mit dem letzten Zug via Wien. Der weinende Säugling die ganze Nacht auf dem Schoß der Mutter: Mittelohrentzündung. Mein chronisches Leiden no 1. Wir leben gefährlich, prekärlich, spärlich – politisch, ökonomisch, sozial. Zweimal muß mein Vater Ort und Stelle wechseln. Mit Frau und Kind. Dann taucht er unter, tauchen wir unter. Sein Kirchenpräsident kann ihn „nach Haber retten“ (Bericht meines Vaters über seine Amtstätigkeit vom 15.7.1938 bis 17.7.1946). Haber – die älteste evangelische Gemeinde Nord- und Mittelböhmens. Das 270-Seelen-Dorf ist Zentrum einer Diasporagemeinde mit Umkreis von 100 km. Verwaist 14 seit sieben Jahren. Amtshandlungen ohne Ende. Auch für Katholiken und untergetauchte Juden. Quasi ökumenisch. Oft ist der halbjüdische Landpfarrer bis in die Nacht unterwegs, auf schütterem Kraftrad. Die Mutter in Ängsten, er könne verunglückt sein. Dann Weltkrieg. Mein Vater hört heimlich russischen Feindsender, Nacht für Nacht: „Greuelpropaganda?“ Haber: 17 km entfernt von der Vernichtungsanstalt Theresienstadt, quasi um die Ecke. Der Vater weiht auch die Mutter nicht ein. Hat er Angst? Lebt meine Mutter in Ängsten? Am 8. Mai 1945 sagt sie zu ihren drei Kindern (7, 5, und 1): „Hätte Hitler den Krieg gewonnen, dann würdet auch ihr Vierteljuden noch vergast!“. Macht mir das nachträglich Angst? Der glühend blühend rosarote Himmel des Aschermittwoch vom 14. Februar 1945: „Heute Nacht hat Dresden gebrannt“. 100 km nordwestlich von uns entfernt. Wenig später die April-Geschwader der Alliierten am sonnenblauen Sonntagshimmel über unsere Köpfe hinweg, dröhnende Dreier-/Viererstaffeln immer wieder: Angst? Panik? Alptraum? In Auscha, 3 km entfernt, fallen Bomben: Evchen war kreideblaß, den ganzen Tag sprach sie noch aufgeregt von dem Geschehen. Beim Mittagessen meinte sie u.a.: „Ach, wenn ich doch schon gestorben wäre!“ Dann hätte sie nämlich all das Schwere, das vielleicht das Leben bringen würde, schon hinter sich.“ (3.4.45). In der Erinnerung sehe ich selbst nur Farben und Formen: Gigantisches Dresdner Himmelrosarot, geometrisches Flugzeug-Staffelgrau vor helllichtem Himmelblau. Angst? 15 VI Ängste? In die werd ich hineingeboren. Hineingezüchtet und -gezüchtigt. Chronischer Alptraum der Kindheit zwischen Heil Hitler und Heil Luther ist mir – die Mutter. Geliebt und tödlich gefürchtet zugleich. Sie tut ihre Pflicht. Akribisch. Meint es gut. Hat sie mit Kinderseele was am Hut? Hat keine Ahnung, wie sehr sie mich in Furcht und Schrecken jagt, mit ihrem allzeit „lockeren Handgelenk“ = ihren Schlagritualen, ihren Prügeltrachten. Ich dürfe dem Brüderchen nichts vom „schwarzen Mann“ erzählen. Das könne kleinen Kindern schaden. Mir ist längst ein „Schwarzer Mann“ im Alptraum erschienen, in freier Landschaft, von hinten. Verhüllt von oben bis unten: Der einzig bewußt erinnerte Alptraum der Kindheit: Die Mutter? Meine Ängste vor ihrem allgegenwärtigen Strafgericht werden unerträglich – in den kriegsbedingten Endlos-Gezeiten der Trennung vom Vater. Der hat sich von Sommer 42 bis Sommer 44 auch noch der Pfarrgemeinde Karlsbad zur Verfügung zu stellen, 150 km von Haber entfernt. Ist nur kurze Tage im Monat bei uns. „So war ich zwischen Haber und Karlsbad hin- und hergerissen“ (Bericht des Vaters). Hin- und hergerissen bin auch ich. Zwischen den Eltern, ihren unvereinbaren Sicht- und Verhaltensweisen bezüglich Kindsein und Aufzucht von Kindern. Jetzt noch mehr als die Jahre zuvor. Evchen [knapp 3 Jahre] ist überhaupt ein braves und folgsames Kind [Mutters Peitsche-Zuckerbrot-Marionettchen]. Nur nicht wenn der Papa sich zuviel mit ihr beschäftigt. Der läßt ihr nämlich – und wenn er vorher 100x „Nein“ gesagt hat – schließlich doch ihren Willen. Das weiß sie ganz genau und wird unausstehlich, wenn sie „Baba“ ruft und er es nicht hört. Das ärgert die Mama sehr, und sie hat dann Evchen schon oft verhauen, wodurch freilich die Situation nur ver-schlimmert wurde. Seit sie den kleinen Bruder hat, zeigt es sich, daß sie ein ausgesprochen „gutes Herzchen“ hat, woran früher oft gezweifelt wurde [von wem?]. (5.3.41). Kaum ist mein Vater nach Karlsbad abkommandiert, unterlieg ich dem Kommando der Mutter. Jetzt gibt es kein Entrinnen mehr vor ihrer – so mit Sicherheit nicht 16 gewollten und ihr selbst nicht bewußten - Version von „schwarzer Pädagogik“: Der Vater kann mich nicht mehr „verwöhnen“, mir nicht mehr „meinen Willen lassen“, meiner Wildheit und Ungezogenheit nicht mehr „nachgeben“. Die Mutter Anfang 43: „Wir folgen nur der Mama, die haut uns nämlich!“ [zur Oma aus Halle/S., bei uns zu Besuch]. Anfang 44: „Gestern mußte ich Evchen [...] wieder einmal verhauen, mit gutem Erfolg. Haue gab es auch neulich, als sie der Oma sehr ungezogene Antworten gab und das Gegenteil von allem tat, was sie tun sollte, weil sie weiß, daß die Oma zwar droht, aber dann doch nicht straft. Mir ist es schrecklich, wenn ich das Kind geschlagen habe [H.v.m. Warum schlägst du mich dann?]. Es läuft mir hinterher nach wie ein Hündchen und nimmt gar nichts übel und hängt so an mir. Es ist doch ein gutartiges Kind. Man müßte viel mehr Zeit zur Erziehung der Kinder haben, dann wäre, bei Evchen zumindest, das Strafen gar nicht nötig. [Ist es gleichwohl geblieben, das handgreifliche Strafen, bis in die Pubertät hinein]. 17 Kindheit unterm Hakenkreuz Mütter wollen seit Rousseau Immer alles „richtig“ machen. Mütter unterm Hakenkreuze werden hörig Dr. med. Johanna Haarer ... Kaum, daß Leben sich im Körper regt, weiß der Kopf auch schon, wie Disziplin Erziehung prägt: Allzu schnell vom Mutterleib getrennte Babys haben durchzuschrei’n bis zur nächsten Fütterung im 8-Stundentakte. Schmerzenskinder haben früh schon fühl- und tränenlos zu sein ... Windelfreie Sauberkeit, bedingungslose Folgsamkeit, sie werden andressiert in zarter Lebensblüte. Streichelwärme, Augennähe, Zärtlichkeit, spontane Güte? Bloß die Kleinen nicht „verwöhnen“, das ist oberstes Gebot. Zu brechen gilt es Kinderwillen, eig’nen Sinn und Widerstand. Zum Schlageritual ist allzu oft bereit - die Mutterhand. Arme Kinder armer Mütter: Ward nicht auch ihnen lebenslang Verweigert Menschenliebe seitens Mutter, Vater, Ehegatten? Was würde Jesus, Mensch der Menschen, uns und ihnen heute sagen, er, der immer schon die Kinder zu sich kommen ließ ...? Werdet selbst erst wie die Kinder, unbefangen, voller Fragen: Schenkt in Liebe und Vertrauen Leben jenen ungebor’nen Seelen, die jetzt Erdenbürger werden wollen: Ihrer sei das Paradies! 18 VII Vorbei der Krieg. Wir haben überlebt. Die Mutter 1.7.45: Wir durften immer wieder erfahren, daß Gott seine Hand schützend über unserem Hause hielt. Diese Erfahrung ist an den Kindern nicht spurlos vorüber gegangen. Wir dürfen noch bleiben. Die rumänische Staatsbürgerschaft bietet Schutz. Der Krieg ist vorbei. Es bleibt der Schmerz. Plötzlich ist meine Busenfreundin Lindi weg. Ohne Abschied. Schock. Einfach verschwunden. Wohin? Wieso? Ich kann es nicht fassen. Das Dorf verlassen. Erste Vertreibungswelle am Morgen des 11. Juni 1945. Bericht des Vaters: Mit Ausnahme einer Handvoll nicht gehfähiger, meist alter oder kranker Leute war das ganze Dorf „evakuiert“, und im menschenleeren Dorf war nichts zu hören als das gequälte Brüllen der ungemolkenen Kühe in den Stallungen. Vorbei der Krieg. Es bleibt der Schmerz. Leere. Der paradiesische Spätfrühjahrsund hochsommerliche Pfarrhausgarten mit Sträuchern Bäumen Obst Gemüse Blumen über Blumen auf wild wuchernden Wiesen: Niemandsland. Ich hab keine Lindi mehr. Verlassen. Trennung ohne Abschied. Prägung fürs Leben. Erfah-rungsmuster für später. Wieder und wieder. Mit Liebes-Männern zum Beispiel ... Melancholischer Dämmer. Kinderkummer tränenlos. Unbemerkt und ungetröstet. Wochen und Wochen. Evchen hat ihre ganzen Freundinnen verloren. Sie sind alle mit ihren Eltern ausgewiesen worden. Was aus uns wird, ist noch nicht bestimmt; aber Evchen ist voll Unternehmungsgeist und möchte schon immer packen. Sie hilft mir jetzt, wo ich ohne Mädchen und Frau R. bin, viel und gern im Haushalt und erweist sich 19 als außerordentlich gewissenhaft. Besonders muß sie auf ihre kleine Schwester aufpassen. (1.7.45). Vater (*1909) und Mutter (*1913) haben auch den ersten WK schon mitgeKRIEGt. Wird diese Ehe u. a. auch deshalb zum hinterkulissigen Dauerkrieg? Ward diese Ehe wirklich „im Himmel geschlossen“, wie mein Kindervater sagt? „Ehen werden im Himmel geschlossen“. Warum nicht vor allem auf Erden? „Bis daß der Tod euch scheidet?“ Am Tag der Silberhochzeit spricht meine Mutter galgenhumorig vom „Dreißigjährigen (Ehe-)Krieg“. Auf Erden ... 4 Jahre später: Ihr letzter Versuch, sich auszulöschen. 1 ½ Tage Koma. Überlebenschance 30 zu 70. Ein halbes Jahr später: Ihr friedlicher Tod. Im Beisein meines Vaters. Ein Vierteljahr später: Bin ich jetzt wirklich auf einmal verrückt, plötzlich wahnsinnig geworden? Für immer psychotisch? Offenbar. Über jeden Zweifel erhaben. Es dauert seine Zeit, bis ich selbst es so richtig begreife: „Psychose“ ... „Psycho-somatose des Gehirns“ ... Harmlos scheinende neue Worthülsen für Altbekanntes. Jahrhundertelang hat es schlicht „Geisteskrankheit“ geheißen. Heute spielt nicht der sogenannte Geist, sondern der Hirnstoffwechsel verrückt. Gehupft wie gesprungen. Die Symptome sind dieselben. Geblieben. Statt Eugenik und Ausmerze wie im 1000jährigen Reich: Heute chemische Keule. Die brauch ich ganz offensichtlich. Bei meiner Form der Psychose. Stapel von Krankenakten türmen sich heute. Alles dokumentiert. Jeder Akt des Irrens. Des wirren Abweichens von Wohlverhalten Sitte Moral. Kurven ohne Zahl. Jede Zwangsinjektion, jede Zwangspille intramural [innerhalb der Anstaltsmauern verabreicht]. Wieviele Zwangsgifte braucht ein Mensch, wenn er derartig verwirrt meschugge hat werden müssen wie ich? Wieviele Zwangsgifte kann ein solcher Mensch überhaupt (v)ertragen, verkraften, ohne dauerhaft Schaden zu nehmen – an Körper Seele Geist? Der Ex-Schwager von einst – heute Medizinprofessor international – spritzt mir Valium in die Vene: „Das gibt es nicht! Was du an Gift verträgst! Jeder Normalmensch wär da längst schon umgefallen“. So geschehen vor 30 Jahren. Schaudernder scham- und gramgrundierter Rückblick auf meine Dauerguerilla gegen die exklusiv „biologisch“ erstarrte Psychiatrie ... Dauerkampf ums Weitermachen 20 Weiterschuften Weiterlieben Überleben, immer mehr zerrissen zwischen JA und NEIN. Vergeblich der Kampf. Durchgehalten mehr als eine ganze Generation ... Wie warum wozu der Marathon? Endlich – Postsuizid. Was Wunder? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Wie die Mutter so die Tochter. Nur viel schlimmer. Überlebenschance 1 zu 99. 15 Tage Koma. Aufgewacht am Todestag der Mutter: Wunder? 21 VIII Mit der allgegenwärtigen Möglichkeit des Todes meiner psychosomatisch und psychisch schwer kranken, am Leben verzweifelten, suizidalen Mutter hätt ich mich arrangieren können. Genauso wenig erschütterbar, genauso stabil, wie meine Geschwister auch. Ich kann es nicht. Der Tod dieser Unseligkeitsmutter trifft mich als Blitz aus heiterem Himmel. Schlägt in mich ein. Ich steh unter Schock. Ich darf mein Leben leben – sie hat „ihr Leben nicht gelebt“. Ich hab es besser gehabt als sie. In allem. Schon immer. Hab alles gedurft. Musizieren. Studieren. Mich qualifizieren. Eine gute Ehe führen. So ein ideales, „sinnerfülltes“ Frauen-leben, das hätte sie sich auch gewünscht ... Jetzt will sie auch noch ein Enkelkind von mir haben. Will es mir aufziehn. Damit ihr Leben doch noch Sinn bekommt. Gottseidank fall ich auf diesen Mutter-Rettungs-Trick nicht (auch noch) rein. Werde Jahrzehnte später erfahren, daß mein Lebens(Un)sinn, Krankheits(Un)sinn nicht zuletzt auf kindliche Mutter-Rettungs-Illusion gegründet ist ... Mit den Jahren kehrt das Mutter-Tochter-Verhältnis sich um ... Zart, sensibel und musisch begabt ist sie gewesen, die Mutter. Im Gymnasium stets die Beste, dann mit vollen Segeln ins Studium der Theologie, mit Hilfe von Aufputschmitteln das Graecum mit „Eins“ absolviert, als Beste. Schon nach einem Semester. Alle anderen brauchen zwei. (Dazu noch eine attraktive, elegante Frau – was sie selbst nicht wahrnimmt und weiß). Zusammenbruch. Schlaflos über Wochen. Flippt nicht aus! Keine Rede von Psychiatrie. Immer mit dem Kopf durch die Wand. Über ihre Kräfte hinaus. Immer. Ehrgeizig, zwanghaft, bisweilen jähzornsgeneigt, pedantisch – zart, sensibel und musisch begabt. Preußisch pflichtbewußt. Will stark sein. Ihr selbstauferlegtes Pensum schaffen, koste es was es wolle. Tut sich selbst Gewalt an. (Später auch den Kindern). An der Uni begegnet sie meinem Vater. Entscheidet sich für Abbruch des Studiums, für „Mischehe“ und Familie. Sechs Kinder will sie einmal haben. Bin nicht ich allein ihr schon zu viel? 22 Jetzt ist sie mir manchmal zuviel. Wie oft in später Nacht ruft sie an, klagt mir ihr Leben, ihr Leiden. Nur noch Verzweiflung, Sinnlosigkeit ohne Ausweg. Ihr Schicksal zerreißt mich. Irgendwie mach ich „Telefonseelsorge“. Schlecht und recht. Meine Schwester, ihr Lieblingskind, zieht kleine Kinder auf, ist längst im Bett. Desgleichen mein Vater. Ich, kinderlos. Immer erreichbar. Hocke nachteulig am Schreibtisch. Finde das Wirken an einer Diss auch nicht gerade sinnvoll. Leben aus zweiter Hand. Strapaziert den Intellekt. Das Herz bleibt außen vor. Aber ihre Existenz mit der meinen vertauschen? Bloß in aller Welt nicht dasss. Dann schon lieber Disss. Bis weit nach Mitternacht ... Wie nur wie die Mutter aus ihrer Kinder-Küche-Kirche-Sackgasse lotsen? Wo noch nicht mal zwei Jahrzehnte Psychoanalyse(n) solches vermochten. Wo selbst die Profis machtlos sind. Ich schlage vor und vor und vor. Sie echot: „Ja – aber ... Ja – aber“. Meine Ohnmacht – und hilflose Wut. Bin wie immer voll auf Rettertrip ... Bis die schweren Barbiturate am anderen Ende der Nabelschnur zu wirken beginnen, die lebens-verzweifelte Mutterstimme träge wird, das Endlosgespräch versiegt. Wenige Stunden Nachtschlaf werden ihr Erleichterung bringen. Gottseidank. Auch mir fallen derweilen die Augen zu. Ohne Drogen. 9 Stunden Nachtschlaf – Natur pur. Wär‘ ihr letzter Therapeut, diesmal ein Anthroposoph, die Lösung gewesen – bevor der natürliche Tod sie erlöste? Der Letzte hat sie ermutigt, ihre Träume zu malen, hat ihr nahegelegt zu schreiben. Zum Beispiel. Hat ihrer Kreativität Wege gewiesen. Hat ihr das „Du“ angeboten. Vergeblich. Und, Witwer geworden, sie gar noch zur Ehefrau begehrt. Er hat ihre Seele erkannt. Mein Vater nie. Schade, daß meine Mutter stur bleibt, bis zuletzt: „Für mich gibt es Scheidung nur durch den Tod“. Ihr magersüchtiger Körper – er stößt weder den Sophen ab noch meinen Vater. Sie wird begehrt. Auch noch mit Ende 50. Trotz ihrer schweren Leiden. Während sie im Krankenhaus liegt, stirbt ihr Therapeut – an Krebs. Wir verheimlichen ihr seinen Tod. Fünf Wochen später folgt sie ihm nach. 23 IX Mehr als fünf Jahre leb ich, wie man so sagt, in ganz normalen, geordneten Verhältnissen. Mit Ehemann und Forschen und Lehren und Freunden und Gastgebereien und überhaupt. Angestrengt hat es mich schon, dieses stinknormale Leben von damals. Ein Vitalbolzen war ich noch nie. Zu meinem großen Leidwesen. Alle anderen um mich herum: Robustere Naturen, lebens- und alltagstauglicher als ich. Unerschütterliche Nervensysteme. Halbe Nächte durchfeiern. Am nächsten Tag wieder fit fürs Alltags- und Arbeitsleben. Nie mein Ding gewesen. Verdammt nochmal. Mein Selbstwertgefühl schon immer im Ars – logo nach dem bisher Angedeuteten [s.u. Kap.XIII]. „Du hast halt Minkos“ [Minderwertigkeitskomplexe] O-[Original-]Ton Vater. Woher wohl? „Wer, wenn nicht du!“ O-Ton Vater. In Todespanik sämtliche Prüfungshürden genommen. „Du hättest das Zeug zum Professor“, O-Ton Mutter. Ihr sophischer Therapeut entnimmt es meiner unleserlichen Handschrift. Auch noch das! Selbstwertgefühl durch kakademische Titel? Kein Titel der Welt überzeugt mich, daß ich wertvoll bin. Liebenswert bin. Es wert bin, zu sein wie ich bin. Nämlich schrecklich wild. Zum Beispiel, wie die immer gestreßte Kindermutter notiert [s.o. Kap.V]. Mein schreckliches Pech: In unserem Fünferclan bin ich der einzige Mensch mit – überschäumendem Temperament. Mit meridionalen Gefühlsausbrüchen, wenn Freude mich überkommt. Siehe Tagebuch der Mutter Weihnachten anno 1939, ich bin 1 ¾ Jahre: „Ein großes und für uns Eltern unvergeßliches Ereignis war das Weihnachtsfest, d. h. der hl. Abend. Ich hatte im Eß = Wohnzimmer alles aufgebaut, Evchens Sachen auf einem kleinen Tischchen extra und die Lichter auf dem Baum und überall im Zimmer angezündet. Bei den Klängen von ‚Ihr Kinderlein, kommet’, auf dem Harmonium gespielt, wurde die Tür geöffnet zum Kinderzimmer, wo Evchen mit dem Papa spielte. Zunächst merkte sie gar nichts, auf einmal wurde sie die Lichter gewahr, eilte zur Tür und blieb darin wie angewurzelt stehen. Sie starrte den Baum an, die vielen Lichter, auf ihrem Gesichtchen spiegelte sich unbeschreibliches Erstaunen. Als sie sich ein wenig gefaßt hatte, stürmte sie ins 24 Zimmer, blieb vor dem Baum stehen und starrte wieder die vielen vielen Lichter an. Und dann erblickte sie das Tischchen mit den Spielsachen. Und dann brach ein grenzenloser Jubel los. Sie schrie und lachte, raste herum, warf sich auf den Boden ... und wußte sich überhaupt nicht zu lassen vor Freude.“ Das einzige Glied unserer Fünferbande mit extremem Freiheitsdrang. Alle Mädchenwildheit von Dompteuse Mutter gezähmt. Abdressiert. Innere Gitterstäbe zementiert ... Überleben im verrückten Kleinfamilien-Zoo. Bin, zum Ärger der Mutter, alle naslang krank ... . Und dennoch meine Rolle: Aushängeschild Kulturproduktion. Die Geschwister, nicht weniger talentiert, verweigern sich erfolgreich den Leistungserwartungen der Eltern ... Warum nehm ich diesen Part eigentlich an? Seh keine Alternative. Verlegenheitslösung? Erringe Preise – schulisch, sportlich, musikalisch. Bringe Titel. Stufe um Stufe. Brennbare Blätter aus Papier. Feige Feigenblätter. Dahinter die Nackheit meines „Alles oder Nichts“. Lieber hätt ich sie lebendig immergrün. Die feigen Blätter. Stell am Tag der Hochzeit die Meistergeige in die Ecke. Mach jetzt ganz auf kakademisch. „Hausmusik ist bürgerliche Onanie“, O-Ton Kollege Ex-Mann. Find ich inzwischen selbstverständlich auch. Von irgendwas muß ich mich trennen, ab dem Tag meiner Hochzeit. Anders ist das Pensum nicht zu schaffen. Kollege Ex-Mann will die Gesellschaft verändern. Und auch mir ist die Weltrevolution ein sanftes Ruhekissen. Häufig dös ich tagsüber ein – über Fachliteratur. Penne drogenfrei die ganze Nacht durch. Minimum 9 Stunden. Zum Glück ist Kollege Ex-Mann genauso ruhebedürftig wie ich. Herr Marx und Herr Freud gibt’s in Personalunion den Seinen auch im Schlaf. Dann der Schocktod meiner Mutter. Wochenlange Heulanfälle. 12 Stunden Schlaf auf einmal die Regel. Sacke zu jeder Tag- und Nachtzeit weg. Das Seminar an der Uni läuft weiter. Total normal. Als wär nichts gewesen. Die Mutter begraben, erlöst von Leid. Begraben lieg jetzt auch ich – unter einem Berg von Schuld. Zermalmt. Zerrissen. Warum nur hab ich den Arm nicht um sie legen können? Sie hätt es so dringend gebraucht. Wenigstens ein einziges Mal. Niemand in unserer Familie hätt es gekonnt – einfach den Arm um sie legen. Gerade deshalb hätte ich 25 mich überwinden zwingen vergewaltigen müssen – zu dieser normalsten aller Gesten zwischen Menschen, die durch „Gottes unbegreiflichen Ratschluß“ eine Familie geworden waren. *** „Ich, nur ich allein hätte ihr helfen können“. „Vielleicht. Lassen wir es bei einem Vielleicht“. So endet die erste Liegung meiner Psychoanalyse. Es ist winterlich kalt, 33 Jahre und 10 Monate bin ich alt. Die zweite Silbe des Wortes trifft mich in Hirn und Herz, besonnt mir die Seele: leicht, leichter am viel-leichtesten geworden verlaß ich die Praxis. Der Freudische Priester hat mir die Absolution erteilt. So schnell so leicht. Ich schreite gleite schwebe fliege frei von Schuld geworden federleicht von dannen. So leicht. Nachts find ich kaum noch Schlaf. Eine Strapaze die ersten Tage. Ich zeig sie dem Therapeuten an, in der zweiten dritten Liegung: „Ich kann überhaupt nicht mehr schlafen“. Dr. med. Lueck ignoriert das Signal. Wo bleibt mein Schlaf? Der arme Ex-Mann im Bett daneben ... . Die seligmachende Freudische „Übertragung“(sliebe) eskaliert zum Liebeswahn. Ich seh mich als Mond(in), den Analytiker als meine Sonne, wir feiern die berühmte „Heilige Hochzeit“ – den „Hierosgamos“, wie die Jungischen Archetypenpriester sagen würden. Ich schwelge in Liebesseligkeit. Heb ab von der Erde. Kehr high ins Alltagsleben zurück. Red nur noch in Versen. So schnell kann das gehen. Vier Liegungen „klassischer“ Analyse: Schon reif für die Psychiatrie. [Forts. Dr. med. Lueck s.u. Kap.XVI]. Wie in solcher Ekstase wähnen, daß ich wahnsinnig bin? Ich sitze im Raumschiff, reiße witzige Reden, navigiere zwischen Planeten. Das Raumschiff ist ein gewöhnliches Automobil. Ex-Mann, Verwandte und Freunde kutschieren mich – auf einen noch unbekannten Planeten vielleicht? Dann plötzlich eingeschlossen. Warum denn das? Hab ich nicht Welten entdeckt, von denen die Welt nur noch nichts weiß? Überwältigende Welten. Wuchten an Wahrheit. Von unabweisbarer Klarheit. Von mathematischer Präzision. Könnte nicht die Menschheit als 26 Ganze ...? Wenn sie das alles nur wüßte ...? „Haben Sie LSD genommen?“ fragt die junge Anstaltsärztin Dr. von Beck. „Nein, wieso?“ Reden will ich: „Wes das Herz voll ist ...“. Reden von jenen anderen Wirklichkeiten. Mitteilen will ich jene lichten Visionen – geschaut und gehört mit Aug und Ohren. Leibhaftig erfahren. „Jetzt sprechen wir mal nicht von Ihren sogenannten Erfahrungen. Stop. Wie oft haben Sie mit Ihrem Mann Verkehr?“ ... Meine sogenannten Erfahrungen. Bleiben mir im Halse stecken ... Dreißig Jahre hab ich gebraucht, bis die Wut über dieses „sogenannt“ gelöscht war. Bis ich sie habe auflösen können – in Wasser Luft und Licht. 27 X Der Sturz aus allen Himmeln und kosmischen Dimensionen ins Magma der psychiatrischen Erdenhölle - er ist entsetzlich. Wie ihn beschreiben? Wie die ganz normale „biologische“ Folterpsychiatrie in ganz normale Worthülsen packen? Meine erste manische Explosion wird, wie alle manischen Phasen in ihrem Gefolge, in die neuroleptische Zwangsjacke gepreßt [Neuroleptikum: Medikament zur Behandlung von Psychosen]. Keiner sieht sie. Keiner hört sie. Keiner will wissen, daß sie mir entsetzliche Qualen macht – sogenannte „Nebenwirkungen“ produziert: Die Zungenwurzel gelähmt. Kann nur noch stockend lallen. Der Enddarm gelähmt. Nach fünf Tagen Bauchweh und Blähungen zum Platzen ist es mir – scheißegal, daß die Klotüren nicht abschließbar sind (es könnt sich ja wieder jemand umzubringen versuchen) in der geschlossen Uni-V 4 [„V 4“: Kap. XIV]. Ich puhl mir die Kacke raus. Mit bloßen Fingern ... das Genick stocksteif und schmerzend. Der Gesichtssinn verzerrt, verquer. Fernsehn? Geht nicht. Lesen? Unmöglich. Und das noch viele Wochen nach der Entlassung. Und das bei meinem Lese-, Lehr- und Schreibberuf ... In den Armbeugen und Kniekehlen Kribbeln und Ziehen – beim neuroleptischen Einpennritual. Werd ich nicht mal hier zum Pennen kommen? Nachts beim Pinkelgang kracht der Krauslauf zusammen. Nicht nur einmal klatsch ich auf den hartgefliesten Anstaltsflur. Eine der brutalsten Hal(operi)dolfoltern läßt ein aufstrebender Jungpsychiater mit Namen Dr. Kueck in den 70ern des 20. Jahrhunderts mir verpassen, und zwar in einem parauniversitär zentral gelegenen Institut der Nachbarstadt. Dort sollen verrückte Menschen wie ich „seelische Gesundheit“ erlangen. Ist es damals üblich, bei Haldolzwang die gnädige, weil „Nebenwirkungen“ abschwächende, Beigabe Akineton zu verweigern? Einmal fährt mir ein Haldolkrampf derart brutal in den Unterkiefer, daß ich vor Schmerz nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht. Die untere Gesichtshälfte – wie ausgerenkt. Wie zentimeterweit zur Seite gedrückt. Jetzt werd ich wirklich und 28 wahrhaftig verrückt. Kein Pfleger, keine Schwester weit und breit. Was tun? Schlag mir selbst ins Gesicht. Saftige Ohrfeigen. Verpass mir kräftige Puffe. Bis der schauderhafte Kieferkrampf allmählich nachläßt. ... Dr. Kueck und kein Ende: Unterwürfigst fleh ich ihn an, „Bitte geben Sie mir Akineton, ich halte diesen Zustand nicht aus“. (Hätt ich ihn angebrüllt, hätt er den Pfleger fix zum „Fixieren“ abkommandiert). Dieses unaufhörliche innere Zittern. Überall. Marionette Zombie Mensch unter Dauerstrom. Rumlaufen wollen müssen. Geht nicht. Gang zu eng. Gar nichts geht. Kein Sitzen Handarbeiten Laufen Lesen Ausruhn Fernsehn. EINGESCHLOSSEN. Zwangsjacke namens „biologische Revolution“. „Ich halte das nicht aus“. Was ich dem Jungspsychiater Dr. Kueck verschweige: Durchstehn tu ich die Rund-um-den-Tag-Tortur nur aus einem Grunde: Stunden um Stunden beweg ich alle mir bekannten „Mantren“ [(magische) Gebetsformeln aus dem Sanskrit] in meinem Haldol-drangsalierten Hirn. Rund um den Tag. Anders hätt ich die Folter nicht ertragen. Dr. Kueck bleibt stur. Wundert sich über mein Lamentieren: „Könnten wir nicht mal über was anderes reden, als immer nur über Medikamente? ... Bei Ihrer Krankheit sollten Sie sich sterilisieren lassen“. Hör ich recht? „Tubenligatur“. Heutzutage kein Problem. Mini-Eingriff für die Frau ... Daß ich verheiratet bin, scheint er immerhin geschnallt zu haben. Daß ich von jeher erfolgreich verhüte, mit Pille Pessar oder sonstwas – danach hat er gar nicht gefragt. Daß bei meinem schweren Lendenwirbelschaden, daß bei meiner Beruflichkeit ein Baby leider nicht drin ist – mit oder ohne Psychose – wie könnt einen Macho-Psychiater sowas schon interessieren? Was wissen Anstaltspsychiater von unsereins? Was wollen die überhaupt wissen? Alle Uni-Chiater in mittleren Chargen, denen ich begegne, wollen Karriere schieben. So oder so. Entweder steigen im stationären Stall. Oder einen eigenen Stall aufmachen, ambulant. Dem Dr. Kueck ist das Zweite verdammt schnell gelungen. *** Nochmal aus der Neuroleptika-Hoch-Zeit, Phase Numero 2. Seit beginnenden 70er Jahren kann niemand mehr die Medikamente schwindibus lassen, heimlich. Kontrolle total. Da staunt die 90er Psycho-Presse: Ausgerechnet seit dieser Hohen 29 Pharmazeit verdoppeln sich, so heißt es, die Schizo-Suizide intramural! Selbstmord intra muros [innerhalb der Anstaltsmauern]? Fast-Ermordung durch Ersticken-Vergiften. Anfang der 80er. Live-Bericht, nix sogenannte Erfahrung. Wieder aus der Zentralanstalt zur Gesundung der Seele. Zehn Arme oder mehr pressen mich mit unvorstellbarer Brutalität auf die Pritsche. Zack der breite Bauchgurt übers Zwerchfell, straff gespannt gepreßt und zugeschnallt. Krieg keine Luft mehr. Hilfe! Gleich sterb ich. Atem weg. Letzter Blitzgedanke: „Wenn ich hier noch lebend rauskomm – wehe euch ...“. Suizide intramural? Patientenmorde – wie viele an Zahl (?) ... „Weißte schon, weißte schon das Neueste [O-Ton engste Vertrauensperson]: Im „ZI“ ham sich ‚n paar Psychiater umgebracht. Die Patienten ham gefragt: ‚Wo sind denn unsere Ärzte?‘ ‚Die machen diesmal länger Urlaub’, hamse denen gesagt“ ... Fürchtet der zweifach getitelte Chef um seine weiße Weste? Seit wann bringen Psychiater sich freiwillig um? Was wär gewesen, zum Beispiel, hätt ich meine Beinah-Ermordung durch Ersticken und Vergiften nicht überlebt, hätt mit den Füßen voraus das ZI als Leiche verlassen – damals als pseudo-privilegiert privatversicherte Frau eines deutschen Uni-Profs ... 30 XI Die vulkanisch aufgebrochenen Energien werden mit brachialer Gewalt gestoppt. Immer und immer wieder. In Fixiergurte gepreßt. Niedergespritzt. Wieviele Wahnsinnsdosen Gifte? Jegliche Notwehr vergebens. Angekettet. Zwangsgebettet. Abgeschoben in die Isokammer. Irgendwann der Giftschlaf vorbei. Keiner kommt, wenn du schreist jammerst wimmerst – vor Pinkeldrang. Vor Panik. Weil dir die Zunge am Gaumen klebt – vom Verdursten. Als Baby waren es Hunger und Durst in morgendlicher Einsamkeit, Verlassenheit. Jetzt ist es der Durst. Vom Haldol. Chemische Formel I, Wunderwaffe im C-Einsatz gegen den Wahnsinn auf Erden. Auch die russischen Dissidenten (nur die von einst?) – Wissenschaftler, Künstler, Intellektuelle – haben sie erfahren, als bewußt eingesetzte Folter. Ihnen glaubt die internationale Medienwelt. Nach ihrer Freilassung und Entlassung in die Emigration. Schließlich waren das keine Irren. Nur dissidentisch und ein bißchen genial. Eben ganz normale Leute. H ol dich der Teufel A ber schnell! L aß mich in Ruh mit D einer Nervenfolter! O der ich hetz dich nach Den Haag und L aß dich kass[tr]ieren: INTERKONTINENTAL - FÜR IMMER! 31 Eine wie mich treibt Haldol / Haloperidol [hallo perid idola / eidoloi: „He, krepiert, ihr inneren Bilder!“] in die Schicksalsfalle „Drehtürpsychiatrie“. Negativer Bumerangeffekt. Horror namens „Depression“: Unbeschreiblich. Schaltet sich ein – wenige Tage oder Wochen nach jedem Zwangsgift. Automatisch. Schaltet mich aus. Für jedwedes Leben. Jetzt geht die Folter erst so richtig los – tonloses Tosen und Toben: D rohend schleicht das nächste E lend sich heran: P ein und Qual, sie R öcheln dumpf im Solarplexus: E rsticken mir die Lebenskräfte ... S eelendüsternis erbebt in S iechen Angstgebärden tief I m Innern der Synapsen: O rkan aus Verzweiflung saust durch N ächte schrecklichen Erwachens Ist mein Hirnstoffwechsel immer schon gestört? Bin ich – wie gehabt in brauner Un(i)zeit - erbgenetisch krank gezeugt empfangen und geboren? Wer hat mich zur „Schizoaffektiven“, wer als Unheilbare auserkoren? Muß ich wegen Hirn-stoffwechselturbulenzen bipolar-halluzi-manisch-depressiv-paranoid „de-kompen-sieren“? Kompensieren hab ich müssen – in der Tat. Müssen. Sollen. Wollen. Lebenslang. Anders wär der Faden früher schon gerissen. Vielleicht schon nach dem 32 Rausschmiß durch den Psych-Anal. Gleich zu Beginn der allerersten Depression meines Lebens ... [s.u. Kap.XVI]. Wann beginnt der Countdown via Abgrund? Schlaflos geworden – wie meine Mutter. Gefühl der Sinnlosigkeit meines Lebens – nicht anders als bei der Mutter. Was ist mein eigentlicher Beruf, was meine Berufung? Wozu bin ich da, wofür existier ich? WAS HAB ICH ÜBERHAUPT AUF DIESEM PLANETEN VERLOREN? 33 XII Eigenfolter? Bin ich zyklo-bipol-manisch-depressiv beziehungsweise „schizo- affektiv“ geboren? Simpel vulnerabel-streß-zerrissen schon von allem Anfang an? Welches Schicksal hätt (m)ich erbgenetisch auserkoren, Schrecklichkeiten jenseits aller Worte zu erdulden? Bumerang schon immer gewesen? Nicht erst durch die Pharma-Folter-Drehtür-Psychiatrie dazu gemacht? Kindheitsmuster endlos repe-tiert? Hab ich überlebt, um solche Rätsel zu ergründen? Kindheits-boomerang zwischen Mama-Papa. Zum Beispiel. Die phantasiebegabte Mutter, Trauer und Vorwurf in der Stimme, zu ihrem einstmals wilden, jetzt gezähmten Mädchen zwischen 3 und 4 [O-Ton]: „Du hast überhaupt keine Phantasie. Du kannst dir keine Verse merken. Du bist genauso prosaisch und zynisch wie dein Vater“. Sic. Zack. Da steh ich im Regen – verurteilt, vernichtet. Hab überhaupt keine Phantasie. Bin (noch immer!) nicht (so vorbildhaft) wie sie. Spricht uns Verse vor. Das Brüderchen plappert sie niedlich nach – und ist noch nicht mal 2. O-Ton Mutter, mir ins Gedächtnis tätowiert. 40 Jahre später erst gelöscht. Love affair pubertär. Mutterbann gebrochen. Binnen 5 Wochen sprudelt ein Lyrikband aus mir heraus. 108 Seiten. 87 Gedichte. Verse Verse Verse. „So etwas hat es seit Sappho im Abendland nicht mehr gegeben“ – weiblicher Kommentar aus dem Zuhörerpublikum. Die Frau übertreibt natürlich entsetzlich ... Und Mann? Vor allem männliche Nicht-Akademickis mögen meine Kinderreime auf erotisch sehr: „Endlich mal Dichtung, zu deren Verständnis man keinen Waschzettel [Gebrauchsanweisung] benötigt“. Vers- und Reimbann spät gebrochen. Krankheitsbann wütet weiter. Boomerang zwischen Mama-Papa Schnee von gestern. Weggeschmolzen wie das Nordpol-Eis demnächst in „100“ Jahren. Aber lebenslänglich boomerangen zwischen extra-intra-muros? Wandelnde Waffe aus splitterndem Holz ... Wie lange noch zerstieben in Myriaden von Splittern – nach allen Himmelsrichtungen hin? Immer wieder raff ich mich auf. Beginne bei Zero, kaum, daß die depressive Qual von mir abläßt. Klaube sie zusammen, die Splitter. Mühsam. Minutiös. Verleime 34 sie dürftig mit Tesa Uhu Pritt und Alleskleber: zum Taschenspiegel. Blicke forschend hinein: Kaleidoskop. Streng mich an. Mit dem Schütteln. Den Wahnsinn wegzurütteln. Irgendwie. Kostet verdammt viel Energie. Wie lange noch wird die Überlebensbatterie mich mit Erdwärme und Solarstrom beliefern? Kaum, daß ich schrei(b)e „Niemals wieder Psychiatrie“, knall ich auch schon wieder rein. Extra muros [außerhalb der Anstaltsmauern]-Intervall, intra muros-Regelfall? Was ist nur los mit mir? Wahnbesessen? Anstaltsgeil? Fix versessen immer wieder auf Fixierung, Farmafolter? Massenhuhn verrücktes. Für die Pillenbatterie? Massenschwein – ausgeflipptes. Für die Pharmaindustrie? Für die V 4Fabrik in meiner Uni-Stadt zum Beispiel? Leider nicht allein für die. Spiel ich irre wirr, damit der Wahn der Welt nicht aufzufallen braucht? Bin ich Solarrakete = Manie, derweil es auf dem Globus brennt? Bin ich = Depression = Hölle, weil homo sapiens sapiens längst sein Menschentum verpennt, sich nur noch kapital global verrennt? Bin ich Mäuschen Rättchen Äffchen fürs Labor? Versuchs-kaninchen stationär und ambulant? ... Profite in Millionen für die Varmaka. Aus Inter-USA und CH (Helvetia). Vieherprobt an einer wie mir. „Erfolgreich“ getestet an mir – nur weil ich noch am vegeTIERen bin? ... Hab ich das alles nur gespielt? Aus freien Stücken Himmel-Hölle-Spektakel inszeniert – für mich selbst und die normale Um- und Mitwelt? Menschenlästerliche Frage. Tausende von Höllenjahren im Austausch für eine Nanosekunde Sonnenekstase – welche Vollidiotin geht ein solches Risiko ein – aus freien Stücken! Es sei denn ... In gewissen allzu schmalen Zeiten, sogenannten Intervallen, bin ich stinknormal. Kämpf mich durch den Alltag. X „Berufe“ parallel. Alle ohne Honorar. Bin meine eigene Sekretärin Putze Hausfrau noch dazu. Masken funktionieren. Im Schutzgewand von Kellerassel, Kakerlake und Kamäleon – letzteres in vielen Farben. 35 XIII „Was wollen Sie denn eigentlich noch, Frau K.?“ [Name von Kollege Ex-Mann, Prof. K.]. Der Dr. med. und Dr. phil. und überhaupt universal gebildete Unipsychiater Holl will nichts Neuroleptisches mit mir bereden – wo doch gerade das mich so entsetzlich quält. Schöngeistern will er stattdessen mit mir (der gelernten Romanistin) über den berühmten italienischen Dichter Petrarca. Der sei gerade in einer ganz tollen Übersetzung erschienen, von „Oskar Pastori“ [Oskar Pastior! Kein Pastor, sondern ein deutschrumänischer Dichter]. Auch sonst ist Dr. med. et phil., allein gemessen am Zeitaufwand, rührend hilflos um mich bemüht. Weitaus mehr als jeder andere Intramuralpsychiater jemals davor und danach. Schließlich bin ich damals, in den 70ern, Privatpatientin, schließlich ist er damals gerade in Freudscher Lehranalyse. Aber unter hochdosierten Pharmaka, bei voller Unvernunft, ein Musengespräch mit ihm führen, eingepfercht in den viel zu engen Schlauch eines Uni-Psychiatrieflurs? Ich muß ihn schwer enttäuschen: „Was wollen Sie denn eigentlich noch, Frau K.?“ „Nur noch scheißen können will ich. Und wieder schlafen. Ganz normal, so wie früher. Alles andere ist mir stinkegal.“ Was will ich eigentlich noch? NORMAL sein will ich. Pennen kacken frei sein will ich. Von kronischen Kreuzbeschwerden. Zum Beispiel. Frei sein von aller Krankheitskronik und -kronifizierung überhaupt. Endlich leben. So wie jeder normale Erdling auch. Raus aus dem Himmel-Hölle-Kinder-Karussell. Wenig-tens noch im Oma-Alter. Raus will ich - rein komm ich. Wie gehabt. Niemals wieder immer wieder Psychiatrie? *** 20 Jahre später. Um die Osterzeit. Wozu schon wieder, noch immer, den Aufstand prob(ier)en, die Ordnungsgewalten provozieren – im ungeschützten Einzelkampf? Noch mehr Gesundheit, noch mehr Leben riskieren ...? Was will ich denn eigentlich? Hab ich mich nicht längst selbst überlebt? Wieder mal durch Arbeitsrausch 36 in selige Schlaflosigkeit getaumelt. Flotten Schritts und heiteren Gemütes statte ich „meinem“ Polizeirevier einen harmlosen Besuch ab. Nicht zum ersten Mal. Wenige Fußminuten von meiner Wohnung entfernt. Einfach nur mal wieder vorbeischaun. Nicht nur einmal ist die Polizei mir „Freund und Helfer“ gewesen, wenn ich gar nicht mehr pennen konnte – vor LebensLAST zuerst, dann vor LebensLUST. So auch jetzt. Ein Arzt wird herbeigepiepst. Diagnose „Schizo-phrenie“ [entnehm ich später dem Polizeiprotokoll]. Sanft verfrachtet mich „mein Freund und Helfer“ in die Uni-V 4, haut dann aber verdammt schnell wieder ab. Statt mir beizustehn. Gegen die Spritzerei ins Gesäß. Einfach abliefern! Ausliefern! Dem Strafgericht psychiatrischer Gewalt ... Wofür denn werden die Pollis bei mir um die Ecke bezahlt? Nie hab ich sie Bullen nennen müssen. Immer sind wir uns freundlich begegnet. Haben nicht nur einmal scherzig miteinander gelacht. Die Tür fällt hinter mir ins Schloß. Schon wieder in chiatrischer Gewalt. Einmal drinnen – kein Entrinnen. Aus dem viel zu engen Psychoknast V 4. *** In wenigen Wochen bin ich geladen, privat-offiziell, zum riesigen Geburts-tagsball eines schwerreichen „Transvestiten“. Das männliche Geburtstagskind: Superbegabter Technik-, Wirtschafts-, Organisationsmanager u.a.m. im normalen Alltag. An seinen Festen aristokratische Show-Masterin und Tango-Tänzerin in irren Festtagsgarderoben aus aller Welt. Adelsgut in England. Eintrag im Who’s Who. Hab „Maria von L.“ mein Kommen verbindlich zugesagt. Will sie erfreuen und ehren mit einem kleinen Auftritt. Eine Überraschung soll es sein. Die Sache ist offiziell. Eingeplant im Programm. Eine kleine Yoga-Kabarett-Nummer, aus eigener Lyrik, aus Tanz- und Gesangsimprovisation. Muß die Performance durchtrainieren. Muß trainiert sein. Bei dem orthopädischen Angeknackstsein um so mehr. Will den Termin einhalten. Unbedingt. Trotz Klapse. Aber was ist auf einmal los – mit der ganz normalen Spritze ins linke Gesäß? Was macht die mit mir, was sie in mehr als 27 Jahren noch nie mit mir gemacht hat? Ich krieg das linke Bein nicht mehr hoch – zum vollen ganz normalen Lotussitz. Der mir seit 27 Jahren mühelos 37 in den Beinen liegt. Keinen Millimeter weit ist das linke Bein auf das rechte rüberzuziehen. Schmerzblockade total – im Ars. Alarm. *** Mit List und Tücke schaff ich es, einen mir bis dato unbekannten Modus intra muros auszuhandeln. Darf „vorzeitig“ die Nachtstunden daheim verbringen. Oberarzt Privatdozent ist auf Karriere-Achse. Nicht im Klinikhaus. Was hat die Spritze mit dem Gesäß, mit meinem Bein gemacht? Einen Nerv verletzt? Ruiniert vielleicht für immer? Werd ich nie mehr kabarettistische Lotus-Nummern abziehen können? Konsultier daheim verzweifelt per Telefon meinen Arzt-Cousin, wohnhaft 275 Bahn-km Richtung Nord. Ferndiagnose: „Lokale Spritzen-Embolisation. Remissibel“ [kann erfolgreich behandelt bzw. rückgängig gemacht werden]. Therapie: „Baden im Meer“ ... Baden in der Kliniksoße. Verdammt nochmal. Jetzt ist mein Yoga-Sitz im Ars, mit dem ich die Performance singe. Damit die Stimme voller tönt. Zum ersten Mal leist ich Widerstand. Gegen den intramuralen Medikamentenzwang. Zu meinem Erstaunen – mit Erfolg. Zu jeder Mahlzeit pflanzt die Schwester sich neben mir auf, hält mir die Giftphiole vor die Nase, beschwört mich, bedroht mich, versucht, mich zu erpressen, manchmal eine Viertelstunde lang, oder mehr. Ist ihr harter Job. Ist streng weisungsgebunden. Muß willige Helferin sein – derer in Weiß. Wie weiß ich auf einmal, daß ich nicht nachgeben muß? Daß niemand mich zwingen kann, gegen meinen Willen Medikamente zu schlucken? Hat sich da was geändert inzwischen – gesetzlich oder so? Warum schlucken brav alle anderen um mich herum? Derweilen schlaf ich zu Hause völlig problemlos, mit 25 mg Leponex. „Offiziell“ bin ich bereits auf 100 mg gesteigert. Fürs erste. Morgens radle ich ausgeschlafen und fit in die V 4. *** Da tritt jetzt doch noch Oberarzt Priv.-Doz. Dr. Johannes Schrött auf den Plan. Wehenden Schrittes, dynamisch, ein wohlanzusehender Jungspsychiater. Sprühend vor Karrieregeilheit. Wo kommt denn der auf einmal her? Klar, daß der bald 38 seinen Profess-Titel hat. Er schüttelt mir leutselig weltmännisch die Hand und – würdigt mich keines weiteren Blickes mehr. Richtet kein einziges Wort an mich. Stehe im Regen. Steh auf gleichem Akademicki-Titelniveau wie er. Seit 23 Jahren [Privatdozentin (kurz „PD“) Dr. habil.]. Was soll’s. Bin seit Jahren nicht mehr Privatpatientin. Was soll’s. Um so besser. Läßt sich von der Stationsärztin berichten. Über meinen Tag-Nacht-Status, meine Medikation. Die übliche chiatrische Fachsimpelei. Bin ich Luft? Hör ich recht? Jetzt kommt die Salve, die richtige, die professionelle, für meine Diagnose (welche?). Hör nur noch einen Automaten. Der sitzt im Düsenjet. Spuckt aus dem Cockpit neben mir runter: „250 mg Leponex“. Ich erstarre. Geht der Terror jetzt doch noch los? Will der mich solang hier festhalten, bewachen, erpressen, bis ich auf 250 Lepo bin, sprich irreversibel außer Gefecht? Will der mir meine Performance versauen? Ich spür das Damoklesschwert über mir. Gleich saust es nieder. Panik. Da rassle ich runter: „Ich hab keine Lust, mir meine Joggingknie noch mehr kaputt machen zu lassen, als sie schon sind, von wegen dem Leponex-Übergewicht über viele Jahre. Mehr als 17 Jahre waren genug“. Bäng. Zack. Zweikampf auf Leben und Tod: „800 mg Tegretal“. Jetzt saust es wirklich nieder, das Damoklesschwert. Tod oder Leben. Die ganze Liebesmüh umsonst gewesen? Umsonst, daß ich mich ausgeschlichen habe, von 400 mg Mini-Normalbedarf, langsam klammheimlich runter auf Null. Alles umsonst? Jetzt bin ich schneller als er: „Mir ist meine Orgasmusfähigkeit immer noch wichtiger als meine sogenannte Normalität“! Zack. Schock. Das aus dem Mund einer Frau jenseits der 60? Blitzschnell dreht sich Priv.-Doz. Dr. Johannes Schrött auf dem Absatz herum. 20 Minuten später bin ich entlassen, den Arztbrief an die Ambulanzpsychiatrin in der Hand. Exakt am Tag der Performance hätt ich den Lotussitz wieder gekonnt. Die „lokale Spritzen-Embolisation“ ohne „Baden im Meer“ – von selbst geheilt. Doch hatt ich mich inzwischen anders entschieden. Ein Ausweichmanöver gewählt: Den Abschlußspagat hatten sie mir nicht auch noch weggespritzt. 39 XIV Die geschlossene Uni-V 4 meiner Stadt hat es in sich. In ihre karge Enge verbannt, fällt mir nicht nur einmal die Berliner „T 4-Aktion“ von Anno 39 ein. Aktion „Gnadentod“. Für Unheilbare. „T“ wie Tiergarten : „V“ wie Voß. [Hat also nichts zu tun mit den tödlichen Nazi-Raketen „V 1“ und „V 2“ – nichts mit V für „Vergeltung“]. Psychiatrieüberlebende sind nun mal flott im Erinnern und Assoziieren. Die Zeit scheint stehen geblieben. Bewegt sie sich gar zurück? Die „schönen Tode“ der braunen Zeit, verfügt von V 4 nach T 4: Kein Geheimnis mehr. Seit ein paar Jahren schmückt ein kreisrunder Sandstein idyllisch den Mini-Platz vor dem unscheinbaren Eingang zur Hölle. Radius 140 cm, 37 cm hoch. In die Breitseite sind 21 Kindernamen mit Todesalter von 3 bis 13 Jahren eingraviert, 12 Jungen, 9 Mädchen. Einundzwanzig? Wo bleibt die eine oder andere Null dahinter? Das Steinrund lastet auf zwei verschieden großen Rollen aus demselben Stein. Das Denkmal-Mahnmal in mäßiger Steigung. Die Inschrift trotz der Schräglage noch gut lesbar: DEN OPFERN ZUM GEDENKEN UNS ZUR MAHNUNG WIR BEKLAGEN DIESE 21 KINDER, PATIENTEN DER PSYCHIATRISCHEN UNIVERSITÄTSKLINIK [DIESER STADT], DIE 1944 IM NAMEN EINER VERBRECHERISCHEN MEDIZINISCHEN FORSCHUNG GETÖTET WURDEN Einundzwanzig? „Vergangenheitsbewältigung“ in meiner Stadt? Werden hierzulande nun wirklich die Fakten tabulos ungeschminkt zur Kenntnis genommen? Daß der Predigersohn Carl Schneider (1891-1946) ab den 30ern die Psychiatrie dieser Stadt geleitet hat, ist kein Geheimnis mehr. Ach ja, das deutsche Prediger- 40 haus. Von einst. Allzu gern bleiben seine Schattenseiten im Schatten. Die von einst. Ist ja auch mein Brutkasten. Gewesen. Pflanzstätte auch von Dorothea-Sophie Buck-Zerchin (*1917), der berühmten „Selbstheilerin“ mit Diagnose „Schizophrenie“ [Bundesverdienstkreuz 1. Klasse für ihr erfolgreiches Engage-ment als zwangssterilisierte Psychiatrieüberlebende in eigener und in fremder Sache]. Carl Schneider ist Täter, einer der Hauptinitiatoren des Euthanasie-Programms in Deutschland, bei dem 1940 und 1941 rund 70 000 überwiegend psychisch kranke Menschen ermordet wurden. Dient es Carl Schneider und der V 4 zur Ehre, daß er sich 1946 in der Gefängniszelle erhängt hat? Dient es der Uni-Psychiatrie meiner Stadt zur Ehre, daß sie sich jetzt mit dem „Museum Prinzhorn-Sammlung“ schmückt? Der erbitterte Streit um den Standort der weltberühmten Kunstsammlung Geisteskranker zwischen Metropole B [„Freundeskreis Haus des Eigensinns“] und Weltgroßdorf N. N. [„Es gibt keine Verbindung zwischen Prinzhorn und Euthanasie“] ist entschieden. Stimmt es, was ich da lese: „Ungeachtet des bitteren Streits soll das Museum nicht nur Museum sein, sondern Ort der Kontemplation“? Wenn es nämlich weder Stuhl noch Kissen gibt, fürs Kontemplieren, hab ich Pech gehabt. Bei meiner geschundenen Lendenwirbelsäule. 41 XV Schnee von gestern 21 oder 70 000 oder 275 000 ... Was ist da schon der Unterschied. Und überhaupt. Wie viele kleine Carl Schneiders mag es gegeben haben. Willige Helfer. Das Übliche eben. Carl Schneider entzieht sich der Verantwortung. Mit seinem Nachkriegssuizid. Andere machen karrieristisch weiter – unbehelligt. Tun, als hätten sie nichts getan. Von nichts gewußt. Das Übliche eben. Einem Berüchtigten unter ihnen bin ich persönlich noch begegnet. Nichts ahnend. Im Kellergeschoß der V 4. Ein schwer arthrotischer Hinke-Greis jenseits der 80, an zwei Stöcken, begrüßt mich freundlich. Sein Gutachten beläßt mir den Führerschein ... Und was ist seit den beginnenden 50er Jahren, was ist heute, mehr als 60 Jahre danach? Damals: Wer den germanischen Volkskörper aufgrund von körperseelischen Defekten „gefährdet“, lebt gefährlich. Der ganz normale Massen-Rassenwahn darf munter wuchern. Die „Geisteskranken“ werden ausgemerzt, als erste. Aktion [siehe oben]. Mindestens 275 000 der „Lebensunwerten“ werden ausgeliefert – an Euthanatos: Dürfen den „schönen Tod“ erfahren, sprich sie verenden vergast, vergiftet, zu Tode gehungert. Weitere 400 000 [vierhunderttausend] als geisteskrank Stigmatisierter dürfen überleben – aber nur „eugenisch“, laut „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. [Pionier via Erbgesundheitswahn und Nazi Konrad Lorenz läßt grüßen: Nobelpreis anno 73!]. Eheschließung, Familiengründung? Riegel davor. „Rassenhygiene“ = Zwangssterilisation. Ohne vorherige Aufklärung. Einfach überrumpelt. Operativ der Fortpflanzungsfähigkeit beraubt. Wieviele Tausende haben den Eingriff nicht überlebt? Und heute, mehr als sechs Jahrzehnte danach? Triumph der „biologischen“ Psychiatrie. Der verrückte Mensch, unverrückbar wie gehabt = Produkt seiner Gene. Das Ergebnis: Kein Skalpell mehr, und schon gar kein Todesgift und -gas. Welche Menschlichkeit hat doch Einzug gehalten in den irren Asylen. Von heute. Will sagen welche Ignoranz – und welche Heuchelei. Die Wirklichkeit, die Wahrheit: Wieviele Tausende unwiderruflich zerstörter Lebensläufe allein in Deutschland – weil es noch immer der Aufrechterhaltung der sogenannten Normalität von 42 Massen dient ... Damals die kirurgische Kastration von Hunderttausenden. Heute die Pharmakeule, mit ihrer kemischen Kastration. Frauen und Männer mit 30, 40, 50 und darüber hinaus – libidolahm, erotisch erloschen, geisteslahm noch dazu. Von den jüngeren Dauer-Psychokemie-Konsumierenden gar nicht zu reden ... Und mit was für schädlichen Übergewichten belastet – in sämtlichen Altersstufen, Folge der Überchemie. Dies und manches andere „Nebenwirkende“ als Ergebnis sinnvoller Forschung und Therapie? Chemoprophylaxe gegen Depression und gegen Psychose – „lebenslänglich“: Das soll lebenswertes Leben sein? Würde auch nur ein einziger Wahn verschwinden, der etikettiert, stigmatisiert und exkommuniziert ist, es könnte der Beginn einer anderen „Krise“ [Wendepunkt] sein. Katastrophe könnt es werden für den professionellen Pharmawahn. Tier-versuche: Unrentabel. Menschenversuche: Zuviele ließen/lassen Leib und Leben dabei. Insider schätzen: Seit Beginn der „biologichen Revolution“ mindestens ebenso viele Tote, wie offiziell zugegeben – als Opfer der Euthanasie [ca. 100 000 / hunderttausend] ... Pharmaprofite wären nicht mehr garantiert. Aber wen interessiert schon Billig-Forschung, Preiswert-Therapie: Warum nicht Hahnemannsche Homöopathie, gleich beim ersten „Dekompensieren“? Ist inzwischen kompetent fachpsychiatrisch erforscht und findet dementsprechend erfolgreich Anwendung. Bei allen Psychosediagnosen. Warum nicht Arbeit mit erfahrenen Medien Geistheilern Schamanen, gleich beim ersten Ausflipp? Jesus Christus hat den Weg gewiesen. Hat ihn andere gelehrt. Mit Erfolg. Wußte um „Besessenheit“, um „auratische Besetzung“ seitens eigenfremder Energien: Hat sie ausgetrieben, die „Dämonen“. Schreiend lassen sie von der „psychotischen“ Seele ab, die drangsalierten und drangsalierenden Geister. Jesus belehrt sie durchs Wort, weist ihnen ihren Ort. Heilt darüber hinaus auch durch die „Technik“ des Handauflegens, Er, der größte „psychosomatische“ und „psychiatrische“ Heiler, von dem wir Westler wissen und von dem wir lernen könnten ... Oder lernen von den Heilern des Ostens, Praktiken wie Reiki, Jin Shin Jyutsu: Rituelles Handauflegen, ab dem allerersten Schub. Auch das hat Jesus Christus vorgeführt. Praktiziert. 43 Mit Erfolg. Heute wär er – „Gottes Sohn“ – der Erste, den die Psychiatrie kassieren tät. Diagnose: Größenwahn – oder was auch immer. Heiler ohne Kapital. Geschäftsverderber sondergleichen, dieser Jesus. Ohne ihn – Mensch der Menschen – hätt ich nicht so lange überlebt. Leibhaftig ist er mir erschienen. Nicht nur einmal. Im Verlauf der „Karmatherapie“ zum Beispiel. Oder in einem Seminar mit christlichen Spiritisten (Geistheilern) aus Brasilien. Umhüllt von psychedelisch farbenlichter Aura erscheint er mir in der Gruppe mit dem brasilianischen Heiler-Ehepaar. Vor meinem „dritten Auge“. „You’ll get healed“ hör ich ihn zu mir sprechen. Mit dem „inneren“ Ohr. Tränen der Dankbarkeit für das Versprechen. Es ist zu schön um wahr zu sein. Ich kann es nicht fassen. Wie sollte das noch möglich sein – Heilung erfahren? Freude Liebe Glück und Wohlergehn: Tabu. Verbot. Führen schnurstracks in Manie und Psychiatrie. Fasse, wer es fassen mag – Paradoxon. Freude Liebe Glück Erfolg und Wohlergehn: scheint für mich in stabil normaler Verfassung nicht vorgesehn. „You’ll get healed“ ... ? Zu groß die Gnade. Überwältigt mich. Fühl mich ihrer nicht würdig und wert. Muß mich dafür bestrafen. Mit Krankheit. Paradoxon. Fasse, wer es fassen mag. *** Und noch einmal das Licht. Zum letzten Mal. Ein halbes Jahr, bevor ich die Erde beinah für immer verlasse. Während meiner Einweihung in den Zweiten Grad des Heilens mittels Reiki [Reiki = „universelle Lebensenergie“]. Plötzlich und uner-wartet wird es hell vor meinen geschlossenen Augen. Der Raum in Licht getaucht. „Schnell schnell meine Sonnenbrille her“, denkt es erschrocken in mir. „Wahnsinn, soviel Helligkeit durch die Fenster“ ... Nein, ich brauch keinen Sonnenschutz. Die Fenster der Einweihungspraxis gehen nach Norden. Da kommt nie die Sonne herein. Ich fühl mich durch das innere Licht beschenkt, vom Universum angenommen, vom Kosmos geliebt. Nicht von der Erde. Die bietet, so scheint es, mit wachsenden Jahresringen keinen lebbaren Raum mehr für eine wie mich. 44 XVI Die von früh an gedrosselten Lebensenergien – „negative“ wie „positive“ – auch noch pharmakologisch bekämpfen, niederzwingen, niederringen“? Welch „physikalisch-kybernetischer“ Widersinn. Ist nicht jede „normale“ Psychose [Ausnahme: die allein organisch bedingte], ist nicht jede „klinisch“ klassifizierte Ver-rücktheit, jedes Wahnverhalten, unter anderem auch der ultimative Versuch, sich selbst zu heilen? Daß dieser Versuch DERZEIT kaum eine Chance hat zu gelingen, ist nicht nur meine Tragik. Abertausende sind von ihr betroffen, allein in Deutschland. Es werden ihrer immer mehr. Und immer jünger werden sie. Und beliefern, lange bevor sie am Ausrasten sind – depressiv angstneurotisch psychotisch – die Pharmaindustrie: Zigtausende Kinder Ados Jugendliche in der westlichen Welt müssen Ritalin konsumieren. Zum Beispiel. Weil sie so kinetisch sind, beziehungsweise so „hyperaktiv“. Weil sie so sinnvoll reagieren auf Familienzerfall, auf herrschende non-stop-TV-Video-Zombie-Kultur! Neue Kampfdroge Ritalin – Pharmaka auf Lebenszeit? Nicht zu reden von den allzufrühen „Drogenpsychosen“, „Polytoxikomanien“, „suizidalen Depressionen“. Diagnosen. Immer neue, meist die alten. An fünf Fingern abzuzählen. Menschliches Elend. Abstrahiert vom Einzelschicksal. Reduziert auf Zahlen, auf Prozent-Statistik. Trost in Zeiten von Depression? In der (scheinbaren) Endloshölle meiner Depressionen weiß ich überhaupt nichts mehr ... Seh in meiner Psychiatrie-„Karriere“ nichts als ununterbrochene Qual. Keine Minute solarer Erleuchtung wiegt Tausende von Jahren Erdenhölle auf. So fühlt sich dieses schrecklichste aller Leiden an. Von innen. Dauerfolter im Solar-plexus ... „Somatisch-biologische“ Psychiatrie, will sagen Hirnstoffwechsel = Ursache fürs vom normalen Befinden abweichends Sein? Serotonin-Dopamin-Transmitter-Synapsen-Neurobegrifflichkeiten ... Wo bleibt der Seelen-Körper als Ursprung – mit seinen URschmerzen, Traumenketten – über Jahre und Jahrzehnte hinweg? Keine Psychose fällt vom Himmel. Jede hat ihre einmalige, unverwechselbare Vorgeschichte, mag die Diagnose auch hundertmal dieselbe 45 sein und von modischen Begriffstrends abhängen wie derzeit zum Beispiel die Feld-, Wald- und Wiesendiagnose „schizoaffektive Störung“... Seele? Hat im Menschenbild des messenschaftlichen Westens schlechte Presse. Der erste offiziell bestallte Seelendoktor meiner Existenz: Uni-Prof hat er werden wollen, der Dr. Lueck. Überworfen hat er sich mit seinem Chef. Abteilung Psycho-Somatik. Dann wird er eben freier Unternehmer. In Sachen Seele. In Sachen Seelen-Kapital. Jetzt geht es ans Kassieren. Frust kompensieren. Uni-Prof wär ihm wohl lieber gewesen, kein Zweifel. Fleißig forschen am „Patientengut“. Um so mehr muß jetzt Kassa stimmen. Patientengelder investiert in Immobilien rund ums Mittelmeer. Kutschiert drei super-Ego-Automobile. In die Wüste schickt er mich. Mit meinem under-Ego. Überläßt mich meinem Schicksal. Nachdem ich ihm psychotisch entgleise / entgleite. „Ach, von dem kommen Sie her?“, sagt eine Schwester in der V 4 zu mir, „von dem ham wer hier schon mehrere gehabt“. Also nicht nur mein Versagen, meine Schuld, wie ich allzu lange wähnte. Zwei Fälle von Suizid während einer Behandlung bei ihm sind mir persönlich bekannt. Geworden. Später: Eine Studierende unseres Seminars. Und die Frau eines Politikers im Stadtrat. Er, der Anal, war halt ein anerkannter Lehranalytiker. Stadtbekannt im Psycho-Milieu, zumal in demjenigen der Uni. Und die Anal-Szene von damals: Spärlich besetzt. Viel gefragter Seelen-Job bei wenig Konkurrenz. Wartelisten bis zu 2 Jahren. Nicht wie heute: Pro Kopf des Stadtvolks (ca. 140 000) die meisten Therapeuten in Deutschland! Psycho-Praxen allüberall. Daß eine Ex-„Koryphäe“ wie er sich auch heut nicht scheren täte um „Effizienzforschung“, „Evaluation“ oder „Wirksamkeit der Psychotherapie“ [3 unter 142 Themenangeboten auf dem „3. Weltkongress für Psychotherapie“, Wien, Sommer 2002], ist wohl anzunehmen. Und ein weiteres Mal die Endloslitanei, die bange Frage: Ist mein Hirn-stoffwechsel immer schon gestört? Bin ich – wie gehabt in brauner Un(i)zeit – erbgenetisch krank gezeugt, empfangen und geboren? Wer hat mich zur (Zyklo-) „Schizoaffektiven“, wer zur wechselturbulenzen Unheilbaren auserkoren? Muß ich wegen bipolar-halluzi-manisch-depressiv-paranoid Hirnstoff- „de-kompen- 46 sie-ren“? Kompensieren hab ich müssen – in der Tat. Müssen. Sollen. Wollen. Lebenslang. Sonst wär der Faden früher schon gerissen. Vielleicht schon nach dem Rausschmiß durch den Psych-Anal. Gleich zu Beginn der allerersten Depression meines Lebens. Wache eines Vormittags auf. Wenige Tage oder Wochen nach der ersten Einweisung unter Haldol – und finde mich in der Hölle wieder. Weiß nicht, wie mir geschieht. Nie zuvor im Leben einen derart grauenhaften Zustand erlebt. Flüchte mich zu meinem Heilpraktiker. Der spritzt mir Magnesium – nicht in den Ars, sondern in den Arm. Eine ganz Serie ... Nachtrag: Dr. med. Lueck und kein Ende ... Vor Beginn der Analyse hatt ich mich unterschriftlich verpflichten müssen, zwei Jahre lang viermal pro Woche die Couch zu frequentieren. Auch die Sitzungen beziehungsweise Liegungen, an denen ich verhindert sein sollte, würden liquidiert. Bin bereit. Zu allem. Zu meiner Liquidierung. Liquidation: 95 DM pro Sitzung / Liegung die Stunde. Keine fiftyminutes-hour wie heute, vielmehr Sekunden-exakte 45 Minuten. Da lieg ich auf der analen Couch. Dr. Lueck sitzt an meinem Kopfende dahinter: Ein Geldautomat. Schweigt. Meistens. Ich will Leistung bringen. Alles „richtig“ machen. Für mein vieles Geld. Fühl mich unter Überdruck. Leistungsdruck. Zwei Mark pro Minute schmeiß ich da rein. In den Automaten. Aus eigener Tasche. Die Hälfte meines Netto-Monatsgehalts. Eine enorme Summe. Enorm ist auch mein Leidensdruck. Dumpfer Dämmer schon länger, daß da irgendwas mit mir nicht stimmt. Mit meiner Stimmung. Nach dem Tod der Mutter noch viel mehr. Bin entschlossen, Opfer zu bringen. Alles oder nichts. „Liebeswahn“. Psychose. Das Letzte, worauf ich gefaßt war. Werd ich liquidiert – vom Psych-Anal? Bin schon eine Woche später aus der Klinik raus. Fit für Lehre Forschung Uni. Was ist mit „meinem“ Analyseplatz – vertraglich gebucht für die nächsten zwei Jahre? Besetzt. Psych-Anal hat mich an die Luft gesetzt. Ohne mich zu informieren. Hat meinen Platz sofort vergeben an den nächsten Seelenkunden auf der für 2 Jahre ausgebuchten Warteliste ... Wieder Trennung ohne Abschied. Abgetriebener Embryo ich – im dritten Monat. Wie in solchem Zustand überleben? Wann beginnt der Countdown via Abgrund? Schlaflos geworden – wie meine Mutter. Gefühl der Sinnlosigkeit meines Lebens – nicht anders als bei der Mutter. 47 Mutter-Tochter-Tochter-Mutter-Refrain wie gehabt: Was ist mein eigentlicher Beruf, was meine Berufung? Wozu bin ich da, wofür existier ich? WAS HAB ICH ÜBERHAUPT AUF DIESEM PLANETEN VERLOREN? 48 XVII Jede/jeder um mich herum weiß um Daseinssinn. Einfach so. Füllt ihre/seine klar umrissene Rolle im Leben aus. Warum in aller Welt denn nicht auch ich? Alte Kindheitsfrage laut Tagebuch der Mutter: „Ganz verzweifelt kam [Evchen] neulich an: ‚Wenn ich nur schon wüßte, was ich werden soll!’“ (24.1.45, ich 6 Jahre und 10 Monate alt). Beruf/Berufung. Sinn meines Lebens und überhaupt – dafür u. a. erhoff ich mir Antwort mittels Psychoanalyse. Meine Mutter hat es nicht geschafft, weil mein Vater nicht mitzieht, ihre Therapien torpediert, kaum daß sie ein wenig auflebt, Hoffnung für sich schöpft. Jede ihrer Analysen ergibt: Mein Vater ist genauso behandlungsbedürftig wie sie. Mir würde so was nicht passieren. Mein Ex-Mann ist total freudianisch. In der Theorie. Ich bin jungianisch. In der Theorie. Kollege Ex-Mann bekehrt mich zu Freud. Laß mich nur allzu gerne belehren bekehren. Die Praxis lehrt mich: Vier Liegungen freudoklassischer Psychoanalyse können verheerende Wirkung haben. Vollends, wenn eine Handvoll (!) Kunstfehler das therapeutische Werk begleitet – wie in meinem Falle geschehen. Im aktuellen Branchen-Verzeichnis meiner Stadt find ich den kapitalintensiven Seelen-Manager von einst nicht etwa unter der Rubrik „Ärzte: Psychoanalyse“, oder „Ärzte: psychotherapeutische Medizin“, sondern unter „Ärzte: Psychiatrie [!] und Psychotherapie“. Und hier als einen unter siebenundfünfzig. Auch im Telefonbuch kein Aushängeschild à la Psychoanalyse: „Nervenarzt / Psychotherapie“. Ein betagter Mann heute jenseits der 70. Wieviel Seelengold und –silber mag er angehäuft haben? Schreibt (oder schrieb), wie mir mal zugetragen wird vor Jahren, an einem philosophischen Buch. Werd ich noch einen Blick hineinwerfen wollen? *** Überleben als einziger Lebensinhalt? Freude-, Glück- und Sinnerleben: möglich nur in der Sucht? Nicht der pseudolegalen, der jede/jeder frönt. Mittels Alkohol, 49 Nikotin - oder so. Oder der weniger legalen – mittels LSD-Meskalin-Shit-Psilocybin-Marihuana-Ecstasy-Crack-Kokain-Heroin - oder so. Nicht die Sucht mittels jener Drogen, welche ursprünglich exklusiv spirituellen und therapeuti-schen Zwecken zu dienen hatten. Meine Sucht ist weitaus gefährlicher, potenziell tödlich. Sie bedarf keiner Drogen. Sie ist die Droge schlechthin. MANIE IST DIE DROGE DER DROGEN: Ist diese Sucht in mir angelegt – als quasi „karmische“ Mitgift [in Vorleben verwurzeltes Fehlverhalten, das jetzt nach Ausgleich drängt, inklusive LACHGASGEBURT?]. Ist diese Sucht mir früh schon zum „Schatten“ geworden, weil die „schreckliche Wildheit“, das überschäumende Leben, die ungebärdige Neugier des kleinen Mädchens hat gezähmt gebändigt gedrosselt, hat ausgemerzt werden „müssen“ – schon im Kinderkeim? O-Ton-Ohrwurm mit erhobenem Zeigefinger – der Kindervater: „Übermut tut selten gut“. Er will mich vor dem Strafgericht der Mutter schützen, bewahren, retten – eh es zu spät ist. Meistens ist es zu spät. Bin nicht mehr zu bremsen. Temperament geht mit mir durch. Mutter muß (!) mich verhauen ... Hätte, auch ohne „klassische“ Psychoanalyse, mein unterweltlich wild wuchernder Schatten eines späten Tages katastrophische Dimensionen angenommen, annehmen müssen, unausweichlich? Oder hätt ich – unter anderen (welchen?) Bedingungen – dieser chronifizierten Selbstzerstörung, dieser Chiatrie-Karriere doch noch entkommen können? ... Dutzende Male verschleppt mich meine Sucht ins Un-Heil-LOSe. Dorthin, wo kein Mensch je „Heilung“ erfuhr, jemals Heilung erfahren wird – Heilung im Sinne dauerhafter Stabilisierung, unabhängig von medikamentöser Dauerprophylaxe ... Erschauern machender Rückblick: In circa elf verschiedene Anstalten – Ausland inklusive – verschleppt mich meine schizomanische Sucht ... Nur eben besonders häufig in den nahe gelegenen Zwinger der Uni-V 4. 50 XVIII Bin ich wirklich nach jeder Manie zum Tode verurteilt, schlimmer noch: zum Dauersterben? Oder sind es nicht doch die Varma-Bomben von V 4 & Co., die mich in die nächste Hölle jagen, ohne Aussicht auf Entrinnen? Wiedermal wehr ich mich gegen Neuroleptisches – mit Worten und Aberworten. Will mit aller Redegewalt der zwangsprogrammierten Folterdepression entkommen: „Sie haben ja keine Ahnung, Herr Doktor, wovon ich rede. Sie wissen ja überhaupt nicht, was bei mir Neuroleptika bewirken. Und zwar mit absoluter Gewißheit: Grauenhafte Depressionen. Wissen Sie eigentlich, wie sich das anfühlt? Da hängt man am „Kreuz [auf Golgatha]“ ... will nur noch sterben, endlich sterben. Und hat noch nicht mal mehr die Kraft zu schreien „Eli, Eli, lema sebahtani!“ diese entsetzliche olter am Kreuz – die hört nie nie nie mehr auf. Niemals bis in alle Ewigkeit ... Der Doktor ist bibelfest. Dieses „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ vom (aramäischen) Karfreitag – schlagfertig lautet es in seiner chiatrischen Version: „Mein Gott, mein Gott, komm her und gib mir Medizin“ (!) ... Mir reicht’s. Nehm keine „Medizin“. Auch nicht den letzten Neuroschrei, den sie mir diesmal andrehn wollen. Ist eh nur immer das alte Pharmakonzert-Gemix-Gebräu. Neu? Allenfalls der markige Name. Das Etikett. Will nicht zum x-ten Mal Versuchskaninchen sein für horrormäßige „Nebenwirkungen“. Will einzig und allein was ganz „Normales“ zum Pennen. Von mir aus hoch höher HÖCHST dosiert. Rohypnol, zum Beispiel. Tavor, zum Beispiel: Schlafseligkeit garantiert. Krieg ich nicht, natürlich. Tavor macht angeblich süchtig. Hätte simulieren müssen, eine fürchterliche Panikattacke natürlich – um es trotzdem zu bekommen ... So viele stinknomale extramurale Erdlinge um mich herum kriegen Tranquilizer – blank auf die Hand. Mixen Alkoholisches dazu ... Mir, der Verrückten, werden solche Gnaden strikt verweigert: Gefahr der Abhängigkeit! Abhängig bin ich von der Droge Manie. Leider ist die ein Weckamin – kein Tranquilizer. Teufelskreis, verdammter ... Kann verlegt werden auf die Geschlossene gegenüber. Rauchfrei. Ruhig. Geriatrisch [(Abteilung) für alternde / alte Menschen]. Der Rest ist Priv.-Doz. Dr. Schrött, Johannes [s.o. Kap. XIII]. 51 XIX Werd ich zu Lebzeiten noch erfahren, ob auf meine Himmel-Hölle-Extreme tatsächlich „lebenslänglich“ steht, wie der Prof Andreas Marneros für Profis im „Schlußwort“ seines Leitfadens über meine Krankheit schreibt? „Bei der Diagnostik und Behandlung von bipolaren Erkrankungen denken Sie bitte immer an Folgendes: Bipolare Erkrankungen • sind lebenslange Erkrankungen, • können todbringende Erkrankungen sein, • können invalidisierend und isolierend wirken, • sind aber in der Regel gut behandelbar. • Viele große Männer und Frauen der Weltgeschichte, Literatur, Kunst, Musik und der Wissenschaft hatten eine bipolare Erkrankung.“ (Manisch-depressive und andere bipolare Erkrankungen. Ein Leitfaden für Klinik und Praxis. Stuttgart: Thieme, 2000, S. 131). Alte Leier von Genie und Wahn. Vertrackte Logik. Krank sein müssen Großes schaffen Großes schaffen trotz oder wegen Wahn? Kann doch nicht die Wahrheit sein. Patriarchalische Illusion. Unausrottbar. Seit den Homo-Griechen PLATO / ARISTOTELES & Co: Möchtegerne-Mythos Made European West. Wo bleibt der Riesenrest der kreativen „Weltgeschichte“. Wo bleiben Afrika und Asia und Mittel-/Südamerika – Australia? Nix „Großes“ produziert? Und falls dennoch, dann womöglich jenseits aller Schrecken bipolaren Wahns? Das Statement des Psychiaters griechischer Herkunft – vielleicht ein bißchen abendlandkultur-megaloman? Arme „große Männer und Frauen“ sogenannter Weltgeschichte, Weltkultur, wenn Depression der fürchterliche Preis ist, den ihr habt entrichten müssen – für Eure bipolare Kreativität. Und wie könnt es unsereins von heute – dröge bipolarem Untermittelmaß – noch Trost sein, wenn ein PHARMA-Chiater des 21. Jahrhunderts Euch post post festum auf den Sockel hievt von Weltkultur-geschichte – mittels einer 17-Worte-Denkmalsphrase? 52 Mein Mini-Fazit Mani(e)fest – fürs erste: Vorsicht gelbe Ampel – immer lauern Glücksfallen am Wegesrand! Achtung rote Ampel – widerstehe jeder Versuchung. Gib dich keinem produkreativen Rausch und schon gar keinem erotischen Rausch mehr hin! Nie wieder „pseudo-grüne Ampel Manie“ riskieren ... Niemals wieder = immer wieder? Wann hätten goldene Vorsätze eine wie mich nicht schnurstracks in die „Hölle Psychiatrie“ geschleudert! 53 Immer wieder nur noch über Leben? M orgenröte Tag und Nacht und Sonnenzauber ohne Ende schlaflos A ller Lebenswidrigkeit enthoben Ein- und abgetaucht crescendohaft in Seligkeiten ungezeugten Seins als wär’ N irwana Wirklichkeit auf Erden I mmerdar ... von E wigkeit zu Ewigkeiten ... A ber ach: Der L andung Ungemach wirkt S chauderndes Erwachen und entbirgt S ozialbankrott, Verzweiflung, Depression ... U nausweichlich droht der Niedergang ... Doch Gift- C hemie ein ganzes Leben lang? H at Dasein unter solchem Zwang noch irgendeinen Sinn? Wär’ ihm ein freier T od nicht vorzuzieh’n? 54 XX Die Achterbahn meiner Bipolaritäten dreht sich immer schneller: Kurze manische Episoden kurze mikro-kreative Intervalle ... Depressive Dauerfolter ... So als wär ich lebenslang verharrt in Totenstarre. Verscharrt bei lebendigem Leibe. Folter bis in alle Ewigkeit. Die berühmtesten, marktgängigsten Antidepressiva versagen den Dienst. Alle paar Wochen das nächste Mittel ausprobieren. Wie lange dieses Mal sterben? Wenn die Agonie nach drei vier Wochen noch immer anhält, dann Antidepress Numero nächst, und so fort im Test. Im chemischen Reigen. Ambulant. In der Horizontalen. Daheim. Wie oft in solchen Horrorphasen sehn ich mir „Harmloseres“ herbei. Einen ganz normalen Krebs. Zum Beispiel. Krepieren garantiert. Brauch es nur darauf anzulegen. Einfach Operation verweigern. Schließlich gibt es Morphine, Opiate, wenn es ans schrecklich erlösende Ende geht. Und ich hätt einen respektabel honorigen Abgang (gehabt). Wie immer mehr Menschen in meinem persönlichen Umfeld. Sterben einen quasi natürlichen Tod – oft „nach kurzer schwerer Krankheit“. „Harmloseres“? Warum nicht Euthanasie, den schnell wirkenden „schönen Tod“ aus der Giftspritze der schwarz-weiß-roten Jahre? Heftige Wunschphantasie. Dann hätt ich „die Sache mit Golgatha“ hinter mir: Alles vorbei. Getötet werden STATT. Mich selbst auszulöschen ... Solche menschen-lästerlichen Wünsche kann allein ermessen, wer Depression von innen kennt: Mit Haut und Haaren. Das Allerschlimmste freilich: Depressiv plus hinter Mauern. Grauen des Grauens. Mehrfach muß mir auch das noch passieren. Bricht das Elend noch in der Klinik über mich herein, heißt es: Verweildauer endlos – doppelt, dreimal so lange, wie Depression extra muros. Jetzt geht auch das letzte bißchen Leben noch verschütt. Im depressiven „Normalfall“ schlepp ich mich zu meiner Ambulanzpsychiatrin – so als gält es, die Spitze des Mount Everest zu zwingen. Daß ich lieber begraben läge, unter dem Himalaya, das sage ich claro der Ärztin nicht. Sonst weist sie womöglich mich ein. Bloß nicht auch noch depressiv in die Klapse. Klinikkoffer packen? Wär gar nicht mehr drin. Jede minimale Verrichtung, jeder banale Hand- 55 griff: Qual. Kann so nicht weiterleben. Will nicht mehr sein. Schade, daß Exit [Sterbehilfsorganisation in der Schweiz] nicht bei mir um die Ecke agiert. „Exit“ würde mir menschenwürdig helfen. Sogar unter geistlichem Beistand ... Ab 70 oder 75 in einem Alten- oder Pflegeheim für Unbetuchte verrotten, wehrlos hirnlos unter Dauerneuroleptika dahinvegetieren? ... Dann schon lieber ... Eh „es“ zu spät ist. Ein einziges Mal geschieht das Wunder – von jetzt auf gleich. Vollkommen frei von Folter. Der Ewigkeitsschmerz wie weggefegt. Von einem Tag auf den andern. Nein: Der Übergang dauert nur eine Minute. Wunder vertikalen Auferstehens. Phönix aus der Asche. Freude. Glück. Schmeiße die Antidepressiva weg. Die könnten jetzt gefährlich sein. Ein Sonnentag. Lasse alles stehn und liegen. Die Sonnenfeste feiern wie sie fallen. Steige den Berg hinauf zu meinem „Kraftplatz“. 50 Minuten bei strammem Schritt. Zu den Ruinen der romanischen Basilika. Respektabel restauriert. Weiter unten später sommerlicher Laubwald. Wochentag, hoher Nachmittag. Kein Mensch da oben, auch kein Tourist aus Japan oder USA. Ich hab die Sonne ganz für mich. Bin sonnen - selig - allein. Warum richtet nicht jedes Menschenwesen den Blick auf dieses gleißende Wunder, schaut hinter schützenden Gläsern mitten in unser Zentralgestirn hinein? Es blitzt kurz auf an den Rändern, phosphoreszierend – vibrierend ... Nach wenigen Sekunden des Fixierens werden die Konturen scharf. Gestochen scharf. Nichts blendet mich, nichts blindet mich ...Woher nur der hartnäckige Glaube vom Blenden und Erblinden, wenn Mensch den Blick in die Sonne wagt? Ein rosafarbener Halo [Hof um eine Lichtquelle] breitet sich WEITET SICH um das gelbe Rund. Ich schaue und schaue: Selig ALL-EINS: Da ist kein Wünschen mehr, kein unerfülltes Sehnen. Da ist nur Fülle des Seins im gegenwärtigen Augen–Blick. Wozu Mescalin LSD Kokain TV-Kultur oder was auch immer, wenn homo sapiens sapiens einfach nur in die Sonne zu schauen braucht - dankbar bewegt, beglückt! Entrückung, Verzückung ... Plötzlich zuck ich zusammen – wie elektrisiert: Während ich so stehe und zu Helios [griech. Sonnengott] schaue, hat Morpheus [griech. Gott der Träume] mich umhüllt. Sekundenschlaf. Stehend offenen Auges einfach weggetaucht und – total erfrischt zurückgekehrt. Sonnenblicke. Einblicke. Faszination der 56 Nachbilder hinter geschlossenen Lidern: Chlorophyll, intensiv leuchtend wie in den schwindenden Urwäldern des Planeten Erde. Um das Grün breitet sich blühendes Rot in allen Schattierungen ... Wozu Milliarden teure Raumschiffe bauen, wenn es so einfach ist, die knapp 150 000 000 Kilometer Abstand zwischen Erde und Sonne zu überwinden? Unverhofft und ahnungslos weiht mich die Borderline-Psychose in das Wunder des „Sonnen-“ oder „Surya-Yoga“ ein [borderline = Grenzlinie]. Wiederholbar zu verschiedenen Jahres- und Tageszeiten, an verschiedenen Orten. Extramural. Intramural. Das Ergebnis: Immer ähnlich oder gleich. Ich glotze in keine zappige Glotze. Ich schaue geschützten Auges unverwandt in die Sonne, nehme ihren rosa Halo in mich auf und empfange den Reichtum ihrer farbigen Nachbilder. In solchen Augen-Blicken erledigt sich die URfrage meiner schmalen Existenz wie von selbst: Wozu bin ich überhaupt auf der Welt? Die Morsesignale der Sonne: „Sei einfach ... in der Welt: DEIN SINN = DA SEIN“... So simpel? Schön wär’s. 57 XXI Daß bei so viel solarer Erleuchtung, bei derart intensiven Farbenprachten die totale Sonnenfinsternis nicht auf sich warten läßt, versteht sich von selbst – bei meiner Krankheit. Schicksal oder Schaffsal – ich will damit nix mehr zu schaffen haben. Mir reicht’s. Wie lange tut es das jetzt schon? Weshalb tu ich „es“ nicht endlich. Worauf in aller Welt noch immer warten? Habe ich nicht bei meiner Zeugungsempfängnis die Erde gleich wieder verlassen wollen? War ich nicht eh schon eine „Mangelgeburt“? Und war ich nicht mit 5 und 8 Jahren auch schon am Sterben? Wofür wozu mich weiter durch dieses Leben quälen ... Wann wär es was anderes gewesen als letztlich immer nur überleben ... Was hält mich davon ab, den letzten Schritt zu tun – immer und immer wieder? Auf das Selbstmordtabu der beiden Amtskirchen mitsamt ihrem Dogma von Bußund Sündenmoral – pfeif ich ... Schon lange. Pure Heuchelei. Die germanische Dunkelziffer gelungener Suizide wird derzeit [2002] auf ca. 150 000 im Jahr geschätzt. Aber was ist mit dieser Esoterik-Szene um mich herum, mit den „Spirituellen“? Da rühr ich das Thema auch schon mal an. Da ist zwar nicht die Rede von Buße und Hölle wie bei Christens – fürs „Danach“. Aber von astralen Unwägbarkeiten, möglichen Finsternissen um so mehr. „Paß bloß auf, du weißt nicht, wo und wie deine Seele landet, wenn sie keinen Körper mehr hat. Es kann dir nur noch schlimmer ergehen“. Noch schlimmer als jetzt? Das kann doch nicht die Wahrheit sein. „Schließlich hat jeder von uns schon mal schwierige Zeiten durchgemacht“, sagt eine, die es wissen will. Zeiten von Abschied und Trennung, von Verlust und Tod nahestehender Menschen. Stimmt. Der „Normalmensch“ kann Abschied und Trennung stabil verkraften, Verlust und Tod stabil betrauern. Eine wie ich kann es offenbar nicht, wird erst manisch, dann depressiv. Manische Heiterkeit – reichlich verrückter Ausdruck von Trauer. Ob die chiatrische Pharma-Profi(t)-Szene das jemals begreift – den Unterschied zwischen „Trauer“ und „Melancholie“? Letztere ist TRÄNENLOS erstarrtes (Dauer-) Sterben, ohne Aussicht auf erlösenden Tod. Ohne Aussicht auf Neugeburt. Nur eine halbe Stunde 58 geflennt – und der depressive Spuk ist vorbei. Fürs erste. So einfach so schwer. Der griechische Philosoph Aristoteles hat’s gewußt. Kátharsis: Reinigung der kollektiven Körperseele von angestauten Emotionen durch Massenheulerei – in den griechischen Amphitheatern. Und dies beim Nach- und Miterleben der tragischen Verstrickungen seitens der Heldinnen und Helden auf der Bühne. Der Nervenarzt Dr. Sigmund Freud hat’s wieder entdeckt, für die vereinzelte Körperseele: „Psychoanalyse = kathartische Therapie“. Einsame Flennerei auf der Couch, jetzt nur noch für mehr oder weniger Betuchte. Der amerikanische Biochemiker Dr. William Frey hat gar die Tränenforschung namens Lacrimology ins Leben gerufen, in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Hat einem instinktiven Impuls folgend Menschentränen im Reagenzglas gesammelt – und ganz schön Körpergiftiges darin vorgefunden. Heilendes Heulen – die Regenbogenpresse weiß davon seit den 80er Jahren des WK-Jahrhunderts zu berichten. Und die Psychiatrie? Wehe, wenn in der Geschlossenen jemand mal weint, ja überhaupt weinen kann: „Bringen Sie der Frau S. mal schnell das Medikament X [ein Antidepressivum], so der O-Arzt Dr. Biss zum Pfleger. Ingrid, bipolar wie ich, ist meine Bett-nachbarin in der V 4, anfangs der 80er Jahre. Witwe Ingrid (13 Jahre älter als ich) hat Grund zum Weinen. Soll teilentmündigt werden: Verschwendet zu viel Pension an den einzigen Sohn. Weinen können aus nachfühlbarem Anlaß als sofort zu behandelndes Krankheitssymptom!? Fasse wer es fassen mag. Heulpillen soll sie produzieren, gegen Depression, die Pharmaindustrie. Statt den gestörten Hirnstoffwechsel herunterzuleiern – monoton ton Ton. Und ein ums andere Jahr neue Antidepressiva auf den Markt zu werfen gegen das Massenleiden „larvierter“ = maskierter Melancholie oder das Massenelend maskenloser = gnadenloser Depression. Zu mir hat O-Arzt Dr. Biss gesagt: „Das einzige, was bei Ihrer Krankheit wissenschaftlich feststeht: „Sie können niemals Krebs bekommen“. Schade. Jahre später muß Ingrid ins Heim. Dort stattet Dr. Biss der Privatpatientin wöchentlich einen Besuch ab. Versorgt sie mit Medikamenten: Prophylaxe gegen Bipolares. Ingrid geht jammervoll ein – an Augenkrebs ... Hat nicht dürfen weinen. 59 XXII Könnte ich doch eingehn. Endlich. Kann weder lachen noch weinen. Schon wieder lebendig begraben. Wird Stefan – Medium, Schamane und manches mehr – mir helfen können? Bei Depressionen, hab ich gelesen, kann schamanische Hilfe Befreiung bringen. Stefan taucht in meine Aura ein, liest mich wie ein offenes Buch. Erfaßt das Problem der Probleme meiner Existenz: „Es darf Ihnen ja gar nicht gut gehen. Das ist wie ein Programm ... ". Ich klage ihm meinen Dauerkonflikt mit dem Suizid: „Sie wollen sich umbringen, aber Sie dürfen es nicht? So kann kein Mensch leben. Sie müssen sich entscheiden ... ". Ich bringe „die“ Spirituellen ins Spiel, die so genau Bescheid raunen mit der astralen Hölle „hinterher“ und überhaupt. In der Tat hab ich in meiner Karma-/Reinkarnationstherapie die eine oder andere Suizid„inkarnation“ [Einkörperung] hochgeholt ... Ist mein jetziges Leben doch noch die Selbstbestrafung dafür? Diese ganz reale Hölle, die von Jahr zu Jahr immer länger dauert, immer unerträglicher wird? „Wissen Sie (sagt Stefan), ich bin ein spiritueller Mensch und ich sage Ihnen, Sie können sich umbringen, und es geschieht Ihnen gar nichts. Niemand wird Sie bestrafen, außer Sie tun es selbst“. Danke Stefan. Endlich eine klare Aussage, ohne den Ballast der Buß und Sündengewichte – von vielen tausend Jahren. Ohne den christlich pervertierten Karmabegriff in so manchen „spirituellen“ Hirnen und Herzen um mich herum. Meine Einweihung in den Zweiten Reiki-Grad bringt noch einmal einen Durchbruch: Klare Entscheidung für dieses Leben – so jedenfalls scheint es. Die letzten Schlacken von negativer Anhaftung an die Mutter – in Liebe gelöst. Späte Gnade des versöhnten Abschieds. *** Wieder kann ich das Intervall nicht halten. Wozu die permanente Selbstüber-forderung, Selbtsausbeutung, sobald die Lebenskräfte neuerlich sich regen? Unbezahltes Uni-Semester, unbezahlte Forschung, Vortrag auf internationalem Parkett. Hab meinen Abgesang an sogenannte Wissenschaft beschlossen, „ein für allemal“ 60 ... Hab mich dann doch noch einmal breitschlagen lassen: Werde ein letztes Mal noch „singen“. Das Tagungsthema reizt. Hab noch nie so leicht geschrieben. Leicht, leichter, am viel-leichtesten. Französisch geht besser als deutsch. Hätt ich früher wissen müssen ... . Die Arbeit findet Anklang – stimulant, brillant, excellent, ganz vorzüglich ... Briefzuschriften, von lauter Profs – mit 4 bis 5-stelligen Monatsgehältern. Ich – alles auf eigene Rentenspesen ... die Arbeit mit den Studi(e)s fasziniert. Hat es immer getan. Mehr als drei Jahrzehnte. Aber 20 Jahre ohne jedes Entgelt – weil ein deutsches Gesetz aus dem 19. Jahrhundert es so will? Ego-Trip – oder nicht viel eher ein Minko-Trip? Mir selbst beweisen, daß ich trotz der Krankheit mäßig mithalten kann, „normale Leistung“ bringe – zumal als Frau. Kenn eine Handvoll männlicher Profs, ähnlich leidensmeschugge und psychiatrieerfahren wie ich, pharma-stabil, geistig-steril. Lebenszeitstellung. Brauchen nix mehr zu produzieren. Ich – der Krankheit wegen – war nicht selbstbewußt, nicht kämpferisch genug, um mir Gleiches oder Ähnliches an Land zu ziehen ... Hab konsequent an meinem Scheitern gehäkelt gestrickt gewerkelt. Bin selber schuld, daß ich mir das alles eingebrockt habe. Hatte keine andere Wahl. Zwischen „friß!“ oder „stirb!“ – welche Alternative? Fresse immer wieder Leben. Schiebe das Sterben immer wieder hinaus. Andere gehen vor mir. Sterben eines „geachteten“, ja geradezu normalen Todes. Eine befreundete Kollegin geht vor mir. Zum Beispiel. Krepiert regelrecht - an Krebs. Kaum Mitte 50. Die war nie ausgeflippt in 10 Jahren Couch-Analyse, die ersten 5 davon bei meinem Ex-Anal. Hat ihre Arbeitsblockaden auflösen wollen ... Ihr exzessives Suchtverhalten – Tranquilizer Nikotin plus Alkohol, über Jahre und Jahrzehnte ... Außenstehende wissen nichts davon. Perfekte Fassade. Hält sich selbst für „gesund“ – bis zur Diagnose „Krebs“, fortgeschrittenes Stadium. „Ich will gesund werden“, sagt sie mit kräftiger, mutiger Stimme am Telefon. Sie will noch habilitieren. Mit 55. Ihr Leben fängt gerade erst an. Auf dem Totenbett. ... So manche Bekannte und Freunde meiner Umgebung sind vor mir gegangen, lange „vor der Zeit“. Schon ab 50. Lauter ganz normale Leute. Seelisch belastbar. Superstabil. Therapeuten eingeschlossen, Herzinfarkt, Krebs und nochmal Krebs. ... Alle hab ich sie beneidet. Um ihr Normal-Stabilsein, um ihre Respekta- 61 bilität. Um die Gnade des frühen Todes. Mitten aus dem oftmals überaktiven Leben herausgerissen ... Und hätten doch so gerne noch lange lange weitergelebt. 62 XXIII Der Countdown läuft. Himmel oder Hölle. Da ist kein Halten mehr. Noch einmal schnappt sie zu, die Falle Ekstase. Und zum x-ten Male könnt ich, frei nach Goethes Faust „zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön!“ und ... danach „Gern zugrunde gehen!“ Wer diese Glückseligkeit des „ewigen Augen-blicks“ auch nur einmal gekostet hat ... will nie mehr zurück. „Erinnert sich – an die gegenwärtige Zukunft“, „weiß“ ganz einfach: So und nicht anders ist irdisches Leben vom Kosmos „eigentlich“ gemeint. Wahres erfülltes Leben auf Erden. Ein niemals endender „Hirnorgasmus“. Auf Erden. Und wenn die Erde da nicht mitmacht – dann ist es an der Zeit, sie zu verlassen. E rdenparadiese ... K ernfusionsentbunden ... S ternennahe Feuer- T änze ... Rund’ um Runden: A lles dies durft ich erkunden S chon vor sehnsuchtsdichten I nterplanetar- S ekunden 63 Was ist ein Mini-Wahn wie der meine gegen den globalen Wahnsinn? Gegen den kapital globalen Wahnsinn von ABC-Rüstungsproduktion, von interkontinentalem Drogenhandel, Menschenhandel, gegen den Irrsinn von imperialistischer Erdausbeutung, Umweltzerstörung, gegen den vorauseilenden Terror von USA-MegaloKrieg- der- Sterne Numero II, sprich den (atomaren) Angriff des Heimatplaneten aus dem All – anno 2020 (sogenannnter Raketen-Abwehrschild gegen Fernost!). Was schert es die US-globale Erstwelt-Normalität, daß derweilen weitaus mehr als 50 Millionen an Dritt- und Viertwelt-Toten, an Armen-Hunger-Seuchen-Folter-Kriegsopfern pro Jahr elendiglich zugrunde gehen ... Daß schon heute Erdteile am Verdursten Versiechen Verwüstetwerden Verwassern Verschwinden sind: Welch paradoxer Beschwichtigungswahn der Astronomen: Die Erde werde „schon“ in etwa 500 Millionen Jahren unbewohnbar sein, nicht „erst“ in 5 Milliarden Jahren – wie fälschlich bis dato angenommen! Sollten lieber bei Tag ins Zentralgestirn schauen, die Sternengucker – solange dessen wachsende Leuchtkraft dem menschlichen Auge und dem Leben auf Erden noch (v)erträglich ist ... im Hier und Jetzt! Im Schatten solchen Makrowahns freilich fristet mein Miniwahn ein höchst gefährliches Dasein. Gefährlich in erster Linie für mich selbst. Er schaltet sich ein, wenn der Angstpegel steigt. Die Urangst vor normalem Leben, vor banalem Glück und Wohlergehn. In die Nervenzellen eingeschrieben, eingraviert. Hirn„Engramme“. Gendefekte?! Ursache oder nicht vielmehr Folge von Körper-seelenschmerz-Engrammen? Wie die löschen? Das verinnerlichte Kinderkazet mutiert zum äußeren Intramural-Kazet. Die eingefleischte Angst vor dem Leben mutiert zu chronischer Angst vor Psychose, zu PANIK VOR DER INSTITU-TION PSYCHIATRIE – kaum daß erste Signale sich melden ... Meine Achillesferse = (zu wenig) Schlaf. Werd ich einschlafen können? Durchschlafen können, und das mindestens acht Stunden oder mehr? Weiterschlafen können nachts – nach jedem Pinkelgang? Bloß keine frühen Vormittagstermine! Blick in den Kalender: Rote Ampel – schon wieder zunehmender Mond. Hoffentlich hab ich den Vollmond bald hinter mir. Unruhe, Ungeduld, Reizbarkeit, untergründig aggressives Rumo- 64 ren. Panik im Keller: Ich könnte von meinen Gefühlen, zumal denjenigen von übersteigerter Freude, davongetragen werden – Endstation Psychiatrie. Der Countdown läuft. Das Damoklesschwert über dem Scheitel. Die Schlinge um den Hals. Ich treibe auf verlorener See. Letzte Rettungsbojen entgleiten. Mehr als 62 Jahre standgehalten – genug. Meine Mutter hat nur bis 58 durchgehalten. Die „70 biblischen Jahre“ ... „und wenn es Mühe und Arbeit gewesen ist ... “!? Wann hätt ich je „gearbeitet“ – für gerechten Lohn? Die schlimmste Form von „Arbeit“ freilich ist – gar nicht mehr arbeiten zu können, unfähig zu sein zu jedwedem TUN. In den verlorenen Depress-Nixtu-Zeiten bloßen Überlebens. Sinnlosen Vegetierens. Für diese Form der Arbeitsunfähigkeit / „Arbeitslosigkeit“ hätt ich ein Vermögen „verdient“, verdienen können. Hab nicht vorgesorgt. Nicht daran gedacht, mich zu versichern. Mich abzusichern. Krankenhaustagegeld und so. Spätestens ab 34. Immer in der Illusion gelebt, die Krankheit sei noch besiegbar, noch heilbar. Noch in diesem Leben. Irgendwann ... würde das Überleben ein Ende haben ... und das „wahre“ Leben beginnen. 65 XXIV Countdown Stufe drei: N ah der Mitternacht packt mich die große A ngst: Seit drei Jahrzehnten nur noch Schlaf- C hemie! Sanfter weiß mir Morpheus nicht zu H elfen ... Ungebor’ner Seelenteil aus T raumesfernen: Wirst du dich mir zugesellen? H eillos wieder ausgeliefert jenem Nicht- O rt namenloser Qual. Jeder F unken Lebens ist entwichen: F insternis hat mich verbannt ins N iemandsland – zum tausendersten Mal ... U rne, meine Asche mag dich füllen N ahen Tages. Nimm den Leib. Die Seele, G renzenlos ... wird sich an Mutter Kosmos stillen ... Countdown Stufe zwei: 66 Countdown Stufe eins: H eil im Unheil werden: I st dies möglich noch auf Erden? L etzte Rettung, wie sie F inden? Welches unlösbare Rätsel noch E rgründen? Suizid als die Er – Lösung? E rdenflüchtig bin ich wie N och nie zuvor: D anke Kosmos, daß du E den mir in Aussicht stellst ... Countdown Stufe null: 67 XXV Ein leises flüchtiges Vibrieren in den Genitalien, dann, weniger flüchtig, ein kleiner Kranz aus grünem Laub - Buchsbaum vielleicht oder anderes Grün -Durchmesser etwa 17 Zentimeter, das Rund an einer Stelle unverschlossen, klar und deutlich: Inneres Gesicht ... Ich öffne die Augen, liege in Dämmer gebettet, keiner Bewegung fähig. Die Blicke schweifen richtungslos umher auf weißgetünchter Decke. Gleiten an Silbermetall entlang – über mir im Halboval an der Decke montiert. Schweifen gleiten ziel- und zeitlos umher in dämmrigem Raum. Irgendwann die Stimme meiner Schwester zur Rechten: „Weißt du auch, wo du bist?“. Mein erster Gedanke: „Gottseidank – überlebt“. Daß es der Todestag meiner Mutter ist – es wird mir erst später bewußt. Die Mutter hatte nach anderthalb Tagen Koma beim Erwachen auf Intensiv geklagt, uns angeklagt: „Warum habt ihr mich nicht sterben lassen ...“. Und hat noch ein halbes Jahr gelebt. Sauer ist sie gewesen auf unseren Vater. Der hatte sie aufgefunden in der ehelichen Wohnung und gerade noch rechtzeitig in die Klinik gerettet. Überlebenschance 30 zu 70. Ihre 200 Luminaletten – eine Powerdosis. Kein „Demonstrativsuizid“. Wieder hat sie es, wie zuletzt ein Jahr zuvor, todernst gemeint, hat sich mit voller Absicht und bei vollem Bewußtsein „wegputzen“ wollen. Das werde sie tun, sich wegputzen. Nicht nur einmal hat sie das gesagt. Verdammte Erpressung. Immer hat sie uns verlassen wollen. Immer diese Drohung mit Abschied, Trennung, suizidalem Tod ... Rückkehr ins Bewußtsein, flüchtig genitales Vibrieren, grüner Kranz vor innerem Auge. Öffne die äußeren Augen. Erster Blitzgedanke: „Gottseidank – überlebt“. Kann mich nicht regen. Hänge an Schläuchen. Ungeheuer geschwächt. Erster und einziger Versuch in 62 ½ Jahren, die Erde endlich ein für allemal zu verlassen. Sogenannter Suizidversuch. Überlebt. „Zwanzig Minuten später eingetroffen – und da wär nichts mehr zu machen gewesen“, so Polizeimeister Müller auf „meinem“ Revier. Er läßt mich, was er „eigentlich“ nicht darf, das Protokoll einsehen. 68 Ausnahmsweise. Ich hab ihn darum gebeten, sieben Monate später. Da komm ich allmählich wieder zu Luft. „Kein Puls mehr (sagt der Polizeimeister). Kaum noch Luft in den Lungen ...“. Ist bei mir wirklich alles anders gelaufen als bei der Mutter, eine Generation davor? Dieses „Gotteidank – überlebt“ – von wegen. Das gilt für den ersten Augenblick, für die ersten Tage, weicht mählich monatelangem intramuralem Sterben. T atenlos verweht im Lebenssand ... O hne Ziel und Sinn aus mir verbannt ... D unkelheit im Nirgendwo: Ewigkeit im Niemandsland ... „Gottseidank – Ich lebe“. Ich hatte mich einfach gefreut, die Stimme meiner sechs Jahre jüngeren Schwester noch einmal zu hören. Nach langer Zeit. Unser Verhältnis – gestört seit Jahren. Meiner Krankheit wegen. Sie liefert mich hinterrücks dem Amtsgericht aus. Hat keine Ahnung, was das bedeutet, allgemein und konkret und überhaupt. Liefert meinen Vermietern intime Krankheitsdaten. Werde fristlos wohnungsgekündigt. Jüngere Schwester hat ihre x- undzwanzigste spirituelle Reise nach Indien gebucht. Will verständlicherweise mit der psychotischen Misere der älteren Schwester nix am Halse haben. Und das schon seit Jahren. Gottseidank gibt es staatliche Entlastung. Amtsgerichte. Vormundschafts-gerichte. Offizielle Verantwortungsträger. Eine wachsende Zahl von Berufsbetreuern hierzulande – mit respekablen Monatseinkommen. Wehe, man kommt an die Falschen. Rechtsanwälte. Steuerberater und so, die das „nebenberuflich“ betreiben ... Die Wohnungskündigung, die Aktionen schwesterlicher Fürsorglichkeit: Mir schwindet der Boden unter den Füßen. Zuviel ist zuviel. *** 69 Der versuchte Suizid ist mehr als Versuch. Er ist am Gelingen. Zwei Wochen Koma in zwei verschiedenen Kliniken. Überlebenschance 1 zu 99 beziehungsweise gleich null. Die beiden liebevollen Tag- und Nachtschwestern der zweiten Intensiv bestätigen es mir, neun Monate später. Da hab ich sie nochmal aufgesucht – und nachgefragt. Mein Überleben: Ein Wunder? Hab ich wirklich zurückkommen wollen? Meine Schwester schaltet „Spiritual Care“ für mich ein – buddhistische Lamas, die auf Spendenbasis irgendwo in weiter Ferne beten. Schwester will verständlicherweise unbelastet gen Indien pilgern. Müßig die Frage, ob ihr wohlmeinender Beitrag zu meinem Prä- und Postsuizid, ihre wohlmeinenden Gerichtsaussagen als freiwillige Zeugin der Klägerseite ein Jahr darauf, die mich den fast schon gewonnenen Prozeß im letzten Augenblick verlieren lassen, ob solcherart „Spiritualität“ nicht doch irgendwann weniger spirituelle Bumerangeffekte erzeugen könnten – in diesem oder in einem anderen Leben ... Hat meine Seele wirklich „frei“ entschieden, noch einmal in den Körper zurückzukehren? Wofür wozu? In den folgenden Endlosmonaten Psycho-Geriatrie [Altersheilkunde] weiß ich es weniger als jemals zuvor. Grau in graue Orientie-rungslosigkeit. Nach 15 Tagen Koma aufgetaucht aus dem Nichts. Kein „Nahtoderlebnis“ mit Tunnel und Licht und sphärischen Klängen. Eine liebliche „Jenseitslandschaft“ hab ich allerdings einmal „gesehen“, zu Lebzeiten noch, bei vollem Unbewußtsein in Psychose, wärend eines „Körperaustritts“. Über mir plötzlich psychedelische Blütengefilde – mitten im Winter, in schneebedecktem Wald: Ein Reich vollkommener Schönheit, vollendeten Friedens ... Aber im postsuizidalen Koma? Null Erinnerung. Kein Licht. Keine Finsternis. Kein Strafgericht. Keine astrale Hölle. Kein von Dämonen bevölkertes Zwischenreich. Schlicht und einfach NICHTS. Nothing: Hallo, Doctor Raymond A. Moody. Zu Ihrer „Sterbeforschung“ in Bezug auf gescheiterte, sprich ins Leben zurückgekehrte Selbstmörder habe ich nichts US-Prosaisches beizutragen. Auch Sie zappen ja ziemlich im Vagen. Ihre Hypothesen, so scheint mir, sind reichlich US-life-gestylt. Stil: Think pink, mit reichlich christlichem touch. Ich – falls es (m)ein Ich überhaupt noch gibt, schlepp mich halbtot im Antidepressiva-Reigen weiter. Warum nur hab ich dem „sicheren“ Tod von der Schippe springen müssen. 70 S eligkeit für schmale Zeiten ... T odesqualen über E wigkeiten R ichtungsloses Treiben ... B ilderloses Schreiben ... E rdenfern im All verloren: N ICHTS, wofür ich auserkoren ... 71 XXVI Das ist schlimmer als alles was war, davor: Den eigenen Tod überleben. Müssen. Die Ärzte in der Klinik: „Denken Sie nach über das Glück!“ „Setzen Sie sich zur Ruhe!“ „Genießen Sie das Leben“. „Sie werden sich eine wunderschöne neue Wohnung suchen!“ Bin noch dermaßen depressiv, daß ich nicht mal die Kraft hab, mir das Messer in der Tasche aufgehn zu lassen – über solch wohlmeinende Ratseligkeit. Kein einziger Klinikarzt kennt meine Überlebens- und Kampfgeschich-te. Das einzige, was interessiert, sind meine Symptome, ist die verschieden etikettierte und dennoch immer und ewig gleiche Diagnose. In den Anfängen „Mischpsychose“, heute „Schizoaffektive Störung“. (Eine Diagnose, die ich derzeit mit immer mehr Psychiatrieerfahrenen zu teilen scheine: Jede/r von mir diagnostisch Befragte trägt das Etikett „schizoaffektiv“) ... Zum allerersten Mal ist es mir völlig egal, wann der Entlaßtermin aus der Anstalt fällig ist. Der Abschied von der Psychiatrie – kein Thema mehr. Kein Drängen wie früher: „Ich will hier endlich raus. Will nach Hause. Halte diese nutzlose Rumsitzerei nicht länger aus. Nichts drängt mich diesmal nach Hause. Zu den Bergen von Post. Zu den verrotteten Grünpflanzen überall in der Wohnung ... Schlimme Folgen wird sie haben, die lange depressive Bewungsunfähigkeit. Böse Folgen für die schon immer von Versteifung bedrohte Lendenwirbelsäule ... Wochen, Monate nach der Entlassung raff ich mich auf. Geh meinem Beinah-verschwinden nach. Spürhund in eigener Sache. Polizeibericht. 7 Seiten Klinikdokumente. Chef der Uni-Entgiftungsstation: Prof. Dr. med. Stell – mein Vermieter! Ich entnehm es dem Uni-Personalverzeichnis. Sein Name erscheint in der Wohnungsrausschmiß-Klagschrift als „N. N.“, non nominatur, wird nicht genannt. Will nicht, dass seine Fälschung gerichtsnotorisch wird: „Die Patientin leidet an einer bekannten Depression [...]. Suizidversuche sind schon mehrfach [!] erfolgt“. Nein: Es ist mit 62 ½ Jahren der allererste und es wird der allerletzte gewesen sein. Daß die Uni-Intensiv eine Komatöse, unterkühlt auf 25,0 Grad Celsius, mit beidseitig schwerer Lungenentzündung (Überlebenswerte praktisch null ... wird 72 meine Schwägerin-Krankenschwester später sagen), nach 5 Tagen abschiebt – weil die Uni-Intensiv dringend anderweitig benötigt wird ... Ich kann es Vermieter Professor Stell nicht verdenken. Ob hier krepiert oder dort. In seinem oder einem anderen Krankenhaus: Der Streit um „Räumung und Herausgabe“ hätt sich erledigt. Für alle Beteiligten. Am meisten für mich selbst. Irgendwer hätt an meiner Stelle die 80 Meter Inter-Bibliothek entsorgt. Sich irgendwie um den Rest gekümmert ... Aasgeier für Wohnungsauflösungen: in jeder Samstagsausgabe der Stadtzeitung leicht zu finden. Alles hätte seinen normalen Räumungsgang genommen. Nur eben ohne mich ... Hauptsache non nominatur. 73 XXVII Die nackte Verzweiflung hatte mich gepackt. Ich renne vom Arbeitszimmer zur Küche hinaus, kippe hinunter, was auf dem Küchenschrank steht. Die ganze Schlaf- und Überlebenschemie für die nächsten Wochen. In hastigen Zügen kipp ich alles runter, mit Volvic-Wasser. Tempo Tempo. 100 Tabletten Saroten retard. Schnell noch 20 Ximovan hinterher. Antidepressiva und Schlafmittel sind todsicher. Nur die Dosis muß stimmen. Sonst ist nix mehr in der Wohnung – an Psycho-Chemie. Daß ich vorher ein fix vollendetes Testament in den PC eingebe: Gedächtnisausfall total. Ich renn aus der Wohnung, rase die Treppe zwei Stockwerke runter, renn aus dem Haus. Bloß nicht aufgefunden werden. Der Faden reißt. Bin nicht mehr von dieser Welt. Fortsetzung: Dokumentation Polizei-Notarzt-Klinikbefunde ... Soviel Todes-Kondition in den Lungen: 20 Fußminuten hochgepest – bewußtlos den steilen Bergwald hinauf? An einem Freitagnachmittag (der PC mit dem Testament zeigt auf 16:34), einem dreizehnten noch dazu. Oktoberkalt. Die Waldhütte ist mir bekannt. Jahrzehntelang laß ich sie einfach links liegen, auf dem Weg zur Spitze des Berges, zielgerade hinauf zu den Ruinen der romanischen Basilika. Nie war mir die Idee gekommen, achtzehn ungeometrische, schmale Uraltstufen aus Stein zu dieser Hütte aus Holz emporzusteigen, das Innere zu betreten, auf der Bank zu rasten, unter der großen hellen Holztafel mit der kalligraphischen Inschrift in Dunkelbraun: „Ich schütze dich vor Sturm und Regen / schütze Du mich vor Frevlers Hand“. Daß man von dieser Hütte auf mein Wohnviertel hinabschauen, den Blick in die Abendsonne genießen kann – nie zuvor hatte ich das wahrgenommen. Eine ideale Stätte letzter Ruhe. Werde ich Monate später denken. Ruhe unter leicht pyramidisch geschrägtem Dach, gestützt auf rund gekreuztes Gebälk, das den Blick nach allen Seiten freigibt. Wie nur bin ich zum ersten Mal im Leben dort hineingelangt – bei restlos ausgeschaltetem Bewußtsein, vollkommen abgeschalteten Sinnen? Der Sonntag nach dem Oktober-Freitag ist ein Sonnentag. Spaziergänger sind schon vormittags unterwegs – auf dem weitaus leichter begehba- 74 ren, asphaltierten Teil der Strecke. Eine Passantin entdeckt „gegen 11.30 Uhr in der Mönchberghütte eine ‚tote Frau’ am Boden liegen“, hebt sie auf die Bank (hätte sie eigentlich nicht gedurft, sagt der Polizeibeamte zu mir), findet einen Passanten mit Handy ... Wie nur konnt ich mich „vor Sturm und Regen“ retten, statt im kalten Herbstwald zu verrotten? Noch heute krieg ich Gänsehaut, wenn der Notarztwagen blaulichtern an mir vorbeisirent. 75 XXVIII Zeit- und kostenintensive Sanierungsarbeiten an Körper und Seele. Die lange gelähmte Rechtshand („Fallhand“) ist wieder beweglich – gottseidank. „Radialis-parese“: Der Kopf hatte zwei Tage-Nächte auf dem rechten Oberarm gelegen, auf dem steinernen Boden der Hütte. Der Speichennerv („Nervus radialis“) abge-quetscht. Wächst pro Tag einen neuen Millimeter. Nur halt kaum spürbare Schmerz-Arthrose jetzt im Handgelenk, beim Aufstützen, bei gewissen YogaÜbungen – schade. Dennoch: Glück gehabt. Das Hirn hat nicht gelitten, ist intakt geblieben – gottseidank. Glück gehabt – bei solchen Salven Gift. Die tödlich entzündeten Lungen – vollkommen ausgeheilt. Werd ich das konditionsmäßig eines Tages alles wieder können wie vorher: walken, schwimmen, tanzen, fahrrad-fahren, wandern? Alles in Maßen – angesichts der neu erworbenen Lenden-wirbelvorfälle? Hatte ich anderes zu erwarten, nach der ewigkeitslethargischen Trainingspause? Doch was sind schon chronische Körpermalaisen im Vergleich zu chronischer Bipolar-Depression! Bis zu meinem Beinahetod hab ich gekämpft – ums bloße Überleben. Bin dem Tod von der Schippe gesprungen – Mirakel. Aber von wegen „Setzen Sie sich zur Ruhe ... Genießen Sie Ihr Leben ... Suchen Sie sich eine wunderschöne neue Wohnung“ – oh Ihr Profis vom klinischen Hohen Rat ... Kann mir wirklich nichts mehr passieren – wenn Verletzung mich trifft, wenn die normalen Härten, aber auch die normalen Freuden des Lebens von mir Besitz ergreifen (wollen)? Kann ich wirklich stabiler umgehen mit der Palette meiner Gefühle, den „guten“ wie den „schlechten“? Bin ich wirklich geschützter jetzt vor (unbewußter) Selbst-bestrafung, wenn Freude Glück und Dankbarkeit sich in mir regen? Immerhin brauch ich nicht mehr den Kalender zu befragen – des Vollmondes wegen. Immerhin kann ich jetzt vollkommen normal in die Sonne schauen – der Farbenprachten wegen. Brauch dazu nicht mehr auszuflippen. Schade, daß die Sonne hier so selten scheint. 76 XXIX Es ist ein zuversichtliches Wissen in mir, daß unheilbare Krankheiten wie die meine eines Tages Jahrhunderts Jahrtausends – sofern „die Gesellschaft“ sie dann überhaupt noch produziert und braucht (!) – (wieder) Heilung finden werden. Jenseits psychiatrischer „Wissenschaft“ / Ver-Messenschaft. Mit anderen Mitteln. Auf neu-alten Wegen. Viel Wissen ist vorhanden, Wissen plus Weisheit ... Derzeit freilich, so wollen es die Psychose-Statistiker noch immer wissen, sind in menschlichen Gemeinschaften aller Zeiten (!) und aller Teile der Welt (!) „ein Prozent“ Wahnsinniger vorzufinden (nur so wenige?) – unabhängig von Rasse Kultur Gesellschaft. In welch homöopathischer Verdünnung sind da die „vielen großen Männer und Frauen der Weltgeschichte“ und so weiter einbegriffen? Wem dient solch statische Statistik? Wer sie im Munde führt, mit ihr argumentiert, meint doch schlicht: Das allzu schlechte Bestehende ist – nun mal wie es ist. Ziemlich fatal zwar, aber halt nicht zu ändern. Zu jeder Zeit an jedem Ort der Erde – das unverrückbar eine Prozent Ver-Rückter aufgrund verrückt programmierter Gene: Gottseidank. Das „350“ Jahre junge Mechano-Menschenbild Made West ... bloß nicht dran rütteln. Getrost alles beim alten belassen, und es allemal als den neuesten Schrei verkaufen. Sand in die Augen und Ohren der Normalomassen. Besch-wichtigungskürzel „ein Prozent“. Da braucht sich niemand Hirn und Herz zu zermartern. Braucht man nicht andere Wahn-Zusammenhänge zu erforschen, andere Wege der Wahnbehandlung zu erwägen und zu wagen. Da wird man schon gar keine ketzerischen Fragen in die Waagschale werfen wollen. Zum Beispiel eine wie die: Was wär mit dem Riesenrest der 99 Prozent „genetisch“ Normaler – ohne das „schizogenetische“ eine Prozent, das deren Riesen RESTMÜLL schluckt und schluckt und schluckt? ... Abschied von der Psychiatrie, will sagen Trennung von der nachfaschistischen, unverrückbar (erb)genetisch fixierten intramuralen Zwangspsychiatrie? Wird mir wenigstens dieser Abschied noch gelingen? UND NICHT NUR MIR? VIELEN MITBETROFFENEN VIELLEICHT? 77 Derzeit gelingt es mir, das Glück, mit dem das äußere und das innere Licht der Sonne mich beschenkt, stabil zur Erde zu bringen. Mich in ganz normaler Verfassung an dem ebenso einfachen wie wunderbaren Geschenk farbigen Leuchtens zu erfreuen. Mich in voller Bewußtheit und Klarheit zwischen Erde und Sonne auszurichten. Jenseits von Borderline und Psychose. Inmitten der Verrichtungen und Ablenkungen des normalen Alltags. Dies freilich nur im stabilisierenden Schutz einschlägiger Psycho-Medikation. Zähneknirschend: Hoch ist der Preis der sogenannten „Nebenwirkungen“... Wenn die Lendenwirbel mitmachen, tauche ich wenige Fahrradminuten von meiner Wohnung entfernt in den hochsommerlich erwärmten Fluß, durchquere ihn von einer Brücke zur nächsten, der Abendsonne entgegen. Zwischen den beiden Brücken, jenseits des linken Ufers, hinter Bäumen und Mauern: Die Uni - V 4. Sollte es mir gelingen, ihrem Höllenschlund zu entrinnen, dann hätte mein Leben – nach dem Überleben – doch noch Sinn gehabt. 78 XXX Stirb und werde A m Anfang war ... U ndurchdringliche F insternis in mir ... E rst allmählich er- R eichten mich weniger D üstere Lebens - E nergien ... aus dem N ichts ... Jetzt weiß ich: 79 N euer Nähe O rt wird der Reise R ichtung weisen... M ögliches – es ist im Werden. A bendröte winkt als L euchtspur mich an Land: E ndlich Daseins- S inn in Sicht! L ebensanker blinkt I m Morgensonnenschein: C hance winkt vom nahen Ufer, H eimatstätte zu betreten: T or zur Erde, ich bin Dein! ISBN 978-3-936666-00-7 Alle Rechte vorbehalten 80 Eva-Maria Tepperberg Etüden über Leben oder Ein langer Weg vom Wahn zum Sinn Band II »Mehr als eine Dokumentation« post festum Für meine Freunde und Bekannten in Dankbarkeit Heidelberg: © Edition Eramo 2007 ISBN 978-3-936666-00-8 Alle Rechte vorbehalten 81 Inhalt Kapitel I „Statt Pressestimmen“ zu Eva-Maria Tepperberg, Etüden über Leben oder Ein langer Weg vom Wahn zum Sinn, Band I. Heidelberg: Edition Eramo 2003. ISBN 3-936666-00-8 S. 83-103 Kapitel II Eva-Maria Tepperberg: Buchbesprechung S. 104-107 Kapitel III Snail mail boxing rund um den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE e.V., seit 1992 bestehend) S. 108-122 Kapitel IV Offener Brief an Ursula (Uschi) Zingler, BPE e.V. S. 123-133 Kapitel V In memoriam Oskar N. Sahlberg (10.8.1932 - 23.8.2005) S. 134-154 ISBN 978-3-936666-00-7 Alle Rechte vorbehalten 82 „Die psychische Erkrankung ist heute keine Tabu-Erkrankung mehr“, sagt [Roswitha Beck] ein bisschen stolz. Eine halbe Million Spendengelder hat sie bislang schon für ihren „Verein zur Unterstützung gemeindenaher Psychiatrie in Rheinland-Pfalz“ [den sie vor fast elf Jahren gegründet hat] akquiriert. „Die Arbeit für den Verein gibt mir etwas. Man dreht sich nicht nur um sich selbst“ (in: Rhein-Neckar-Zeitung Nr. 109, 12. Mai 2006, S. 2: „Engagierte Friseurin mit Liebe zur Pfalz. Kurt Becks Ehefrau Roswitha steht keineswegs in seinem Schatten“). Anmerkung zum Thema „Deutsche Rechtschreibreform“: Soweit es meine eigene Schrift (Kulturwissenschaft und Belletristik) betrifft nicht also Zitate! - habe ich von Anfang an einen Bogen um die variationsreiche Angebotspalette der „Deutschen Rechtschreibreform(en)“ geschlagen. Darin fühle ich mich auch quasi offiziell bestätigt und legitimiert durch folgenden Beschluß der Präsidentin des FDA [Freier Deutscher Autorenverband e. V., dessen Mitglied ich seit zwei Jahrzehnten bin], Frau Prof. Dr. phil. habil. Ilse Nagelschmidt vom 19. März 2005: Der „Freie Deutsche Autorenverband“ empfiehlt im Interesse der deutschen Sprache und der deutlich verweigerten gesellschaftlichen Zustimmung zur Rechtschreibreform dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1998 zu folgen, in dem es heißt: „Die Rechtschreibung beruht im deutschen Sprachraum nicht auf Rechtschreibnormen, sondern auf sprachlichen und damit außerrechtlichen Regeln, die auf Akzeptanz angewiesen sind“. Diese Akzeptanz fehlt in der Mehrheit der Bevölkerung. Mit der Entscheidung gegen eine ab 1. August 2005 administrativ festgelegte Rechtschreibung, die willkürlich den lebendigen Organismus Sprache verletzt, weiß sich der „Freie Deutsche Autorenverband“ einig mit der übergroßen Mehrheit der Deutschen, mit namhaften Schriftstellern, großen Verlagen und Zeitschriften. (In: FDA-aktuell / Juni 2005, S. 9). 83 I. „Statt Pressestimmen“ zu Eva Speidel, Etüden über Leben oder Ein langer Weg vom Wahn zum Sinn. Band I, Heidelberg: Edition Eramo 2003 1. Schriftliche LeserInnen-Echos 2004-2006 aus dem persönlichen Umfeld von Eva-Maria Tepperberg und einige Antwortversuche und Kommentare der Adressatin 2. Reaktion seitens „einschlägiger“ Verlage 2004-2005 auf Manuskriptzusendung „Eva Speidel“ Habent sua fata libelli „Je nach der Aufnahme durch den Leser haben die Büchlein ihr Schicksal“ (1286 n. Chr.) (1) Leserin-Echo vom 16.11.2004: Prof. Dr. phil. habil. Barbara Sandig (geb. 29.4.1939), Studienfreundin der Verf. und Ko-Autorin von Nr. 1 und Nr. 2 (s. u., S. 93). Ihr opulentes sprachwissenschaftliches Lebenswerk ist soeben erschienen: Textstilistik des Deutschen. Berlin / New York: De Gruyter 2006, 584 Seiten, 39,95 € - lebendige „Kulturwissenschaft“ im ursprünglichsten wie aktuellsten Sinne des Wortes ... Liebe Eva, was für ein Buch, was für eine Autobiographie! Neben der von Helga Novak „Die Eisheiligen“ hat sie mich von allen weiblichen Autobiographien (die ich kenne) am meisten bewegt. Ich denke, man sollte sie anderswo veröffentlichen. [...] Herzlichst, Deine Barbara 84 Mit dem “anderswo veröffentlichen”, liebe Barbara, ist das in meinem Fall „so eine Sache“. Natürlich habe ich alle (drei) einschlägigen psychiatriekritischen Verlage der BRD für eine Veröffentlichung zu interessieren versucht: Vergebens. Sehr dankbar bin ich Dir für den Hinweis auf Helga Novak. Sie war mir bis dato unbekannt. In der Tat ein beeindruckendes, „unter die Haut gehendes“ Buch. Schade, daß es nun - nach 2 Auflagen ( 11979, 21998) offenbar endgültig vom Buchmarkt verschwunden ist! (2) Hier zunächst das Absageschreiben des „Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag & Versandbuchhandlung“ (Berlin) vom 27.6.2005: Sehr geehrte Frau Tepperberg, ich habe Ihr Manuskript gelesen. Ich möchte es nicht verlegen. Leider sehe ich aufgrund der mangelnden pointierten antipsychiatrischen Ausrichtung keine Verwendungsmöglichkeit. Für mich besteht nur dann eine Absatzchance, wenn der Inhalt auf meinen speziellen Leserkreis zugeschnitten ist. Zudem sind Biografien derzeit schwer zu verkaufen, insbesondere wenn sie auch noch anonym verfasst sind [die Ausgabe Band I 2003 hatte ich nicht anonym sondern pseudonym unter „Eva Speidel“ herausgebracht] und von seiten des Autors bzw. der Autorin nicht mit öffentlichen Lesungen verkaufsfördernd unterstützt werden können. [Müssen Pseudonymität und öffentliche Lesungen einander ausschließen?]. Nichtsdestotrotz wünsche ich Ihnen viel Erfolg auf der Verlagssuche. Die einschlägigen Verlage werden Sie selbst kennen, Paranus, Psychiatrie usw. [...]. Mit freundlichen Grüßen gez. Peter Lehmann 85 (3) Leser-Echo vom 21.6.2004: Dr. phil. HP Oskar N. Sahlberg (10.8.1932 23.8.2005) - vormals engster „Fernfreund“, Ex-Kollege (Romanistik) und Ko-Autor von Nr. 2 und 3 (s. u., S. 93) Liebe Eva, das ist ein wildes Buch! Hochdramatisch! Von enormer Wucht. Ich habe es jetzt drei Mal gelesen. Allmählich sehe ich die Prozeßstruktur, die ja im Titel gegeben ist: „Ein langer Weg vom Wahn zum Sinn“. Ich mußte zuerst das Grauenhafte ganz zulassen. Dann die Fülle der Dimensionen wahrnehmen, sie in meinem Kopf ordnen. Der Aufbau ist klar: Zeugungsempfängnis, Geburt, frühe Kindheit. Die frühesten Prägungen als zentral (wie es die pränatale und perinatale Psychologie ja auch sieht). Der Hintergrund: Frau Haarer und Hitler, Schlagrituale; der Vater Halbjude. Die Mutter als Schicksal. Bindung, Symbiose, Identifizierung. Nachfolge. Suizidale Mutter, ergebnislose Psychoanalysen. „Schocktod der Mutter“, Psychoanalyse der Tochter. Nach vier Stunden die Manie. Ganz unüblich, durch die Couch, aber von der frühen Kindheit her verständlich - die Wildheit kam wieder. Und wieder die Schläge, jetzt als chemische Keule, dazu Bauchgurt. Hölle der Depression (Niedergedrücktwerden). Die Irren - das sind doch die Psychiater! Folterer, die sich als Seelenheiler empfinden. Das darf doch nicht wahr sein! (In mir sind Anteilnahme, Mitfühlen, Wunsch zu helfen, Hilflosigkeit - und Empörung!) Hitler, „Euthanasie“. Sonnenekstase. Jesus Christus, Reiki. Licht. „Manie, Droge der Drogen.“ Countdown. Suizid, und ihn überleben. - Der Tod, das größte Thema. Und dann die Lösung: Aus dem Tod wieder auftauchen und Sinn finden. Der Leser erlebt es mit - „Gott sei Dank!“ Schlußkapitel „Stirb und Werde“. Die Autorin ist eine Kämpferin. Klage wird zur Anklage, zur Abrechnung. Der Kern ist ein ungeheurer Wille, und dazu die Kraft der Gestaltung. Diese Kraft erscheint im Aufbau und in den poetischen Teilen, den Gedichten, und in den alliterativen, reimenden Einsprengseln, seelisch-sprachlichen Verdichtungen als Ex- 86 plosionen. Zwei ungeheure Leistungen: Der seelische Kampf und dessen Darstellung! Die Bindung an die Mutter. Ihr Tod als Katastrophe. Ihre Selbstmordversuche als Muster, als Vorbild - das dann aber transzendiert wird: Das Paradox, als Peripetie! Tod des alten Ichs. Ich denke, das ist nicht unbekannt beim überlebten Suizid. Auch wenn die Erfahrung à la Moody nicht erinnert wird. Manie, Mania - ich würde sagen: Durchbruch der göttlichen Energie. Grof sagt „Spirituelle Krise“. Angelegt bist Du als Heilige, für die Unio mystica, die Vermählung mit Gott, Hierosgamos. Das erscheint mir die Grundfigur, Archetyp der Seelenheilung, es ist die religiöse Erfahrung schlechthin (wie ich sie im Titel meines Buches benenne: „Reisen zu Gott und Rückkehr ins Leben“). Szenen stehen mir vor Augen. Aus der Kindheit. Dann die Gestalten der Psychiater, ihre Sätze; die Anstalt. Und schließlich der Berg mit der Basilika, und am Ende der sommerlich erwärmte Fluß in der Abendsonne. (Brecht fällt mir ein: Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut, Wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt. So beende ich mein Buch.) SINN. Das Buch ist sinnvoll. Es ist für die anderen Leidenden geschrieben, aus Solidarität mit ihnen, es kann helfen, die grauenhaften Zustände zu verändern. Es muß bekannt werden! - Der Weg zum Sinn, zum Sinn des Lebens, des Daseins, der Schöpfung - dem Großen Geheimnis. Soweit für heute. Sehr viel gäbe es noch zu sagen. Ich bewundere Dein Buch. Es rührt mich an. Auch habe ich jetzt ein ganz anderes Bild von Dir gewonnen. [...] Ich grüße Dich von Herzen Dein Nisim Anmerkung: Glücklicherweise hat mich Vf. noch zu Lebzeiten - vom Krankenbett aus (post-Schlaganfallschrieb vom 22.1.2005) - zu Weitergabe und Veröffentlichung dieser seiner persönlichen „Rezension“ autorisiert. 87 (4) Leserin-Echo vom 6.12.2004: Dorothea Sophie Buck-Zerchin (geb. 5.4.1917), Dorothea, meine langjährige „Fernfreundin“ und „Magna Mater“, deren nachmaligen Dauer-Bestseller und Klassiker Auf der Spur des Morgensterns. Psychose als Selbstfindung ich bei Ersterscheinen (Hardcover 1990) im Sozialmagazin besprochen habe. Insbes. für ihr Engagement zur Rehabilitierung der Zwangssterilisierten des Nazifaschismus wurde ihr am 5.4.1997 - ihrem 80. Geburtstag - das Bundesverdienstkreuz 1. Kl. verliehen. Genauer ausgedrückt: In seiner Festrede in Hamburg (laudatio vom 16. Juni 1997) anläßlich der Ordensverleihung an Dorothea Buck sagt Senator Hajen von der Hamburger Behörde für Wissenschaft und Kunst wörtlich: „Diese Auszeichnung heute ehrt Sie für Ihren Einsatz für Mitmenschlichkeit und Solidarität und gegen Anpassung und sinnlosen Gehorsam. Sie selbst können Ihr Lebensprinzip am besten ausdrücken: ‚Nicht die Norm ist der Maßstab aller Dinge, sondern der Mensch mit seinen Bedürfnissen’.“ Liebe Eva-Maria, das ist ein wunderbarer Brief, den Dr. Oskar N. Sahlberg Dir zu Deinem Buch schrieb. [...] Er schreibt, daß er es drei Mal gelesen hat. Das ist auch notwendig. Auch für mich wäre es das, denn mit dem Manisch-Depressiven habe ich keine eigenen Erfahrungen, wie mit dem als „schizophren“ bezeichneten Ausnahmezustand. Aber die mir noch bleibende Zeit, in der ich mich noch auf den Beinen halten kann, ist absehbar begrenzt. So muß ich mich auf das in dieser Zeit noch zu Tuende beschränken. Daß Dein Erfahrungsbericht, Deine sehr lebendige, spontane, fast atemlose Darstellung ein sehr wichtiger Beitrag in der Literatur von uns Psychiatrie-Betroffenen ist, steht außer Zweifel. Auf jeden fall solltest Du ein Exemplar an PD Dr. [Dipl.-Psych.] Thomas Bock, Leiter der Sozialpsychiatrischen Ambulanz am UKE [Universitätskrankenhaus Eppendorf], Martinistraße 52, 20246 Hamburg schicken. Er hat sich besonders mit dem Manisch-Depressiven beschäftigt. Vielleicht kommt ihm dann die gute Idee, Dich zu einem Referat in seiner und Prof. Klaus Dörners Anthropologischen Vorlesungsreihe am Dienstag alle 14 Tage um 18.00 im Hörsaal der Uni-Psychiatrie einzuladen. Diese Reihe läuft wohl schon seit 2000. In diesem Jahr erschien im Psychiatrie Verlag eine erste Samm- 88 lung von Vorträgen unter dem Titel „Anstöße“. [Habe Exemplar Anfang Januar 2005 auf den Weg gebracht, jedoch bis heute (17. Juni <!> 2007) keine Reaktion, geschweige eine Empfangsbestätigung erhalten]. Als aus meinem Psychiatrie-Engagement seit 1961 erstmals die bis dahin in der BRD verschwiegenen psychiatrischen Patientenmorde während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem auch in deutschen Medien zur Sprache kamen 60.000 „Euthanasie“-Opfer gab man damals an - und ich nach jahrelangen Recherchen dazu die Fakten in einem zweiteiligen Theaterstück bearbeitet hatte, wurde mir klar, daß diese psychiatrischen Verbrechen unsere Psychiatrie nicht verändern würden, sondern nur ein besseres Verständnis der Psychosen und der von ihnen betroffenen Menschen. Daß dieses Verständnis nur wir selber würden vermitteln können. Dazu trägt Dein Buch bei. Darum ist mir diese Verständnisvermittlung so wichtig. Denn die Macht bleibt nach wie vor bei den Psychiatern und der Pharmaindustrie. Wir können die Psychiatrie nur durch unsere Erfahrungen überzeugen. Die Grundveränderung in der sog. „Schizophrenie“ scheint mir das veränderte Welterleben sonst nicht gespürter Sinnzusammenhänge zu sein, aus dem die bekannten Symptome erst verständlich werden. In meinem einliegenden „Grußwort“ zum BPE-Jahrestreffen im Oktober habe ich das nochmals kurz zusammengefaßt. Was aber ist die Grundveränderung beim Manisch-Depressiven? Manche als „manisch-depressiv“ Diagnostizierte kennen dieses veränderte Welterleben auch [was ich, liebe Dorothea, meinerseits vollauf bestätigen kann!]. Bei Deiner oder Deiner Mutter Beschreibung Deines „grenzenlosen Jubels ... Sie schrie und lachte, raste herum, warf sich auf den Boden ... und wußte sich überhaupt nicht zu lassen vor Freude“ als 1 3/4-Jährige Weihnachten 1939 drängt sich der Gedanke auf, daß es auch eine Sache des Temperamentes ist, etwas ganz Natürliches. Das sich Verausgaben in Freude und Jubel, bis die seelische Energie erschöpft ist und sich in der folgenden depressiven Phase erst wieder bilden muß. [Hierin, liebe Dorothea, kann ich Dir nicht so recht beistimmen: Die Depression ist alles andere als ein quasi naturgegebener Vorgang, auch wenn ihre postmanische „Regelhaftigkeit“ und „Zwangsläufigkeit“ das so erscheinen lassen könnte. Wann wäre Depression jemals angeboren und quasi normal gewesen? Zu diesem „weiten (Problem-)Feld“ äußere ich mich unten in Kap. IV in meinem Offenen Brief an Ursu- 89 la/Uschi Zingler]. Kleine Kinder haben ja unglaubliche Energien zur Verfügung, die erschöpft sich noch nicht wie in späteren Jahren, in denen sie immer wieder erneuert werden muß, bei jedem [?] Menschen. Durch positive Erfahrungen, die das Selbstvertrauen stärken, das in der Psychiatrie systematisch untergraben, geschwächt wird. Darum sollten wir uns von den Psychiatern nicht länger entmutigen lassen. Liebe Eva-Maria, ich lege Dir ein Heft mit Fotos meiner Plastiken ein, die ich 50 mal für „meine Lieben“ kopieren ließ. Mit herzlichen Grüßen! Deine Dorothea Liebe Dorothea, es freut mich außerordentlich, daß Dein „Klassiker“ und Dauer-Bestseller / Longseller Auf der Spur des Morgensterns. Psychose als Selbstfindung neuerdings (seit Herbst 2005) in erweiterter Form bei Paranus erschienen ist. Habe es seither nicht nur einmal verschenkt ... Dein 34seitiger „Anhang zur Neuausgabe“ liest sich für mich streckenweise wie ein Krimi, ein Krimi düster kollektiver Art. Kaum wähnt man den Holocaust „vorbei“, „aufgeklärt“ wissenschaftlicherseits, „abgebetet“ christlicherseits, allenthalben kommemoriert, Jahr für Jahr in schöner Regelmäßigkeit - da holst du jetzt, als betroffene Zeugin, zum Keulenschlag aus gegen ein weiteres Verbrechen: Du lüftest das Tabu der unter den Nazis zwangssterilisierten und ermordeteten Geisteskranken, sowie gegen die barbarischen psychiatrischen Verhältnisse auch noch lange nach 1945, gemäß der ZEIT-Meldung vom 20. April 1979 [Hitlers 90. Geburtstag, wie ich mir zu assoziieren erlaube]: Welch ein Unterfangen, das Deiner weiteren individuellen wie kollektiven Biographie nochmals eine neue Richtung weist. Jeder wird Dir, der 1936 (mit 19 Jahren) wegen sog. Schizophrenie Zwangssterilisierten, Dir, der nachmaligen Mehrfachkünstlerin (Bildhauerin, Organistin), einem 7-köpfigen evangelischen Pfarrhaus entstammend, lebhaft nachempfinden, daß du 1965 mit 51 Jahren Deinen Bildhauerberuf hast aufgeben müssen: Du hast nach vollkommen medikamentenfreier Selbstheilung von 5 „schizophrenen Schüben“ (1936 bis 1959) bis zu Deiner Berentung als Kunst- und Werklehrerin weiterhin, und zwar überwie- 90 gend im Geheimen geforscht, hast die ganze allzulange und allzuviele Opfer an Menschenleben und an Lebensglück fordernde Eugenik- und Euthanasiegeschichte erforscht, an der nicht zuletzt namhafte Psychiatrieprofessoren sowie Vertreter der Geistlichkeit sich als Täter beteiligt haben. Zu Deinem eigenen Anteil an der „Geschichte“ hast Du lange geschwiegen. Lapidar teilst Du es dem Lesepublikum mit: „Bei keinem der vielen Gespräche [in Vorbereitung psychiatrieverändernder Aktivitäten] sagte ich den eigentlich selbstverständlichen Satz „Ich war selbst psychotisch“. Denn eine ehemals als schizophren diagnostizierte und dazu noch als „minderwertig“ zwangssterilisierte Lehrerin war undenkbar im Unterschied zu den an den Patientenmorden beteiligten und weiter lehrenden Psychiatrie-Professoren“ (S. 273. Hervorh. E.-M. T.). Eine Initiative jagt nun die andere: Aktivierung von Profis, Betroffenen, Angehörigen; Seminare, Kongresse, kompetent organisierte Solidarisierungaktionen; zuständige PolitikerInnen - so die Bundesgesundheitsministerin Prof. Dr. Rita Süssmuth - und andere namhafte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens werden angeschrieben, angesprochen, aufgeklärt betr. der Notwendigkeit durchgreifender Veränderungen vom Bild des sog. Geisteskranken und von der Zwangspsychiatrie. Was weiß der Normalbürger schon von den zum Teil noch immer barbarischen Maßnahmen hinter den Mauern der „Geschlossenen“ ... 1990 erscheint Dein Buch zum ersten Mal: Präsentationen, Lesungen ohne Zahl, mit fast Mitte 75 beginnt für Dich eine intensive, 9jährige Psychiatrie-Reisetätigkeit. 1992 ist das Gründungsjahr des Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. [BPE e.V.]. Da begegnen wir einander das erste Mal live. Vorher hatte ich Dich bereits im saarländischen Fernsehen, neben Peter Lehmann postiert, freudig wahrgenommen. Du avancierst in unserer Republik zur Koryphäe [auch: „Chorführer im antiken Drama“] in Sachen Nazi-Eugenik, Nazi-Euthanasie, Du engagierst Dich vehement für die politisch öffentliche Rehabilitierung der vielen Hunderttausende Ermordeter und Zwangssterilisierter - möge Dir zu Lebzeiten auch dieser Erfolg noch beschieden sein! Du engagierst Dich, aufgrund Deiner Selbstheilungserfahrung, für ein vollkommen neues Psychoseverständnis ... Welch ein langer Atem, der euch und in wachsenden Kreisen uns Betroffene, immer mit Dir als nie erlahmendem Zugpferd - einmal ums andere zusam- 91 menschweißt. Deine Ansprachen auf den Jahrestagungen des BPE erlebe ich als blitzlebendig, als immer heiter grundiert, immer mitreißend und voller Ermutigung für unsereins geschundene Kreatur. Deine Ermutigungsworte werden uns fehlen, wenn Du einmal nicht mehr bist: So vieles gibt es noch zu tun! Besonders zu erwähnen aus Deinem Anhang zur Neuausgabe ist noch dieser Hammer der Hämmer: Der namhafte Münchner Psychiatrieprofessor Hanns Hippius darf unter Finanzierung seitens des Bundesinnenministeriums (Dr. Wolfgang Schäuble), 3 Jahre lang quasi Kriegs(fall)forschung treiben: Will sagen darf Menschenversuche mit nicht einwilligungsfähigen Angst- und Panikpatienten an seiner Uni-Klinik durchführen. Mit Horrorfilmen, Schlafentzug und überhitzten Bädern werden psychisch Schwerkranke gezielt in Angst und Schrecken versetzt. Anschließend werden sie „mit Glückspillen be-handelt“: Intramurale Kriegshorrorszenarien in Westdeutschland - und dies just am Ende des Kalten Krieges!? Kurz: Hatte ich meine Hardcover-Besprechung Deines Buches noch folgendermaßen ausklingen lassen: „Psychose als Selbstfindung ist erstens eine Ermutigungslektüre für alle Psychoseerfahrenen und ihre Angehörigen und zweitens eine unverzichtbare Aufklärungslektüre für alle, die professionell psychiatrisch tätig sind“, so gehe ich jetzt einen kleinen Quantenschritt weiter: Ich empfehle Auf der Spur des Morgensterns heute allen kritischen ZeitgenossInnen - unabhängig davon, ob sie psychiatrisch betroffen waren, sind oder nicht -, denen es ein Anliegen ist, einen unverstellten Blick in jene Verliese unserer historischen Jüngstvergangenheit zu werfen, die nicht nur das von unseren Geisteswissenschaften verdächtig vielbeschworene „kulturelle Gedächtnis“, sondern auch das komplementäre „barbarische Gedächtnis“ zu bewahren bereit sind - auf daß Kultur allererst noch werde! Post scriptum: Dein abschließender Toleranzaufruf, „auch denen gegenüber, die andere Erfahrungen machten und anderer Meinung sind als wir selbst“ freut mich aktuell ganz besonders. Mögen sich innerhalb des BPE e.V. auch Leute vom wissenschaftlichen Hochformat eines Peter Lehmann zu solcher Toleranz aufgerufen fühlen! Zum „nicht ganz lauwarmen“ Thema „Peter Lehmann und EvaMaria Tepperberg“ habe ich mich Dir gegenüber bereits brieflich geäußert. 92 Mir selbst war der Paranus Verlag Brücke Neumünster gGmbH weniger gewogen, wie Du aus folgenden Zeilen ersiehst: (5) Ablehnungsschreiben des Paranus-Lektorats vom 18.11.2004 Sehr geehrte Frau Dr. Tepperberg, vielen Dank für Ihr Manuskriptangebot „Etüden über Leben“, das Sie uns aktuell zusandten. Ich möchte Ihnen rasch antworten, damit Sie nicht lange warten müssen. Obwohl wir ein kleiner engagierter Verlag mit einem speziellen Programm sind, bekommen wir sehr viele Textangebote. Einerseits freuen wir uns darüber, andererseits müssen wir auch entsprechende Absagebriefe schreiben. Nach der Prüfung Ihres ja offenbar bereits in der Edition Eramo veröffentlichten Manuskripts kam ich zu der Einschätzung, dass es ein solch spezieller Erfahrungsbericht schwer haben wird, ein ausreichend großes Publikum zu finden. Bei den wenigen Titeln, die wir produzieren können, müssen wir sehr gut abwägen. So ist es leider so, dass wir Ihnen kein Angebot machen können. Mit den besten Wünschen und freundlichen Grüßen gez. Hartwig Hansen (Lektorat) (6) Ablehnungsschreiben des Bonner Psychiatrie-Verlag gem. GmbH: Im Vergleich zum Absageschrieb von Peter Lehmann und Hartwig Hansen ein, wie ich finde, außerordentlich differenzierter und wohlbegründeter Text vom 15.3.2005 93 Sehr geehrte Frau Dr. Tepperberg, vielen Dank für die Zusendung Ihres Manuskriptes und für Ihr Vertrauen in unseren Verlag. Thematisch würde Ihr Text gut in unsere Reihe Edition Balance passen, da es um sehr persönliche Erfahrungen mit psychischem Leiden geht. Ihre Anklage gegen psychiatrische Praxis wird sicher von vielen Betroffenen geteilt. Trotzdem können wir Ihnen leider kein Veröffentlichungsangebot machen. Ein Grund dafür ist, dass sich Ihr anspruchsvoller Text mit seiner expressiven, wortspielerischen Gestaltung nicht in das erzählerische Konzept der Reihe fügt. Wir veröffentlichen in der Edition Balance Texte, die leichter zugänglich sind und die auch nicht unbedingt Psychiatrie-Erfahrung bei der Leserschaft voraussetzen. Auch Außenstehenden soll ein Verständnis für psychisch kranke Menschen und deren Lebensumstände ermöglicht werden. Ein weiterer Grund ist, dass wir bereits zwei Erfahrungsberichte zur bipolaren Erkrankung im Programm haben und beide Titel noch einige Zeit lieferbar sein werden. Auch wenn Ihr Buch ganz anders ist im Ton und in der Aussage, wir haben doch die Erfahrung gemacht, dass autobiografische Texte sich sozusagen nach „Diagnosen“ verkaufen und sich also in gewisserweise intern Konkurrenz machen, wenn sie Erfahrungen mit der gleichen Krankheit beschreiben - etwas, das wir nicht durch ein drittes Buch befördern wollen. Ich bitte Sie daher um Verständnis, wenn ich Ihnen Ihr Manuskript zurückschicke, und verbleibe mit den besten Wünschen für ein gutes Überleben in der Zukunft gez. Karin Koch Daß „Psychiatrie-Erfahrung bei der Leserschaft“ nicht zwingend Voraussetzung zum Textverständnis sein muß, zeigen auch die folgenden Rückmeldungen: 94 (7) Leserin-Echo vom 31.12.2005: Dr. phil. HP Gabriele Beitz (geb. 23.6.1949) Liebe Frau Tepperberg, [...] Ihr spannendes und SEHR beeindruckendes Buch habe ich im Urlaub gelesen und konnte es, einmal angefangen, fast nicht mehr aus der Hand legen. Ihre Gedanken, Stil, Ausdruck und Inhalt sind einfach großartig und genial und ganz anders (Hervorh. E.-M. T.). Grosses Kompliment. Nun wünsche ich Ihnen nochmals alles Gute für 2006 und grüsse Sie herzlich (e-mail) Gabriele Beitz Die Charakterisierung „und ganz anders“ dürfte 1. zutreffen und 2. wesensmäßig damit zu tun zu haben, daß ich für keines meiner kulturkritisch-belletristischen Bücher einen größeren deutschen Publikumsverlag habe interessieren können. Es gilt dies für die folgenden drei Anthologien, die ich zusammen mit insgesamt 65, zT namhaften Ko-AutorInnen zwischen 1985 und 1991 gestaltet habe: 1. Eva-Maria [Knapp-Tepperberg] (Hrsg.), deFloration - entBlütung. Autobiografisches zu einem weiblichen Thema. Frankfurt a. M.: Materialis FF 4, 1985, 163 S. 2. Eva-Maria Knapp [-Tepperberg] (Hrsg.), EinsSein und InneWerden. Paradiesesthematik in apokalyptischer Zeit. Frankfurt a. M.: Materialis EE 9, 1988, 143 S. 3. Eva-Maria Knapp [-Tepperberg] (Hrsg.), WAHN und SINN? 30 Frauen und Männer nehmen Stellung, Frankfurt a. M.: Haag + Herchen, 1991, 277 S. ... „und ganz anders“ ist die überwiegende Gattungszugehörigkeit: „Verständigungstext“, autobiographisch-autofiktionale Essayistik. Was in der völlig anders orientierten „Kulturindustrie“ etwa Frankreichs oder der USA mitunter durch 95 namhafte Literaturpreise ausgezeichnet wird, hat in Deutschland denkbar schlechte Presse. Insofern trifft die obige Behauptung von Peter Lehmann durchaus zu: „Zudem sind Biografien derzeit sehr schwer zu verkaufen“ - in Deutschland, wäre freilich unbedingt zu ergänzen. Und nicht erst derzeit, sondern schon seit geraumer Zeit. Genauer: Seit dem Ende des 1000jährigen Reiches. Hier schlägt, so scheint es, reichlich verspätet im gewendeten Deutschland, eine erste Bresche: Günter Grass, mit seiner „Autofiktion“ Beim Häuten der Zwiebel (Göttingen: Steidl-Verlag August 2006). „Ganz anders“ aber sind nicht zuletzt die Inhalte und Themen - insbes. Sexualität/Erotik, kritische Esoterik und Spiritualität, Wahnsinn ... - sowie Sprache und Stil, zumal die eigene Ausdrucksweise, die schwerlich in ein fremdes Idiom übertragbar sein dürfte. Kurz: In der BRD und in D schwer vermarktbar und darüber hinaus thematisch durchaus „riskant“ im Sinne des namhaften Schriftstellers und Dramatikers Bodo Kirchhoff, der einmal schrieb: „riskante Bücher, die sich verkaufen, kommen alle aus dem Ausland, hurra“ (in: DER SPIEGEL 24, 10. Juni 2002, S. 209). (8) Leserin-Echo vom 12.12.2004: AOR i. R. Dr. phil. Edith Zeile (geb. 8.1.1936), Ex-Kollegin, Ko-Autorin an Nr. 1, 2 und 3 (s. u. S. 93), arbeitet als Schriftstellerin, Übersetzerin, Lektorin, Astrologin und Medium Liebe Eva, ich habe Dein Buch in einem Atemzug durchgelesen, bin total erschüttert. Es ist das Beste, Bitterste, was Du je geschrieben hast, es trifft den Leser ins Mark. Großartig, wie Du die Wut, die Bitterkeit, den Hohn über all die grässlichen medikamentösen Versuche in Sprache fasst: gefälschte Stabreime, um das maskierte Falsche zu markieren. 96 Dass Du das hast t u n können, ist doch „ein Kind Deines Leidens“. Ob Du es so einmal sehen könntest? [Kann ich leider nicht!]. Vielleicht braucht Deine Kreativität den ultimativen Schmerz - wie die entstehende Perle die Wunde. [...] Ich habe - für mich - einen blassen Schimmer von Erkenntnis, wenn ich meine furchtbare Erfahrung mit meinem [schwerst behinderten] Kind [Mirjam: 3.8.197414.9.1996] einzuordnen versuche. Das I Ging gibt manchmal einen entsprechenden Hinweis, wenn es sagt, dass „der Berg gemindert werden muss, damit er seine Umgebung nicht zu stark überragt.“ [...] (e-mail) Liebe Grüße von Deiner Edith Liebe Edith, wie tröstlich, daß Du diese „Etüden ...“ so positiv aufnehmen kannst. Mir persönlich wäre es lieber, „stinknormal“, gesund, stabil, unkreativ und lebenstüchtig zu sein, statt immer wieder - über Endlosigkeitszeiten hinweg - diese gottverdammten Depressionen durchstehen oder -liegen zu müssen ... Ja, Du sprichst es aus: „die grässlichen medikamentösen Versuche ...“. Derzeit-Stand: Mußte nach der vorerst vorletzten unerträglichen „Nebenwirkung“ neuerdings einen Medikamentenwechsel vornehmen (lassen). Bin jetzt seit 35 1/2 Jahren bei „Medikament“ Nr. 36 angelangt! Die alphabetische Auflistung [von Abilify bis Zyprexa] will ich Dir hier nicht ersparen: 1. Abilify 2. Akineton 3. Ciatyl 4. Cipralex 5. Citalopram 6. Cymbalta 7. Dipiperon 8. Dominal forte 9. Ergenyl chrono = Valproat 10. Fluctin = Fluoxetin = Motivone = Prozac 11. Glianimon 12. Haldol = Haloperidol 13. Imap 14. Leponex = Clozapin 15. Lithium = Quilonum retard 16. Maprotilin = Ludiomil 17. Neurocil 18. Noveril 19. Remergyl 20. Risperdal 21. Rohypnol 22. Saroten retard = Amitryptilin 23. Seroquel 24. Solian 25. Stangyl 26. Stilnox 27. Tavor = Lorazepam 28. Tegretal = Carbamazepin 29. Tenormin 30. Trevilor retard 31. Tridol = Triperidol 32. Ximovan 33. Zoloft 34. Zopiclon 35. Zyprexa 36. Name vergessen: ein Neuroleptikum (Phasenprophylaktikum), angeblich unbedingt zu nehmen, dann plötzlich unbedingt abzusetzen und - als zu gefährlich vom Markt zu nehmen ... (dies ausgerechnet wäh- 97 rend meiner 3-semestrigen Zeit als Vertretungsprofessorin an der GhK/Uni Kassel). Haupt-„Neben“wirkungen in den letzten 35 1/2 Jahren waren (?) gewesen (?), zum Beispiel: 1. Mini-Schlaganfall: In Folge „Leponex“, von der Kopfklinik direkte Weiterbeförderung in die Thoraxklinik: Lungenentzündung ... 2. Dauertremor rechte Hand/linker Fuß (eine sog. Kollegen-Fernfreundin hatte mir jahrelang die Freundschaft auf Eis gelegt: Sie habe aufgrund ihrer hohen Sensibilität den Anblick meines Händezitterns nicht ertragen können!) plus 40 % Gehörverlust plus Innenohrschädigung mit Dauerschwindel [= Abschied einfürallemal vom Sattel des geliebtesten aller Kettler-Stahlrösser querbeet durch alle Heidelbergeleien]: In Folge des Antiepileptikums (!) „Ergenyl chrono/Valproat“ = vorgeblich die Prophylaxe par excellence gegen’s Bipolar-Manisch-Depressiv-Affektive ... 3. Wurde am 20. Juli (!) 2006 in der Rheumapraxis neuerlich „entdeckt“ - aufgrund diagnostisch notwendig gewordener Röntgenaufnahmen von Füßen und Händen: „Was ist denn mit dem kleinen Finger Ihrer rechten Hand passiert?“ Pharmaunfall vor 4 Jahren: Dr. med. Petra S. - Gelbe Seiten unter „Psychiatrie und Psychotherapie“ bzw. „Neurologie u. Psychiatrie / Psychotherapeutische Medizin“ - Dr. med. S. verschreibt mir das richtige Medikament - „Maprotilin = Ludiomil“, verordnet es in der Anwendung jedoch auf katastrophal verkehrte Weise. Ich falle (waschzettelgemäß, wie ich leider erst post festum nefastum rekonstruiere) in Ohnmacht, Sonntagabends im stark ansteigenden Sommerwald - und finde mich im Rettungswagen zum St. Josephskrankenhaus wieder. Alle möglichen Läsionen, allem voran jedoch: Der kleine Finger der rechten Hand ist an der Wurzel gebrochen ... usw. usf. Dort begegne ich erstmals Dr. med. Klaus B., konsiliarisch hinzugezogen als FA für „Neurologie u. Psychiatrie / Psychotherapie“ - ich hatte mich auf der Unfallstation natürlich sofort als Psychotikerin, die dringend auf Schlafmittel angewiesen ist, zu erkennen gegeben. Dr. B. retrospektiv die ultimative Rettung vor weiteren psychopharmakologischen Kunstfehleraktivitäten (es war in ca. 2 1/2 Jahren bereits die dritte gewesen) seitens Dr. S. ...? Warum der kleine Finger krumm geblieben ist, krumm bleiben mußte, kann ich Dir jetzt nicht auch noch im Detail verzapfen: Ein Orthopäde in Wiesloch hatte ihn kunstfehlerund verklagenswerter Weise „verbrochen“. Basta. 4. ereilt mich im Juli 2006 eine erst seit 10 Jahren als solche bekannte und benannte Krankheit namens RLS = 98 Restless Legs Syndrome. Das „Seroquel“ läßt dich zunächst noch in einen kurzen Erschöpfungsschlaf sinken, dann wachst du auf, Pinkelgang und - vorbei der Schlaf. Ein Ziehen und Drängen in den Kniekehlen, den Unterschenkeln, daß Gotterbarm. Aufstehen und rumlaufen - die halbe Nacht, 4 Stunden lang, ruhelos, rastlos, schlaflos, jedes sinnvolle Tun unmöglich, kein Lesen, kein Schreiben nichts - ruhelose Beine, viele Tage hintereinander. Tagsüber gerädert, schlaflose Dauermüdigkeit. Schleppe mich laut gähnend durch die Straßen. Das ist neu seit mehr als 34 1/2 Jahren Psychose. Nicht länger als 4 1/2 Stunden Nachtschlaf - und dennoch kein sofortiger manisch-psychotischer Ausflipp in die Geschlossene? Denkste. Versuch mit Hochpotenzhomöopathie am 20.6.2006 bei Dr. med. Marianne F. in Baden-Baden. Gegen’s allemal unerträglich Depressive. „Erstverschlimmerung“ am Tag darauf: Komme nicht mehr aus dem Bett. Der ganze Psychokehricht von Jahrzehnten plötzlich auf die Körperebene umverlagert, umgekehr(ich)t? So ist das eben mit dieser elend schmerzhaften Autoimmunerkrankung von einem auf den anderen Tag. Rheumatische Muskelentzündung, „Polymyalgia rheumatica“ allüberall. Jetzt steht Kortison Cortison auf dem Programm. Nächste Nebenwirkungspalette programmiert? ... Die mögliche Lendenwirbeloperation (2 Bandscheibenvorfälle plus 1 Wirbelkanalverengung) steht synchron seit Wochen an ... Piano, nichts überstürzen. Nun stell Dir das noch vor: Ich rufe die Seroquel-Pharmafirma an, ServiceCenter: „Herr Dr. Mayer, ich muß betr. Ihres Beipackzettels unter ‚Nebenwirkungen’ eine Spezifizierung vornehmen. Es heißt dort unter „Sehr selten: nach längerer Behandlungsdauer auftretende ständig wiederkehrende, abnorme Bewegungen“. Die äußern sich bei mir als die Krankheit Restless legs syndrome. Kaum noch Nachtschlaf ... Darüber hinaus beklage ich meine bis zu 50 pfündigen Übergewichtigkeiten (Amplitude zwischen 55 kg normal und 80 kg irreal) und diese lastend auf meiner seit 52 Jahren zu Teilschrott gegangenen Lendenwirbelei (meine Orthopäden zeigen extreme Unzufriedenheit mit diesem vorgeblich unabwendbaren status quo). „Herr Dr. Mayer, was raten Sie mir?“ „Ich rate Ihnen zum Absetzen“ (!). „Aber welche Alternative? Ohne Pharma-Prophylaxe soll, kann und darf ich nicht sein“. „Versuchen Sie es mit Abilify“. „Aber das ist doch nur gegen Schizophrenie und soll nicht gerade schlaffördernd sein?“ ... Dr. B. übernimmt 99 den Pharmarat des Kollegen. Gottseidank: Die ruhelosen Beine, wo sind sie verblieben? ... Ich betrachte es als meine Pflicht, die betroffenen Seroquel-Freundinnen und Freunde um mich herum, alle bis zu 35 Jahre jünger als ich Grufty, entsprechend zu informieren. Entscheiden müssen sie, müssen wir alle selbst. Und die Entscheidung ist allemal verdammt nochmal schwer. Egal, in welchem Alter. Der gesamte Reigen meiner Ärzte weiß, daß ich unheilbar geisteskrank bin, liest mein Buch - und füttert mich mit Kortison? 6 Wochen später: Switch in die Manie. Woher soll mein idiotischer Kortex wissen, daß Kortison mich noch idiotischer macht? Ab in die Psychiatrie. OA Dr. N. studiert sämtliche Diagnosebefunde vom Hochsommer 2006 (Psychiatrie Frankfurt. Rheumabefund Heidelberg. Befund Neurochirurgie Uniklinik Mainz). Entsetzt: „Das ist ja ein SuperGau!“. Dann weiter Abilify. Der Zu-Fall führt mich in die Arme eines heiteren Vertreters dieser neuen Wunderdroge aus Inter-USA, auf dem sommerlich sonnigen Wiesloch-Gelände: „Ach“, frag ich naiv erfreut den fröhlichen Mann mit A(bilify)blaugelbem Signet auf der Glanzfolientasche am rechten Arm, „nehmen Sie das auch“? Der Mann streckt mir verschmitzt lächelnd 2 wunderschöne blaue Kulis entgegen und einen blaugelben, geradezu spirituell mich erlichtenden kleinen Abreißkalender dazu. [Beides benutz ich bis heute. Ohne Werbeprovision]. Noch bin ich begeistert von dem Medikament, die Gewichte purzeln mal wieder, nach Jahren, „nur“, sag ich dem jungen Mann, „ein Schlafmittel ist es nicht gerade, Ihr Abilify“. „Ja ja“, gibt er lachend zurück: „Unsere Leute sind ein bißchen aufgeregt“. Mir behilft man eben mit einer 3-fach erhöhten Schlafmitteldosis Dominal forte. Zum pennen. Ob das zu diesem Zeitpunkt noch rechtzeitig hilft? 3 Monate später, nach 7 Wochen „Geschlossen per Beschluß“, mutmaßt der KlinikDermatologe, ich hätte eine Chemo gegen Krebs hinter mir: Schwerer toxischer Haarausfall. Vom Abilify. Der Rest, liebe Edith, ist lauteres Schweigen. Post Scriptum zu Deiner einschlägigen Bemerkung: Nimm all die extremen Körperbefunde - um Mitternacht auf der Geschlossenen dazumal auch noch Mittelohrentzündung007 - als meine Garantiebescheinigung dafür, daß ich eher übelste körperliche Dauerschmerzen - sämtliche dolores corporales auf Gaia - hinzuneh- 100 men bereit bin, als auch nur einen einzigen Tag, eine einzige Stunde Minute Sekunde Nanosekunde schwerer suizidaler Depression. Die haben fürs erste mal wieder von mir gelassen, seit exakt dem 29. März 2007. Lebe ich jetzt im Stande dauerhafter „Gnade“ = workaholisiert wie gehabt? Für wie lange wohl dieses Mal weilen im „Mini-Intervall“? Jedenfalls danke ich Tag um Tag für seelische „Kreuzabnahme“, allem Schmerz im Körperkreuz zum Trotz. (9) Leser-Echo vom 2.3.2005: Professor em. Dr. phil. habil. Arnold Rothe, Officier dans l’Ordre des Palmes Académiques, laut Umfrage unter den Studierenden ehemals „beliebtester Professor der Neuphil. Fak. der Uni Heidelberg“ (geb. 8.9.1935 Liebe Frau Tepperberg, [...] In den letzten Tagen kam endlich Ihr Buch an die Reihe. Trotz Ihrer erschreckenden Schilderungen, Bilder und Aufschreie kann der Durchschnittsleser nur ahnen, was Sie durchlebt und durchlitten habe: die bleierne Last jeden Tuns während der Depression, die qualvollen Nebenwirkungen der Medikamente, die selbst schon Hämmer sind, die Psychose fördernde Angst vor der Psychose. Was ist das für ein Leben, dessen einziger Sinn das schiere überleben ist? Lange scheinen Sie unserem kulturellen Muster nicht entkommen zu sein: Unglück als Bestrafung, aber wofür? Die Frage hat Sie weit in die Vergangenheit zurück geführt, und manches scheint dann auch Rückprojektion zu sein, der Versuch, eine Logik in die verheerende Entwicklung zu kriegen: Das Lachgas bei der Geburt, die mütterliche Rede mit Termini, die die dreieinhalbjährige Adressatin weder verstanden noch behalten haben dürfte . Diese Anamnesen, die mehr neue Fragen aufwerfen, als alte zu beantworten und die zu immer weiteren Anamnesen führten, waren der Entäußerung, der selbstvergessenden Hingabe an die Außenwelt gewiß nicht förderlich. Nie von sich absehen können! Nun haben Sie doch den Weg zu den anderen gefunden, den 101 Ihnen eigenen, das Buch. Sie haben an die Lesbarkeit und an den Leser gedacht, indem Sie - bei allem notwendigen Vor und Zurück, bei allem rhythmischen Wechsel - einen chronologischen Bogen geschlagen haben, und man kann Ihnen nur innig wünschen, daß am Ende nicht nur das Buch zur Ruhe gekommen ist, sondern daß auch Sie es sind. Dem Leser zuliebe haben Sie sich Distanz zu sich selbst abgerungen. Das zeigt sich in der Selbstironie und in der Fähigkeit, auf die Form zu achten, bis hinein in die Kommasetzung. Unter der Hand sind dann Passagen hoher sprachlicher Kreativität und Innovation entstanden, nicht nur die Gedichte [„Akrosticha“/Versspitzengedichte], die wie Fahnen an der Stange des jeweils zentralen Stichwortes flattern. Und was werden Sie als nächstes schreiben? Einer Ihrer Leser, Arnold Rothe, wartet schon! Lieber Herr Rothe, obwohl ich Ihre für einen geisteswissenschaftlichen Uni-Professor in Post-Germanien absolut ungewöhnliche Fähigkeit zur Empathie seit Jahrzehnten immer wieder an mir selbst erfahren durfte, haben mich Ihre in jeder Hinsicht (inhaltlich und formal) zutiefst empathischen Zeilen doch wieder enorm bewegt, um nicht zu sagen, geradezu beschämt. Auf Ihre letzte Frage, lieber Herr Rothe, kann ich Ihnen erst seit kurzem eine bescheidene Antwort geben. In der Tat liegen 3 endlose Jahre vollkommener geistiger Unproduktivität und lähmender Sterilität hinter mir. Außer zu ein bißchen Portugiesisch lernen (in der Akademie für Ältere) und zur Lektüre so manchen Buches reichte der allzu häufig depressiv beschnittene élan vital zu keinerlei „kultur-gschaftelhuberndem“ Tun. Das hatte es bis dato in meiner Vita so noch nie gegeben. Allem Krankheitstoben zum Trotz - einmal im Jahr hatte ich stets „geliefert“, Belletristisches oder Fachwissenschaftliches ... Ein Trostsatz des zu Lebzeiten bedeutendsten deutschen „Anti-Psychiaters“ Günter Ammon - von ihm ist weiter unten (Kap. IV und V) noch die Rede - sticht mir heute tröstlich ins 102 Auge. Im Kapitel „Zur Dimension des Schöpferischen“, Unterabschnitt „Die kreative Persönlichkeit“ heißt es unter anderen essentials „ - Auftreten unkreativer Phasen, die in extremen Fällen Jahre dauern können (Hervorh. v. m.)“ (Der mehrdimensionale Mensch. Zur ganzheitlichen Schau von Mensch und Wissenschaft, München: Pinel 1986, S.146). Und was ich schreiben werde? Abschreiben werde ich wohl noch das einen oder andere meiner 6 fix-fertigen „Schubladenbücher“. Nur wann? Darunter voraussichtlich ein teils fiktives, teils reales Vorlesungs-Manuskript von 1998/99 mit dem Ihnen zweifellos nicht erstaunlichen Titel: Der Pferdemensch in der Literatur der Postmoderne: Menschheitsgeschichtliche Dimensionen eines literarischen Themenmotivs. Kopieren werd ich’s, für mich selbst und für meine KollegInnenfreunde (so weit noch vital auf Gaia), die wie Sie an allererster Stelle seit 1975 (!) mit wohlwollend ermutigendem und kompetentem Interesse meine kulturwissenschaftlichen Mensch-Pferde-Obsessionen über die Jahre und Jahrzehnte hinweg zu begleiten wußten - und dies bis auf den heutigen Tag. (10) Leser-Echo vom 6.8.2006: Dr. phil. Michael Hozzel, Ethnologe und Freier Schriftsteller, Ko-Autor an Nr. 2 und 3 (s. o. S. 93), in Jahrzehnten bewährter persönlicher Berater in extremen Psychokrisen (geb. 12.9.1944) Liebe Eva-Maria, zu Deinem Text: Psycho-Drama einer Betroffenen, das betroffen macht. Der mitreißende StakkatoStil läßt Verwundung um so tiefer spüren, wo biografisches Leid von „therapeutischer“ Heillosigkeit einzig missverstanden werden kann. Wo individuelle Not bei kollektiver Ignoranz schutzsuchend aufläuft, bleibt den Instanzen der letzteren, das verstörende Rätsel der Psychose schlussendlich nur noch chemisch „lösen“ zu wollen. 103 Die psychische „Ur-Suppe“, der bei ihrem Überhandnehmen die Pharmaka adäquat sein sollen, hat zumindest im therapeutischen Kodex manch anderer Völker nie vergessen lassen, dass man den Strom von Gedanken, Gefühlen und Empfindungen nicht ohne den Gang zur Quelle und Mündung abschreiten kann. Das schließt ein spirituelles Verständnis der Psyche und ihrer bedrohlichen Entgrenzungen im Sinne der Ganzwerdung grundsätzlich mit ein. Klage und Anklage der Autorin kreisen um diese verweigerte Oktave einer gänzlich erdnahen metaphysischen Betrachtung unseres Ichs: In den stürmischen Nachtmeer-Wehen der aufgewühlten Psyche die panische Suche nach einem Ozean, der trägt, der Hilfeschrei nach einer initiatischen Hand des Mitgefühls, die beschwichtigend zu vergewissern vermag, dass die Tiefe des Selbstgewahrseins im Zentrum des Zyklons Stille und Frieden heißt: Der Schlingerkurs zu solcher Wahr-Nehmung bedarf der Kühnheit und des immer wieder liebevoll begleitenden Anstoßes zu letzterer. Eine geistamputierte Psychiatrie vermag das nicht zu leisten. Sie ist weltanschaulich, personell und ökonomisch darauf eingestimmt, das potentielle Erweckungs-Fanal der Psychose zum Störfall des Borderliners pharmakologisch herabzudimmen. Wo kämen wir hin, wenn wir die vielen „Entgleisungen“ als obsessionelle Geburtskrämpfe an den Antipoden der Psyche und als Anläufe evolutionärer Quantensprünge im Bewußtseins-Abenteuer „Mensch“ gleichzeitig lesen würden? Derartig empfohlene „Irrfahrten“ zu den irrationalen Küsten des Selbst würden bei kundiger mystagogischer Reisebegleitung die Landkarte unserer Spezies gewiß vertikal bekannter machen und im zoomorphen Djungelkampf des Alltags manch gewaltbereite und angstgepeinigte Bestie auch des kollektiven Konsens im Angesicht einer notorisch gemiedenen Selbst-Erkenntnis zähmen helfen. Normative Wiederanpassung an den reduzierten Menschen ist das Modell einer repressiven „Therapie“ mit all ihren Zwangsritualen. Unter der Kruste der Meidung das Antlitz der Flucht der Professionellen vor dem eigenen „Horror Vacui“. Den bescheidwisserischen Suggestionen der Angst vertrauen mit all ihrer Herrschaftslogik und Allmachtsphantasie auch noch die Molekül-Klempner [NeurowissenschaftlerInnen] des zeitgenössischen Agnostizismus. 104 Ist Heilung ohne metaphysisches Heil auf dieser Linie überhaupt nachvollziehbar, Psyche mittels Münchhausen-Trick durch Psyche und Bios aus dem Sumpf existenziell zu retten? Die Biographie der Autorin zumindest erschüttert auf Schritt und Tritt ein derartiges schein-„heiliges“ Vertrauen in die Kompetenz symptomatischer KopfGeburten mit all der institutionalisierten Paranoia ihrer fachkundigen Helfershelfer. Der traumatische Nährboden des kollektiven Unbewussten: Nicht subjektgemäßer Hebammendienst, tauglich für akute Notstände allenfalls und seltsame Aborte. Gehen wir Menschen in den Turbulenzen unserer psychosomatischen Form mitsamt ihren leidvollen Identifikationen letztendlich auf, sind wir nur Welle und Gischt in den Wetterwirbeln des Schicksals? Oder wartet da noch ein „anderes“, das, wie Krishnamurti einfordert, erkannt werden will ohne Flucht vor dem Leid, ohne dessen Glorifikation oder resignative Akzeptanz? Im bekennenden und durchhaltenden Mut zum Dennoch-Leben mag manch ein Leser inmitten des uranischen Blitzgewitters dieses Textes nicht nur die Aufarbeitung einer traumatischen Odyssee mitsamt der Entlarvungs-Geschichte ohnmächtiger Psychokraten ausmachen. Vielleicht entgeht manch Geneigterem zwischen den Zeilen nicht seine Bewunderung für die heimliche Suche der Autorin nach dem Erkenner des Erkannten, dem Seher des Gesehenen, dem Ozean der Ewigkeit im Gewoge der Zeit. Danke, lieber Micha, für Erleuchtendes! Danke für Deinen ebenso feurig brillanten wie profunden Text ... Wann wird unsere Welt reif und bereit sein, Deine antipsychiatrischen Visionen Wirklichkeit werden zu lassen? 105 II. Eva-Maria Tepperberg: Buchbesprechung zu Ty C. Colbert: Das verwundete Selbst. Über die Ursachen psychischer Krankheiten. Ein Lesebuch für Therapeuten, Patienten, Eltern und andere Bezugspersonen. München: Beust Verlag 1999, 379 Seiten oder Warum ein Buch aus Kalifornien auch 8 Jahre nach seinem Ersterscheinen in Deutschland - leider! - bis heute hoch aktuell geblieben ist Die international bekannte, preisgekrönte Buchautorin und manisch-depressive amerikanische Psychiatrieprofessorin Kay Redfield Jamison schreibt in ihrem beachtenswerten Buch von 1999 (dt. 2000, Berlin: Siedler Verlag) Wenn es dunkel wird. Zum Verständnis des Selbstmordes den Status quo der biologischen Psychiatrie fest, und dies, wie es scheint, für alle Zeiten. Demgegenüber ist das Buch des in Kalifornien praktizierenden Psychotherapeuten Ty C. Colbert geeignet, einen Schneeballeffekt im Umdenken über Psychiatrie und psychische Krankheiten auszulösen. Angesichts der Krise der modernen Psychiatrie, die zur Folge hat, „dass heute Millionen von Menschen für den Rest ihres Lebens zu Krüppeln gemacht worden sind“ (S. 27, 32), ist ein solcher Paradigmenwechsel dringend geboten. Allgemein verständlich, undoktrinär, didaktisch äußerst anschaulich sowie theoretisch und empirisch überzeugend stellt der Autor zwei Erklärungsmodelle für die geläufigen psychiatrischen Krankheitsbilder einander gegenüber. Der amerikanische Originaltitel Broken Brains or Wounded Hearts? - „Defekte Gehirne oder verwundete Herzen?“ - nimmt diese Gegenüberstellung noch komprimierter vorweg als der deutsche Titel es tut. Ausgehend von den historischen Wurzeln in der Antike macht der Verfasser den Leser mit dem ganzen Spektrum der biopsychiatrischen Orientierung und den auf ihr beruhenden Behandlungsmethoden bekannt. Seine Gewährsleute sind Psychiater von Rang, die ursprünglich selbst dem Glaubenssystem des medizinischen Modells anhingen, bevor sie deren Grundannahmen entkräften konnten. Demnach gilt heute als wissenschaftlich erwiesen, daß erstens Psychopharmaka kein biochemisches Ungleichgewicht korrigieren, daß zweitens Familienstudien keine Beweise für Vererbbarkeit psychischer Krankheit liefern, daß es drittens keine Hinweise für die Existenz defekter Gene gibt, daß viertens keine kausale Beziehung besteht zwischen Hirnanomalien und Schizophrenie: Soweit das Er- 106 gebnis einer Forschung, in die Milliarden Dollar investiert worden sind (S. 128) und die nach Aussage eines renommierten Professors für klinische Psychiatrie „in den letzten zehn Jahren [Stand 1995] nicht eine einzige Entdeckung von klinischer Bedeutung gemacht hat“ (S. 22). Demgegenüber hat die Forschung hinreichend belegt, „dass Medikamente und Schockbehandlung zu dauerhaften Gehirnschädigungen führen können“ (S. 49). Fazit: Die Tatsache, daß Psychopharmaka symptomatisch wirken, ist kein wissenschaftlicher Beweis für die kausale Beziehung zwischen Krankheitsbild und gestörtem Gehirn. Colberts Denken bewegt sich jenseits biologischer Defektoder psychodynamischer Defizitkategorien: Sein Modell des emotionalen Schmerzes bzw. der broken hearts basiert vielmehr auf der ebenso einfachen wie folgenreichen anthropologischen Grundannahme, daß der Mensch seiner Natur nach ein fühlendes Wesen und damit seelisch verletzbar ist. Hinter jedem noch so bizarren bzw. „psychotischen“ Verhalten, so lehrt den Verfasser seine 15-jährige klinische Erfahrung mit psychiatrisch zum Teil „unheilbaren“ Patienten, verbirgt sich ein zutiefst verwundeter Mensch - und mitnichten ein defektes Gehirn: „Alle emotionalen oder sogenannten ‚psychischen Störungen’, ob es sich dabei um Schizophrenie, Depression, Manie, Panikanfälle oder Zwangsverhalten handelt, sind Abwehrmechanismen, die die Psyche hervorbringt, um ein Übermaß an Schmerz zu bewältigen. Dies ist der zentrale Unterschied zwischen dem medizinischen Modell und dem Modell des emotionalen Schmerzes“ (S. 162). Der Autor argumentiert weder auf der Basis psychiatrischer Diagnosen, noch bedient er sich psychoanalytischer Begriffsakrobatik. Er sieht in jedem noch so „verrückten“ Verhalten einen Sinn. Seine Sprache ist, ohne je simplistisch zu sein, ebenso eindringlich wie schlicht und richtet sich an jedefrau und jedermann: „Ich garantiere Ihnen, dass ein Kind, das sich bedingungslos geliebt fühlt, dem man feste und faire Grenzen setzt und erlaubt, gehört zu werden und seine Gefühle auszudrücken, keine schweren emotionalen Störungen bekommen wird“ (S. 225). Derzeit geht die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung, und mit realistischer Sorge blickt Colbert auf die nächste Generation: Statt Liebe und Kooperation hält eine zunehmend gleichgültige und verletzende Gesellschaft immer mehr Psychopharmaka zur sozialen Kontrolle bereit und setzt schon heute bei vor- 107 geblich „hyperaktiven“ oder „aufmerksamkeitsgestörten“ Kindern und Jugendlichen das Medikament Ritalin im Massenmaßstab ein: „Die langfristigen Wirkungen von Psychopharmaka können nur noch mit den verheerenden Wirkungen der Straßendrogen verglichen werden“ (S. 198). Glücklicherweise zeigt der Verfasser an anschaulichen Beispielen auch konkrete Möglichkeiten auf, wie die Gesellschaft, ohne Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen und Psychopharmaka, mehr Verantwortung zum Schutz des Individuums in jedem Lebensalter übernehmen kann - in der Familie, in der Schule, in psychiatrischen Einrichtungen sowie in Initiativen von Psychiatrieüberlebenden, die in den USA (und seit mehr als 15 Jahren auch in Deutschland) zunehmend an Bedeutung gewinnen. Von besonderem Interesse zum Verständnis des Modells der Gefühlsverletzung und ihrer verheerenden Folgen für Individuum und Gesellschaft sind nicht zuletzt Colberts Fallbeispiele jugendlicher Serienmörder, exemplarisch aufgezeigt an der Lebensgeschichte von Charles Manson: Dieser war als Kind ungewollt, bis in die Adoleszenz hinein immer wieder verlassen, gedemütigt und von der Gesellschaft ausgestoßen worden. Daß Wut „eine natürliche Schutzreaktion gegen Verletzungen“ ist (S. 209), kann in unserer zunehmend gewaltförmigen Zivilisation als Tatsache gar nicht ernst genug genommen werden. Damit gibt Colbert einer Debatte neues Gewicht, die im Gefolge der 68er Kulturrevolution mit der Kontroverse um Ursprung und Wesen der menschlichen Aggressionsbereitschaft vor 35 Jahren aufgebrochen war - und heute weniger denn je an Aktualität verloren hat: In dieser Hinsicht ist die biologische Psychiatrie, ohne sich dessen bewußt zu sein, fatalerweise noch immer dem Denken des österreichischen Tierverhaltensforschers, Erbgenetikers, bekennenden Eugenikers, Ex-Nazis und Ko-Nobelpreisträgers von 1973, Konrad Lorenz, verhaftet. Hingegen könnte sein damals bedeutendster Kontrahent, der jüdische Emigrant, Neofreudianer und Sozialpsychologe Erich Fromm mit seinem bahnbrechenden Werk Anatomie der menschlichen Destruktivität (1974) jene Spuren hinterlassen haben, die Colbert unausgesprochen weiterführt und neu akzentuiert. Trotz der starken Bremseffekte seitens der Biopsychiatrie mit ihren von der Pharmaindustrie finanzierten Forschungseinrichtungen und Universitäten geht es heute darum, die weltweiten Bemühungen um die Verabschiedung des medizi- 108 nischen Krankheitsmodells nach Kräften zu unterstützen und voranzutreiben. Gleichzeitig ist der Autor sich der individuellen Gefahren bei der Umsetzung seines Konzepts in die Praxis durchaus bewußt und weist den Leser sofort zu Beginn auf die Notwendigkeit hin, das Absetzen von Psychopharmaka „nur unter fortdauernder ärztlicher Anleitung und am besten in einer Klinik“ vorzunehmen (S. 5). Mit Sicherheit dürfte dies nicht im Sinn der durch Lithium stabilisierten (eingangs erwähnten) manisch-depressiven Psychiatrieprofessorin Dr. med. Kay Redfield Jamison sein. Deren belletristisch-literarisch hinreißende Autobiographie Meine ruhelose Seele. Die Geschichte einer manischen Depression (dt. 1999 als Goldmann-TB 15030) von 1995 (Un Unquiet Mind) wird von Ty C. Colbert zur Illustration seines Modells der Schmerzabwehr einfühlsam analysiert (S. 313-323). Es bleibt die Hoffnung, daß die bereits existierenden und erfolgreich arbeitenden Einrichtungen zur Medikamentenentwöhnung oder zur medikamentenfreien Behandlung von Menschen in emotionalen Krisen immer mehr Verbreitung finden. Colberts Verwundetes Selbst ist ein unverzichtbares Aufklärungsbuch, insofern es zeigt, daß das Elend der medizinischen Psychiatrie im Elend der mißachteten und mißbrauchten Gefühle des menschlichen Individuums wurzelt und erst vor diesem Hintergrund - ohne den Einsatz von Psychopharmaka - einer echten Heilung zugeführt werde kann. 109 III. Snail mail boxing rund um den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE e.V., seit 1992 bestehend) Hinter den Kulissen: Claudia (*18.5.1967) - Dorothea (*5.4.1917) - Eva-Maria (*19.3.1938) - Heidi (*24.4.1942) - Werner (*22.4.1967). Zeitraum: 19. Juni 2005 - 26. Juli 2006 (1) Heidi an Eva-Maria, 19. Juni 2005. Betr.: Mein Gott ist das Leben schön! Hallo, liebe Eva-Maria, ich kann dir gar nicht beschreiben, wie wunderbar es ist, sich wieder lebendig zu fühlen und dem Tal der Tränen und der seelischen und geistigen Wüste entronnen zu sein. Ich hoffe doch sehr, dass es dir ähnlich geht. Habe wieder meinen geliebten Sport aufgenommen: Joggen, Tennis spielen, Schwimmen, Fahrrad fahren, Wandern und das bringt ungemein Freude. Am kommenden Donnerstag fahre ich für 10/11 Tage wieder zu meiner Mutter und hoffe, dass ich dann von dort auch einmal mit meinem Bruder an die Ostsee fahre. Anfang Juli bin ich wieder zurück und wir hören dann voneinander. Lass es dir derweil ebenso gut sein und laß dich herzlich umarmen mit tausend guten Wünschen - vor allem auch für uns beide, dass das Wohlbefinden diesmal länger anhält. Liebe Grüße von deiner Heidi (2) Eva-Maria an Heidi, 3. Juli 2005 Hallo, liebe Heidi, herzlichen Dank für Deine enthusiastische Mail vom 19. Juni. Es ist wunderbar, daß auch bei Dir das Cymbalta endlich gewirkt hat und Du wieder im Vollbesitz Deiner angeborenen Vitalität und Begeisterungsfähigkeit bist. 110 Mögest Du schöne Tage bei Deiner Mutter und mit Deinem Bruder an der Ostsee verlebt haben! Ja, auch bei mir hält noch immer die Depressionsfreiheit bzw. der „Stand der Gnade“ an - nach den Ewigkeitsmonaten tatenloser Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Allein Dir verdanke ich diesen lange herbeigesehnten Zustand der wiedergekehrten Entscheidungsfähigkeit und Freude: Mein total medikamentenbewanderter Psychiater kannte zwar bereits das Cymbalta, war jedoch ein klein wenig zögerlich mit der Verschreibung: „Das Schlimmste, was Ihnen passieren kann (so sein Kommentar: siehe auch den Beipackzettel!), ist, daß Sie wieder manisch werden“. Ich nehme ja nur die Niedrigstdosis von 30 mg (so wie Du inzwischen auch); passe aber höllisch auf, daß ich genügend Schlaf bekomme, sprich „meine“ 8 Std. Meistens gelingt das ohne zusätzliche Bedarfsmedizin von 1 mg Tavor und/oder 100 mg mehr Seroquel. Das Zyprexa ist auf jeden Fall schlaffördernder. Ich beabsichtige, auf Dauer meinen Psychiater nochmals zu einem Medikamentenwechsel zu veranlassen: das Seroquel ist (auch laut Waschzettel) ebenfalls „häufig“ mit Gewichtszunahme und Wassereinlagerungen im Gewebe verbunden. Jedenfalls habe ich kein einziges Pfund Gewicht verloren, trotz ausreichender Bewegung und Nahrungsmittelkontrolle. Mein gleich nach Südfrankreich [mit Dipl.-Psych. Martin Urban] angetretener neuer Job bei der Nachbarschaftshilfe - 8 Std./Wo. à 6,50 € freut mich sehr, ist aber auch schweißtreibend anstrengend: Bei schönem Wetter fahre ich eine 82jährige Frau (dement) im Rollstuhl km-weit durch die umliegenden Äcker und Felder, vorbei an Schwimmbad, Tennisplätzen, Joggern ... kurz, vorbei an all den sportlichen Köstlichkeiten, die Du so plötzlich wieder praktizieren kannst! Nicht zu vergessen: vorbei an den wundervollen Privatgärten, von denen meine lieben Freunde (wohnhaft quasi um die Ecke) vor kurzem einen gepachtet und paradiesisch hergerichtet haben. Jetzt kannst Du auch hoffnungsfroh der Kassel-Tagung [Jahrestagung des BPE e.V. 2005] und Deiner sicher meistgefragten AG [Zwangsbehandlung in der Geschlossenen Psychiatrie] entgegensehen! Sei herzlich gegrüßt und bis bald mal wieder, Deine Eva-Maria (3) Eva-Maria an Claudia, 18. August 2005. Betr.: Dein verzweifeltes Dankschreiben Liebe Claudia, ob Dich diese Mail erreicht? Meine Technik war total zusammengebrochen, dh ich brauchte einen neuen Bildschirm (Flachbildschirm: tolle Sache); bei dieser Gelegenheit hab ich auch gleich den Provider (Statt AOL jetzt Arcor) und die E- 111 Mail-Adresse ändern lassen: Nunmehr [email protected]. Bin noch nicht an das neue System gewöhnt und mache Bedienungsfehler. Ja, Du Ärmste, wie sehr ich diesen schauderhaften Zustand kenne, und dies über Monate, über ganze Ewigkeiten hin, weil keines der bald 10 erprobten Antidepressiva mehr wirkte, auch nicht Dein jetziges Trevilor retard. Schließlich und endlich hat „es“ das im letzten Februar zugelassene Cymbalta wunderbarerweise exakt nach 14 Tagen Einnahme (niedrigste Dosis) geschafft. Seitdem bin ich ein neuer Mensch bzw. ganz einfach wieder ich selbst. Einer betroffenen Bekannten von mir ging es exakt genauso: Ich empfahl ihr das Cymbalta - und siehe da, auch sie war nach 14 Tagen Einnahme (allerdings doppelte Dosis) endlich erlöst. [...] Wenn es Dir helfen kann, einmal zu mir zu kommen, dann tu es, nachdem meine geplante Heimatreise in die alte CSSR („unser Sudetenland“) geplatzt ist, weil mein Bruder, der uns mit Zelt und totaler Selbstversorgung fahren wollte, kurzfristig unters Messer mußte (Leistenbruch und stark vergrößerte Prostata). Mir selbst hat es in den Qualzeiten immer geholfen, wenn ich Kontakt zu guten Freunden haben konnte, tel. oder persönlich. Liebe Grüße und ganz baldige Besserung und Genesung wünscht Dir Deine Eva-Maria (4) Eva-Maria an Heidi, 1. September 2005 Liebe Heidi, heute noch mal eine snail mail - der Anlagen wegen. Über Deine Tel.- + Mail-Botschften habe ich mich - freilich (angesichts Deiner noch immer anhaltend freudlosen Stimmung) nur zT - riesig gefreut. Wie ist es nur möglich, daß Du trotz Depression einen derart vorzüglichen Mail-Austauch mit Kalle Pehe hast führen können: Die ganze „Hintergrundpolitikerin“ von einst steht in neuem Gewande + Kontext wieder auf - Phönix aus der Asche! Bitte veröffentliche diesen Schlagabtausch unbedingt im nächsten BPE-Rundbrief (sofern Kalle damit einverstanden ist?). Besser und psychologisch wie verbandspolitisch überzeugender ließe sich Deine Argumentationskette wirklich nicht mehr formulieren; Uschi Zingler hat ja auch schon einen entspr. Vorstoß im BPERundbrief gemacht. Diese winzige Minderheit der „Fundis“ im BPE ruiniert die ganze Selbsthilfeunternehmung, deren weitaus größter Teil auf Medikamente angewiesen ist - widerwilliger-notwendigerweise, wie wir ja alle wissen. In der Tat nehmen die Fundis eine verbandsschädigende, wirklichkeitsferne Haltung ein, und was den sympathischen Kalle betrifft, so ist er halt auch kein „Schizoaffektiver“, sondern „nur“ ein vorübergehender und - per unterstützendem Familienhintergrund und per sicherem Arbeitsplatz als OStR - Ausnahme-Selbstgeheilter MDPler [Manisch-Depressiver „Psychotiker“] gewesen. Schön, daß es so etwas gibt; 112 aber daraus einen Alleinvertretungsanspruch abzuleiten - „Ich hab’s ohne Medis [Medikamente] geschafft, folglich müßt ihr alle es schaffen“ - ist doch einfach naiv, um nicht zu sagen geradezu „dümmlich“ angesichts der real-objektiven Situation. Ich war anno 1996 vorübergehend zornig aus dem BPE ausgetreten: Gleich nach Dorotheas gesundheitsbedingtem Rückzug übernahmen die Lehmann-Seibts das Zepter und leiteten eine total kontraproduktive Spaltung des Verbandes ein. Ich fühlte mich damals an die „Weimarer Republik“-Verhältnisse erinnert: Da bekämpften sich die Linken (Sozis und Kommunisten) gegenseitig und verloren darüber den eigentlichen = gemeinsamen Feind völlig aus den Augen. ... Mein Zorn geht noch immer so weit, daß ich jedem anti-medikamentös volltönenden Genossen wünsche, wenigstens einen einzigen Tag erfahren zu müssen, wie es sich anfühlt, eine schwere Depression einfach nur auszuhalten und zu überleben ... Usw. usf. Aus dem hier anschließenden Brief an Dorothea Buck vom 19. Juli 2006 ersiehst Du, daß ich - und dies übrigens schon seit 1980 intermittierend - im antipsychiatrischen Einzelkampf stehe, mit meinen Mitteln: der autobiographischen Belletristik. Mehr kann ich nicht tun, die Zeit läuft mir ohnedies davon. Ich will in der kurzen, mir noch verbleibenden Lebenszeit, noch anderes schreiben. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen, daß Deine Stimmung sich doch allmählich in Richtung stabiler Depressionsfreiheit verbessern möge. Gleichzeitig bewundere ich Deine Selbstdisziplin: Was Du trotzdem intellektuell wieder zustande bringst, das ist doch einfach phänomenal! Herzliche Genesungswünsche und -grüße Deiner Eva-Maria (5) Eva-Maria an Dorothea, 19. Juli 2006 (siehe oben Kap. I., S. 86-91) Betr.: ABC des BPE e.V. - Broschüre Liebe Dorothea, hier die erbetenen Angaben (und noch einige nicht erbetene dazu): 113 I. Veröffentlichungen in Buchform: 1) Eva-Maria Knapp (heute Tepperberg) (Hrsg.): WAHN und SINN? 30 Frauen und Männer nehmen Stellung. Frankfurt/M.: Haag + Herchen 1991, 277 S. ISBN 3-89228-638-8 2) Eva Speidel (Pseud.): Etüden über Leben oder Ein langer Weg vom Wahn zum Sinn, Bd. I. Heidelberg: Edition Eramo 2003, 78 S. ISBN 3-936666-00-8. 3) Eva-Maria Tepperberg: Etüden über Leben oder Ein langer Weg vom Wahn zum Sinn, Bd. II: „Mehr als eine Dokumentation“. Heidelberg: Edition Eramo 2007, S. ISBN 3-936666-00-8. II. 3 namhafte, zT pseud. Veröffentlichungen in Aufsatz- und Interviewform zu meinem Psychoseerleben: 1) Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag / es 435, 1980 (2 Aufl.) S. 12-43. 2) Stuttgart: Kreuz Verlag 1982 (2. Aufl. 1987), S. 224-237. 3) Frankfurt/M.: Materialis Verlag 1988. S. 9-14, 89-102. III. Buchbesprechungen in zT großen überregionalen Printmedien zu namhaften AutorInnen aus der Betroffenen- sowie aus der Profi-Szene: 1) zu Dorothea-Sophie Buck-Zerchin - Bundesverdienstkreuz 1. Klasse - 1992 2) zu PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Thomas Bock et al. (Hrsg.) 1991 3) zu Prof. Dr. med. Stavros Mentzos 1995 und 1996 4) zu Prof. Dr. med. Gerald Hüther 2003 5) zu Dr. med. Ty C. Colbert 2002 und 2007 6) zu Prof. Dr. phil. Kay Redfield Jamison 2002 und 2007 7) zu Prof. Dr. med. Clemens Busson (Pseud.) 2007 Liebe Grüße Deiner Eva-Maria (6) Heidi an Eva-Maria, 26. September 2005 Liebe Eva-Maria, bevor ich das Beigefügte in den Papierkorb werfe, kannst du ja auch einmal einen Blick drauf tun. 114 Uschi Zingler, die du doch wohl auch kennst, schickte mir ihr schon mehrfach gehaltenes Referat. Ehrlich gesagt, halte ich nicht viel von dieser Art von „Betroffenheitslyrik“, mich berührt so etwas eher peinlich. Was hältst du davon? [...] Einen lieben Gruß von deiner Heidi * Meinung von Eva-Maria: Ich kenne Heidis reservierte Einstellung gegenüber autobiographischer Selbstdarstellung. Was sollte ich da noch herum diskutieren. Mir persönlich gefällt der Bericht von Uschi Zingler außerordentlich gut, sowohl von der sprachlich formalen Gestaltung her als auch dem (mich) ergreifenden Inhalt nach. Uschi beschreibt ihren Weg in die depressive Krise und wie sie es mit großer Willenskraft und Einsichtsfähigkeit in die selbstverursachten Fehlhaltungen geschafft hat, aus der depressiven Lebenskrise herauszufinden und sich eine völlig neue Lebensperspektive zu eröffnen - und dies jenseits von medikamentöser Dauerunterstützung. Freilich bezweifle ich mit Nachdruck, daß es sich in Uschis Fall um eine schwere, früher als „endogen“ (fehl)bezeichnete Depression gehandelt haben dürfte. Heutzutage würde „man“ in Uschis Fall eine mittelschwere „reaktive“ Depression / depressive Störung „diagnostizieren“, eine „Verhaltenstherapie“ anraten und die Medikation ins Belieben der Patientin stellen. Wer von unsereins über zwei Millionen Manisch-Depressiven dieser Republik wünschte sich nicht solches allemal herbei? Anstatt sich zu 25 % wenigstens versuchsweise suizidieren zu wollen, besser: zu müssen? (7) Eva-Maria an Heidi, 16. Oktober 2005. Betr.: Es noch mal versuchen mit Cymbalta Liebe Heidi, es ist schrecklich, daß - genau wie bei mir („intermittierend“) fast 3 endlose Jahre kein Antidepressivum bei Dir andocken will. Möchtest Du nicht doch dem Cymbalta noch mal eine Chance geben? Eine betroffene junge (38j.) Freundin von mir hat es jetzt, in der „Offenen“, mit Trevilor retard einigermaßen geschafft, aus dem Tief herauszukommen und nächste Woche einschleichend wieder zur Arbeit zu gehen. Mir hatte das Trevilor gar nichts gebracht. Man muß einfach immer weiter probieren. Tatsächlich sagte auch Martin Urban „bei Tisch“ (an unserem Ferienort) einmal, Patienten hätten ihm gesagt, das Zyprexa mache depressiv. Möglicherweise hab ich auch des Zyprexa wegen (jahrelang zwischen 10 und 20 mg hin- und herpendelnd) so lange in der Scheiße gelegen (?). Das Seroquel wäre vielleicht auch für Dich eine Alternative? Ich nehme die niedrigste Dosis von 300 mg zur Nacht und füttere nur hin und wieder (wie jetzt bei Vollmond, wo die Ner- 115 ven blanker liegen als sonst) Bedarfsmedis zu (100 Sero mehr und 0,5 bis 1 mg Tavor). Bin dann allerdings am nächsten Morgen reichlich „bedeckt“ und wenig aktionsfähig. Die Podiumsdiskussion letzten Donnerstag [veranstaltet von der HEIPER = „Heidelberger Initiative Psychiatrie-Erfahrener“] mit (Ex-Betroff. Dr. med.) Dieter Schwenk (BPE und DGBS = „Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V.“), meinem Ambulanz-Psychiater Dr. med. Klaus Brosi, 2 Uni-Psychiatern (der eine „unter aller Sau“, hab dem „Priv.-Doz.“ von der HDer Uni-Psychiatrie in der Diskussion ziemlich Saures gegeben, schien er doch noch nicht einmal den gewaltigen Unterschied zwischen sog. [kognitiver] Schizophrenie und affektiv bipolaren Störungen zu kennen) und Dipl.-Psych. Martin Urban hat mich wiedermal sehr emotionalisiert. Ich bin jetzt dabei, meine Schwerbehinderung auf 100 GdB [Grad der Behinderung] zu erhöhen (bisher 90); und vielleicht strenge ich auch mal eine MusterKlage mit Schadensersatzforderungen an - der zT inakzeptablen, irreparablen Pharma-Schäden wegen, der an mir begangenen schweren Kunstfehler wegen sofern ich den Mumm dazu habe. Werde jetzt also erst mal 5 verschiedene Ärzte als Gutachter fürs Versorgungsamt mobilisieren, von denen ich 3 bereits vorinformiert habe. Dann sieht frau weiter. Allein das Ausfüllen der Formulare hat mich fast 1 Tag gekostet. Hoffentlich lohnt sich das irgendwie und irgendwann, wenigstens fiskalisch (demnächst schon wieder Rentenkürzung: Schweinerei). Ich drücke Dir weiter die Daumen. Eines Tages wird auch Dir die Sonne wieder scheinen - Du hast es immer wieder erleben dürfen. Herzliche Grüße Deiner Eva-Maria (8) Eva-Maria an Claudia, 28. Januar 2006. Betr.: SOS Hallo liebe Claudia, bin total verzweifelt. Sie haben mich in Wiesloch auf der Geschlossenen Geronto 36 wieder brutal fixiert, 8 Stunden lang ohne Sitzwache, und mit Haldol niedergezwungen. Diesmal war es ein übler blonder Russendoktor namens „Margarine“ und eine jüngere SS Fixierkomplizin namens „Franziska“. Kapo-Krankenschwester. Bin vollkommen ratlos. Derzeit in Geronto-Tagesklinik Wiesloch, Tel. 06222/55-1045. Bitte gib Rat, wie Du herausgekommen bist das letzte Mal. Kann Martin Urban nicht erreichen. 116 (9) Heidi an Eva-Maria, 30. Januar 2006 (Begleitzeilen zu Anlagen) Liebe Eva-Maria! Anbei einiges Lesenswertes. Ich denke viel an dich und schließ dich in mein Gebet ein. Lass dir ein klein wenig Sonne ins Herz und deine so verletzte Seele schicken und dich umarmen und herzlich grüßen deine Heidi (10) Heidi an Eva-Maria, 30. April 2006 Hallo, liebe Eva-Maria, über deinen lieben Anruf zu meinem Geburtstag habe ich mich sehr gefreut. Danke dafür! Gefreut aber habe ich mich auch darüber, ganz leise zwischen den Zeilen zu vernehmen, dass die Depression dich nicht mehr so völlig verzweifeln läßt. Ach möge dir mein Beispiel doch Mut geben, weiter auf die Hoffnung und den Glauben zu setzen. Auch du wirst befreiende und erlösende Heilung erfahren - da bin ich ganz sicher. C. G. Jung soll einmal folgendes gesagt haben: „Die Depression ist gleich einer Dame in Schwarz. Tritt sie auf, so weise sie nicht weg, sondern bitte sie als Gast zu Tisch und höre, was sie zu sagen hat“. Mich hat gerade die letzte, so lang anhaltende Depression viel gelehrt. Wenn Heilung bedeutet, dass Seele und Geist Frieden findet, dann darf ich sagen, dass ich das geschenkt bekommen habe. Die beigefügten Ermunterungen mögen helfen, deine Seele und dein Herz zu beflügeln, falls ich sie dir nicht schon einmal geschickt habe? Mit lieben Grüßen und Wünschen bin ich deine Heidi 117 (11) Eva-Maria an Werner, 8. Juni 2006. Betr.: Dein Pfingstgruß Lieber Werner, Dank für Dein Gedenken! Inzwischen wirst du wohl meinen Pfingstgruß aus Südfrankreich (Martin Urban-Gruppe ...) erhalten haben ... ja, es geht mir wieder so gut, daß ich gestern bei / mit Dr. Brosi die versuchsweise Beendigung meiner Antidepressionsbehandlung mit Cymbalta vereinbart habe und jetzt nur noch auf Monotherapie mit 400 mg Seroquel eingestellt bin. Seroquel, so Brosi, sei seit ca. 1/2 Jahr offiziell auch als Phasenprophylaktikum betr. Bipolarität gekennzeichnet. Ich will nur den fatalen „switch“ von 2005/06 und insbes. die Höllendepression von 3 Endlosmonaten coûte que coûte [„koste es was es wolle“] nicht wiederholen. Und solange ich mit 400 mg Seroquel zur Nacht bei Vollmond (!) beinahe 10 Std. penne, kann mir nichts passieren ... Hoffe, auch Dir geht es weiterhin gut und wir sehen uns evtl. im nächsten Psychose-Seminar wieder + grüße Dich herzlich, Eva-Maria (12) Eva-Maria an Heidi, 25. Juni 2006. Betr.: u. a. Urlaubskarte v. 17.6.06 Liebe Heidi, morgen bist Du, hoffentlich weiterhin glücklich, dankbar und stabil - aus Deinem Traumurlaub zurückgekehrt! Ich wünsche Dir von Herzen, daß Du das derzeitige Level halten kannst und nicht meinen Cymbalta-„switch“ vom letzten Jahr erfahren mußt. Habe diesmal - gleich nach den wieder wunderschönen Süd-Frankreichtagen mit Martin Urban [28.5. bis 5.6. 06] meine 30 mg Cymbalta abgesetzt, bis auf weiteres jedenfalls, um jetzt „nur“ noch 400 mg Seroquel + bei Bedarf 1 mg Tavor zur Nacht beizubehalten. Stimmung seit Ende April gottseidank endlich wieder o. k., aber schlimme Übergewichtigkeit und so vehemente LWS-Schmerzen beim Gehen, daß wohl nur noch Operation abhelfen wird. - Du sprichst von Deiner „Heilung“! Ich würde eher von „Stabilisierung“ reden: Der Heilungsbegriff schließt für mein Verständnis jede auch noch so minimale Medikalisierung aus. Medikamentös unterstützte Symptomfreiheit ist in meinen Augen nicht gleichbedeutend mit echter Heilung. Eine solche halte ich im Falle unserer schizoaffektiven Thematik - zumindest in dieser Inkarnation - für unrealistisch. Deine Mail-Philippika gegen die Lehmann-Seibt-Fraktion & Co. im BPE spricht mir grundsätzlich aus dem Herzen. Die ist wirklich überfälligst. Seit Dorotheas leider zwangsweisem Rückzug aus dem „großen“ BPE-Geschehen auf den Jahrestagungen in Kassel ist ein eklatanter Prestigeverlust des BPE in der Betroffenen-Öffentlichkeit zu verzeichnen. Nie werde ich vergessen, in welch anmaßender 118 Despotenhaltung Peter Lehmann „seinerzeit“ in KS auf meine AG “Kreatives Schreiben“ reagieren zu müssen glaubte, nachdem Dorothea erstmals ihren „Diadochen“ [Nachfolgern] die offizielle Leitung der Tagung überlassen hatte. Plane, dies an geeignetem Ort in ähnlich-anderer Erinnerungsprosa zu Papier zu bringen, wie Du es hinsichtlich Deiner mittlerweile „historischen“ Funktion anno 1992 bez. des BPE getan hast. Werde wohl auch meine persönlichen Erfahrungen mit tel. Pharmaberatung seitens Matthias Seibt ansprechen. Wenn er zur Bürozeit am Tel. war, lief alles immer auf Absetzen hinaus usw. Von Beratung i. S. von konkreter Beantwortung meiner Frage nach geeignetem Antidepressivum in tödlicher Verfassung ... keine Spur. Ignoranz total. Wofür wird der Mann eigentlich bezahlt? Auch dafür, daß er seine Bürozeiten nicht einhält - und dafür noch nicht mal eine AB-Erklärung hinterläßt? Wir hatten ihn mal zu Gast in unserem Heidelberger Psychose-Seminar: Sein Vortrag war exzellent, in jeder Hinsicht ausgezeichnet, wenn auch wie üblich „anti-anti-anti ...“. Jemand aus dem Publikum fragte ihn: „Was tun Sie im Fall einer Krise?“ Da gab er erstaunlich ehrlich und unumwunden zu, daß dies in der Tat hin und wieder der Fall sei, Symptom Schlaflosigkeit ... Und daß er dann eigenhändig auf Neurocil zurückgreifen würde ... Stimmt es übrigens, was ich mal aus (welchem?) berufenen Munde hörte: Das Berliner Weglaufhaus - Prestigeobjekt par excellence der Lehmannianer - übrigens für nur 12 Leute! - biete Manikern im Schub keine Aufnahme = keinerlei Hilfe zur Selbsthilfe an? Zum Auslöser Deiner fulminanten Mail kann ich wenig sagen: Mißachtung des Datenschutzes? Einen solchen scheint es prinzipiell für kein einziges BPE-Mitglied zu geben, wie ich jetzt erst erfahre. Mir persönlich ist es ehrlich gesagt egal, ob ich „www“-meschugge bin oder nur für meinen Bekannten- und Freundeskreis von 34 Jahren. Was hätte ich noch zu verlieren? Ich stelle fest, daß die Frage des (biographischen) Outing ein spezifisch deutsches Problem zu sein scheint, insbes. soweit es um „Skandal-Thematik“ geht. Das ist meine eigene jahrzehntelange Erfahrung als Belletristin und als Kulturwissenschaftlerin. In Band II meiner „Etüden über Leben ...“ werde ich folgendes Zitat aus dem SPIEGEL v. 10.6.02 irgendwo einbauen: „riskante Bücher, die sich verkaufen, kommen alle aus dem Ausland, hurra“. Also aufs Verkaufen verzichten und sich www-meschugge outen (lassen). Noch so manches mehr gäbe es anzumerken. Jedenfalls fände ich es gut, wenn Du das vollnamentliche Outing Deines großartig recherchierten und kommentierten Tagungstextes vielmehr als Ehre, denn als Ehrenrührigkeit erleben könntest. In diesem Sinne weiterhin herzliche Stabilitätswünsche und -grüße Deiner Eva-Maria 119 (13) Eva-Maria an Heidi, 7. Juli 2006 Ja, liebe Heidi, ob Dich jetzt wenigstens schon mal die paar „Lehmann-Zeilen“ erreicht haben? Was bedeutet in seinem Schreiben „Heinemann-Umfeld“? Im übrigen interessieren mich ehrlich gesagt diese „inneren“ Streitereien nur insoweit, als ich in einer geplant Zweitauflage meiner Etüden über Leben ... - jenseits von Paragraphenbedrohung und im Schutze meiner ISBN - alles zu Papier bringen kann, was mir wichtig erscheint. Vielleicht re-inszeniere ich irgendwann einfach mal meine zweite Begegnung mit Peter Lehmann in Kassel, wo er in unverschämter Weise versucht hat, mich samt AG „Kreatives Schreiben“ auszu-booten ... Schon damals wußte ich, was die „Post-Ära-Dorothea-Buck-Stunde“ geschlagen hatte. Widerlich [...]. Von meinem Plan eines „offenen Briefs“ an Uschi Zingler hab ich Dir ja schon gesprochen. Ihre zT zu Recht enthusiastische Rezension des Haag + Herchen-Buches - Pathographie eines betroffenen Psychiatrie-Profis - enthält derartige Fehlinformationen, daß ich mich bemüßigt fühle, dazu Stellung zu nehmen. Persönlich mag ich Uschi sehr, und ich denke, sie wird mir mein Ansinnen auch nicht verübeln (können). Teil II Liebe Heidi, Danke sehr für Deinen Brief vom 4. Juli („Independence-Day“). Dazu nur kurz ein paar Anmerkungen, weil ich mich teilweise mißverstanden fühle: In bezug auf „Heilung“ geht es mir ausschließlich um eine begriffliche Klärung. Selbstverständlich nehme auch ich massenhaft Psychopharmaka, mit zusammengebissenen Zähnen - es bleibt mir ja gar nichts anderes übrig. Und selbstverständlich stehe auch ich voll zu meiner „Lieblingsdroge“ Tavor (neben Dominal forte meine wichtigste „Bedarfsmedizin“, zB wenn ich morgens od. vormittags einen Termin habe und aus Angst nicht rechtzeitig einschlafen kann). ABER: Ich würde mich selbst niemals als „geheilt“ bezeichnen, nur weil ich, depressionsfrei geworden, ein relativ normales Leben führen kann. „Heilung“ und „Stabilisierung“ schließen sich für mich begriffsmäßig aus - und dies auch dann noch, wenn das „Intervall“ realutopisch doch mal länger als ein viertel oder halbes Jahr anhalten sollte. Der Heilungsbegriff bedeutet für mich eine sog. restitutio ad integrum = eine krückenlose Wiederherstellung des gesunden Urzustandes ... Teil III Heidi, liebe: Horst-Eberhard Richter neben L. Ron Hubbard stellen, ist wie Äpfel und Birnen miteinander vergleichen! Selbstverständlich fand und finde auch ich den Richter großartig, er gehörte mit zu meiner wichtigsten impliziten kulturwissenschaftlichen Sekundärliteratur, zumal die Sozialpsychologie aus meinem Literaturverständnis gar nicht wegzudenken ist. Bis zum Gotteskomplex habe 120 ich alles von Richter „rezipiert“, ihn vor Jahrzehnten auch persönlich in HD [Vortrag und Diskussion mit ihm in der Uniklinik Psychosomatik] kennengelernt eine in jeder Beziehung hervorragende Persönlichkeit in unserem BRD/D-Gewebe. Problematisch hatte mich freilich betroffen, daß er sein berühmtes „Angst“Buch Flüchten oder Standhalten quasi auf dem Erfahrungs-Rücken (s)einer Tochter konzipiert hatte: Die kam mit einer schweren Angstpsychose in die Psychiatrie. Aber so ist das eben. Auch der Erfolg der „Großen“ hat seine internen Schatten. Was Hubbard [Dianetik. Die moderne Wissenschaft der geistigen Gesundheit, 1950, 485 S.] anbelangt, so ist er für mich - ich habe jahrzehntelang u. v. a. auch im Bereich der prä-peri-postnatalen Medizin und Psychologie geforscht u. veröff. - exakter und klärender als die erst seit 1972 im Westen aufgekommene Erforschung der frühen und frühesten Lebenszeit des Menschen. Leider habe ich ihn (Hubbard) „damals“ noch nicht so gründlich studieren können, wie ich das jetzt endlich nachgeholt habe. Er hat - im (mittel)fernen Orient: Indien, Borneo, Philippinen - einfach Zusammenhänge erforscht und herausgefunden, die bis auf den heutigen Tag praktisch nicht zur Kenntnis genommen werden - sehr zum Schaden der sich bis in den Abgrund selbstverschrottenden spezies humana ... Seine Scientology-„Kirche“ - die ist mir sch-egal. Genauso wie alle anderen Zwangs- oder Amtskirchen allemal. Freilich sind Hubbards Engramm-Erkenntnisse mir auch deshalb so „nah“, weil ich ja enorm viel Selbsterfahrungs- u. Therapieexperimente durchlaufen habe, die mir seine Theorie und Praxis einfach als evident, als selbstverständlich erscheinen lassen ... Und es ist für mich eine tragische Konstellation der Psychiatriegeschichte, daß nur 2 bis 3 Jahre (ab 1952/53) nach Hubbard (1950) die Pharma-„Revolution“ (welch hanebüchener Mißbrauch des Revolutionsbegriffs!) weltweit den Siegeszug angetreten hat. Daß es auch anders gegangen wäre, ist für mich eine absolute Gewißheit: Schon Jesus Christus hat sog. Besessene „pharmafrei“ geheilt an so etwas scheint sich heutzutage nur noch ein Eugen Drewermann zu erinnern! Auch wenn ich gezwungen bin, mich via Psychopharmaka relativ stabil zu halten (bei 35 bis 50 Pfund Übergewicht auf meinen seit 51 Jahren kaputten LWS [Lendenwirbelsäule]-Knochen!), nehme ich mir das Recht, Bestehendes zu kritisieren und in realutopischen Dimensionen zu denken und zu fühlen. Diesen Widerspruch gilt es auszuhalten, dieses Paradoxon gilt es zu leben ... Jedenfalls im Augenblick. Etwas viel für heute, aber wie ich hoffe, für Dich nicht zu viel! Laß es Dir auch weiterhin so gut als irgend möglich gehen und pariere gelassen die Lehmannschen Drohgebärden. Matthias Seibt als BPE-Geschäftsführer ... in 2007? Nun ja, soll er was tun für sein bißchen Geld, viel dürfte es eh nicht sein! Herzliche Grüße, Eva-Maria 121 (14) Eva-Maria an Heidi, 7. Juli 2006. Betr.: 1. Peter Lehmann, 2. Dein schöner Brief Liebe Heidi, was finde ich denn da heute schon wieder an BPE-Querelen in meiner Mail-Box vor! Sehr sicher kann sich ein Peter Lehmann in seiner antipsychiatrischen Haut nicht fühlen, wenn er meint, Dich paragraphenklimpernd „vorsorglich“ bedrohen zu müssen! Warum diese Umschweifigkeit und dieser gräßliche, pseudosachliche Stil! Tatsache scheint mir jedenfalls zu sein, daß er aus einer Position persönlicher Schwäche heraus agiert - also alles andere ist als „souverän“. Vielleicht sollte ich doch mal wieder bei Dorothea in HH anrufen: Sie meinte ja im (vor?)letzten Rundbrief mit ihrem erhobenen Zeigefinger à la „Keine Demontage von Peter Lehmann“, ihn vor unsereins in Schutz nehmen zu müssen. Das Umgekehrte scheint mir eher der Fall zu sein: Es gilt, die Mehrheit des BPE zu schützen vor den Machenschaften dieses omnipotent agierenden Antipharma-Herren. Ich schick Dir schon mal dieses, weil mir - immer wenn ich Dir zu mailen versuche - alles verschütt zu gehen pflegt ... (15) Eva-Maria an Dorothea, 26. Juli 2006 Liebe Dorothea, mein „ABC des BPE e. V.“-Beitrag vom 19. d. M. [siehe oben, Nr. (5), S. 112 f.] enthielt noch winzige Schönheitsfehler. Daher nochmals als Anlage beigefügt. Ihr könnt davon berücksichtigen, was Euch als sinnvoll erscheint. Gleichzeitig aber lege ich zunehmend Wert darauf, daß meine psychiatriekritischen Veröffentlichungen und Stellungnahmen in toto die ihr gebührende Beachtung an dafür vorgesehenem Orte finden. Wenn ich meine kulturwissenschaftlichen. und schriftstellerischen Kompetenzen (Ihr findet mich in allen diesbez. einschlägigen Lexika inkl. dem Who ist Who in der Bundesrepublik Deutschland bis anno 2006 vor) zusätzlich in psychiatriekritische Dienste stelle, so will ich dafür nicht auch noch einschlägig diskriminiert und ausgegrenzt werden. Punkt. Basta. Ich bin nicht ad nauseam [bis zum Kotzen] bereit, weiterhin aktive Diskriminierungen seitens eines BPE-Web-Masters und machtgeilen Anti-PsychiatrieVerlegers namens Peter Lehmann hinzunehmen. Wie ohnmächtig und erbärmlich muß sich dieser, wie auch immer hochqualifizierte und hochbewährte „Schaffschwabe“, desgleichen die Handvoll Anti-Pharma-Schickeria-Elite im BPE e. V. unbewußt wohl fühlen, wenn er/sie derartig hysterische und paragra- 122 phenzwinkernde Geschütze gegen „Unseresgleichen“ auffahren lassen muß usw. usf. Du weißt schon, was und wie ich’s meine ... Ähnlich anders wie Heide-Karen Hirsch, erwäge auch ich - bis spätestens zum Ende 2008 - meinen neuerlichen Austritt aus dem BPE e. V. Der Rundbrief ist je länger je mehr nicht meine „psychiatriekritische Heimat“ mehr. Und ich spreche hier im Namen von Hunderten von BPE-Mitgliedern, die aus tragisch-diagnostischen Gründen „gegen ihren bewußten Willen“ gezwungen sind, Prophylaktika seitens der und gegen die Pharma-Mafia zu nehmen, um sich nicht alle naslang menschenunwürdigsten Zwangsmaßnahmen auf der Geschlossenen unterwerfen (lassen) zu müssen. Ich für’s vorerst letzte im Dezember 2005/Januar 2006 im PZN Wiesloch: Die reinste Barbarei. Gottseidank werde ich dies in Band II meiner Etüden (2007 nicht mehr pseudonym) entsprechend spitzfedrig umzusetzen wissen, wie ich hoffe. Paragraphen sind meine Sache schon lange nicht mehr. Der Umgang der Realos seitens der Fundis im BPE e. V. [= meine „grünenpolitische“ Nomenklatur, seit Peter Lehmann alias Matthias Seibt & Co. in KS das BPE-Zepter schwingen zu müssen meinen], entwickelt sich zunehmend „herzlos“, „kaltschneuzig“, „inhuman“, „nächstenfeindlich“ (religiös gesprochen) usw., wie Heide-Karen mir bisweilen mailt u. tel. mitteilt. Sie - die Fundis - praktizieren gegen Ihresgleichen - die Realos - exakt jene Verhaltensmechanismen, die sie aus unbewußten Ohnmachts- und Angstgefühlen heraus (ich wiederhole mich bewußt) zunehmend hysterisch und machtgeil re-AGIEREN läßt. Gegen „Mad in America“ usw. usf. bin ich doch längst überregional (insbes. SPIEGEL und Medium Psych.Pflege Heute in 2002 mit spitzer Feder ins Feld gezogen. Wozu brauch ich den BPE e. V. eigentlich noch, frage ich mich immer mehr. Die 30 € Jahresbeitrag kann ich mir als besteuerte Rentnerin allemal sparen. [Anm. Juni 2007: Für den Rundbrief 2/Mai 2007 knöpfte der Postbote mir frühmorgens auch noch 2 € Porto ab ...]. Dies in aller schmerz-zornigen Längenkürze post scriptum an Dich ... Kopie ergeht an MA Heide-Karen Hirsch und an Dr. med. Dieter Schwenk (beide derzeit noch BPE e.V. sowie DGBS e.V. [Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. (= manisch-depressive affektive Erkrankungen)]. Wie immer herzlichste Umarmungsgrüße Deiner Eva-Maria 123 Koda: varietas delectat oder „noch einmal anders gesagt“ (16) Eva-Maria an Heidi, 29. September 2005. Betr.: Deine Postsendung von heute Liebe Heidi, vielen Dank für Deine Texte. Am meisten interessiert und berührt mich der Depressions-Heilungsbericht von Uschi Zingler. Wie Du ihn als Dich peinlich berührende „Betroffenheitslyrik“ (ab)qualifizieren kannst, ist mir persönlich nicht nachvollziehbar. Natürlich kenne ich Uschi auch persönlich aus langen BPE-Jahren, bewundere ihre offenbar selbst erarbeitete „Ich-Stärke“, ihre Fähigkeit, sich medikamentenfrei aus dem Sumpf gezogen zu haben, in einer Art selbstgesteuerter Einsichts- und „Verhaltenstherapie“ ... Sie scheint mir dem Temperament nach eine echte, zupackende „Schaffschwäbin“ zu sein. Ihre Position innerhalb des BPE, so wie diese sich immer mal wieder im Rundbrief kundtut, finde ich ausgesprochen „einsichtig“. Obwohl selbst medikamentenfrei, argumentiert sie höchst sinnvoll und ausgleichend gegenüber den Seibtschen Anrüpeleien, überhaupt gegenüber der hardliner-Fraktion im BPE, der - wie ich selbst schon öfter erfahren habe - potenziell neue Mitglieder regelrecht abstößt und von einer möglichen Mitgliedschaft abhält, ganz zu schweigen von den zunehmenden Austritten, weil die zahlenmäßig geringe Lehmann & Co.-Fraktion eine total kontraproduktive Verbandspolitik verfolgt und nach außen hin den Anschein erweckt, den gesamten BPE zu vertreten. So ein Ärgernis! [...] Deine Argumentation gegenüber Kalle Pehe ist für mich derart überzeugend (gewesen), daß ich Dich ja, wie Du Dich erinnern wirst, gebeten habe, den Schlagabtausch unbedingt im nächsten Rundbrief abzudrucken. Bitte tu es! Auch Kalle ist so ein medikamentenfreier „Ausnahmetyp“, der einfach das Glück hatte, keinen Schizo-Anteil zu haben, lediglich ein bißchen MD(P) gewesen zu sein und im übrigen bestens vom Familienverband sowie seitens seines gymnasialen Arbeitsumfelds voll getragen zu werden. Also das Gegenteil dessen, was Du und Uschi und - in vollkommen anderer Weise leider auch ich - haben erfahren müssen: Übelstes Mobbing am Arbeits- bzw. Tätigkeitsplatz - mit zT irreversibler Krankheitsfolge ... Dies für heute mit herzlichen Grüßen und dem innigen Wunsch, daß auch Deine schweren Depressionen eines Tages zumindest ein Intervall erfahren mögen, Deine Eva-Maria 124 IV. Offener Brief an Ursula (Uschi) Zingler, BPE e.V. oder „Eine psychische Erkrankung macht vor niemand [!] halt“: Kritische Stellungnahme zu einer Buchbesprechung (in: BPE-Rundbrief 1/2006, S. 16 f.) Liebe Uschi, was soll dieser Einleitungssatz zu Deiner im übrigen brillanten Buchbesprechung zu Clemens Busson (Pseudonym). Frankfurt: Haag + Herchen, 2005, 80 Seiten: Am Todespunkt der Seele. Die Geschichte einer depressiven Psychose? Schon formal schlampst Du da ein bißchen herum. Im Deutschunterricht unser beider Generation hieß es immerhin noch: „macht vor niemandem halt“! Und dann der Inhalt: Jedermann und jedefrau könne an einer derart extremen depressiven Psychose oder psychotischen Depression erkranken wie der deutsch-österreichische „Hochschullehrer“ bzw. doppelt getitelte Universitätsprofessor Clemens Busson? Das kann doch Dein Ernst nicht sein? Und dies auch dann nicht, wenn die DGBS e.V. - „Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. (manisch-depressive Erkrankungen)“ - auf ihrem um Mitglieder werbenden Faltblatt (S. 3) eben dasselbe behauptet: „In Deutschland sind mindestens 2 Millionen Menschen betroffen. [o. k. Aber:] Jeder kann daran erkranken“ (Hervorh. E.-M. T.). Will sagen potenziell 82 Millionen deutsche MDPs (manisch-depressive Psychotiker)? Welch hanebüchene groteske Vor-Stellung wird dem Normalbürger da suggeriert! [Und wessen Pharmakonsum dafür kassiert?] ... Gerne glauben hingegen will ich die daran anschließende Statistik: „Jeder vierte Betroffene unternimmt einen Selbstmordversuch. 15 % versterben an Suizid“. Letzteres kann ich voll bestätigen: Siehe dazu meine psychiatriekritische Autobiographie: Eva-Maria Tepperberg, Etüden über Leben oder Ein langer Weg vom Wahn zum Sinn, Band I. Heidelberg: Edition Eramo 2003. Freilich bin ich nicht „nur bipolar“, sondern zusätzlich „schizoaffektiv“. Das verkompliziert die Sache enorm ... 125 Bei der mehrfachen Lektüre der Auto-Pathographie von Clemens Busson ist es mir genauso ergangen wie Dir: anhaltende, ja zunehmende Faszination ... Immer wieder fühlte ich mich angesichts der 5 Hauptkapitel des Textes erinnert an ein griechisch-antikes „Lösungsdrama“ in 5 Akten (Aischylos, Sophokles, Euripides), fast könnte man im Falle von Clemens Busson von einem „Er-Lösungsdrama“ sprechen. Immer wieder auch wurde ich erinnert an die Struktur der mehr als 300 Contes et Nouvelles - „Erzählungen und Novellen“ - eines Guy de Maupassant aus dem französischen 19. Jahrhundert: Auch hier immer wieder die typische, der antiken Dramen-Tragödie nachgebildete 5-Stufigkeit der formalen Gestaltung, mit „Einleitung/thematische Hinführung“ - „Steigerung“ (der Handlung) - „Peripetie“ (Umschlag der Handlung ins Gegenteil) - „retardierende/s Moment/e“ - „Katastrophe oder Er-Lösung“ ... Kurz: Dieser Mann hat viel begriffen, und ich zögere nicht, ihn zumindest potenziell für ein „genial“ zu halten. Und dies durchaus im Goetheschen Sinne des Geniebegriffs: „1 % Inspiration, 99 % Transpiration“. Freilich war Goethe selbst nicht „psychotisch“; er hat das delegiert - an seine Dramen- und Romanfiguren wie etwa an seinen Tasso (Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt ... ) oder an seinen Faust I, den er gleich auf den ersten 1 1/2 Seiten eine geradezu klassische „Mischpsychose“ produzieren läßt - natürlich in hinreißenden Versen ... oder an gewisse Figuren seines Wilhelm Meister-Lehr- und Bildungsromans ... Kurz: Die Sache mit „Genie und Wahnsinn“ ist ein zwar komplexes Ding, doch scheint Clemens Bussons Buch zumindest soviel zu beweisen, daß Genialität - zumindest in den letzten „2.500 Jahren unserer sog. (abendländischen) Geschichte - verbunden ist mit „tierischen“ Leidenszuständen, mit den Qualen eines Tantalos, Sisyphos, Prometheus, eines Cheiron vor allem: Qualen bis zur Unerträglichkeit. Siehe Busson insbes. Kap. IV, S. 43: „Bei einem Urlaub am großen See, den wir so sehr liebten, bemerkte ich immer wieder Würgeimpulse gegen meine Frau und sogar gegen mein Kind [...]. Schließlich kam es zum Zusammenbruch. Eines Abends, nach einem anstrengenden Tag, bemerkte ich plötzlich, dass mein Puls immer schneller ging und ich eine wahnsinnige Angst entwickelte. Diese Angst steigerte sich zur Panik [...].“ Oder S. 62: „Es kamen die letzten Tage. Es 126 trat ein Zustand ein, wo jeder Tag mein letzter war. Ich konnte mir nicht vorstellen, den Tag zu überleben. Nachts starb ich“. Das Lesepublikum möge sich selbst ein Bild davon machen, was da - im Sinne Deines o. g. Zitats „Eine [= so auch die hier vorliegende] psychische Erkrankung macht vor niemandem halt“ - noch alles auf es zukommen kann: Lektüre dieses Buches auch als Prophylaxe? Solche Horrorszenarien dürfen und werden mich selbst niemals attackieren? Und dies, zumal ein hoher Druck zur Identifizierung der LeserInnenschaft mit dem Autor gegeben ist. Wie letzterer es schafft, gleichzeitig mit der Erkrankung eine klassische Freudianische Psychoanalyse zu absolvieren, ist mir persönlich ein Rätsel. Und ich meine, der Verfasser dürfte doch über ein gerüttelt Maß an sogenannter „Ich-Stärke“ verfügen bzw. über ein relativ stabiles Ego: „[...] ich muß heute sagen, dass ich ohne Psychoanalyse nicht so aus dieser Krankheit herausgekommen wäre und mein Leben hätte neu aufbauen können. Die psychiatrische Therapie mit Medikamenten und vielfältigen anderen Therapien hat mich aus der depressiven Psychose geführt. Die Persönlichkeitsveränderung mit Aufgabe des falschen Selbst [...] und die vielfältigen anderen Veränderungen wären ohne Psychoanalyse nicht möglich gewesen“ (75 f.). Kurz: Implizite Empfehlung des Autors an alle von dieser Art Krankheitsbild Betroffenen: Kombinationstherapie aus zT hochdosierten psychiatrischen Medikamenten - und klassischer Psychoanalyse. Hospitalisierung versteht sich von selbst, im Falle von Busson lediglich 7 Monate Aufenthaltsdauer. Prof. Dr. med. Piet C. Kuiper brauchte 3 volle Jahre; doch dazu weiter unten. Die klingelnden TKK-AOK-Kassen Germaniens werden sich angesichts solcher Massenperspektive von Herzen freuen ... . Am größten freilich dürfte die Freude sein bei unsereins, dem neudeutschen RentnerInnen-„Prekariat“: Schon wieder eine Gesundheitsreform à la Ulla & Co.? In manchen Punkten, liebe Uschi, kann ich Dir freilich nicht ganz folgen: Einerseits gefällt mir Deine Toleranz gegenüber uns „Realos“ im BPE e.V., will sagen mir, als medikamentenabhängiger Bipolar-Schizoaffektiver, natürlich ganz besonders. Andererseits hingegen frage ich mich und Dich und Euch alle, Realos wie Fundis (Begriffe s. o. Kap. III.), ob Du vor lauter Begeisterung darüber, daß es einen solchen Prof. Dr. med. Busson in unserer Betroffenenszene überhaupt gibt, Deine Toleranz nicht etwas überstrapazierst - Du als medikamentfrei selbst- 127 geheilte Ex-Depressive zumal. Mir jedenfalls stellte sich bei der Mehrfachlektüre doch immer einmal wieder die Frage, ob hier nicht, aus gezielt ego-karrieristischen Gründen - schließlich startet der Mann zielsicher eine Karriere als Universitätspsychiater an, komplett ausgebildeter Neurologe ist er eh bereits - eine gekonnte explizite Pharmawerbung vorliegt, siehe zB S. 73: „Medikamentös wurde ich von Haloperidol [= Haldol, das mir persönlich monatelange schwerste suizidale „Ewigkeits“depressionen beschert/e, Hervorh. E.-M. T.] auf Perphenazin [nie gehört], ein anderes Neuroleptikum, umgestellt, weil Haloperidol auf Dauer zu bleibenden Bewegungsstörungen führen kann. Das Antidepressivum Amitriptylin [= Saroten retard, mein hervorragend wirkendes Suizidgift, in Höchstdosierung am 13.10.2000 runtergespült ...] wurde belassen, zusätzlich bekam ich, um den Antrieb etwas zu forcieren, morgens Nortriptylin [mir bislang unbekannt]. Frau Dr. F. [Bussons mutig warmherzige Psychoanalytikerin] war immer ganz erstaunt, dass ich so ruhig und voller Akzeptanz die Medikamente einnahm, weil viele andere Patienten sehr wegen dieser Medikamente herumstritten. Da kam aber ganz der Nervenarzt in mir zum Ausdruck, der genau wußte, dass diese Medikamente helfen“. Bussons Einstellung zur EKT [Elektrokrampftherapie] im zweiten Kapitel Die ersten Berufsjahre macht mich, ehrlich gesagt, liebe Uschi, ganz und gar ratlos. Führt er doch 10 Fälle total gelungener EKT-Behandlungen vor, Behandlungen, welche einen L. Ron Hubbard von vor 57 Jahren regelrecht Lügen zu strafen scheinen. Hubbard schreibt dort und damals (Dianetik. Die moderne Wissenschaft von der geistigen Gesundheit, S. 16): „Was die Brutalität bei der Behandlung von Geisteskrankheiten betrifft, so sind die Methoden der Schamanen oder der Bedlam-Anstalt (Anm.: ‚frühere Anstalt für Geisteskranke in London; berüchtigt wegen ihrer brutalen Methoden, darunter die „Wasserkur“’) von den ‚zivilisierten’ Techniken bei weitem übertroffen worden. Hier wird gewaltsam Nervengewebe durch Schocks und chirurgische Eingriffe zerstört, also mit Behandlungsmethoden, die sich durch die Ergebnisse nicht rechtfertigen lassen und die in der allerprimitivsten Gesellschaft nicht geduldet worden wären, da sie das Opfer zu einem bloßen Automatendasein herabwürdigen, den größten Teil seiner Persön- 128 lichkeit und seines Ehrgeizes vernichten und von ihm nicht mehr als ein gefügiges Tier übriglassen“. Demgegenüber der ehrgeizige Uni-Psychiater in spe Clemens Busson (bezogen auf Fallbeispiel Nr. 5, S. 34): „Ein anderer Patient verblieb monatelang in einer Katatonie und ‚schmorte’ in seinem Bett vor sich hin. Daraufhin wurde eine Elektrokrampftherapie angeordnet, der ich zunächst sehr skeptisch gegenüberstand, weil ich die ganzen Vorurteile gegen diese Therapie kannte, war aber auf der anderen Seite doch auch neugierig, dieses Verfahren kennen zu lernen. Schon nach dem zweiten Elektrokrampf machte der Patient seine Augen auf, wusch sich, zog sich gut an, sagte ‚Guten Morgen’ und konnte immer mehr am Stationsleben teilnehmen. Dieses Beispiel blieb mir im Gedächtnis haften und führte zu einer positiven Einstellung gegenüber der Elektrokrampftherapie, für die ich später auch einige Zeit zuständig war“. Wie gesagt, liebe Uschi: Ratlosigkeit meinerseits. Erinnerlich ist mir immerhin, daß mein langjähriger Hausarzt, Psychotherapeut und Ko-Autor (Nr. 2 und 3. s. o. S. 94), Dr. med. Heinrich Huebschmann in einer unserer psychosomatischen Sitzungen sagte: Berufene Psychopharmaka-, speziell Neuroleptikakritiker hielten die EKT für weitaus ungefährlicher als die jahrzehntelang zwangsapplizierte Gabe von psychiatrischen Medikamenten. Was kann, soll oder will unsereins dazu noch sagen. Schließlich plädiert ja sogar die renommierte Sozialpsychiaterin und seit 1991 in freier Praxis als Psychiaterin mit der Zusatzbezeichnung Homöopathie wirkende Carola Burkhardt-Neumann, freilich in höchst vorsichtiger und differenzierter Weise, für EKT, siehe ihr mutiges Buch Ähnlichkeit macht stark. Homöopathie und Selbstheilung bei seelischen Krankheiten, München: ZENIT-Verlag 2000, S. 175: „Selbstverständlich beziehen sich diese Hinweise [auf leichte und mittlere Formen von Depressionen] nicht auf jene Schwerkranken, die an einer endogenen Depression leiden und wegen des Suizidrisikos den Schutz einer Klinik brauchen. Bei diesen Krankheitsbildern kann keine Rede von einem Anpassungswert sein. Es sind lebensgefährliche Fehlregulationen. Auch hier kann eine Spontanheilung mit ziemlicher Sicherheit vorausgesagt werden, doch in diesem bedrohlichen Krankheitszustand muß aktiv eingegriffen werden. Manchmal ist die affektiv abschirmende Wirkung von Medikamenten nicht ausreichend, um den Patienten am Leben zu halten. Diese Zustände können 129 auf wissenschaftlich noch völlig ungeklärte Weise durch eine Elektrokrampftherapie oft entscheidend verkürzt werden. Allerdings sollte die Indikation zu diesem schwerwiegenden Eingriff nur von jemandem gestellt werden, der Depressionen differenzialdiagnostisch unterscheiden kann. Die Diagnose ‚Major Depression’ ist dafür keinesfalls ein ausreichender Hinweis“. Soweit also, liebe Uschi, zu meiner Ratlosigkeit in Sachen Clemens Busson, zu meiner Ratlosigkeit auch bez. Deiner Aussage: „Es ist unerheblich, wie man zur Behandlung mit Psychopharmaka und zur Psychoanalyse steht (!): Die Schilderung dieses praktizierenden Psychiaters ist lesenswert“. [Mich selbst hatten ab der Woche vom 18. Januar 1972 nur 4 Liegungen klassisch-freudianischer Psychoanalyse, eine Mini-Woche später, am 25. Januar 1972 schnurstracks in die Geschlossene Psychiatrie (Wiesloch und Uni-Klinik Heidelberg) katapultiert]. Du schreibst weiter, liebe Uschi: „Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, gegen eingefahrene Verhaltensweisen anzugehen. Anschauliche Beispiele könnten manche/manchen anregen, sich ein Beispiel daran zu nehmen“. Das könnte ich allerdings in Bezug auf meine eigene sehr anschauliche psychiatrische Autobiographie weiß Gott/Göttin nicht sagen: Eher möchte ich warnend den Zeigefinger heben und drohen: „Bitte nehmt Euch bloß kein Beispiel an dieser 35 Jahre und 6 Monate währenden Katastrophengeschichte mit an die/um die 45 (überwiegend) Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen in 11 Anstalten des In- und Auslands! Bloß nicht ich als Beispiel - quelle horreur!“ Weiter schreibst Du, liebe Uschi: „Der Text fesselt [ja: stimmt total] und ist gut verständlich geschrieben“ [auch das stimmt, wie ich gerne zugeben will]. Doch wie steht es um die stilistischen Kompetenzen des Herrn Professors? Ist es wirklich notwendig für das Textverständnis, auf nur 7 Seiten (Kap. 1 Vorgeschichte, S. 9-15) insgesamt 38 (!) mal das Wörtchen „auch“ zu verwenden? Freilich wissen wir alle, die wir in deutscher Sprache schreiben, daß die deutsche Sprache in der Tat extrem schwierig ist [siehe schon Gotthold Ephraim Lessing in der Komödie Minna von Barnhelm ein Franzose sinngemäß: Deutses Sprack swäres Sprack ...]. Um so mehr wäre im Falle Busson das Verlagslektorat angefragt gewesen. Aber wer wie ich über viele Jahre ebenfalls „Haag + Herchen“-erfahren ist und war, weiß, daß das Lektorieren dieses Verlags-„Hais“ [Eigenfinanzierung seitens der Vf.] noch nicht einmal in der Korrektur der Rechtschreibung und Zei- 130 chensetzung besteh (siehe mein bereits o. g. Haag + Herchen-Buch WAHN und SINN?, das eine meinerseits nach Auslieferung erstellte relevante Errata-Liste notwendig machte). Kurz: Der Deutsch-Österreicher Clemens Busson hätte halt seinen erheblichen Verwandten- und Kollegenkreis bemühen müssen, wie das in den USA gang und gäbe ist: So geht (Prof. Dr. med.) Jamisons „Danksagung“ am Schluß ihres Buches Meine ruhelose Seele. Die Geschichte einer manischen Depression von 1999 (Goldmann Tb 15030), amerikan. Original Un Unquiet Mind von 1995, an mehr als 60 namentlich genannte Personen ihres Umfelds, welche via Mithilfe jedweder Art beim Zustandekommen dieses faszinierenden Bestseller-Buches beteiligt gewesen waren. Und hier nun meine Basiskritik an Deiner wie auch immer brillant redigierten Buchbesprechung, deren (im Original) 12-zeiligen Abschluß ich hier in toto zitiere: „Ich wünsche uns, den psychiatrisch behandelten Menschen, dass weitere Professionelle, die psychisch erkrankt waren, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gehen. Möge es in Zukunft möglich sein, dies unter dem Geburtsnamen zu tun, ohne Konsequenzen für das persönliche Ansehen befürchten zu müssen. Es ist sehr bedauerlich, dass Professionelle mit derartigen Erfahrungen ihre Anonymität wahren müssen, um berufliche Nachteile zu vermeiden. Gerade Leute wie sie würden eine Bereicherung bei der Erarbeitung von primären präventiven Maßnahmen darstellen [welchen konkret im Falle des Kasus Busson?], da sie einen persönlichen Zugang zu psychischen Störungen haben“. Liebe Uschi, hast Du holländische Tomaten auf den Augen, Du als ehemals im Verlagswesen arbeitende schwabentüchtige Frau, daß Dir immerhin 3 bedeutsame autobiographische Leidensgeschichten von teils mono-, teils bipolaren Profis auf dem internationalen Buchmarkt entgehen konnten? Alle 3 schon seit Mitte/Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts auf dem deutschen Buchmarkt erschienen. So viel Uninformiertheit Deinerseits finde ich ausgesprochen beunruhigend, zumal es doch Dein wichtigstes Lebensthema geworden ist, Dich mit dem Krankheitsbild Depression aufklärerisch in der Öffentlichkeit auseinanderzusetzen. Kurz: Hier nur ein paar Zitate aus den jeweils einschlägigen Profi-Berichten “aus dem Herzen der Klinik“ zur Krankheit schwere Depression. Die ehemalige Kinder- und Jugendpsychiaterin Sigrid Wilms mit ihrem knappen (54 Seiten) Lebensbericht in: Sigrid Wilms/Ute Jarmer, Schwarzer Vo- 131 gel Depression. Die Entwicklung einer Depression und ihre Heilung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, S. 12 f.: „Der Schrecken dieser Krankheit wird dadurch noch vergrößert, daß sie sich nicht beschreiben läßt. Sie entzieht sich den Ausdrucksmöglichkeiten [...]. Für die Not des psychisch Kranken gibt es keine Worte. Das Elend kann nur mit Vergleichen umschrieben werden und trifft doch nie das unvergleichlich Quälende richtig [...]. Wie soll ich dieses Entsetzen nur beschreiben?“ S. 15 f.: „[...] auch der Vergleich einer Wüste bei Nacht umschreibt meinen Zustand nicht. Eher war es ein Einbrechen der Erde, vielleicht ein Leben in der Unterwelt, gottverlassen, ohne Mitgeschöpfe, ohne jeden Laut in vollständiger Finsternis, unheimlich, rätselhaft und voller Schrecken“. Und hier als Medizinischer Kommentar der älteren Schwester der Betroffenen, Ute Jarmer, ebenfalls Psychiaterin, der Sigrid Wilms verdankt, sich nicht hospitalisieren (lassen) zu müssen (S. 69 f.): „Die tiefe Depression ist das qualvollste aller Leiden, wie Menschen versichern, die in ihrem Leben auch schwere, sehr schmerzhafte körperliche Erkrankungen durchgemacht haben. Sie läßt sich nur annähernd beschreiben, letztlich nicht in Worte fassen“. Wie sehr kann ich selbst (Eva-Maria) diese Charakterisierung nachvollziehen: Ab dem 21.6.2006) plagte mich mehr als vier Monate lang ein schwerer Rheumaschub, quer durch alle Körperbereiche, Tag und Nacht. Schmerzen durch 2 Bandscheibenvorfälle und eine Wirbelkanalverengung kamen erschwerend hinzu (die riskante Operation wagen, oder nicht?). ABER: Ich war damals frei von Depression, dankbar für jeden Tag des frühmorgendlichen Erwachens - ohne jene namenlose Qual und Verzweiflung, die mich insgesamt über (wie viele Endlosigkeits-?) Jahre heimgesucht hatten. Dann Kortison. Kortison irre gefährlich. Bei MDP. Switch in Manie, erst „offene“ Psych, dann wieder „geschlossen“. Dort, eines Mitternachts, die 1001. Mittelohrentzündung meiner Vita. Dieser Extremschmerz dauert nur 5 bis 6 Stunden. Läßt sich allemal aushalten. Nicht auszuhalten war dann wiedermal wie allemal das Dauer-Inferno „danach“. Nur vier Monate Dauerqual. Lies mein „Versspitzengedicht“ DEPRESSION (S. 30). Selbst das hatte mich nicht mehr retten können. Vor dem Suizid. Nichts zitieren möchte ich Dir aus dem bereits erwähnten Buch der amerikanischen Psychiatrieprofessorin Kay Redfield Jamison. Dieser literarische Bestseller beschreibt die Zustände von Manie und Depression in derart hinreißender 132 und fesselnder Weise, daß ich Dir dessen Lektüre nachdrücklich ans Herz legen möchte. Mir sind an literarischer Qualität allenfalls noch 2 weitere Bücher von Nicht-Profis aus den USA bekannt, die das Krankheitsbild der „bipolaren Psychose“ authentisch beschreiben und sich der Brillanz einer Kay Redfield Jamison an die Seite stellen ließen: Da ist Der Klapsmühlentrip der bei Erscheinen in den USA 1990 (dt. 1993) 56jährigen Schriftstellerin, Allroundkünstlerin, Handwerkerin und Betreiberin einer Künsterlinnenfarm Kate Millet: „Depression ist Tod, die Färbung und Gewißheit des Todes. Paradoxerweise tritt die Depression dann ein, wenn du endlich die Krankheit bekommst, die sie dir in der manischen Zeit angehängt haben. Eine zeitverzögerte Reaktion, wenn man so will; die Verinnerlichung aller Verbrechen deiner Hoch-Zeit im Leiden deiner gefallenen sterbenden Zeit. Depression ist, wenn du dich mit ihnen einverstanden erklärst und dich ergibst“ (S. 320). Und da ist der explosive Bestseller Verdammte schöne Welt. Mein Leben mit der Psycho-Pille der bei Erscheinen des Buches 1994 unter dem Titel Prozac Nation (1994) erst 27jährigen Harvard-Absolventin Elizabeth Wurzel. (Deutsch 1. Berlin: Byblos Verlag 21994, 2. München: dtv 1994). Als Motto über diesem Werk könnte stehen: „Das ist alles, was ich mir im Leben wünsche: daß dieser Schmerz einen Sinn hat“ (S. 57). Schließlich und endlich ist der namhafte niederländische Uni-Psychiater Piet C. Kuiper zu nennen, ehemals Professor für Allgemeine Psychopathologie und Klinische Psychiatrie an der Uni Amsterdam, und zwar mit seinem 1988 im Original und ab 1991 in dt. Übersetzunge erschienenen Longseller Seelenfinsternis. Die Depression eines Psychiaters [zuletzt in 8. Aufl. 2003 als Fischer TB 12764, Reihe „Geist und Psyche“]. Daß Dir, liebe Uschi, als der Depressions-Expertin im BPE e.V. schlechthin, gerade dieses Buch nicht bekannt geworden ist, läßt mich nur noch staunen. Hieraus lediglich folgendes Zitat (S. 175): „Die Oberschwester bat mich wegen einiger Änderungen im Programm zu sich. ‚Sie wissen, daß Dr. Nolen gern möchte, daß Sie ihre Erfahrungen aufschreiben [3 volle Jahre hospitalisiert, unter schweren Antidepressiva langsam genesen ...]. Daß jemand mit Ihrer Fachkenntnis so krank wird und dann imstande ist, seine Erfahrungen zu beschreiben, wann kommt das schon vor? Wir brauchen mehr Einblick in die Selbsterfahrung von Patienten mit einer Melancholie’“. 133 Schlußendlich wieder zurück zu Deinem Ausgangsanliegen Clemens Busson, und zwar zu dessen Selbstaussage eine halbe Seite vor Schluß - letzter Er-Lösungssatz: „Ich habe meinen Platz im Leben gefunden“ (S. 77) - des Buches: „Ich selbst bin auch heute ein dynamischer Psychiater, d. h. ich verbinde sowohl Analytisches wie auch Psychiatrisches und Naturwissenschaftliches in meinen Therapien“ (Hervorh. E.-M. T.). Diese professionelle Selbstcharakterisierung ist so hanebüchen unverfroren, daß ich sie nicht unwidersprochen stehen lassen kann. „Dynamische Psychiatrie“, liebe Uschi, was ist das? Es ist die Schöpfung des größten deutschen „Anti“-Psychiaters des 20. Jahrhunderts, Prof. Dr. med. Günter Ammon (9.5.1918 - 3.9.1995). Günter Ammon, im eigenen Lande verfemt und bekämpft von seinesgleichen, galt im Ausland von den USA bis zur UdSSR als der bedeutendste deutsche Psychiater seiner Zeit. Hier ein einschlägiger Passus aus meinem schon mehrfach genannten Buch WAHN und SINN?: „Neue Wege in der Psychiatrie hat der Berliner Psychiater und Psychoanalytiker Günter Ammon beschritten“, schreiben Ilse Burbiel und Rolf Schmidts in ihrem Beitrag Zum Paradigmenwechsel in der Psychiatrie: Die Dynamische Psychiatrie Günter Ammons (a. a. O., S. 243 f.). „Die von ihm vor mehr als 20 Jahren [Berichtsjahr 1989] begründete Berliner Schule der Dynamischen Psychiatrie war von Anfang an eine ganzheitliche und prozeßhaft denkende und arbeitende, entwicklungsoptimistische Wissenschaft, die den Menschen nicht nur in seinen kranken, sondern in seinen gesunden Anteilen mitberücksichtigt. Der Mensch ist hier ein allgemein schöpferisches, grundsätzlich veränderbares, primär gruppenbezogenes und auf Identitätsentwicklung hin orientiertes Wesen. Körper, Seele und Geist des Menschen sind dabei untrennbar miteinander verbunden. In dieser Ganzheit ist der Mensch gleichzeitig mehrdimensional, d. h. er wird in allen Aspekten seiner Persönlichkeit und seinen Lebensbereichen gesehen, mit seinen Bedürfnissen, Möglichkeiten und Interessen, seinen kreativen, aber auch mit seinen nicht entwickelten und gestört entwickelten Persönlichkeitsbereichen, seiner Körperlichkeit, Sexualität, Androgynität, Religiosität u. v. a. Es wird deutlich, daß Kranksein nur eine menschliche Dimension neben vielen anderen ist, eine Reduktion des Menschen zum Krankheits- und Symptomträger lehnt Ammon ab“. 134 Hiermit, liebe Uschi, will ich meinen Offenen Brief an Dich beschließen. Ich hoffe, Du verstehst ihn nicht als maßregelnde Besserwisserei meinerseits, sondern schlicht und einfach als das, was er ist: Eine Erwiderung auf Deine schöne Besprechung, deren problematischer Abschluß nun mal auf Uninformiertheit beruht, auf Lücken im System Deiner Wahrnehmung zum gewaltigen und gewaltig tragischen Thema „Psychotische Depression“ bzw. „Depressive Psychose“. 135 V. In memoriam Dr. phil. HP Oskar N. Sahlberg 10.8.1932 - 23.8.2005 Zeugnisse aus dem „Nachlaß zu Lebzeiten“ eines bedeutenden Kulturwissenschaftlers, vielseitigen Bücherschreibers, Religions- und Phantasieforschers, Psychotherapeuten, Weltreisenden und in memoriam eine unvergessene Freundschaft Eva-Maria an Nisim - Oskar Sahlbergs „Osho“-Name in der Bedeutung „Wind / Windhauch“ Heidelberg, den 17. März 1991 Lieber Nisim, gestern erhielt ich Deinen neuen Text: faszinierend gestaltet und zu lesen und eine neuerliche Bestätigung aus Deiner Feder für die Tatsache, daß Mystik eine enorm exakte Angelegenheit sein kann (vgl. auch Robert Musil mit seinem Thema „Mathematik und Mystik“ in Der Mann ohne Eigenschaften, im Sinne einer (noch) zu erlösenden Utopie, insbes. S. 770, Zweites Buch / Dritter Teil ..., Kap. 12 „Heilige Gespräche ...“). Es geht in Deinem Essay - so wie ich ihn verstehe - vor allem um das Thema der Themen: den „TOD“, der Wahnsinn ist eher marginal angesprochen. Eine noch nachträgliche Aufnahme in unsere WAHN-SINNs-Anthologie ist leider nicht mehr möglich [immerhin bist Du ja bereits mit 2 Beiträgen in dem Buch vertreten]; ich lege Inhaltsverzeichnis und „Statt eines Vorworts“ bei, damit Du einen wenigstens oberflächlichen Eindruck von der stringenten Komposition unseres Opus’ gewinnst. Zudem sind die Satzarbeiten [bei Haag + Herchen] seit einigen Wochen voll im Gange. Änderungen jedweder Form sind nicht mehr möglich, nicht einmal konnte ich mehr erwirken, diesmal unter Doppel(nach)namen zu firmieren (Knapp-Tepperberg). Und wenn alles nach Plan und Wunsch geht, werden wir im August [1991] erscheinen. Dein neuer unwahrscheinlich erfahrungs- und gedankendichter Text stellt in mir die Frage, ob ich vielleicht doch noch eine vor ca. 2 Jahren geplante Anthologie herausgeben sollte mit dem Titel: IM ANGESICHT DES TODES. Untertitel: EROS ODER THANATOS: WOHIN STEUERT DIE MENSCHHEIT? 136 Motto: „ ... und der Tod wird nicht mehr sein“ (Offenbarung 21, 4). Ich hatte damals (Auslöser: der Schock durch den Unfalltod eines meiner 3 Neffen) bereits eine entsprechende Konzeption entwickelt und dazu auch massenhaft bibliographisches Material gesammelt. Doch möchte ich jetzt erstmal die Reaktion auf unser Wahn-Sinns-Buch abwarten, ehe ich mich neuerlich in ein derartig geld- und zeitaufwendiges Unternehmen begebe. Eigentlich wollte ich mich wiedermal der Literaturwissenschaft zuwenden und an meinem Dauerbrenner Mensch-Pferd ...) weiterstricken ... Vielleicht weißt Du jemanden, der das Herausgebergeschäft auf sich zu nehmen bereit wäre? [ ... ] Ich wünsche Dir auch weiterhin infinite bliss und sende Dir ganz herzliche Forsythiengrüße von Heidelberg nach Berlin, Deine Eva Heidelberg, 27. September 2006 Lieber Nisim, hier nun, ein wenig posthum, Dein großartiger Text unter dem Pseudonym Daniel Herold. Geb. 1933. Journalist. Rebirther. ZU NICHTS GUT Nirwana in Poona, Auschwitz, Berlin I. Anfang März 1990. Als ich die Tagesschau anschalten will, erwische ich den Offenen Kanal Berlin: Eine Menschenmenge tanzt um einen brennenden Scheiter- 137 haufen. Der verstorbene ist Osho, früher als Bhagwan bekannt. Seine Anhänger lachen, jubeln, sie feiern den Tod. Im August 1985 hatte ich wegen einer Reportage die Sannyas-Kommune in Oregon besucht. Ich staunte: Die meisten Deutschen, mit denen ich sprach, waren früher bei den Ostermärschen, im SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund], im KBW [Kommunistischer Bund Westdeutschlands] gewesen. Statt der revolutionären Wut von einst nun Enthusiasmus: Die Verwirklichung der Utopie, die Himmelsstadt in der Wüste, ein neues Jerusalem. - Fremdartig. Was ich kannte, waren Menschen verschmolzen im Rausch des gemeinsamen Hasses: Vor der Katastrophe von 1945; später die Komödie von 1968. Aber hier schienen die Menschen trunken in gemeinsamer Liebe. Exotisch: Eine Liebesaffaire, wie zwischen Sokrates und Christus und ihren Anhängern: Der Meister erlaubt den Jüngern, ihn total zu lieben und die ungeheure Liebesfähigkeit des Menschen, normalerweise eingesperrt, kann sich entfalten. - Ich hatte zur Vorbereitung einige Bücher des Meisters gelesen. Wie er Buddha und Laotse, Pythagoras und Jesus Christus vom Staub befreite und neu zum Sprechen brachte: Faszinierend einzigartig. Nun sah ich ihn selbst. Statt des schwerelos sich bewegenden, göttergleichen jungen Mannes, den ich in einem Film über Poona gesehen hatte, ein alter Herr, der wie ein Weihnachtsmann gekleidet war; sein Vortrag beeindruckte mich nicht übermäßig. - Eine Woche später die Sheela-Affaire: Seine engste Vertraute, die Leiterin der Kommune, brannte mit der Kasse durch. Die Utopie brach, wieder einmal, zusammen. Aber jetzt diese Feier im Fernsehen! Dazu Sätze, die er über seinen Tod gesagt hatte: „Es ist immer ein großer Augenblick gewesen, wenn der Meister den Körper verläßt; mit dieser Energie könnt ihr den Quantensprung machen. Der Tod eines Buddha ist die befreiendste Erfahrung, die es je auf der Erde gegeben hat. ... Wenn ich den Körper verlasse, wird mein Bewußtsein im ganzen Universum zugänglich sein ... Ich bin ein unheilbarer Träumer. Ich möchte, daß dieser Ashram die erste Synthese von Religiosität und wissenschaftlicher Auffassung des Lebens wird“. - Ich wurde neugierig, beschloß nach Poona zu fahren, nicht als Journalist, sondern als Abenteurer. ‚Ich lasse meine Intellektuellenuniform zuhause, den alten Charakterpanzer der zynischen Vernunft, und schlüpfe in die Rolle des Feld- 138 forschers, des teilnehmenden Beobachters. Ich werde versuchen, mich auf neue Erfahrungen einzulassen’. II. Poona. Die Gautama Buddha Halle. 7 Uhr abends. Darshan. Ich verschwinde unter tanzenden Menschen in weißen Gewändern. Indische Musik. Ein Sessel wird auf die Bühne gestellt. Die Musik wird dramatisch, bricht ab, alles wirft die Arme hoch, ruft: „Osho“. Nun ein Film vom Sommer 1988: Osho spricht über Zen. Am Ende einige Witze, dann leitet er die Meditation. Er gibt ein Zeichen: Ein Paukenschlag. Dann sagt er: „Ihr werdet verrückt. Redet in allen Sprachen, die ihr nicht könnt. Geht in den Irrsinn eures Kopfes hinein und befreit euch vom Müll des Verstandes“. Wieder die Pauke. „Werdet ruhig. Geht nach innen, tiefer und tiefer, in die Stille, in euren Kern“. Die Pauke. „Und jetzt sterbt ihr. Laßt euch in den Tod hineinfallen, er macht euch bewußter für euer Leben. Der Tod ist nur eine Fiktion. Berührt die Ewigkeit. Findet den Buddha in euch“. Die Pauke. Kommt zurück ins Leben, auferstanden, verjüngt, bewußt. Behaltet das Wissen, daß ihr Buddhas seid. Und jetzt feiert dieses Treffen tausender Buddhas“. Ich war in die Tiefe gefallen „Und jetzt sterbt ihr ...“ Mein Vater, er steht vor dem Tod, und ich mit ihm. Herbst 1944, ich bin 12. Am Fenster von Vaters Ingenieursbüro. Getrappel von Holzschuhen. KZ-Häftlinge, russische Kriegsgefangene, sie marschieren in die Fabrik. Ein junger Russe fällt auf den Boden, bleibt liegen. Ein SS-Mann läuft hin, brüllt, stößt den Russen mit dem Stiefel in den Bauch, nimmt das Gewehr, haut dem Russen mit dem Kolben auf den Kopf, sein Gesicht verzerrt sich, Blut schießt aus dem Mund, die Beine schlagen um sich. Der SS-Mann tritt ihm ins Gesicht. - Wir stehen da, wollen etwas tun, können nichts tun. Vater krümmt sich, stöhnt. Ich winde mich, würge, es krampft sich im Bauch, ich ersticke, erstarre. - Vaters Tod, mein Tod. Ein Schmerz im Innersten, ich lasse ihn zu, zum erstenmal ganz. Im Bauch steigt es hoch, schwarz und kalt, etwas zerbricht, bricht weg, fällt hinunter. Ich lasse mich kaputtgehen - werde ich von dem SS-Mann zertreten, in den Dreck gestampft? Al- 139 les Ich, alles Halt, Alles Wissen ist weg: Massengrab, Jauche, Scheiße, da drücken sie mich hinunter. - Jetzt trennt sich der Film: Ein anderer steht neben mir, er stand schon damals da: Ein Beobachter. Er schaut mich an, schaut mir zu, er ist frei. Osho schaut mich an. Ich merke, er hat mich in diese Szene hineingeschoben, er hat mir die Angst vor der Angst genommen. „Ich erlaube dir, das Grauen anzusehen. Das ist deine Wahrheit; sie ist dir verboten worden. Jetzt kannst du ertragen, was du damals nicht ertragen konntest. Das ist deine Todesmeditation. Und du darfst davon sprechen, auch wenn es niemand hören will“. Und nun zieht er mich aus dem Leichenhaufen des KZs heraus - in dem ein Teil von mir liegengeblieben war. „’Der Tod ist ein Meister aus Deutschland’, hast du gelernt. Ich bin der Meister des Todes“. Außen die Stimme: „Der Tod ist nur eine Fiktion ...“ Mein Vater auf dem Totenbett. In den Wochen nach jener Szene hatte er ständig davon geredet, geschrien. „Die Russen sind auch Menschen. Man muß etwas tun. Ich kann es nicht mehr mitansehen“. Er hatte jahrelang versucht einzugreifen, hatte Rüben und Kartoffeln für die Russen in die Fabrik hineinschmuggeln lassen. Er war bedroht worden - es würde ihm ebenso ergehen. Ich sehe, wie der junge Russe in ihm aufsteigt, ihn packen wird - Vater flieht in den Tod, nimmt sich das Leben. - Vater auf dem Totenbett, mit dem blutig zertretenen Gesicht des jungen Russen. Ein Vorhang wird von Vaters Gesicht weggezogen, ein Vorhang aus Toben, aus Entsetzen, aus dem Wahnsinn meiner Mutter: Ihr zerrissenes Gesicht - Medusa, Medea - löst sich auf. Zum erstenmal erkenne ich das Gesicht meines toten Vaters: Es strahlt. Frieden, Erlösung. Unausdenkbare Verwandlung. Der Tod ist das Tor zum Licht, zur ewigen Ruhe - das Geheimnis, das nicht zugelassen werden durfte. Unfaßbar: Die Katastrophe, die meine Familie zerstörte, das Trauma, das ich fast ein halbes Jahrhundert mit mir herumschleppte, das Loch in mir, der Abgrund: Mein größter Schatz. Der junge Russe mit meinem Vater vereint, meine Lehrer, meine Brüder: Mit welchem Geschenk bin ich bedacht worden. Das Gesicht meines Vaters ist entspannt, geöffnet, Licht geht von ihm aus, schwebt in die Höhe. Frieden, Nirwana. Nun schiebt sich Oshos Totenfeier herein, 140 über dem Scheiterhaufen Licht, Leere, Unendlichkeit. Oshos Tod hat mir den Tod meines Vaters erlöst. „Findet den Buddha in euch ...“ Ich bin leer, bin bei mir, ratlos. Es passiert nichts, ich nehme es an. Etwas entspannt sich. Flüchtig merke ich, daß ich voller Erwartungen war, Saugnäpfe einer namenlosen Gier, nach dem ganz anderen, nach dem Wunder. Jetzt ist das alles weg, ich falle in mich zusammen. Ein Schwindelgefühl. Halb im Rückblick sehe ich noch eine durchsichtige Hülle: Mein Ich, ein Krampf, ein Knoten, der mich festgehalten hatte; er hat sich gelöst. Ein Loch noch in der Hülle, Wind fährt hinein. Die Hülle bläht sich auf, dehnt sich aus. Einen Moment lang Angst, wahnsinnig zu werden. Da ist es geschehen. Das Ich hat sich ins Unendliche ausgedehnt, ist nicht mehr da. Leere, die etwas in mir immer suchte - und immer gehabt hat, ohne daß ich es wußte. Ich bin nicht mehr, aber bin, aufgewacht. So einfach ist es: Entspannen, loslassen. Osho lacht: „I am good for nothing. Ich bin zu nichts gut“. In meiner Stirn ein Blick, der ins Unendliche und Ewige sieht; einen Moment lang etwas dunkelblau Leuchtendes, glasig wallend. Dann Schweigen, leise rauschend? nein, still, ein Meer von Ruhe. Reine Bewußtheit: Der Zeuge, ein Korn von Ewigkeit, das in die Raum-Zeit gefallen war, jetzt wieder bei sich ist, im Wissen der Leere, der absoluten Freiheit. Mein Kern, nicht mehr meiner, wesenloses Wesen. Unnütz gewordene Wörter, zerfallen; Reste von Staunen, lösen sich auf. - Aus der Ferne sehe ich die Erde, den Raum, Wirbel darin, Filme: Die Zeit. Sie läuft vorwärts oder rückwärts, nach Belieben. Z. B. rückwärts: Das Leben meiner Eltern, vor dem Krieg, sie waren noch jung, ich als Baby, meine Geburt, meine Zeugung, die Eltern werden immer jünger, werden Kinder, sie sind sich nie begegnet, es hat sie nie gegeben. Oder vorwärts: Ich werde alt, gebrechlich, sterbe, bin nicht mehr, bin hier, im Leeren, in der absoluten Freiheit. „Kehrt zurück ins Leben ...“ Ich sehe meinen Körper, spüre ihn, er ist völlig entspannt, bis in die Zehen leise vibrierend, er fühlt sich gut an, ich gehe gern wieder hinein. Ah, jetzt. 141 „Feiert das Treffen tausender Buddhas ...“ Ich tanze in der Menge. In meiner Brust wird es warm - meine Geliebte in Berlin lacht mich an. Wellen von Glück. Die kullernden Laute eines exotischen Vogels, das Knarren der Bambusstämme, die rötlichen Wolken der letzten Abenddämmerung. Es ist gut. III. Man hat versucht, die biologischen Grundlagen der Meditation zu verstehen. Die Verschmelzung der Zellkerne bei der Befruchtung führt zu einer Energieexplosion, die vom Bewußtseinskern als Lichtentfaltung wahrgenommen wird. Dieser Lichtschein begrenzt sich allmählich, woraus eine Hülle entsteht, ein Organ der Wahrnehmung und des Energieaustausches. Es nimmt während der Schwangerschaft die Reize des Uterus auf und wird zu einer ersten Ichhaut, noch sehr flexibel und porös. Der Bewußtseinskern identifiziert sich zunehmend mit dieser Ichhaut und den Erfahrungen, die in sie eingeprägt werden. Die Geburt ist ein kataklysmisch-katastrophisches Ereignis, das der Ichhaut bleibende Strukturen gibt. Nach der Geburt identifiziert sich das Bewußtsein mit den auf die Außenwelt gerichteten Sinnen; es sucht, Lust zu gewinnen und Unlust zu vermeiden und paßt sich den Gesetzen der Außenwelt und deren Beschränktheiten von Raum und Zeit an. Im Kern des Individuums bleibt die Erinnerung an die Grenzenlosigkeit des Unendlichen und Ewigen erhalten, an die absolute Freiheit, die als Seligkeit erfahren wurde und deren Wiedergewinnung insgeheim das letzte Ziel alles Strebens bildet. Beim Sterben wendet sich das Bewußtsein nach innen und läuft die im Gedächtnis gespeicherte Lebensbahn zurück, zur Geburt, durch sie hindurch, bis zur Lichtexplosion der Befruchtung, durchquert sie und tritt ins Freie. Kehrt der Sterbende ins Leben zurück - etwa nach einer schweren Krankheit oder einem Unfall so wird ihn die Sehnsucht nach jener Freiheit nicht mehr verlassen. Fand eine derartige Nahtoderfahrung in der Kindheit statt, so kann sie im Erwachsenen wieder durchbrechen: Die Ichhaut zerreißt, an der alten Bruchstelle, das ursprüngliche Bewußtsein erwacht, im Jenseits von Raum und Zeit: Die Erfahrung der Schamanen, die Erfahrung Buddhas - Erleuchtung, Erwachen. erwachen aus dem Trie- 142 b-Ich, aus der tierischen Natur. Erfahrung des reinen Seins, des reinen Nichts Nirwana. Viele Mystiker näherten sich dieser Dimension, doch sie blieben Geistern und Göttern verhaftet: Über-Ich-Strukturen, Archetypen, Informationspartikeln aus der phylogenetischen, evolutionären Vergangenheit des Menschen, dazu noch von historischen Bildungen überlagert: Aus Häuptlingen wurden Kriegsgötter, die Über-Ich-Geschwulste des Patriarchats wie Indra und Wotan, Jehova und Allah. Erst Buddha (auch sein Zeitgenosse Mahavira) machte die mystische Erfahrung in völliger Reinheit. Er kehrte aus der Dimension des Nirwana zurück, um seine Erfahrung mitzuteilen, bewegt von Nächstenliebe, von Mitgefühl - Impulse, die in der Zellkernverschmelzung wurzeln, dem Liebesakt, dem Schöpfungsakt, auf der pflanzlichen Ebene, die die Grundschicht des menschlichen Organismus bildet und sich im Herzchakra manifestiert. Osho machte die gleiche Erfahrung wie Buddha, integrierte in sie noch stärker das Gefühl der Liebe und die Dimension des Körpers, als Heiligung desSexuellen. Er beschrieb die Erleuchtung als Ergebnis vollkommener Entspannung und Lockerheit: Der Ich-Tod, das Heraustreten aus dem Ich führt zu einem Gefühl der Bejahung des Seins und mündet ins Lachen. „Freut euch und feiert“, verkündet er, „Poesie ist meine Botschaft“. Auch im Westen gab es die mystische Erfahrung, oft sehr intellektuell, wie bei Plato, in der Gnosis und ihren Nachwirkungen bis zu Boehme und Hegel. Heute hat Grof gezeigt, daß das Erwachen in jedem Individuum angelegt ist und in einem systematisch verfolgten „Abenteuer der Selbstentdeckung“ erreicht werden kann. Diese bisher noch seltenen Erfahrungen vereinzelter Individuen erhalten eine merkwürdige Bedeutung in der Sicht von Teilhard de Chardin, der die Evolution als eine Entwicklung zu immer höherer Bewußtheit darstellte: Nach ungeheuer langen und langsamen Anfangsstadien tritt eine allmähliche und zunehmende Beschleunigung der Bewußtwerdung ein, bis sie schließlich in rasendem Tempo sich ihrem Ziele nähert, dem Punkt Omega, dem Ende der Evolution - der allgemeinen Erleuchtung. 143 IV. „Das kommende Jahrhundert wird die Männerwelt in einen Zwang nehmen, vor eine Entscheidung stellen, vor der es kein Ausweichen mehr gibt, mit keiner Konzession, mit keinem Blinzeln, mit keinem Schwarzhandel, mit keiner Emigration, sie müssen sich entscheiden. Das kommende Jahrhundert wird nur noch zwei Typen zulassen, zwei Konstitutionen, zwei Reaktionsformen: diejenigen, die handeln und hochwollen und diejenigen, die schweigend die Verwandlung erwarten -: Verbrecher und Mönche, etwas anderes wird es nicht mehr geben. Die Orden, die Brüder werden vor dem Erlöschen noch einmal auferstehen“. Das schrieb Gottfried Benn nach dem Holocaust. Im Flugzeug von Bombay zurück nach Berlin las ich Ditfurth: „Laßt uns ein Apfelbäumchen pflanzen - es ist soweit“ und Simmel: „Im Frühling singt zum letzten Mal die Lerche“. (Ich habe ein Faible für Simmel, seit ich in einem seiner Romane die Fabrik beschrieben fand, in der mein Vater arbeitete). Die Beobachtungen der Wissenschaftler, auf die sich beide Autoren stützen, lassen nur den einen Schluß zu: Die Zerstörung der Natur ist nicht mehr aufzuhalten, die Evolution auf unserem Planeten nähert sich rapide ihrem Ende. Ich dachte an meinen Vater, an den Russen: Aus der Sicht der Opfer wäre die ganze Veranstaltung besser unterblieben. War Auschwitz eine unverstanden gebliebene Generalprobe des Weltgeistes? Jetzt sitzen wir alle im Zug, der in die Vernichtung fährt. Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem sich die Einsicht ins nahende Ende allgemein verbreitet hat. Gier und Haß werden versiegen; die Menschheit als ganze, zum ersten Mal versöhnt, brüderlich-schwesterlich vereint, wird aus dem Trieb-Ich, dem Affen-Ich heraustreten und sich gemeinsam auf den Tod vorbereiten, auf die kollektive Erleuchtung, die Teilhard de Chardin kommen sah, auf das „Erlöschen“, das Benn ahnte. Er schrieb jene Zeilen, „unter Böen aus Nirwana“, in den Trümmern Berlins, in der Todesstadt, wo Auschwitz geplant wurde. Vermutlich hätte er Berlin als den richtigen Ort angesehen, um das Aussterben vorzubereiten: Die neue Hauptstadt als Stadt der Klöster, wo das Sterben gelernt wir, die Meditation, das Erwachen. „Welche Einstellung hat Zen zum Tod? 144 Lachen. Ja, Lachen ist die Einstellung des Zen zum Tod. Und zum Leben auch, weil Leben und Tod nicht getrennt sind. Deine Einstellung zum Leben wird auch deine Einstellung zum Tod sein, weil der Tod als das höchste Blühen des Lebens kommt. Das Leben existiert für den Tod, das Leben existiert durch den Tod. Ohne den Tod wird es überhaupt kein Leben geben. Der Tod ist nicht das Ende, sondern der Höhepunkt, das Crescendo. Der Tod ist nicht der Feind, sondern der Freund. Er macht das Leben möglich. So ist die Einstellung des Zen zum Tod genau die gleiche wie die Einstellung des Zen zum Leben - nämlich Lachen, Freude, Feiern. Und wenn du über den Tod, im Tod lachen kannst, bist du von allem befreit. Dann bist du Freiheit. Wenn du nicht über den Tod lachen kannst, wirst du im Leben auch nicht lachen können, weil der Tod ständig näher kommt. Jede Handlung im Leben, jede Bewegung im Leben bringt den Tod näher. Jeden Augenblick, den du lebst, kommst du dem Tod näher. Wenn du mit dem Tod nicht lachen kannst, wie kannst du mit dem Leben und im Leben lachen? Andere Religionen sagen, man braucht sich über den Tod keine Sorgen zu machen, man braucht ihn nicht zu fürchten, weil die Seele ewig ist. Zen sagt: Es kann keinen Tod geben, denn es gibt dich nicht. Es gibt niemanden, der stirbt. Sieh den Unterschied - es gibt niemanden, der stirbt. Das Selbst existiert nicht, also kann der Tod dir nichts wegnehmen. Das Leben kann dir nichts geben, und der Tod kann dir nichts nehmen. Es gibt keinen Sinn im Leben und keinen Sinn im Tod. Es gibt niemanden, der stirbt“. (Osho Rajneesh: This Very Body The Buddha). Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet! Das Lebend’ge will ich preisen, Das nach Flammentod sich sehnet. 145 Eva-Maria an Nisim, 28.9.2006 Hallo lieber Nisim, „Windhauch“: Am 21.7.2006 rufe ich Deine Freundin Erika in Berlin an [Dr. phil. Erika Runge, Jg. 1939]. Ich will wissen, ob sich jenes Buch-Manuskript in Deinem Nachlaß gefunden hat, von dem Du mir, viele Jahre zuvor, enthusiastisch berichtet hattest. Das PC-Manuskript Deines Interview-Buchs mit Prof. Dr. med. Günter Ammon. Du hattest mich eines Sonntags aus dem Spandauer Psychoknast (Nervenklinik Berlin-Spandau) zum Spaziergang oder Freigang in Begleitung an euren wunderschönen, noch ungewendeten Wannsee herausgeholt. Nebbich neben dem Psychoknast der Krimiknast (Kriegsverbrechergefängnis der Alliierten Berlin-Spandau). Darin, noch immer in Einzelhaft, unter Isofolter ad vitam aeternam meditierend: Rudolf Heß (26.4.1894-17.8.1987. Vorgewendet mit 93 suizidal verstorben). Erikas Antwort war niederschmetternd für mich: Nach dem Verkauf Deiner „alexandrinischen“ Privatbibliothek - eine Sisyphusarbeit muß das gewesen sein - habe sie und Deine Lebensgefährtin Dani [Daniela Elbracht, Bibliothekarin, Jg. 1959, s. u.] bei voller Berufstätigkeit beider Frauen nichts anderes zu tun gehabt, als Deinen sonstigen Nachlaß in 31 (einunddreißig!) Umzugskartons zu verpacken: Zahllose Manuskripte und Audio-Kassetten (eigener Vorträge, eigener Assoziationen) sowie Recherchen zu Deinem opus magnum von 2004 Reisen zu Gott [und Rückkehr ins Leben. Tiefenpsychologie der religiösen Erfahrung: Jesus, Buddha. Tantra, Alchemie. Osho, Goethe. Jünger, Ka-Tzentnik, Picasso. Trimurti]. Mit Sicherheit würde sich bei entsprechender Suche unter dem gewaltigen Material auch das Ammon Buchmanuskript finden; doch schreibe Erika gerade an einem eigenen Buch über ihre sensationell neue und sensationell effiziente Psychotherapie-Entdeckung, ganz abgesehen von ihrer therapeutisch zu betreuenden alltäglichen Klientel usw. ... So müsse sie die entsprechende Suche nach dem Ammon-Text fürs erste zurückstellen. Also nehme ich, lieber Nisim, diesen Sachver- 146 halt zum Anlaß, Deinen Abschlußtext zu meinem schon mehrfach genannten Buch WAHN und SINN? 30 Frauen und Männer nehmen Stellung von 1991 hier noch einmal abzudrucken: Ein Leserbrief Betr.: Psychologie heute, Juni 1989: Tut-Ench-Ammon [= unmittelbar vor der postgermanischen Wende] Sehr geehrter Herr Ernst, im Juniheft Ihrer Zeitschrift wird eine Art Krimi-Monster namens Günter Ammon vorgestellt, das „immer noch als Psychotherapeut praktizieren darf“ also schnellstens durch ein Berufsverbot unschädlich gemacht werden müßte. Der Verfasser des Artikels, der sich nach seinen Büchern gegen Janov (1980) und gegen Freud (1982) nun Ammon als Zielscheibe genommen hat, ist Angestellter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen [Herv. E.-M. T.] und hat jetzt seine frühere Mischung aus mechanischem Rationalismus und amtskirchlichem, erfahrungsfreien Glauben zu inquisitorischem Eifertum gesteigert; von Sachlichkeit oder gar von christlichen Tugenden wie Liebe und Demut ist da wenig zu spüren. Die „Aufklärung“, auf die Sie sich in ihrem Editorial berufen, entstand im Kampf gegen die Kirchen, denen es um Macht, und nicht um Heilung und Heil der Seele ging. Und so gibt es seit jener Zeit Seelenärzte, wie z. B. Günter Ammon, dessen Bedeutung ich skizzieren möchte. Lange Zeit wurden Psychosen von Psychiatern und Psychoanalytikern als nicht heilbar angesehen; die Diagnose „Schizophrenie“ war ein seelisches und soziales Todesurteil. Wilhelm Reich in seiner Spätzeit durchbrach dieses Tabu. Dann wagten es z. B. Laing, Benedetti und auch Ammon [Herv. E.-M. T.], in die Schluchten und Schächte des seelischen Todes hinabzusteigen, um Licht dorthin zu bringen, und Hoffnung und Heilung für Menschen, die in frühesten Schmerzen 147 erstarrt waren. Um dies zu seiner Lebensaufgabe zu machen, muß man ein Maß von optimistischem Vertrauen in die Menschliche Natur, von geradezu missionarischer Überzeugtheit und auch von Risikobereitschaft besitzen, das auf viele Fachkollegen wie Fanatismus, ja wie Irrsinn wirkte und daher Ablehnung und Anfeindung erzeugte. Unbeirrt führte Ammon den Ausbau seiner Theorie, seiner diagnostischen Techniken und seiner therapeutischen Verfahren weiter, was schließlich in seine Sicht des „Mehrdimensionalen Menschen“ mündete, die alle Bereiche des Lebens, von der Arbeit und Politik bis zum religiösen Erleben umfaßt; letzteres findet sich ganz ähnlich bei Reich, Laing, Benedetti, eben aufgrund gleicher Erfahrungen mit den Patienten. Ammon ging besonders große Risiken ein, da er der Ansicht ist, daß nur ein Mensch, der das Leiden selbst gekannt hat, es auch verstehen und heilen kann, und so nahm er Ausbildungskandidaten an, denen es in manchen Fällen nicht gelang, die eigenen tiefsten Ängste und Verletzungen zuzulassen und aufzulösen, sodaß sie abbrachen und zu fanatischen Gegnern der Dynamischen Psychiatrie wurden. Die Klinik Menterschwaige, eine der wenigen „antipsychiatrischen“ Oasen der Bundesrepublik [die einzige diesbez. Oase in D überhaupt? ... Anm. E.M. T.], wo die Patienten die Chance haben, der lebenslänglichen Stillegung durch Psychopharmaka zu entkommen, wurde 1985 durchsucht. 150 Polizisten mit Maschinenpistolen und Schäferhunden holten die 56 Patienten aus den Betten und behandelten sie erkennungsdienstlich, als ginge es um ein Terroristennest - eine absurde Überreaktion der staatlichen Stellen, die Erinnerungen aufsteigen läßt, z. B. an die Zerstörung des Instituts von Magnus Hirschfeld (Berlin 1933) oder desjenigen von Wilhelm Reich (USA 1952); beide starben bald danach [Wilhelm Reich (24.3.1897-3.11.1957) fällt letztlich den Säuberungsaktionen des sog. McCarthyismus zum Opfer. Wird mit 60 1/2 im Gefängnis umgebracht. Vermutlich durch Gas. Zu Tode gejagd von einer ebenso willigen wie frigiden US-Hexe der Food and Drug Administration = F.D.A.. Anm. E.-M. T.]. Ammon hatte mehr Glück, und eine stabilere Konstitution; die Klinik existiert noch [gottseidank! Anm. E.-M. T.], und er überlebte die beinahe tödliche Krise während der Gerichtsverhandlung, die bis jetzt nicht abgeschlossen ist. Um ein objektives Bild von Ammon zu zeichnen, wäre es fair und rechtsstaatlich gewesen, den Ausgang des Prozesses abzuwarten.* 148 Mit freundlichen Grüßen Oskar N. Sahlberg * Das Verfahren ist inzwischen abgeschlossen: Es endete mit einer Einstellung wegen Geringfügigkeit. Auch die verwaltungsrechtlichen Auseinandersetzungen um die Klinik Menterschwaige, die von Dr. Kathke, dem Leiter der Münchner Gesundheitsbehörde, ausgegangen waren, sind mit Erfolg für die Klinik abgeschlossen worden. Die Regierung von Oberbayern schloß sich in ihrem Entscheid der Klinik Menterschwaige an. Eva-Maria an Nisim: ante festum Herrn Dr. phil. Oskar N. Sahlberg c/o Kliniken Beelitz Paracelsusring 6a Stat. IST D – 14547 Beelitz-Heilstätten Heidelberg, 22.12.2004 (Winterbeginn) Lieber Nisim, welch eine Nachricht, die Daniela mir da gestern abend tel. überbrachte überbringt. Welch eine Schockbotschaft ... Ich komme gerade aus der hauseigenen Waschküche hoch, im Aufzug drei Stockwerke hoch und – mit wäschegeleertem dann wieder mit Büchern gefülltem bücherprallgefülltem Wäschekorb aus mietwohnungseigenem Kellerraum hoch ... Endlich auch die letzten Nisim-Bücher hochgehievt ... Benn und Gautier und Moksha und May und Baudelaire in freudiger Erwartung auf die letzten Nisim-Bücher (aus dem Keller) wartend in einem obersten Regalfach – neben Gautier „Auf der Suche nach dem Anderswo“ Band II mit dem irren Layout ... Ich habe dieses Layout total strukturidentisch in einer Szene meiner sog. Reinkarnati- 149 onstherapie gesehen [Past Life Therapy am Stuttgarter CMI / Prof. h. c. Ingrid Vallieres, Winfried Rank] ja gesehen, tränengefühlt (wieder)erlebt – androgyn und homosexuell spirituell erigierte Weibmänner ... Zwei sich augenandachtbespiegelnde Grosse Liebende, mein („damaliger“) Vater und dessen lover (meine „heutige“ Schwester) – der sollte mein Ehemann werden ... Liebesverrat ... lichtende Aura um die erigierten Glieder ... Meine Verzweiflung über den Verrat ... Vater [je me répète = als meine später so „wahnsinnig spirituelle“ Schwester Annedore (von Deinem Freund Henner Ritter zur Rebirthing-Therapeutin ausgebildet ...). Ja, Verzweiflung total [im „damaligen Parallelleben von heute“: Einsteins E=mc² ganz schrecklich körpernah, mit Haut und Haar] ... Renne zum Stall, schwinge mich auf mein Pferd – und stürze mich in die felsige Tiefe hinab stürze und stürze und stürze ... Wann der Aufprall? Ross und Reiterin zerschmettert wann wann wann ... Soo, exakt so fühlt es sich „heute“ an, wenn die Qual der Qualen im Solarplexus die nächste Sterbedepression ankündigen tut ... („La thérapie de la réincarnation est La Voie Royale de toutes les thérapies“, sagte meine Pariser Bekannte Karin Theelen bei einer Zu-fallsbegegnung «von einst». Heute gebe ich ihr recht Recht RECHT) ... Hallo Nisim, laß Dir Zeit, atme sehr behutsam und langsam, ohne power, ohne Druck, jenseits Deiner gewohnt powrigen Schwimm- und Jogging- und Rebirthing-Exerzitien ... atme selbstvergessen und hoffnungsvoll - - - so wie der Luftröhrenschnitt es gerade zuläßt STOP Sei ganz im Hier und Jetzt, wolle nichts mehr erzwingen. Wolle nichts mehr wollen. Dein opus magnum, 444 Seiten dicht und farbintensiv gebunden, ist zur ge-rechten Zeit erschienen ... Du darfst endlich etwas ruhen, Ruhe finden in Dir selbst. Dani und Erika führen den Kampf mit Deiner Privatkasse/Beihilfe (bin empört über deren zögerlich hinhaltendes Gebaren): Du darfst Dich freuen, vielleicht schon ab Anfang des Neuen Jahres 2005 wieder in Deinen eigenen vier Wänden zu sein, betreut zu werden (ähnlich anders wie ich selbst schon lange und länger Tag um Tag – bringen sie mir morgens die Medikamente für den Abend – alle 3 bis 4 Wochen kommt die hervorragend qualifizierte junge amtsgerichtliche Betreuerin Frau Dipl. Gerontologin U. F. zu mir in die Wohnung ... ). 150 Ja, auch bei mir dreht sich alles nur noch ums liebe Geld. Aber, nun höre und staune: Seit ich Deine phänomenale „Rezension“ zu meinem zehnten/elften Buch kursieren lasse (siehe auch Anlage Dorothea Buck, Bundesverdienstkreuz 1. Klasse für ihren Lebenskampf um die Rehabilitation der psychiatrischerseits verfügten Zwangssterilisationen und Euthanasiemorde vor dem offiziellen Beginn des 1000jährigen Reiches 1933 bis 1945. Nein bis heute: es sterben pro Jahr an den Folgen der sog. Medikamente mehrere 1000 Menschen allein in D, Suizide nicht inbegriffen, Suchtkrankheiten wie Alkoholismus nicht inbegriffen ... Diesen Kampf kämpfe ich selbst auf meine meschuggene Art und Weise weiter, solange die Kraft noch reicht...). Lieber Nisim, höre und staune: Seit ich Deine Superrezension zu meinen Etüden über Leben weiterreiche und nach Gebrauch sofort zurückerbitte, zückt doch jeder meiner Ärzte spontan das Portemonnaie und bezahlt mir die von mir erbetenen 10 € cash! Dasselbe gilt für andere betuchte Bekannte, Freunde – und Betroffene. Ich brauche zur Bezahlung der laufenden Rechnungen nicht mehr bis zum nächsten Ersten abzuwarten (an „Schulden“ nur noch die mtl. Ratenzahlungen für Hörgeräte, Zahnersatz u.dgl.m.). Noch bevor ich von Deinem Schlaganfallschicksal (-schaffsal?) erfuhr (hatte ja selbst einen „Minischlaganfall“ anno 1997, „Nebenwirkung“ bzw. Langzeitfolge des Psychomedikaments Clozapin/Leponex, drei Endlostage und -nächte buchstäblich Sprach Los und nachtinkontinent noch dazu: Hausärztin läßt mich in die Psychiatrie befördern (!) diese blaulichtern sofort in die Kopfklinik diese anschließend in die Thoraxklinik Verdacht auf Lungenentzündung bestätigt usw. usf. etc. pp. ... Das kommt alles in einer meiner nächsten Auto-Fiktiones zu fiktiver Sprache ... Nein, ich schreibe keine Fußnoten mehr, nur noch Klartext in Klammern ...) [Satz bricht schmerzerfüllt hier ab ... ]. Hallo Nisim, laß Dir unendlich viel Zeit mit der Lektüre dieser Zeilen, wolle nichts aber auch gar nichts mehr erzwingen. Deine Lebensleistung macht Dir so schnell keine/r nach. Du darfst Dich dem Wortsinne nach „auf Deinen Lorbeeren ausruhn“. Es ist alles vollbracht. Dani hat mit viel Kernkraft Deine alexandrinische Bibliothek so umgestellt und angeordnet, daß Du in dem von Dir in jahrzehntelanger Mühe geschaffenen Rahmen gelassen Deiner Teil- oder Vollgene- 151 sung entgegenleben darfst. Ich bete zu Jesus dem Christus (meinem „Guru“ vom Grünewaldschen Isenheimer Altar), zu IHM, der androgynen kosmischen ENÉRGEIA, bete ich, daß Du Dir selbst und uns allen noch lange erhalten bleiben mögest ... Lieber Nisim, bist Du damit einverstanden, daß ich in meinem nächsten (elften) Buch (in ca. 3 bis 5 Jahren „so Gott will und wir leben“ pflegte mein Hl. Vater von Moses und Luthers Gnaden Geert Wolfgang Lothar Tepperberg zu sagen) ... ist es auch in Deinem Sinne, wenn ich Ausschnitte aus Deiner fulminanten Briefrezension vom 21. Juni 2004 in diese geplante authofaction übernehme, mit Angabe von Autornamen und Geburtsdatum vom 10. August 1932? Pause Soeben hat mich meine anthroposophische Betreuerin mit ihren beiden süßen Vorschulkindern (einem Pärchen aus älterem Bruder und jüngerem Schwesterlein) besucht und mir sehr ruhig gesagt: Du brauchtest Dir keine Sorgen zu machen. Du könnest wieder voll und ganz auf die Beine kommen (altersunabhängig). Wichtig sei die rehabilitative Nachsorge, und wichtig wäre [was ich selbst auch praktiziere] Dich zusätzlich kompetent mit Homöopathie zu versorgen, also sozusagen médecine dure mit médecine douce zu kombinieren. Ich meinerseits will versuchen, Dich mit „Reiki“ fernzubehandeln, sofern es Deine Seele zuläßt und sofern es Deinem weiteren (Kundalini-) Prozeß entspricht. War das mal eine lange, in(ter)kontinent(al)e Epistel. Mach Du bitte beim Lektorieren immer wieder große schnaufige Pausen (nur nicht so wie im Augenblick ich selbst, mit einer cigarillo brasil auf meinen 2 Ost-Westbalkönchen (bei Heidelberger 0,5 frostigen Graden). Piano andante largo serioso ... Dir im Kreise Deiner Lieben eine ruhige entspannte Festtagszeit, dies wünscht Dir von Herzen, tout en t’embrassant bien cordialement Deine Eva 152 *** Sehr große Winde waren dies, hin über alle Angesichte dieser Welt, Sehr große Winde jauchzend durch die Welt hin, die weder Horst noch Lager hatten. Saint-John Perse Wir trauern um unseren Freund Oskar Sahlberg 10. 8. 1932 - 23. 8. 2005 Dani Elbracht Harald Eggebrecht Walter Gontermann Dani an Eva-Maria, 29.11.2005: post festum Liebe Eva, Tilman Lehnert Erika Runge Eberhard Sens 153 danke für Deinen Anruf. Es tut mir sehr Leid, was Dir widerfahren ist [psychiatrische Zwangsbehandlung in zwei verschiedenen Kliniken Wendegermaniens] auch im Hinblick auf die Gedenkfeier, an der Du nun nicht teilnehmen konntest. Ich hoffe, es geht Dir inzwischen etwas besser, aber Deine Stimme auf meinem AB klang noch nicht so frisch. Ich bin die nächsten Tage telefonisch schwer zu erreichen, deshalb der Antwortbrief. Tja, wie war die Feier? Ich vermag es ehrlich gesagt nicht zu beurteilen, weil ich aufgrund meiner seelischen Verfassung [als langjährige Lebensgefährtin von „Ossi“] alles wie „durch Watte“ wahrnahm. Die Urnenbeisetzung am Vortag und die Riesenfete waren eigentlich mehr als ich verkraften konnte. Ossis Urne in einem Erdloch verschwinden zu sehen, war gar nicht lustig! Leider habe ich mich, Ossis Asche zu behalten, nicht durchsetzen können. Unfairerweise redeten drei Leute diesbezüglich auf mich ein, als ich schluchzend an Ossis Totenbett saß! Angeblich ist es besser für mich und andere, wenn Ossi auf dem Friedhof liegt. Ich bezweifle das. Aber man ist wehrlos in einer solchen Situation. Auf der Feier selbst traf ich eine Unmenge Menschen, von denen ich nie etwas gehört oder gesehen habe. Ossis Freundes- und Bekanntenkreis war riesig schätzungsweise waren zeitweilig zwischen 70 und 100 Personen anwesend. Erika machte die Moderation, es wurde viel vorgelesen (auch aus Ossis Buch), ein Afrikaner und ein Deutscher machten Trommelmusik und Ossis Freund Herbert spielte Akkordeon und sang dazu. Man hatte darauf geachtet, daß von Ossis Lieblingsdichtern (Benn, Pound, Perse) einiges vorgetragen wurde. Walter Gontermann [Schauspieler in Köln], Ossis bester Freund, war an der Programmgestaltung zum großen Teil beteiligt. Er war mein Übernachtungsbesuch und von Donnerstag bis Montag in Berlin. Walter war zur Stelle, wenn ich in Tränen ausbrach, reden wollte oder einfach mal einen „starken Mann“ brauchte. Mein Retter in der Not! Während der Party, genauer gesagt in der Pause, schüttelte ich unzählige Hände und ließ ca. 1 Million Umarmungen über mich ergehen - ich „hielt Hof“! 154 Es ist mir wohl gelungen, meine „Charme-Truhe“ zu öffnen, ich habe einige Herzen gewonnen, obwohl ich viel lieber meinem Fluchtreflex gefolgt wäre. So war ich auch nicht in der Lage, etwas vom Buffet zu mir zu nehmen, ich war viel zu nervös und hielt mich den ganzen Abend an einem Glase Wasser fest! Im Laufe des Abends wurden die Leute immer lustiger, Walter linste von Zeit zu Zeit zu mir herüber um zu prüfen, ob ich noch „standhaft“ war - so gesehen war die Feier ein Erfolg: die Leute hatten ihren Spaß und ich habe durchgehalten. Und ich vermisse Ossi ganz schrecklich! Vielleicht habe ich Dich schon danach gefragt: möchtest Du ein Portraitfoto von Ossi auf dem Totenbett? Manche Leute haben Berührungsängste und lehnen ab [Eva-Maria nicht] - was ich durchaus akzeptiere. Wenn Du willst, bekommst Du auch noch Bilder aus „gesunden“ Tagen [Eva-Maria will]. Entscheide Du! Es ist nicht eilig, ich muß ohnehin Fotos nachmachen lassen - viele Menschen wollten ein Bild. Liebe Eva, den ganzen Tag war ich heute von Kopfschmerzen geplagt, und nun bemerke ich, wie sich während meines Schreibens an Dich die „Eisenklammer“ gelöst hat; außerdem habe ich mir zwischendurch eine Einheit „heulendes Elend“ gestattet - gute Therapie! Noch eine Bitte: ich kopiere immer meine Briefe, aber es ist schon 19.00 Uhr und der Kopierladen hat zu. Damit Du den Brief so bald wie möglich bekommst, will ich nicht bis morgen warten, sondern ihn mit der Nachtpost noch rausschicken. Darf ich Dich bitten, mir eine Kopie zuzusenden? Rückumschlag lege ich bei, damit Du keinen zusätzlichen Streß hast. Es wäre sehr lieb von Dir. Ich hoffe, daß mein „Bericht“ Dir einen Eindruck der Geschehnisse vermitteln konnte. Weiterhin gute Besserung und liebe Grüße. Ich umarme Dich Dani 155 Ich meinerseits bin Daniela Elbracht (26.3.1959) dankbar, daß sie mir ihren so lebendigen und authentischen Brief für unser aller potenzielles Lesepublikum zum Abdruck freigegeben hat. Möge Nisims Beispiel und das seines persönlichen Umfelds in uns allen einen Prozeß des Um- und Neudenkens über das Leben und über den sogenannten Tod danach in Gang kommen lassen. Heidelberg, 7. Juli 2007