WORT FUR WORT WORD FOR WORD 2013

Transcription

WORT FUR WORT WORD FOR WORD 2013
WORD FOR WORDWORT FUR WORT
:
D e u t s c h e s L i t e r a t u r i n s t i t u t L e i p z i g (DL L)
C o l u m b i a Un i ve r s i t y S c h o o l o f t h e A r t s / Wr i t i n g
II
:
RD
O
W
T
R
R
O
O
F
UR W WORD
F
T
R
O
W
2013
Literary work in collaborative
translations by students from
Columbia University’s School
of the Arts Writing Program
and the Deutsches Literaturinstitut Leipzig
Literarische Texte von Studenten des School of the Arts
Writing Program der Columbia
University und des Deutschen
Literaturinstituts Leipzig
gemeinschaftlich übersetzt
013
2
t
r
o
w
ort für
w
/
d
r
o
rw
word fo
D e u t s c he s L it e r a t u r i n s t it u t L e ip z i g (DL L)
C o l u m bi a Un i ve r s i t y S c ho o l of t he A r t s / Wr i t i n g
Columbia University and the
University of Leipzig gratefully
acknowledge the support provided
by the U.S. Consulate General
Leipzig for translation workshops
held in Leipzig in October 2012,
and additional support from the
Austrian Cultural Forum.
Die Columbia University und die
Universität Leipzig danken dem
Amerikanischen Generalkonsulat
Leipzig für die Unterstützung von
Übersetzungsworkshops in Leipzig
im Oktober 2012, mit zusätzlicher
Unterstützung vom Austrian
Cultural Forum.
Cop yright 2013 by the authors and translators
Columbia University School of the Arts / Writing
Deutsches Literaturinstitut Leipzig (DLL)
Design by Mat vei Yankelevich / Don’t Look Now!
Covers printed letterpress at Ugly Duckling Presse
Books printed and bound at Thomson-Shore
mayer Magruder
n
e
h
c
r
i
K
Kevin
Ursula
a nn
m
l
e
d
uick
a
t
Q
S
n
e
a
n
y
a
r
i
B
Jul
üller Sur
m
e
s
e
Ellen W
Rachel
wski
auf
o
h
k
ü
a
r
F
M
l
d
Davi
Michae
Foreword
Vorwort
Word for Word—the Columbia University / University of
Leipzig Literary Translation exchange program—was conceived
in 2011 in the belief that when writers engage in the art of
literary translation and collaborate on the translations of each
other’s work, the experience will broaden and enrich their
linguistic imaginations. The program, which now concludes its
second year with the publication of Word for Word / Wort für
Wort 2013, has met, and surpassed, its intent to encourage fresh
and exciting approaches to literary styles and forms. Cultural
horizons and worldviews have been expanded, friendships and
artistic partnerships have been forged, and a new model for
cross-cultural engagement between Germany and the United
States has been successfully established. For the students
fortunate enough to participate, this program has provided a
significant artistic and humanistic experience. And for German
and American readers, this book offers an introduction to
the work of eight exceptionally talented writers who have
transcended the borders of language and culture at the very
outset of their literary careers.
Wort für Wort, das Austauschprogramm für Literarische
Übersetzungen der Columbia University und der Universität
Leipzig, wurde in der Überzeugung ins Leben gerufen,
dass sich die sprachliche Vorstellungswelt junger Autoren
erweitert, wenn sie Gelegenheit haben, sich beim gemeinsamen
Übersetzen ihrer Lyrik und Prosa in der Kunst des
Literarischen Übersetzens auszuprobieren. Das Programm,
welches nun mit der Veröffentlichung von Word for Word
/ Wort für Wort 2013 sein zweites Bestehensjahr feiert, hat
seine ursprünglichen Erwartungen, neue und spannende Stile
und Formen zu fördern nicht nur erfüllt, sondern bei weitem
übertroffen. Das Programm hat kulturelle Horizonte und
Weltsichten erweitert, Freundschaften und künstlerische
Kooperationen befördert und erfolgreich ein neues Modell
interkultureller Zusammenarbeit zwischen Deutschland
und den USA begründet. Für die Studenten, die das Glück
hatten, an diesem Programm teilnehmen zu dürfen, war es eine
wichtige künstlerische und menschliche Erfahrung. Deutschen
und amerikanischen Lesern bietet dieses Buch einen ersten
Blick in das Werk acht außergewöhnlich talentierter Autoren,
die die Grenzen von Sprache und Kultur schon zu Beginn ihrer
literarischen Karrieren überschreiten konnten.
Binnie Kirshenbaum
Chair, Columbia University School of the Arts Writing Program
Josef Haslinger
Professor, Deutsches Literaturinstitut Leipzig
Binnie Kirshenbaum
Chair des School of the Arts Writing Program der Columbia University
Josef Haslinger
Professor für Literarische Ästhetik, Deutsches Literaturinstitut Leipzig
2 01 3
word
r
o
f
d
wor
r wor t
ü
f
t
r
wo
may
n
e
h
c
r
i
K
U rsu l a
Machay
n
u
t
a
H
Machay
n
u
t
a
H
er
io n b y
t ra n s la t d e r
agru
K e v in M
H
atun Machay, says Yanto, do you know
what that means. In Quechua it means the
great cave. We’re on the ground, the cliffs are the
walls, the fog is the roof. And here, in this great
cave, he says, is where the ancestors live.
Manchmal, sagt Yanto, wenn die Ahnen ihren
vorzeitlichen Atem in den Wind hauchen und man
sein Fenster nicht richtig geschlossen hat, kann man
ihn in den Knochen spüren, diesen Nebelatem,
der sich in den Dachrinnen und Häusernischen
verfängt, in den Vorhängen hinter den Fenstern.
Aber dieser Atem macht dich krank. Das ist es,
Astrid, nicht die Höhe, nicht der Druck, der auf
deinen Schläfen sitzt. Du bist krank, weil du den
Mund nicht geschlossen hast bei deiner Ankunft,
und so konnten die Ahnen ihren Knochenstaub in
deinen Körper pusten. Du wirst dünner und dünner werden, sagt Yanto, bis du irgendwann stirbst.
Sometimes, says Yanto, the ancestors release their
ancient breath into the wind and if your windows
aren’t fully shut, this exhaled mist will drift along
the rain gutters and then creep in from behind the
curtains, into every niche of your house. You can
feel it in your bones. This breath is what’s making
you sick, Astrid. It’s not the altitude creating that
pressure in your temples. You’re sick because your
mouth wasn’t closed when you arrived, and now
the ancestors have puffed their bonedust into your
body. You will get thinner and thinner, says Yanto,
until eventually you die.
Yanto hält die Augen geschlossen, während er
spricht. Als er sie öffnet, liegt ein blasser Schimmer
darin, als hätte die Iris, sonst fast so dunkel wie
nasses Holz, sich ins Grünliche verfärbt.
Du zitterst ja, sagt Diego. Er wickelt die Wolldecke um meine Schultern. Vladimir wirft Holz
in den Kamin. Flammen stieben auf, das Feuer
12
H
atun Machay, sagt Yanto, weißt du, was
das heißt. Es heißt die große Höhle auf
Quechua. Wir liegen auf dem Boden, die Felsen
sind die Wände, der Nebel das Dach. Und hier, in
der großen Höhle, sagt er, sind die Ahnen zuhause.
Yanto speaks with his eyes closed. When he
opens them there is a pale glimmer and the irises,
normally almost as dark as wet wood, now smolder
with a greenish hue.
You’re trembling, says Diego. He wraps a wool
blanket around my shoulders. Vladimir tosses some
wood into the fireplace. The flames rise and crackle.
It’s too hot, I say and lay my head in Diego’s lap. I
13
knistert. Es ist zu heiß, sage ich und lege meinen
Kopf in Diegos Schoß, ich will nicht sterben. Du
hast nur Fieber, sagt Diego, Yanto macht doch nur
Spaß.
Yanto bleibt ernst. Er sagt: Ich erzähle nur, was
man mir erzählt hat. Hier oben, sagt er, in den
Bergen, weiß man noch, was ihr da unten schon
vergessen habt.
Ich schließe die Augen. Ich spüre Diegos Haar
auf meiner Wange, es kitzelt und riecht nach Seife
und ganz leicht nach Schweiß.
A
***
ls wir Hatun Machay zum ersten Mal aus
dem Taxifenster sehen, ist es früher Nachmittag. Der Himmel ist nur von wenigen Wölkchen
getrübt. Am Horizont jedoch türmt sich eine breite
Nebelfront. Wie ein Mantel wird sie sich in ein
paar Stunden auf die Felsspitzen legen, sie erst in
ein sanftes Wasserfarbenweiß tauchen, dann sich
allmählich grauer färben. Und am Ende wird sie
sich das ganze Tal einverleiben.
Das ist immer so, sagt Vladimir. Er war schon oft
in Hatun Machay. Er war es auch, der Diego davon
erzählt hatte, nur wenige Stunden, nachdem wir in
Huaraz angekommen waren. Am Morgen hatte uns
14
don’t want to die. You just have a fever, says Diego,
Yanto’s only kidding.
Yanto remains serious. He says: I’m only telling
you what they told me. Up here, he says, in the
mountains, you remember what you have forgotten
down there.
I close my eyes. I feel Diego’s hair on my cheek. It
tickles and smells of soap tinged with sweat.
W
***
hen we first see Hatun Machay out of
the taxi window, it’s early afternoon.
The sky is sparsely patched with clouds. On the
horizon, though, a huge wall of fog is piling up. In
a few hours it will drape itself over the peaks like a
cloak, descending at first in soft white watercolors,
gradually turning to gray. In the end it will inundate
the entire valley.
It’s always like this, says Vladimir. He has spent a
lot of time in Hatun Machay. He was the one who
had told Diego about it just a few hours after we
arrived in Huaraz. That morning Diego’s mother
had been waiting for us in front of the house. She
looked thinner and smaller than she had three years
before. Diego gave her a kiss on the cheek. She
patted him on the head and then buried her face in
15
Diegos Mutter vor dem Haus erwartet. Sie wirkte
dünner und kleiner als vor drei Jahren. Diego
drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Die Mutter
tätschelte ihm über den Kopf, dann weinte sie und
vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Junge, sagte sie
und schaute mich an, wer passt jetzt auf dich auf.
Diego ging ins Haus. Er griff nach dem Telefon.
Vladimir, sagte er eine Spur zu laut in den Hörer,
ich bin wieder da, gehen wir klettern.
Später dann, als wir wieder von den Felsen
zurückwaren und im chinesischen Restaurant
hinter der Plaza saßen, fragte Vladimir, ob Diego
schon von Hatun Machay gehört habe. Hinter uns
wendeten die peruanischen Chinesen in riesigen,
gusseisernen Pfannen Glasnudeln über dem Feuer.
Diego schüttelte den Kopf. Hatun wie, fragte er.
Das musst du sehen, sagte Vladimir, ein Steinwald
auf 4200 Metern Höhe, ein Kletterparadies. So
was habt ihr in eurem Deutschland nicht. Diego
schwieg und zog eine Zigarettenschachtel aus
seiner Hosentasche. Yanto hat eine Hütte da gebaut, sagte Vladimir, wir haben schon über sechzig
Routen montiert. Diego sah aus dem Fenster. Auf
der Straße beschnüffelten sich ein großer und ein
kleiner Hund. Ein Mann ging mit einem Stock
dazwischen und trieb sie auseinander. Das ist nicht
mein Deutschland, sagte Diego.
Vielen hat der Nebel schon den Kopf verdreht,
16
his chest and wept. My boy, she said, glancing over
at me, who is looking after you now. Diego went
into the house and picked up the phone. Vladimir,
he said a little too loudly into the receiver, I’m back.
Let’s go climbing.
Later that day, after we got back from the cliffs,
we were sitting in a Chinese restaurant behind the
plaza and Vladimir asked Diego if he had ever
heard of Hatun Machay. Behind us, the ChinesePeruvians were using huge, cast-iron pans to cook
glass noodles over the fire. Diego shook his head.
Hatun what, he said. You have to see it, said Vladimir, a stone forest forty-two hundred meters high, a
climbing paradise. Something you don’t have in that
Germany of yours. Diego kept silent and removed
a pack of cigarettes from one of his pants pockets.
Yanto built a cabin there, said Vladimir, we’ve
already installed over sixty routes. Diego looked out
the window. On the street two dogs were sniffing
each other, one much larger than the other. A man
got between them with a cane and drove them
apart. It’s not my Germany, said Diego.
A lot of people have already gone crazy from the
fog, Vladimir says now as we ride toward the rocky
landscape. Just like altitude sickness, says Diego—a
fever in the head, heaviness in the arms and legs.
Vladimir nods. You can even start hallucinating, he
says.
17
sagt Vladimir jetzt, während wir der Felslandschaft
entgegenfahren. Genau wie die Höhenkrankheit,
sagt Diego, dieses Fieber im Kopf, die Schwere in
den Gliedern. Vladimir nickt. Davon kann man
sogar Halluzinationen kriegen, sagt er.
Der Weg schlängelt sich abwärts ins Tal, auf
die Felsen zu. Vor einer großen Holzhütte, dem
ersten Gebäude seit einer halben Stunde Fahrt,
kommt das Auto zum Stehen. Diego drückt dem
Taxifahrer das Geld für die Hin- und Rückfahrt in
die Hand. Sonst werden wir nicht abgeholt, sagt er,
sonst bleiben wir hier für immer.
Vladimir kennt den Fahrer noch vom letzten
Mal, die Rückfahrt wird per Handschlag besiegelt,
man zwinkert sich zu: Diego und Vladimir grinsend, der Taxifahrer ohne die Miene zu verziehen.
Mich beachtet er nicht. Mit einem Knall zieht er
die Fahrertür hinter sich zu. Wir sehen dem Taxi
nach, wie es sich langsam den Hügel hinaufarbeitet
und schließlich dahinter verschwindet, bis nichts
zurückbleibt als eine unbestimmte Wolke wirr
durcheinander tanzender Staubpartikel über dem
Weg.
Als ich mich zur Hütte umwende, steht ein
brauner Hund vor mir. Ich greife nach Diegos Arm.
Der macht nichts, sagt Vladimir und lacht. Diego
verdreht die Augen. Das passiert, sagt er, wenn man
Mädchen mit in die Berge nimmt.
18
The road meanders down into the valley toward
the rocks and the car comes to a stop in front of a
large wooden cabin, the first building we’ve seen
in half an hour. Diego puts enough money for a
round-trip into the cabdriver’s hand. Otherwise he
won’t pick us up, he says, otherwise we’ll be stuck
here forever.
Vladimir knows the driver from a previous trip
and finalizes the deal with a handshake and a wink.
Diego and Vladimir are now grinning but the taxi
driver’s face remains expressionless. He completely
ignores me. He slams the car door shut behind
him and we watch as the taxi slowly makes its way
up the hill and then finally disappears behind it,
leaving nothing but a hazy cloud of dancing dust
particles above the road.
I turn to the cabin and there is a brown dog
standing in front of me. I grab Diego’s arm. He’s
harmless, says Vladimir, laughing. Diego rolls his
eyes. This is what happens, he says, when you take
girls into the mountains.
The dog whines and it sounds as if someone
might have just promised it a feast of chicken bones
dripping with gristle. It fixes its gaze on me and
unfurls its long sloppy tongue. There is a whistle
from inside the cabin. The dog turns around and
bolts. A robust man with a wide face and narrow
eyes appears in the doorway.
19
Der Hund winselt, es klingt, als hätte man ihm
gerade ein Freudenmahl versprochen, Hühnerschenkel, knorpelige Knochen, triefend vor Fett.
Er heftet seinen Blick auf mich und entfaltet seine
lange Schlabberzunge. Aus dem Inneren der Hütte
ertönt ein Pfiff. Der Hund fährt herum und schießt
davon. Im Türrahmen erscheint ein robuster Mann,
sein Gesicht ist breit, die Augen schmal.
Vladimir begrüßt ihn mit einer Umarmung. Sie
klopfen sich gegenseitig auf den Rücken wie alte
Kumpels. Yanto, sagt Vladimir, passt auf die Hütte
auf. Yanto deutet auf den Hund hinter sich: Und
das ist Huayra, der Wachhund. Ich lächele. Huayra
ist Quechua, sagt Vladimir, und bedeutet Wind.
Wind, frage ich, ist Huayra ein Windhund? Yanto
lacht. Ein Mischling, sagt er, wie alle Köter, die ich
kenne, aber Huayra ist schnell wie der Wind und
manchmal unsichtbar.
Die Hütte besteht aus einem großen Wohnraum
mit einer Küche und drei Tischen im vorderen Teil
und zwei Sofas und einem Kamin weiter hinten.
Eine steile Treppe führt auf einen Dachboden. Hier
liegen Matratzen aufgereiht, mindestens zwanzig,
eine direkt neben der anderen. Das Toilettenhaus,
wenige Meter von der Hütte entfernt, ist nie fertig
gestellt worden: Drei Wände aus Beton ohne Dach,
die fehlende vierte Wand ersetzt die fehlende Tür.
Ihr habt die Hütte ganz für euch, sagt Yanto, ein
20
Vladimir greets him with a hug and they pat
each other on the back like old friends. Yanto,
says Vladimir, is the caretaker of this cabin. Yanto
points to the dog behind him: and this is Huayra,
the watchdog. I smile. Huayra is Quechua, says
Vladimir, meaning wind. Wind, I say. Is Huayra a
greyhound? Yanto laughs. A mutt, he says, like all
the dogs I know—but Huayra is fast like the wind,
and sometimes invisible.
Inside, the cabin is divided into two parts: a large
living room with a kitchen and three tables in the
front, and two sofas and a fireplace in the back. A
steep staircase leads to a loft where mattresses are
lined up, at least twenty, one right next to the other.
The outhouse, a few meters away from the cabin,
was never completed: three concrete walls without
a roof, the missing fourth wall accentuating the
missing door.
You have the cabin all to yourselves, says Yanto.
A Canadian couple is still here but they’re leaving
tonight. I’m alone with the kids, he says. My wife is
down in Caraz for a few days.
A child clings to his leg. Its body is strangely
disproportionate—the head looks too large on the
squat neck and torso; the arms and legs are short
and beefy. Judging by size, the child must be about
four. He has shaggy black hair and the skin on his
face is rough, dry and ruddy, making him look more
21
kanadisches Ehepaar ist noch da, aber die reisen
heute Abend ab. Ich bin allein mit den Kindern
hier, sagt er, meine Frau ist für ein paar Tage unten
in Caraz.
Ein Kind klammert sich an sein Hosenbein. Der
Körper des Kindes ist seltsam unproportioniert—
der Kopf wirkt zu groß über dem gedrungenen
Hals und Oberkörper, die Arme und Beine sind
fleischig und kurz. Das Kind muss seiner Größe
nach etwa vier sein. Es hat struppiges, schwarzes
Haar, die Haut im Gesicht ist aufgeraut, trocken
und dunkelrot. Als wäre das Kind gar nicht vier, als
wäre es eigentlich vierzehn. Das macht die Höhe,
denke ich: die starke Sonne am Tag, die Kälte in
der Nacht.
Yanto sagt etwas auf Quechua. Das Kind löst
sich von seinen Beinen und läuft aus der Hütte
hinaus. Diego lehnt die Rucksäcke an die Wand
neben die Tische. Wir sollten gehen, sagt er, bevor
der Nebel kommt.
D
as Atmen und Laufen fällt schwer. Der
Himmel ist bedeckt, eine dicke Wolkenschicht hat sich vor die Sonne geschoben. Ein kalter
Wind fegt mir das Haar ins Gesicht. Das Gras
ist gelblich und welk. Links und rechts des Weges
türmen sich Gesteinsbrocken.
22
like fourteen. The altitude does this, I think: the
strong sun during the day, the cold at night.
Yanto says something in Quechua. The child lets
go of his leg and runs out of the cabin. Diego leans
the backpacks against the wall next to the tables.
We should go, he says, before the fog comes.
I
t’s difficult to walk, hard to breathe. The sky is
overcast; thick clouds have moved in front of
the sun. A cold wind blows my hair into my face.
The grass is yellow and withered. Boulders are piled
up on both sides of the trail.
Diego is moving very fast. He calls the boulders
by their English name. Every once in a while he approaches one and lets his gaze slide over the stone,
feeling out its unevenness with an air of professionalism. Occasionally he jumps up onto an overhang,
makes a few climbing movements and then jumps
off again. He laughs and moves on. Huayra chases
after him, wagging her tail. Sometimes she runs so
far out in front of us that she’s just a little brown
spot between the rocks and the cliff. Then she stops,
stands and waits.
There is a purple spot hanging on the first
big wall, about twenty meters up. Below, on the
ground, its orange-colored counterpart is moving
about. It must be the Canadian couple that Yanto
23
Diego läuft sehr schnell voran. Er nennt die
Gesteinsbrocken Boulder. Manchmal nähert er
sich einem der Brocken, lässt seinen Blick über den
Stein gleiten und tastet seine Unebenheiten mit
professionellen Handgriffen ab. Manchmal hängt
er sich auch an einen der Brocken, macht ein paar
Kletterbewegungen, springt wieder ab. Er lacht
und läuft weiter. Huayra rennt ihm hinterher und
wedelt mit dem Schwanz. Manchmal läuft sie weit
vor, bis sie nur noch ein kleiner, brauner Punkt
zwischen den Felsen und Gesteinsbrocken ist.
Dann bleibt sie stehen und wartet.
An der ersten großen Wand hängt auf etwa
zwanzig Meter Höhe ein violetter Fleck. Darunter,
auf dem Boden, bewegt sich sein orangefarbenes
Pendant. Das muss das kanadische Ehepaar sein,
von dem Yanto gesprochen hat.
Als wir näher kommen, sehe ich, dass es die
Frau ist, die klettert, und der Mann, der sichert.
Der Mann begrüßt uns mit einem kurzen Nicken.
Vladimir und Diego heben die Köpfe. Die Frau
klettert im Vorstieg, professionell und geschickt,
Angst scheint sie keine zu haben.
Ich beobachte, wie die Kanadierin sich mit der
linken Hand an einer winzigen Unebenheit im Fels
festhält, während sie mit der rechten Hand mehr
Seil aufnimmt. Wie sie das Seil dann mit einer
sicheren Bewegung in die Exe einklinkt. Ich wende
24
mentioned.
As we get closer I can see that it’s the woman
who’s doing the lead climbing and the man who
belays. The man greets us with a curt nod. Vladimir and Diego look up. The woman is climbing like
a professional. She seems to have no fear.
I watch her as she holds on to a tiny bump in the
rock with her left hand while taking up the rope
with the right—how she takes the rope with a firm
motion and fastens it into the eye. I turn to Diego
and Vladimir. They are both spellbound, tracking
her every move.
How high is the wall, I ask. I’m cold. Diego’s eyes
are fixed on the woman’s butt. Thirty meters, he
says. Now it’s your turn. I don’t want to, I say. Don’t
be silly, says Diego. If she can do it, so can you.
Three years ago, Diego was still the Peruvian
climbing champion. He was even featured on
Peruvian TV, on Canal 7 and Frecuencia Latina.
But since Diego has been living with me in Berlin,
Vladimir has replaced him. Vladimir is four years
younger. Diego taught him to climb years ago, taking him to the rocks and showing him everything he
knew. Now Diego has a hard time keeping up with
him. Diego says it’s Berlin’s fault: no mountains or
rocks in the area, expensive indoor climbing gyms,
his job as a waiter. But secretly, I think he blames
me.
25
mich um, zu Diego und Vladimir. Die beiden
verfolgen gebannt jede ihrer Bewegungen.
Wie hoch ist die Wand, frage ich. Mir ist kalt.
Dreißig Meter, sagt Diego, ohne den Blick vom
Po der Kanadierin zu lösen, gleich bist du dran.
Ich will nicht, sage ich. Stell dich nicht so an, sagt
Diego, wenn sie das kann, dann kannst du das
auch.
Bis vor drei Jahren war Diego noch der peruanische Meister im Klettern. Manchmal ist er sogar
im peruanischen Fernsehen gezeigt worden, auf
Canal 7 und Frecuencia Latina. Seit Diego mit mir
in Berlin lebt, hat ihn Vladimir abgelöst. Vladimir
ist vier Jahre jünger als Diego. Diego hat ihm das
Klettern beigebracht, vor Jahren, er hat ihn mit
zu den Felsen genommen und ihm alle Techniken
gezeigt, die er kannte. Inzwischen fällt es Diego
schwer, sich mit Vladimir zu messen. Diego sagt,
Berlin sei schuld: keine Berge oder Felsen in der
Umgebung, teure Indoor-Kletterhallen, der Job
als Kellner. Aber insgeheim glaube ich, er sieht die
Schuld bei mir.
Der Kanadier seilt seine Frau ab. Sie wirkt
sportlich und etwas burschikos, ist Anfang vierzig
und hat das graue Haar zu einem Pferdeschwanz
gebunden. Sie begrüßt mich und die Jungs, ohne zu
lächeln, und wendet sich gleich wieder ab.
26
The Canadian lets out the rope, allowing his wife
to rappel. She looks athletic and a little tomboyish,
probably in her early forties, with gray hair tied
back into a ponytail. She greets me and the boys
without smiling, then immediately turns back
around.
I study her technique: how she collects the rope
from the rock and folds it up quickly, how she slaps
the chalk from her palms and then runs her left
hand through her hair, the way she consults with
her husband about which routes to attempt next.
Meanwhile, Diego has geared up and slowly
begins to ascend. All of his movements are deliberate and assured. He carefully shifts his weight from
one foot to the other, occasionally planting a heel
and hanging for a brief moment in the air: the right
toe on a small ledge, the left heel wedged into a gap,
the right hand gripping the rock and the left arm
swinging down like a pendulum.
Thirty meters above the ground Diego fastens the
rope into the last support. Vladimir lets him back
down. All set, Diego says to me, your turn.
I hook into the rope. The rock is rough and
extremely cold. Every grip I take digs into my skin.
The wind whips my hair into my face. Below, I can
barely hear Diego. Vamos, he shouts. Very nice,
Astrid. Good. Vamos, vamos!
27
Ich beobachte die geschulten Bewegungen der
Kanadierin: wie sie das Seil vom Felsen zieht und es
rasch zusammenlegt. Wie sie sich das Magnesia von
den Händen klopft und sich dann mit der Linken
durchs Haar fährt. Wie sie mit ihrem Mann
beratschlagt, welche Wand jetzt an der Reihe ist.
Inzwischen hat Diego sich angeseilt. Langsam
beginnt er, in die Höhe zu steigen. Alle seine
Bewegungen sind bewusst und sicher. Bedacht
verlagert er sein Gewicht von einem Fuß auf den
anderen, manchmal setzt er die Ferse ein und hängt
dann für einen kurzen Moment so in der Luft, die
rechte Fußspitze auf einem kleinen Felsvorsprung,
die linke Ferse in einen Spalt gekeilt, die rechte
Hand am Fels und der linke Arm wie ein Pendel
nach unten gerichtet.
Dreißig Meter über dem Boden hängt Diego das
Seil in die letzte Sicherung. Vladimir lässt ihn ab.
Den Nachstieg, sagt Diego, als er wieder unten ist,
machst du.
Ich knote mich ins Seil. Der Fels ist rau und sehr
kalt. Mit jedem Handgriff bohrt er sich in meine
Haut. Der Wind peitscht mir das Haar ins Gesicht. Unten höre ich Diego nur noch leise. Vamos,
ruft er, sehr schön, Astrid, gut, vamos, vamos!
Die Griffe werden immer kleiner. Ich taste
suchend über den Fels. Ich spüre meine Hände
28
The grips are getting smaller. I grope my way
along the rockface. It’s so cold I can’t feel my hands
anymore. They are like numb tools—their sole
purpose is to hold me up.
The wall bulges outward now. My left leg
trembles, the step is too tiny. It feels like I’m
definitely going to fall. And then what if the backup
doesn’t hold. What if the rock is too brittle or if the
hooks are rusted. What if Diego didn’t fasten the
rope correctly. My bones would shatter like glass on
the ground.
Diego, I cry, let me down! But Diego doesn’t hear.
I know what he would say anyway: Don’t be silly.
Don’t be such a girl. If she can do it, so can you.
A bird flies diagonally over my head. It flies into
a cave to my left, a little above. I can hear its wings
flapping, very close. I can hear the wind howling in
the mouth of the rockface.
I look up but I can’t see the bird. Instead, I
discover a large hollow about a foot above my right
hand. I grab the edges with both hands and pull
myself up. I am then able to reach a ledge with my
left foot. I stand up straight and am almost comfortable. I lean my body against the rock. The wind
drives into me from behind, through my hair and
my clothes; but I’m not cold anymore.
To my left I can see the cave. The bird is blink-
29
nicht mehr, so kalt ist er. Meine Hände fühlen sich
an wie klamme Werkzeuge; ihr einziger Zweck:
meinen Körper nach oben zu stemmen.
Der Fels wölbt sich jetzt leicht nach außen. Mein
linkes Bein zittert, der Tritt ist winzig. Gleich
werde ich fallen, bestimmt. Und was, wenn die
Sicherung nicht hält. Wenn der Fels brüchig ist,
oder der Haken verrostet. Wenn Diego das Seil
nicht richtig eingehängt hat. Ich könnte zwanzig
Meter nach unten stürzen. Am Boden würden
meine Knochen splittern wie Glas.
Diego, rufe ich, lass mich ab! Aber Diego hört
mich nicht. Ich weiß sowieso schon, was er sagen
würde: Stell dich nicht so an. Sei kein Mädchen.
Wenn sie das kann, dann kannst du das auch.
Ein Vogel fliegt schräg über meinen Kopf. Er
fliegt in eine Höhle, die es oben links in der Wand
geben muss. Ich höre ihn sehr nah neben mir mit
den Flügeln schlagen. Ich höre, wie der Wind in der
Felswand heult.
Ich blicke nach oben, den Vogel sehe ich nicht.
Stattdessen entdecke ich eine große Mulde, dreißig
Zentimeter über meiner rechten Hand. Ich greife
mit beiden Händen hinein und ziehe mich daran
hoch. So erreiche ich einen Felsvorsprung mit dem
linken Fuß. Ich richte mich auf und stehe beinahe
bequem. Ich lehne meinen Körper an den Fels. Der
30
ing. It’s huge, almost three feet tall, its feathers an
iridescent gray. Beads of water slip from its wings.
The beak arcs itself to a point. The tiny eyes are
two impenetrable buttons, jet-black and glossy. An
American Black Vulture? The bird squawks and
flaps its wings and the wind moans in the cave.
My hands are dead, I say when I’m back down
again. I have no hands. Diego takes my hands
and massages them for a long time. With the heat
comes the pain. It hurts so much that tears are
welling in my eyes. Diego takes me in his arms. You
were great, he whispers.
I’m shivering. My head feels feverish. Every move
I make causes the blood to pound in my temples.
I sit down on the ground, leaning back against
one of the boulders. I try to read a book that I
bought a few days ago at a kiosk—something about
pre-Columbian societies in America: the world of
yesterday becomes the world of today becomes the
world of tomorrow becomes the world of yesterday,
I read, the same way the night turns to day and then
back again to night. The letters swim before my
eyes.
The fog has already descended far over the
cliffs when Diego and Vladimir decide it’s time
to return to the cabin. The Canadians have long
since disappeared. Vladimir has attempted seven
different routes and conquered them all. Diego
31
Wind fährt mir von hinten durchs Haar und unter
die Kleidung, aber ich friere nicht mehr.
Links neben mir sehe ich die Höhle. Der Vogel
blinzelt. Er ist riesig, fast einen Meter groß, und
sein Gefieder schillert mattgrau. Wasser perlt von
seinen Flügeln. Der Schnabel wölbt sich spitz.
Die winzigen Augen sind zwei undurchdringliche
Knöpfe, pechschwarz und glänzend. Ein Rabengeier? Der Vogel krächzt und schlägt mit den Flügeln,
und in der Höhle heult der Wind.
Meine Hände sind tot, sage ich, als ich wieder
unten bin, ich habe keine Hände mehr. Diego greift
nach meinen Händen und massiert sie sehr lange.
Mit der Wärme kommt der Schmerz. Es tut so
weh, dass mir die Tränen in die Augen schießen.
Diego nimmt mich in den Arm. Du warst toll,
flüstert er.
Mir fröstelt, mein Kopf ist fieberschwer, bei jeder
Bewegung pocht das Blut in den Schläfen. Ich setze
mich auf den Boden, mit dem Rücken gegen einen
der Boulder gelehnt. Ich versuche zu lesen, ein
Buch, das ich vor ein paar Tagen an einem Kiosk
gekauft habe, irgendwas über die präkolumbischen
Gesellschaften in Amerika. Die Welt von gestern
wird zur Welt von heute wird zur Welt von morgen
wird zur Welt von gestern, lese ich, so wie die
Nacht zum Tag wird und dann wieder zur Nacht.
Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen.
32
tried to equal him but on three of the seven routes
he failed at the crux. Now Diego walks alone ahead
of us. His hands are buried in his pockets. His head
is lowered.
The fog has dipped the stonescape into a nightshade of gray. Visibility is less than ten meters.
Huayra runs ahead, disappearing sometimes,
and then slowly re-emerges out of the mist. For a
moment, her head can be seen clearly but her body
remains shrouded in a blurry veil. Then she is back
with us, whole. She sweeps by the legs of the boys,
approaches me, tail wagging, panting, only to disappear again. Sometimes, when Huayra is moving
at the same speed out ahead of us, it’s as if she’s
following a smokescreen—her tail is visible and the
front of her body leads the shadowy existence.
Huayra is a messenger between two realities, I
think. She wanders silently in the shadow world
of caves and underground waters and when she
returns to the here and now, her coat is glazed with
dew. Who knows, I think, what Huayra sees or
hears when she has vanished. Who knows, I think,
what Huayra sees now, when she is back with us.
Then I don’t see Vladimir anymore. Huayra is
also gone. Now matter where I look, there is only
yellowish grass and scattered rubble. Beyond that,
the wall of fog looms, towers. I no longer know
which direction to go. I call out for Diego, for
33
Der Nebel hat sich schon tief über die Felsen
gesenkt, als Diego und Vladimir beschließen,
zurück zur Hütte zu gehen. Die Kanadier sind
längst verschwunden. Vladimir hat sieben Routen
ausprobiert und alle geschafft. Diego hat es ihm
gleichtun wollen, aber auf drei der sieben Routen ist
er an der Crux gescheitert. Jetzt läuft Diego alleine
voraus. Die Hände hat er in den Hosentaschen
vergraben, den Kopf hält er gesenkt.
Der Nebel hat die Steinlandschaft in ein mattes
Nachtgrau getaucht. Wir haben nicht mehr
als zehn Meter Sicht. Huayra, die voran läuft,
verschwindet manchmal, und wenn sie wieder
auftaucht, gibt der Nebel sie nur langsam frei:
Während der Kopf schon ganz klar zu sehen ist,
bleibt der Körper noch einen Moment in einen
unscharfen Schleier gehüllt. Dann ist sie wieder
ganz bei uns. Sie streicht um die Beine der Jungs,
nähert sich auch mir, schwanzwedelnd, hechelnd,
um dann wieder zu verschwinden. Wenn Huayra in
gleicher Geschwindigkeit vor uns herläuft, ist es, als
verfolge sie den Nebelschleier, dann ist ihr nebelfeuchter Schweif ganz klar zu erkennen, während
der Vorderkörper schon ein Schattendasein führt.
Huayra ist der Bote zwischen zwei Welten,
denke ich. Lautlos wandelt sie in der Schattenwelt
der Höhlen und unterirdischen Gewässer, und
wenn sie zurückkommt in die Welt von hier und
34
Vladimir, even for Huayra. Someone answers.
Someone calls my name. But I’m not sure from
where.
I recall the book I tried to read earlier, leaning
against the boulder. In Andean mythology, it is said
that time moves in cycles that continuously repeat
themselves. The ancestors exist both yesterday and
tomorrow. They are the night, forever returning.
They live in an inversion. I think for a moment in
the fog and then suddenly get the feeling I have
been walking backwards.
The Pishtaco, Yanto had said, roams the high
plains of the Andes at night. The Pishtaco wears a
long, black coat. But his hair is blond, as blond as
yours, he said, and his skin glows white under his
black hood. The Pishtaco is a gringo.
A white man, I think now, a rogue Canadian
tourist—or perhaps the owner of a multinational
mining corporation. I’m dizzy. I want to sit down
but I shouldn’t. I need to keep walking. I hear
someone whistling. Diego is whistling for Huayra
but I can’t tell from where. There is only grass and
gravel—and Huayra’s wet nose in my hand. Huayra
trots off to the right and I follow after her, to the
right, until she disappears again.
The Pishtaco, Yanto said, roams the high plains
of the Andes in search of human flesh. If you meet
35
jetzt, glänzt ihr Fell feucht vom Wasserdampf.
Wer weiß, denke ich, was Huayra gesehen hat oder
gehört, während sie unsichtbar war. Wer weiß,
denke ich, was Huayra jetzt sieht, wenn sie wieder
da ist, bei uns.
Dann sehe ich Vladimir nicht mehr. Auch
Huayra ist weg. Egal, wohin ich blicke, überall
erstreckt sich nur gelbliches Gras, dazwischen
hin und wieder ein bisschen Geröll. Dahinter
türmt sich die Nebelfront. Ich weiß nicht mehr,
in welche Richtung ich laufen muss. Ich rufe nach
Diego, nach Vladimir, sogar nach Huayra. Jemand
antwortet, jemand ruft meinen Namen, aber ich bin
mir nicht sicher, von wo.
Ich erinnere mich an das Buch, das ich zu lesen
versucht habe, gegen den Boulder gelehnt. In der
andinen Mythologie, stand da, schreitet die Zeit
in sich umkehrenden Zyklen voran. Gestern und
morgen leben die Ahnen. Sie sind die Nacht, die
wiederkehren wird. Sie leben verkehrt herum. Im
Nebel denke ich einen Moment, ich laufe rückwärts
und merke es nicht.
Der Pishtaco, hat Yanto erzählt, streift nachts
über die Hochebenen der Anden. Der Pishtaco
trägt einen langen, schwarzen Mantel, aber sein
Haar ist blond, so blond wie deins, und seine Hautfarbe leuchtet weiß unter der schwarzen Kapuze.
Der Pishtaco ist ein Gringo.
36
him, you can’t look him in the eye. He’ll pull out a
knife and carry you off into his cave. There, he will
hang you upside down and let your fat drip into a
pot. When the pot is full he’ll sell the lard abroad:
to North America, to Europe, even in Lima. He’ll
sell it to his white cronies. To your family, perhaps—to people like you.
People like me, I now realize, are the ones who
currently dominate Peru. And it is the Incan
ancestors who will return in the world of tomorrow,
when people like me are not here anymore.
Astrid, says Diego grabbing my left arm, there
you are. We were worried, says Vladimir grabbing
my right arm. Diego and Vladimir exchange a
glance. Diego laughs, then Vladimir does too.
Huayra brushes past Vladimir’s feet, her eyes
flashing as black as night. Are you ok, asks Diego,
running his hand along my cheek. You’re burning
up.
T
***
he fire is dwindling. It smokes and smolders.
Soon it will go out. I am very tired.
When I was alone in the fog this afternoon, I say,
I believed in the Pishtaco for a moment. I thought
he was coming to get me.
37
Ein Weißer, denke ich, ein kanadischer Independent-Tourist, Inhaber multinationaler Bergwerke in
der Region? Mir ist schwindlig, ich will mich setzen, aber ich darf nicht, ich muss weiterlaufen. Ich
höre jemanden pfeifen. Diego pfeift nach Huayra.
Aber wo ist Diego. Da ist nur Gras und Geröll.
Und Huayras feuchte Schnauze an meiner Hand.
Huayra trottet nach rechts. Ich laufe ihr hinterher,
nach rechts, bis sie wieder verschwunden ist.
Der Pishtaco, hat Yanto erzählt, durchstreift
die Hochebenen der Anden auf der Suche nach
Menschenfett. Wenn er dir begegnet, darfst du ihm
nicht in die Augen schauen. Er wird ein Messer
zücken und dich in seine Höhle entführen. Dort
wird er dich kopfüber aufhängen und dein Fett in
einen Topf tropfen lassen. Wenn der Topf ganz
gefüllt ist, wird er dein Fett ans Ausland verkaufen:
an Nordamerika, an Europa, sogar an Lima. An
seine weißen Verbündeten. An deine Familie
vielleicht, an Leute wie dich.
Leute wie ich, denke ich plötzlich, sind die Gegenwart Perus. Und die Ahnen, das sind die Inkas,
die wiederkehren werden in der Welt von morgen,
wenn Leute wie ich nicht mehr hier sein werden.
Astrid, sagt Diego und greift nach meinem linken
Arm, da bist du ja. Wir haben uns Sorgen gemacht,
sagt Vladimir und greift nach meinem rechten
Arm. Diego und Vladimir wechseln einen Blick,
38
Once, says Yanto, three of them came knocking—three Pishtacos. I saw them from above
through a crack in the roof. They had long, black
coats and their faces were buried so deep in their
hoods that I couldn’t make them out. One of them
had a cudgel. I didn’t move. I was so quiet I was
barely breathing. After a while they left. Three days
later they came back but I wasn’t here. I was down
in Caraz. They ransacked the entire cabin looking
for me. They didn’t take anything.
And once, says Yanto—but I don’t really hear
him anymore, I’m half-asleep—once I saw the Ichiq
Ollcu. He lives up in the caves or under the lakes.
He has mines full of gold. He tries to lure you
there. Anyone who sees the goldmines of the Ichiq
Ollcu is never seen again. But if you can find a way
to capture him, then he will buy his freedom. Then
all his gold will belong to you.
I am walking through the fog again. I can hear
the drum. It is the drum of the Ichiq Ollcu. He now
stands in front of me with his red hair, laughing.
His head is huge. He has rough hands and thick
legs, all out of proportion. Somehow he seems
familiar to me; somewhere I have seen him before
but I can’t quite remember. The Ichiq Ollcu beats
his marching drum. Come on, he says, I will show
you all the gold I have stashed away under the lake.
And I follow his beating drum. It’s a very steady
39
Diego lacht, dann lacht auch Vladimir. Huayra
streicht um Vladimirs Füße, ihre Augen glänzen
schwarz wie die Nacht. Alles in Ordnung, fragt
Diego und fährt mit der Hand über meine Wange,
du glühst ja, hast du Fieber?
D
***
as Feuer ist kleiner geworden. Noch schwelt
es und raucht. Bald wird es ausgehen. Ich
bin sehr müde.
Als ich heute Nachmittag alleine im Nebel war,
sage ich, da habe ich für einen Moment an den
Pishtaco geglaubt. Da habe ich kurz gedacht, jetzt
kommt er und holt mich.
beat—an ancient, alien rhythm. I follow the Ichiq
Ollcu down under the lake. Below, the walls are
polished diamonds, the ceiling is the silver of water
in a mirror, the ground is pure granulated gold.
Everything is upside down. The people are tiny,
their hair the color of fire. Their arms and hands are
inverted, the thumbs on the outside and the pinky
fingers on the inside. They walk and talk backwards
and the language they make sounds as if it’s coming
from inside bubbles. Now, I too am small and firehaired like the Ichiq Ollcus under the lake. Their
drums beat loud. Very loud. Coming closer.
Tmm-tmm. Tmm-tmm.
Bei mir, sagt Yanto, haben einmal drei von denen
geklopft. Drei Pishtacos. Ich habe sie von oben
gesehen, durch einen Spalt im Dach. Sie hatten
lange, schwarze Mäntel an und die Kapuzen so
tief im Gesicht, dass ich nichts erkennen konnte.
Einer hatte einen Knüppel dabei. Ich habe mich
nicht bewegt, ich habe kaum geatmet, so leise war
ich. Nach einer Weile sind sie gegangen. Drei
Tage später sind sie wieder gekommen. Ich war
nicht hier, ich war unten in Caraz. Sie haben die
ganze Hütte durchwühlt, auf der Suche nach mir.
Geklaut haben sie nichts.
40
41
Und einmal, sagt Yanto—aber das höre ich fast
nicht mehr, da schlafe ich schon halb—einmal habe
ich den Ichiq Ollcu gesehen. Er lebt oben in den
Höhlen oder unter den Seen. Dort hat er Bergwerke voller Gold. Er wird versuchen, dich dorthin zu
locken. Wer einmal die Bergwerke des Ichiq Ollcu
gesehen hat, der kommt nie mehr von dort zurück.
Aber wenn du es schaffst ihn einzufangen, dann
wird er sich freikaufen, dann gehört sein Gold dir.
Ich laufe wieder durch den Nebel, als ich die
Trommel höre. Es ist die Trommel des Ichiq Ollcu.
Rothaarig steht er neben mir und lacht. Sein Kopf
ist groß, die Hände und Beine grob und dick.
Seltsam unproportioniert. Irgendwie kommt er mir
bekannt vor, irgendwo habe ich ihn schon einmal
gesehen, aber ich erinnere mich nicht. Der Ichiq
Ollcu schlägt seine Marschmusik, komm mit, sagt
er, ich zeig dir das Gold, das ich gehortet habe,
unter dem See. Und ich folge den Schlägen seiner
Trommel, es ist ein sehr gleichmäßiges Schlagen in
einem fremden, uralten Rhythmus, und ich folge
dem Ichiq Ollcu unter den See. Unten sind die
Wände geschliffene Diamanten, die Decken silbern
wie das Wasser im Spiegel, und der Boden ist ganz
aus goldenem Sand. Alles ist verkehrt herum. Die
Menschen sind klein und rothaarig, ihre Hände
und Arme sind spiegelverkehrt, die Daumen sitzen
außen an ihren Händen, die kleinen Finger innen.
42
Sie laufen und sprechen rückwärts, es klingt, als
stießen sie Wasserblasen aus. Auch ich bin jetzt so
klein und rothaarig wie die Ichiq Ollcus unter dem
See. Die Trommeln schlagen sehr laut. Sehr laut.
Ganz nah schlagen sie.
Tam tam. Tam tam.
44
írez
ud er
r
m
g
a
a
R
M
n
Kevi n
f Acto
o
n
o
i
t
i
efin
The Ind
rpt)
(an exce
cton
A
s
e
d
lichung
t
i
e
z
t
n
Die E
z
Ramíre
vo n
:
zt
u b erset y er
ch enma
ir
K
la
u
rs
U
T
his is to just give you a taste of what was
beginning to happen on the grand scale.
This particular lecture series was trying to lay
down some basic ethos behind the whole thing as it
pertained to children, a seemingly minor consideration juxtaposed against the greater whole. Diane,
my fiancée, was explaining to a member of the press
who had asked a rather off-topic question that of
course this new technology wasn’t a cure for death
per se, or any particular disease for that matter. She
pointed out that it was true some maladies might
respond to this therapy but that many years of research would be needed to find out which ones, and
to what extent. To another obviously uninformed
question, and in her casually charming manner, she
acknowledged that we were probably only talking
about the possibility of prolonging life here on earth
for a few decades, maybe a century for healthy,
and lucky, individuals. Diseases that had little to
do with aging on the cellular level, and of course
trauma could still kill you; and so it just became a
question of when the dice were going to come up
snake-eyes, she said. “Ah, but!” another member
of the press said, “…wouldn’t these diseases you’re
referring to be far less likely to occur in a person
frozen at the age of, say, sixteen?” Blunt trauma
48
D
as hier soll nur andeuten, was gerade auf
großer Ebene zu passieren begann. Diese
Vortragsreihe sollte eine Art Grundethos hinter
der ganzen Sache festlegen, speziell was Kinder
betraf—eine scheinbar unbedeutende Überlegung,
wenn man sie dem größeren Ganzen gegenüberstellte. Diane, meine Verlobte, erklärte gerade
einem Pressevertreter, der eine eher nebensächliche
Frage gestellt hatte, dass diese neue Technologie
natürlich kein Heilmittel gegen den Tod per
se, ja um ehrlich zu sein gegen überhaupt keine
Krankheit im Besonderen sei. Sicher, manche
Leiden würden auf diese Therapie anschlagen.
Aber es seien noch sehr viele Jahre tiefgehender
Forschung nötig, um herauszufinden, welche genau
und bis zu welchem Grad. Aller Wahrscheinlichkeit nach, räumte sie in ihrer beiläufig charmanten
Art auf eine offensichtlich schlecht informierte
Frage hin ein, ginge es bloß darum, das Leben hier
auf der Erde um ein paar Jahrzehnte, mit etwas
Glück und bei gesunden Individuen maximal um
ein Jahrhundert zu verlängern. Krankheiten und
Traumata, die wenig mit dem Altern auf Zellebene
zu tun hätten, könnten einen immer noch töten;
und am Ende ginge es sowieso nur darum, wann
man den schwarzen Peter ziehen würde, sagte sie.
49
notwithstanding, yes, Diane ceded. But it was her
contention that you didn’t want to stop the body,
or the brain, from fully developing before it reached
maturity. Basically, she was saying that immortality
was not for children. The hall filled with contented
laughter. She had them all enchanted.
Doors open easier for beautiful people; I don’t
think this is debatable. Diane seemed to sense this
and once a friend of mine (a medical student who
had worked with me in the Narrative Medicine
lab) good-naturedly told me that all the students
thought Dr. Ramírez was hot, even the females.
This of course did not surprise me but when I
relayed this information to Diane she got upset.
It almost gave me the impression that she would
rather not be beautiful, since she seemed to think
this hindered her efforts at being taken seriously
as a doctor. So sad. What a gift, and to not be
grateful seemed like such a waste. Plus, I don’t
have to tell you that this sort of naïve vanity can
invite resentment—not from me but from other
female professionals struggling with their looks in
a male-dominated field. From my perspective at
the time, there was nobody more powerful in this
world than a gorgeous, young American doctor. She
had been dealt a royal flush. Add to this the fact
that she had been an Ivy-Leaguer, her parents had
been Ivy-Leaguers and were now major players at
50
„Moment mal“, sagte ein anderer Pressevertreter,
„treten diese Krankheiten, von denen Sie sprechen,
nicht viel eher bei einer Person auf, die, sagen wir,
mit sechzehn eingefroren wurde?“ Das stumpfe
Trauma nicht eingerechnet, ja, lenkte Diane ein.
Aber ihrer Überzeugung nach solle man den
Körper, oder das Gehirn, nicht daran hindern, sich
komplett zu entwickeln, ehe er zur Reife gelange.
Unsterblichkeit, sagte sie, sei also nichts für Kinder.
Im Saal breitete sich zufriedenes Gelächter aus. Sie
hatte sie alle verzaubert.
Schönen Menschen öffnen sich die Türen
leichter; ich glaube nicht, dass das zur Debatte
steht. Diane schien das zu spüren und einmal hat
mir ein Freund (ein Medizinstudent, der damals
mit mir im Narrativen Medizinlabor arbeitete)
unbedacht verraten, dass alle Studenten, sogar die
weiblichen, Dr. Ramírez heiß fanden. Das hat mich
natürlich nicht überrascht, aber als ich die Info an
Diane weitergab, wurde sie wütend. Ich hatte fast
den Eindruck, sie würde es vorziehen nicht schön
zu sein, weil sie anscheinend glaubte, deshalb als
Ärztin nicht ernst genommen zu werden. Traurig,
oder? Eine solche Gabe, und keine Dankbarkeit,
das schien mir eine echte Verschwendung. Außerdem ist ja wohl glasklar, dass eine so naive Eitelkeit
Neid anlockt—nicht meinen natürlich, aber den
anderer berufstätiger Frauen, die in einer Män-
51
Stanford, and you were looking at the very pinnacle
of the Ameritocracy standing up there.
And so what did she see in me, again? This is a
question that I might have done well to ask myself
(and maybe her) a few more times. Why did she
not want to be with one of these other doctors
ogling her? She told me once that her ex-husband,
a surgeon, had constantly asked her questions over
dinner: “Why didn’t you intubate?” “When are you
going to publish the results of that asthma case?” It
didn’t take long for Diane to get sick of this line of
questioning, especially if it was ever implied that she
was at all incompetent. Like in the conference hall
now, the questions were becoming more emotionally charged: What did this discovery mean for
terminally-diseased children, parents demanded to
know. Would it buy them more time to wait for a
cure? This part was not going quite as well.
I found her after her talk to congratulate her. She
looked tired. We had planned to lie on the beach
for the rest of the day but I had to phone in sick to
work first.
“Can you do that?” she said. The conference
hall was draining of its members: complimentary
binders, complimentary pens, complimentary food
and coffee, promotional electronic devices were left
scattered about the tables.
52
nerdomäne um ihr Aussehen kämpften. Meiner
damaligen Meinung nach war niemand mächtiger
als eine bildhübsche, junge, amerikanische Ärztin.
Sie hatte das große Los gezogen. Nicht zu vergessen, dass sie an einer Elite-Uni studiert hatte, genau
wie schon ihre Eltern, die jetzt zu den ganz Großen
in Stanford gehörten. Hier hatte man die Spitze
der amerikanischen Leistungsgesellschaft direkt vor
der Nase.
Was also sah sie nochmal genau in mir? Diese
Frage hätte ich mir selbst mal öfter stellen sollen
(oder vielleicht ihr). Warum wollte sie nicht mit
einem dieser glotzenden Ärzte zusammen sein? Ihr
Exmann, erzählte sie einmal, ein Chirurg, habe sie
dauernd beim Abendessen ausgefragt: „Warum hast
du nicht intubiert?“, „Wann wirst du die Ergebnisse
des Asthmafalls veröffentlichen?“. Nicht lange, und
Diane war die ständige Fragerei satt, besonders
wenn sie auf eine mögliche Inkompetenz ihrerseits
abzielte. So wie jetzt, im Konferenzsaal, als die
Fragen immer emotionsgeladener wurden: Was die
Entdeckung für todkranke Kinder bedeute, wollten
Eltern wissen. Ob sie so Zeit gewinnen würden, bis
es ein Heilmittel gebe? Jetzt wurde es unbequem.
Nach ihrem Gespräch suchte ich sie, um ihr zu
gratulieren. Sie sah müde aus. Wir hatten vorgehabt,
uns den restlichen Tag an den Strand zu legen, aber
ich musste mich erst auf der Arbeit krankmelden.
53
“It’s three hours earlier there,” I said. “Plenty of
time to call in a sub.”
“They don’t know you’re here?”
“I only need a note from a doctor if it’s over three
business days.”
She shook her head. “Wait, what?”
I knew where she was going with this. “Once you
ask, you’re screwed,” I said. “They wouldn’t have
agreed to it. This way, I can come.”
I made the call to the automated system (pressed
a few keys on my iBall and even left a patheticsounding voice message after the beep). We gathered
our things back at the room and went down to the
beach. She was disappointed with her performance.
“You got the information across,” I said, cracking
a can of Imperiale. “You’re sick. What else could
you have done?” I should have just held her hand.
“This isn’t a vacation for me. They invited me to
speak because I’m supposed to be one of the better
lecturers in the country. All of us here are. I let
them down.”
“Do they know you’re sick?”
“That doesn’t matter.”
She got up and said she was going to go lie down
in the room. I stayed and, turning over onto my
54
„Kannst du das machen?“, sagte sie. Die Mitglieder verließen nach und nach den Konferenzsaal:
Werbehefter, Werbestifte, Snacks, Kaffee und zu
Werbezwecken verteilte elektronische Geräte lagen
verstreut auf den Tischen herum.
„Dort ist es drei Stunden früher“, sagte ich.
„Genug Zeit, um eine Vertretung zu finden.“
„Die wissen gar nicht, dass du hier bist?“
„Ich brauche doch bloß ein ärztliches Attest,
wenn ich mehr als drei Arbeitstage fehle.“
Sie schüttelte den Kopf. „Moment mal, was
bitte?“
Ich wusste, worauf sie hinauswollte. „Wenn du
fragst, kannst du’s gleich vergessen“, sagte ich. „Die
wären nie einverstanden gewesen. Aber so kann ich
hier sein.“
Ich rief das vollautomatisierte System an (drückte
ein paar Tasten auf meinem iBall und hinterließ
sogar eine erbärmlich klingende Nachricht nach
dem Signalton). Wir brachten unsere Sachen aufs
Zimmer und gingen runter zum Strand. Sie war
nicht zufrieden mit ihrer Leistung.
„Du hast doch die Infos rübergebracht“, sagte ich
und öffnete eine Dose Imperiale. „Du bist krank.
Was hättest du denn noch tun sollen?“ Ich hätte
besser nur ihre Hand gehalten.
55
belly, drew lines in the sand through the slats in the
lounge chair. She must have been feeling awful. The
horrible thought of her snooping through my travel
bag and discovering the Viagra I occasionally used
when she was particularly insatiable popped into
my head. I started walking down the beach away
from the resort.
T
***
his was where I was supposed to buy her
something nice, I guess. But as you might
have gathered, I really had no money of my own.
Adjunct teaching at East Palo Alto Community
College didn’t pay much. I could have bought her
something and charged it to the room but that’s just
crass. Besides, even though she seemed to love to
shop, Diane was always complaining about having
too many things. I could never give her a nonperishable gift, as it were, without receiving in return that
exasperated little half-smile. The only thing she
ever really liked that I gave her was a pair of yellow
and red Sugar Babies underpants with the words
‘Be My Baby’ written across the back. She had put
them on and leapt and bounded around the house
for a full five minutes before taking them off and
putting them in her chonies drawer. I used to like
to burn music I thought she’d appreciate onto old
56
„Das hier ist kein Urlaub für mich. Die haben
mich eingeladen, weil ich eine von den besseren
Rednern im Land sein soll. Wie alle hier. Ich hab
sie enttäuscht.“
„Wissen die denn, dass du krank bist?“
„Das ist doch egal.“
Sie stand auf und sagte, sie würde aufs Zimmer
gehen und sich ein bisschen hinlegen. Ich blieb,
drehte mich auf den Bauch und zeichnete durch
die Ritzen des Klubsessels Linien in den Sand. Sie
muss sich furchtbar gefühlt haben. Plötzlich kam
mir der erschreckende Gedanke, sie könne meine
Reisetasche durchwühlen und dabei auf das Viagra
stoßen, das ich gelegentlich benutzte, wenn sie
besonders unersättlich war. Ich begann den Strand
runterzulaufen, weg vom Resort.
I
***
ch schätze, das war der Punkt, an dem ich
ihr etwas Schönes hätte kaufen sollen. Aber
wie vielleicht schon deutlich wurde, hatte ich
wirklich überhaupt kein eigenes Geld. Die Stelle
als Hilfslehrer am East Palo Alto Community
College brachte fast nichts ein. Ich hätte ihr etwas
kaufen und es dann auf die Zimmerrechnung
stellen können, aber das wäre grob gewesen.
57
polycarbonate CD’s; and so in return she bought
me a digital label maker. I loved that. Then she
bought me my iBall. You can bounce it! That little
commercial song about how if it doesn’t bounce
back, you go lonely… But it always bounces back!
Boww-bow-bow…! So, write her a poem? Ok, one: as
if that were an easy thing to do and, two: I’d already
tried it. It didn’t go over very well and then I felt like
an idiot. I had to write a parody of it just to balance
the whole thing out.
It was when I was wading in the surf, up to my
calves in the lukewarm froth, humming that iBall
jingle to myself that I spied a starfish, greenish
and floating a few inches above the seafloor a little
further out. I high-stepped a couple of foamy little
breakers and then dove down and managed to
grab it in between the inhaling and exhaling of the
surge. It must have been dead. At least that’s what
I thought when I managed to capture it. There
were no rocks, no coral, no seaweed, nothing that
you would picture a live starfish enjoying in the
normal course of his daily affairs. The waves bore
me easily back to the shore and I appraised my little
trophy in the waxing sunlight, water dripping off
my eyelashes. It was even more brilliant in the air: a
near turquoise (or aquamarine, I never know which
is which) with little brown specks scattered over its
dorsal surface. It wasn’t moving, but neither was it
58
Außerdem beschwerte sich Diane dauernd darüber,
zu viel Zeug zu haben, obwohl sie eigentlich gern
shoppen ging. Ich konnte ihr nie ein, sagen wir,
haltbares Geschenk machen, ohne im Gegenzug
mit ihrem verärgerten kleinen Halblächeln bedacht
zu werden. Das einzige Zeug, das ihr von meinen
Geschenken wirklich gefiel, war ein gelb-roter Slip
von SugarBabies, auf dem hinten die Worte „Be
My Baby“ standen. Sie hatte ihn angezogen und
war fünf Minuten lang darin durchs Haus gehüpft,
ehe sie ihn wieder auszog und in den Schrank zu
den anderen Schlüpfern legte. Früher habe ich ihr
Musik, die sie, wie ich dachte, mögen würde, auf
alte Polycarbonat-CDs gebrannt; also kaufte sie mir
im Gegenzug einen digitalen Etikettendrucker. Das
fand ich großartig. Dann besorgte sie mir meinen
iBall. You can bounce it! Dieses kleine Werbelied,
springt er nicht zurück, bleibst du allein… But
it always bounces back! Boww-bow-bow…! Ihr
vielleicht ein Gedicht schreiben? Also, erstens: als
ob das so leicht wäre, und zweitens: Ich hab’s ja
schon versucht. Ist aber nicht so gut angekommen,
und danach hab‘ ich mich wie ein Idiot gefühlt.
Ich musste eine Parodie darüber schreiben, um die
Sache wieder geradezurücken.
Und dann, als ich gerade im Wasser watete,
knietief im lauwarmen Schaum der Brandung, und
leise den iBall-Werbesong vor mich hin summte,
59
stiff. I gave it a sniff and then got an idea: this would
be my gift to her.
I carried my prize back to the hotel’s cabana bar,
ordered a forty-two dollar piña colada and charged
it to the room. I set the starfish on the barstool next
to me and gave myself a spin, surveying all threehundred and sixty degrees, from the bottle-green
desert of the sea to the hotel and back again. The
pineapple and coconut on my salted tongue, the
warm breeze gently evaporating the drops on my
skin, and of course the rum all caused me to inspire
deeply through my nose; I let it out with little
shivers. After all, it is amazing how wonderful life
can be when you have money, isn’t it? And here we
were outside Old Havana under the Gemini sun
(no, no longer officially called the Tropic of Cancer
due to the precession of the equinoxes but yes, the
new nomenclature was somewhat serendipitous,
no? As a matter of fact, I had moved to the cusp of
Ophiuchus but was still considered a Sagittarius by
most zodiac calendars. Diane, on the other hand,
was no longer a Virgo; she had become something
else entirely. She…) A shirtless, hairy chunk of an
older man with a Bud Light tallboy sat down on the
stool next to me.
“You enjoying that?” he said, nodding at my piña
colada.
I was—but I knew that wasn’t what he really
60
erspähte ich plötzlich einen Seestern, grünlich
schimmernd trieb er ein paar Zentimeter über
dem Meeresboden tiefer ins Wasser hinaus. Ich
überwand ein paar kleine, schäumende Wellen,
tauchte dann ab und erwischte ihn gerade zwischen
dem Auf- und Abwallen der Brandung. Wahrscheinlich war er tot. Zumindest dachte ich das,
nachdem ich ihn zu fassen kriegte. Hier gab es
keine Felsen, keine Korallen, keinen Seetang, nichts
was einen lebendigen Seestern im normalen Ablauf
seines Tagesgeschäfts hätte erfreuen können. Die
Wellen trieben mich zurück ans Ufer, und ich
bewunderte meine kleine Trophäe im flimmernden
Sonnenlicht, während von meinen Wimpern noch
Wasser tropfte. An der Luft leuchtete er sogar
noch stärker: fast türkis (oder aquamarin, ich kann
die Farbtöne nie auseinanderhalten) mit ein paar
kleinen Spritzern Braun auf der Rückenfläche.
Er bewegte sich nicht, aber ganz steif war er auch
nicht. Ich roch daran, und dann kam mir eine Idee:
den würde ich ihr schenken.
Ich trug meine Beute zurück zur Cabana Bar des
Hotels, bestellte für 42 Dollar einen Piña Colada
und ließ ihn auf Zimmerrechnung stellen. Ich
legte den Seestern auf den Barhocker neben mich,
stieß mich ab und ließ mich drehen, wobei ich die
ganzen 360 Grad an mir vorübergleiten ließ, von
der weinflaschengrünen Meereswüste zum Hotel
61
wanted to know.
“Looks like you need a man’s drink. Shots on me,”
he said.
I stared at him for a second. “What’s the occasion?”
He gestured grandly toward the hotel. His scalp,
nose and lips were peeling badly. “And one for you
too,” he said to the bartender, who was pouring out
a bottle of some kind of cane liquor or Mesoamerican guaro. We all lifted our glasses. “Salud!” the old
man said. His body odor was oppressive.
“Salud,” we said.
He slammed his glass down. “No, look. I know
what you’re thinking. These scientists, doctors,
they’re just being prudent. It’s their job.” He must
have been referring to Diane’s talk. But he didn’t
strike me as a doctor, or even a journalist.
“I guess,” I said.
“No guessing. We’re all going to be living for two,
maybe three hundred years before we suffer some
freak aneurysm… or die in a car wreck.” He turned
his stool so that he was directly facing me. I sipped
my cocktail. “I’m seventy-eight,” he said, poking
himself in the chest. “So they better hurry and get
this thing done and in the trucks.”
I frowned into my drink.
62
und wieder zurück. Der Geschmack von Ananas
und Kokosnuss auf meiner salzigen Zunge, die
warme Brise, die sanft die Tropfen auf meiner Haut
verdampfen ließ, und natürlich der Rum ließen
mich einmal tief durch die Nase einatmen; mit einem kleinen Schaudern atmete ich aus. Mal ehrlich,
ist es nicht unglaublich, wie wahnsinnig schön das
Leben sein kann, wenn man Geld hat? Und hier
sitze ich, nicht weit vom historischen Stadtkern
Havannas, unter der Sonne im Zeichen der Zwillinge (nein, wegen des Voranschreitens der Tagundnachtgleiche offiziell nicht mehr „Wendekreis
des Krebses“ genannt, aber ja, der neue Begriff traf
irgendwie ins Schwarze, oder? Tatsächlich war ich
jetzt in das Sternbild des Schlangenträgers gerückt,
obwohl die meisten Sternzeichenkalender mich immer noch als Schütze listeten. Diane wiederum war
keine Jungfrau mehr; sie war jetzt was ganz anderes.
Sie war…) Der nackte, stark behaarte Oberkörper
eines älteren Mannes schob sich in mein Blickfeld.
Der Mann ließ sich auf den Hocker neben mich
plumpsen, ein Glas Bud Light in der Hand.
„Schmeckt’s?“, fragte er und machte eine nickende
Kopfbewegung zu meinem Piña Colada.
Ja, es schmeckte—aber ich wusste, dass er sich in
Wirklichkeit für etwas anderes interessierte.
„Sieht so aus, als bräuchtest du was Härteres. Die
Shots gehen auf mich“, sagte er.
63
“Seventy-eight and I can still read, play golf,
swim, travel, think… reason.” He knocked on the
wooden counter. “I probably won’t risk swimming
in the ocean now, though. Ha! And I might even
consider taking the slow boat back to FLA rather
than flying, but…” he waved his hand at me. “Bah!
It doesn’t matter at all!” He laughed out loud again.
“In two or three decades they’ll probably figure out
how to reverse the aging process.” He slapped me on
the arm.
I smirked, still looking at the yellowy foam of my
drink. I could feel his scrutiny.
“Ah, you can’t appreciate it because you’re young.
You think you’re going to live forever anyway, don’t
you?”
I couldn’t help it; I really didn’t want to know
what he thought but I asked him about the overpopulation issue. You know, the main thing?
“People will just have to get sterilized.” He said
it would just be one of the costs inherent in getting
this thing done. We’d simply be giving up one form
of immortality for another. “You have kids?”
I shook my head.
“Good.”
But wouldn’t having to get sterilized simply
encourage people to have children beforehand? I
64
Ich starrte ihn kurz an. „Was gibt es zu feiern?“
Er zeigte prahlerisch in Richtung Hotel. Seine
Kopfhaut, Nase und Lippen schälten sich übel.
„Und dir geb‘ ich auch einen aus“, sagte er zum Bartender, der gerade irgendeinen Zuckerrohrschnaps
oder mittelamerikanischen Guaro einschenkte.
Wir hoben unsere Gläser. „Salud!“, sagte der Alte.
Sein Körpergeruch war bestialisch.
„Salud“, sagten wir.
Er knallte das Glas auf den Tisch. „Nee du,
hör mal zu. Ich weiß schon, was du denkst. Diese
Wissenschaftler, diese Herren Doktoren, die sind
bloß vorsichtig. Ist ja ihre Arbeit.“ Er muss sich auf
Dianes Rede bezogen haben. Aber er sah nicht aus
wie ein Arzt, nicht mal wie ein Journalist.
„Klar, vielleicht“, sagte ich.
„Kein vielleicht. Wir werden alle zwei- oder
vielleicht dreihundert Jahre lang leben, bevor wir
irgendein abgedrehtes Aneurysma bekommen…
oder in einem Autounfall sterben.“ Er drehte sich
auf dem Hocker, sodass er mir jetzt gerade ins
Gesicht schaute. Ich nippte an meinem Cocktail.
„Ich bin achtundsiebzig“, sagte er und klopfte sich
auf die Brust. „Die sollen sich also besser beeilen
und das Ding startklar machen.“
Ich sah skeptisch in mein Glas.
65
said. And as many as possible, at as young an age
as possible? The drug was bound to be expensive
too. What insurance was going to cover it? And
even if you found a way to pay for the drug, you still
had to feed, clothe and house yourself indefinitely,
didn’t you? So you could never really retire. Or
could you? Would you want to? I realized then (as
I was not really believing what I was saying) that if
the drug ever did somehow become available to the
public, Diane would most likely be my only hope of
accessing it.
The man threw a Sitting Bull on the counter, got
up and left.
I signed Diane’s name to the bill, tipped the
guy ten bucks and asked him for a plastic to-go
container like the one that I had seen a fat couple
walk away with. I separated the transparent lid, an
octagonal piece about three inches deep and ten
inches in diameter, and threw the black bottom
away. I walked back down to the surf and filled the
thing with an inch of whitish sand and placed the
starfish on top of it. I added some colorful shells,
a sand dollar, a few little rocks and corals—pink,
maroon, baby blue.
***
„Achtundsiebzig, und ich kann immer noch
lesen, Golf spielen, schwimmen, reisen, denken…
schlussfolgern.“ Er klopfte auf den Holztresen.
„Allerdings würde ich es jetzt wohl nicht mehr
riskieren, im Ozean zu schwimmen. Ha! Und ich
würde wohl eher gemütlich mit dem Boot zurück
nach Florida schippern statt zu fliegen, aber…“, er
machte eine Handbewegung in meine Richtung.
„Pfff, ist ja sowieso egal.“ Er lachte laut. „In zwei
oder drei Jahrzehnten finden die bestimmt raus, wie
man den Alterungsprozess umkehrt.“ Er schlug mir
auf den Arm.
Ich grinste, ohne die Augen vom gelblichen
Schaum meines Drinks zu lösen. Ich spürte seinen
Blick von der Seite.
„Ach, du kannst das nicht wertschätzen, du bist
noch jung. Du glaubst, du lebst ewig, stimmt’s?“
Ich konnte nicht anders; ich interessierte mich
überhaupt nicht für seine Meinung, aber ich sprach
ihn auf die Sache mit der Überbevölkerung an. Das
große Thema eben.
„Die Leute müssen sich sterilisieren lassen.“ Das,
sagte er, sei nun mal der Preis, den man für diese
Sache zahlen müsse. Wir würden einfach eine
Form der Unsterblichkeit für eine andere aufgeben.
„Haben Sie Kinder?“
Ich schüttelte den Kopf.
66
67
B
lue is the color of royalty—but so is purple.
What is the color of the gods? Gold? White?
Diane asked me if the starfish was dead when I
found it. I said I wasn’t sure. But a day later the
starfish really started stinking and so it may have
been that it was alive when I captured it. I may have
killed the starfish. This was very upsetting to Diane
who was a little fanatic about the policy of taking
only photographs and leaving only footprints. I
believed in that maxim too; and even though I had
been told I had a subtle wa that could move like
young Grasshopper over unbroken rice paper, I
seemed to always end up snuffing some delicate
organism by accident—some fickle houseplant or
flowery fish. And it seemed to only happen when I
was around her. I eventually got upset myself and
told her that the gesture was worth the life of the
damn starfish; she was sick and unable to come to
the beach and here I was bringing the beach to her.
Didn’t she see that maybe the starfish would have
gladly sacrificed its life for such a thing as love?
She never fell for that kind of stuff. Looking back,
maybe I told her lots things I thought she wanted to
hear. Was that so bad?
The next day, when she was physically feeling
better we took the little aquarium I had made for
her down to the ocean. She captured an eMoment
of it on her iBall and then tossed the contents
68
„Gut.“
Aber würde die Einführung einer Sterilisierungspflicht, sagte ich, die Leute nicht ermutigen,
vorher schnell noch Kinder zu kriegen? Und so viele
wie möglich, im frühestmöglichen Alter? Abgesehen
davon würde die Droge sicher teuer sein. Welche
Versicherung würde sie übernehmen? Und selbst
wer die Droge irgendwie bezahlen könne, der müsse
sich immer noch auf unbegrenzte Zeit ernähren,
einkleiden und irgendwo wohnen, oder etwa nicht?
Man würde also nie wirklich in den Ruhestand
treten können. Oder doch? Würde man das wollen?
Mir wurde schlagartig bewusst (nachdem ich nicht
wirklich glaubte, was ich sagte), dass Diane—sollte
die Droge jemals öffentlich zugänglich gemacht
werden—mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit meine einzige Hoffnung sein würde,
jemals an sie ranzukommen.
Der Mann warf eine Sitting-Bull-Münze auf den
Tresen, stand auf und ging.
Ich unterzeichnete die Rechnung mit Dianes
Namen, gab dem Typen zehn Dollar Trinkgeld
und fragte nach einem von diesen Plastikbehältern
zum Mitnehmen, womit ein fettes Pärchen eben
weggegangen war. Ich nahm den durchsichtigen
Deckel ab—das Teil war achteckig, ungefähr acht
Zentimeter tief und hatte einen Durchmesser von
vielleicht fünfundzwanzig Zentimetern—und warf
69
back into the waves. Then we played a game of
giant chess near the tennis courts, using life-sized
sculptures as pieces, pushing them around with our
hands and feet. “The way you treat jobs is how I
am with relationships,” she said after seizing one of
my bishops and carrying him off into the grass. “It
makes me nervous.”
den schwarzen Boden weg. Ich lief zurück zum
Strand und füllte das Ding mit ein paar Zentimetern weißlichem Sand und legte den Seestern oben
drauf. Ich fügte ein paar bunte Muscheln bei, einen
Sanddollar, ein paar kleine Steinchen und Korallen—pink, kastanienbraun, babyblau.
“That makes you nervous?” I said.
Later, in the hot tub, I said let’s talk about the
wedding. We had not yet set a date.
“I don’t think I’m ready for that,” she said.
“Which, the date or the wedding in general?”
“There are just a lot of things going on at the
moment.”
“You mean with work?” I gestured back toward
the hotel.
“Yeah.”
I nodded. “How about if I just moved in, then.
For now.”
“I don’t think I’m ready for that either, Acton.”
It’s amazing how fast things can develop when
people make up their minds. The rest of the trip
consisted of long walks along the beach; we went
on hikes out to jungle waterfalls. On one of the
nights I met some of her colleagues at a formal
70
B
***
lau ist die Farbe des Adels—genau wie
Purpur. Was ist die Farbe der Götter? Gold?
Weiß? Diane fragte mich, ob der Seestern tot war,
als ich ihn fand. Ich sagte, ich sei mir nicht sicher.
Aber einen Tag später fing der Seestern wirklich
zu stinken an, also kann es schon sein, dass er
noch am Leben war, als ich ihn fing. Vielleicht
habe ich den Seestern getötet. Das ärgerte Diane
sehr, die sich streng an den Grundsatz hielt, nur
Fotos zu machen und nie mehr als Fußstapfen zu
hinterlassen. Ich glaubte auch an die Maxime; und
obwohl mir mal jemand gesagt hat, dass ich ein sehr
subtiles wa habe, das sich wie ein junger Grashüpfer
auf einem heilen Bogen Reispapier bewegen könne,
zerstörte ich am Ende doch immer aus Versehen
irgendeinen sensiblen Organismus—eine launische
Pflanze oder einen schillernden Fisch. Und es sah
so aus, als passierte das immer nur dann, wenn
sie in der Nähe war. Irgendwann wurde ich selber
71
charity dinner function and made a fool of myself
by gladly accepting and using up everyone’s free
drink tokens (turns out the bar tab wasn’t prepaid
and all that liquid gold I was sucking down could
have gone to the Havana Children’s Hospital—but
nobody had said anything). On our last full day, we
sailed out to a snorkeling reef on board the sloop
Santa Buenaventura. The deck hands had prepared
a lunch of sizzling carnitas, saffron rice, hearts of
palm and little fried bananas and then produced
jugs full of rum and juice ready for the mixing. I got
drunk again. We anchored and I swallowed some of
the concentrated oxygen pills that had been made
available and flung myself off the boat’s waterslide
into the sea. I still have an image of Diane following
me, holding her nose with one hand and throwing
her other hand up like a child. I let myself sink
about twenty feet to the ocean floor and sat there
cross-legged for a while, still as a stone Buddha. It
was only about ten minutes before the brilliant little
fish began noiselessly pecking at the tiny bubbles
on my arms and I remember thinking that I had
already begun to serve a purpose down here. I
looked up through the sapphire and into the waxen
sun, past Diane frolicking on the surface. Despite
everything, and Diane’s attitude and our relationship at the time, that was one of the most peaceful,
light and carefree feelings I have ever experienced. I
stayed until the pressure in my abdomen caused me
72
wütend und sagte, dass die Geste das Leben dieses
verdammten Seesterns wert war; sie war krank und
nicht in der Lage, runter zum Strand zu kommen,
und ich, ich bringe den Strand zu ihr. Sah sie denn
nicht, dass der Seestern vielleicht mit Freude sein
Leben geopfert hätte, für so was wie die Liebe?
Sie fiel nie auf so was rein. Wenn ich jetzt zurückschaue, denke ich, dass ich ihr vielleicht viel Mist
erzählt habe, weil ich dachte, sie wollte ihn hören.
War das so schlimm?
Am nächsten Tag, als sie sich körperlich besser
fühlte, brachten wir das kleine Aquarium, das
ich ihr gebastelt hatte, runter zum Meer. Sie hielt
einen eMoment davon auf ihrem iBall fest und
schüttete den Inhalt zurück ins Wasser. Dann
spielten wir eine Partie Riesenschach in der
Nähe der Tennisplätze, verwendeten lebensgroße
Skulpturen als Figuren, indem wir sie mit unseren
Händen und Füßen hin- und herschoben. „So
wie du mit deinen Jobs umgehst, so bin ich in
Beziehungen“, sagte sie, nachdem sie einen meiner
Läufer gepackt und raus ins Gras getragen hatte.
„Sie machen mich nervös.“
„Das macht dich nervös?“, sagte ich.
Später, im Whirlpool, sagte ich, lass uns über
die Hochzeit reden. Wir hatten immer noch kein
Datum festgelegt.
73
to begin levitating like an enlightened yogi. When I
emerged, I released a terrific belch.
„Ich glaub‘ nicht, dass ich schon so weit bin“, sagte
sie.
That night back at the room, as my hangover was
kicking in and we were packing for our early morning departure, I picked up a packet full of bright
purplish-red capsules lying on the bed near Diane’s
suitcase. “Amaran?” I said.
„Wofür, für ein Datum oder für die Hochzeit
allgemein?“
She was busy in the bathroom. “I don’t know how
they come up with the names,” she said, emerging
with a mouth full of toothpaste.
“The Amaranth,” I said.
She paused her brushing.
“The mythical flower. Blooms indefinitely.”
She smiled and resumed her brushing. I took
one of the immortality capsules out and held it up
to my mouth as if I were about to eat it. Her smile
widened. “Go ahead,” she said, slobbering a little
toothpaste foam onto her chin. I moved it closer to
my mouth, opening wider. “Ahh?” I said. She went
to go spit, her voice echoing out of the sink: “You
know they’re promotional, right? Placebos?” I tossed
the packet back onto the bed.
When she came back out she told me that since
her disease could potentially be treated with the
Amaran, she was considering it. As it stood now,
only terminal patients were being enrolled in the
74
„Es ist einfach gerade so wahnsinnig viel los.“
„Du meinst, auf der Arbeit?“ Ich machte eine
Geste in Richtung Hotel.
„Ja.“
Ich nickte. „Wie wär’s, wenn ich bloß bei dir
einziehen würde. Fürs Erste.“
„Ich glaub‘, so weit bin ich auch noch nicht,
Acton.“
Es ist unglaublich, wie schnell die Dinge ihren
Lauf nehmen können, sobald jemand eine Entscheidung getroffen hat. Die restliche Reise bestand
aus langen Strandspaziergängen; wir machten
Wanderungen raus zu den Urwaldwasserfällen. An
einem der Abende traf ich ein paar ihrer Kollegen
bei einem formellen Abendessen im Rahmen einer
Wohltätigkeitsveranstaltung und machte mich zum
Affen, indem ich von allen dankbar die GetränkGutscheine annahm und einlöste (es stellte sich
heraus, dass die Barrechnung nicht vorbezahlt war
und dass das ganze flüssige Gold, das ich runterschlürfte, zugunsten des Kinderkrankenhauses
Havannas hätte gehen können—aber das hatte mir
75
initial human studies but that would change if the
research went as expected. After adjusting to the
initial shock that I had pretty much known was
coming, I asked what that might mean for us.
“You mean you and me?”
“Who else would I be talking about?” I said.
76
niemand gesagt). An unserem letzten ganzen Tag
segelten wir an Board der Slup Santa Buenaventura
raus zu einem Schnorchel-Riff. Das Deckpersonal
hatte zum Mittagessen Carnitas, Safranreis, Palmherzen und gebratene Bananen vorbereitet und
dann Krüge voller Rum und Saft hervorgezaubert,
für die Cocktails. Ich wurde wieder betrunken. Wir
ankerten, und ich schluckte eine der Sauerstoffpillen, die uns zur Verfügung gestellt worden waren,
und schwang mich über die Wasserrutschbahn des
Boots runter ins Meer. Ich sehe Diane noch vor mir,
wie sie mir folgte, wie sie sich die Nase mit einer
Hand zuhielt und die andere Hand in die Höhe
riss wie ein Kind. Ich ließ mich ungefähr sechs
Meter bis zum Meeresboden sinken und saß dort
eine Weile im Schneidersitz, reglos wie ein Buddha.
Nach nicht mehr als zehn Minuten begann ein
schillernder kleiner Fisch lautlos an den winzigen
Bläschen auf meinen Armen zu picken, und ich
erinnere mich, wie ich dachte, dass ich hier unten
bereits einen Zweck erfüllte. Ich sah hinauf durch
das Saphirblau und direkt in die flimmernde Sonne,
vorbei an Diane, die an der Wasseroberfläche
herumtollte. Trotz allem, trotz Dianes Einstellung
und unserer Beziehung damals, war dieses Gefühl
vielleicht das friedlichste, froheste und sorgloseste,
das ich je verspürt habe. Ich blieb, bis der Druck
in meinem Bauch mich schweben ließ wie einen
erleuchteten Yogi. Als ich auftauchte, entfuhr mir
77
ein mächtiger Rülpser.
Am Abend, zurück auf dem Zimmer, als mein
Kater einsetzte und wir für unsere frühmorgendliche Abreise packten, griff ich nach einer Schachtel
voller leuchtend violett-roter Kapseln, die auf dem
Bett in der Nähe von Dianes Koffer lag. „Amaran?“,
sagte ich.
Sie war im Badezimmer beschäftigt. „Keine
Ahnung, wie die auf die Namen kommen“, sagte sie
und erschien mit Zahnpasta im Mund.
„Der Amarant“, sagte ich.
Sie hielt inne.
„Die mythische Blume. Blüht ewig.“
Sie lächelte und putzte sich weiter die Zähne.
Ich nahm eine der Unsterblichkeitskapseln aus
der Schachtel und hielt sie an meinen Mund, so
als ob ich sie schlucken wolle. Ihr Lächeln wurde
breiter. „Na los“, sagte sie und Schaum kleckerte
auf ihr Kinn. Ich näherte die Kapsel meinem
Mund, öffnete ihn noch mehr. „Ahh?“, sagte ich.
Sie spuckte aus, ich hörte ihre Stimme im Waschbecken widerhallen: „Du weißt schon, dass die nur
zum Werbezweck sind. Placebos?“ Ich warf die
Schachtel zurück aufs Bett.
Als sie zurückkam, sagte sie, dass sie darüber
nachdenke, Amaran zu nehmen, weil ihre
78
79
Krankheit womöglich damit geheilt werden könne.
So wie es derzeit aussah, wurden nur tödlich
erkrankte Patienten in den ersten menschlichen
Studien aufgenommen, aber das würde sich
ändern, wenn die Forschung sich so entwickelte wie
erwartet. Nachdem ich den anfänglichen Schock
überwunden hatte, von dem mir klar gewesen war,
dass er kommen würde, fragte ich, was das für uns
bedeutete.
„Du meinst, dich und mich?“
„Wen sollte ich sonst meinen“, sagte ich.
81
lmann
e
d
a
t
S
Juliane
d tot
n
i
s
r
e
d
Die Kin
ead
D
e
r
A
s
n
The Kid
a n s la t io
tr
by
u ic k
Bryan Q
Es spielen:
Kommissar
UDO
TOM
HANS
Dramatic Persons:
Police Inspector
UDO
TOM
HANS
Ein sogenanntes Tumbleweed TW
TUMBLEWEED TW
1
1
Das Erdgeschoss eines Plattenbaus. Ausgebaut zu
einer Kneipe. Es riecht nach angebratenen Zwiebeln
und süß-sauer eingelegten Gurken. Der Junge Tom
sitzt mit Hut an der Bar. Einen Gehstock an seinen
Hocker gelehnt. Vor ihm ein Whiskey-Glas. Der
Kommissar betritt den Raum durch eine Schwingtür.
Ein Tumbleweed wirbelt herein.
TW
How do you move in a world of fog
That’s always changing things
Makes me wish that I could be a dog
The ground floor of an Eastern Bloc housing
development, turned into a pub. It smells of burned
onion and bread-and-butter pickles. A boy, TOM, sits
at the bar with his hat on. A walking stick leans against
his stool. In front of him is a whiskey glass. The Police
Inspector, UDO, enters the room through a swinging
door. TUMBLEWEED swirls in.
TW
When I see the price that you pay
I don’t wanna grow up
I don’t ever wanna be that way
I don’t wanna grow up
84
How do you move in a world of fog
That’s always changing things
Makes me wish that I could be a dog
When I see the price that you pay
I don’t wanna grow up
I don’t ever wanna be that way
I don’t wanna grow up
UDO
Hi!
UDO
Hi.
TOM
Hi ho!
TOM
Hi ho.
85
UDO
Günther`s Eck hier?
UDO
This Gunther’s Corner here?
TOM
Günther`s Eck hier, Mister.
TOM
Gunther’s Corner, mister.
UDO
Das hab ich gesucht.
UDO
That’s what I wanted.
TOM
Und gefunden. Schätz ich.
TOM
And found, I guess.
UDO
Und wer bist du?
UDO
And who are you?
TOM
Ich bin Tom.
TOM
I’m Tom.
UDO
Hi Tom.
UDO
Hi Tom.
TOM
Hi…
TOM
Hi…
UDO
Udo!
UDO
Udo!
TOM
Hi Udo.
TOM
Hi Udo.
UDO
Wie alt bist du denn, Tom?
UDO
Say, how old are you, Tom?
TOM
Wie alt sind sie denn, Mister Udo?
TOM
Say, how old are you, Mister Udo?
Ich meine, bist du alt genug für das da?
UDO
TOM
Ich weiß nicht. Wie alt muss man
denn sein für Beckers Besten?
TOM
I don’t know. How old ya gotta be for
an apple juice?
UDO
Nicht so alt.
UDO
Not so old.
TOM
Dachte ich mir.
TOM
Thought so.
UDO
86
(Zeigt auf Toms Glas.)
I mean, are you old enough for that?
(Points to TOM’s glass.)
87
88
UDO
Ein Bier bitte.
UDO
A beer, please.
TOM
Hans, mach dem Mister hier mal ein
Krösti klar!
TOM
Hans, get the gentleman a beer.
UDO
Udo. Call me Udo.
UDO
Udo. Nenn mich Udo.
TOM
So get Udo a beer.
TOM
Mach mal Udo ein Krösti klar.
UDO
UDO
Ist das immer so leer hier am Nachmittag?
Is it always this empty in the
afternoon?
TOM
TOM
Ich weiß nicht, Udo. Ich bin normalerweise abends hier.
I don’t know Udo. I usually come here
in the evening.
UDO
Gotcha.
UDO
Achso.
TOM
TOM
Und sie? Sind neu in der Gegend
schätze ich?
And you? You’re new around here, I
guess.
UDO
I’m a Police Inspector.
TOM
I wasn’t asking that.
UDO
I’m investigating. Because of a crime.
UDO
Ich bin Kommissar.
TOM
Das ist nicht die passende Antwort.
UDO
Ich ermittle. Wegen eines Verbrechens.
TOM
Gotcha. A sheriff. (The beer is served.)
TOM
Achso. Ein Sheriff. (Bier kommt.)
UDO
Thanks, Hans. No, an Inspector.
UDO
Danke, Hans. Nein, Kommissar.
TOM
What happened, Sheriff?
TOM
Was ist denn passiert, Sheriff?
UDO
A crime.
89
UDO
Ein Verbrechen.
TOM
Hört, hört! Hansi, hast du das gehört?
HANS
Hab ich gehört kleiner Tom!
TOM
Eine Schande. (Trinkt Beckers Besten.)
UDO
Ja. Schweinerei.
TOM
Nein. Ich meine, dass wir nur Besuch
kriegen, wenn was passiert.
UDO
Willst du mir erzählen, was du weißt?
TOM
Ich weiß von nichts.
UDO
Erzähl es mir ruhig.
TOM
Macht doch keinen Sinn. Außerdem
hab ich keine Zeit. Ich muss zum
Stickertauschen an den Süd-Sandkasten.
Ya hear! Ya hear! Hansi, did you hear
that?
HANS
I heard, little man!
TOM
A shame. (Drinks his apple juice.)
UDO
Yeah. A filthy mess.
TOM
No. I mean, that we only get visitors if
something happens.
UDO
Want to tell me what you know?
TOM
I don’t know anything.
UDO
You can tell me.
TOM
It wouldn’t change anything. Besides,
I don’t have time. I’ve gotta go trade
some cards at the south playground.
UDO
Tom, your name’s Tom, right?
UDO
Tom, du heißt doch Tom, oder?
TOM
Yup.
TOM
Jepp.
UDO
UDO
Ich glaube, du könntest mir eine große
Hilfe sein. Ich brauche jede Hilfe.
I think you could be a big help to me. I
need all the help I can get.
TOM
So I’m out of here.
TOM
90
TOM
Also ich muss dann los.
Silence. The swinging door swings, but no one enters.
TUMBLEWEED blows through the room.
91
Stille. Die Klapptür klappt, aber niemand kommt rein.
Das Tumbleweed weht durch den Raum.
UDO
92
Also gut. Ich will dich nicht aufhalten.
Hat mich gefreut, Tom. Wenn dir
noch was einfällt…ich bin in der
Gegend.
UDO
Alright. I don’t want to keep you. A
pleasure, Tom. When you think of
something you want to tell me, I’m
around.
TOM
Thought so. (TOM Goes.)
TW
There are always winds
That one can barely feel,
Carrying dust,
Blowing faintly,
Leaving dirt all down your heel.
HANS
Udo…Mister…. What’s your name?
UDO
Udo.
HANS
Udo. I just wanted to say, we don’t talk
about that around here.
UDO
What that’s?
HANS
I‘m sayin’ around here we don’t talk
about that.
TOM
Hab ich mir gedacht. (Tom geht.)
TW
Da sind immer Winde,
die man kaum spüren kann,
tragen Staub
es wehet leise,
und kommt als Dreck dann an.
HANS
Udo…Mister…so heißen sie doch?
UDO
Udo.
HANS
Udo. Wollte bloß gesagt haben, dass
das hier kein Thema ist.
UDO
Wie meinen?
HANS
Das ist hier kein Thema, sag ich.
UDO
Sie wissen, dass hier ein schreckliches
Verbrechen passiert ist?
UDO
You know a terrible crime was
committed.
HANS
Jeder weiß es.
HANS
Everyone knows it.
93
UDO
Und ich bin hier, um herauszufinden
wer schuld ist.
UDO
And I’m here to find out who’s to
blame.
HANS
Hier drinnen ist niemand schuld.
Noch ein Pils?
HANS
Around here, no one is to blame.
Another beer?
UDO
Danke, Hans. Nein. (Udo erhebt sich und
UDO
Thanks, Hans. No. (UDO rises and goes to
geht zur Tür.)
HANS
the door.)
Schuld. Das ist ein weites Feld. Da
draußen.
HANS
2
2
Vor der Kneipe. Udo setzt sich auf die Treppe, steckt
sich eine Zigarette an und guckt prüfend in die Luft.
Das Ende der Hochhäuser und den Anfang vom
Himmel kann man nicht unterscheiden. Grau in grau.
Zwei Jungen setzen sich zu ihm auf die Treppe. Starren
ihn an. Sie sind etwa in Toms Alter.
UDO
Na, ihr zwei?
JUNGE 1 Na, Arschloch?
JUNGE 2 Arschloch Arschloch!
UDO
Was ist denn mit euch los?
JUNGE 1 Hast du was zu fressen Arschloch?
94
Blame. That’s a sea of troubles out
there.
Before the pub. UDO sits down on the steps, lights a
cigarette and looks around pensively. The grey sky is
converging on the grey high-rise buildings. Two BOYS
sit down beside him on the steps. They stare at him.
They are about Tom’s age.
UDO
Well, you two?
BOY 1
Well, asshole?
BOY 2
Asshole! Asshole!
UDO
What’s wrong with you guys?
BOY 1
Do you have something for us to eat,
asshole?
95
JUNGE 2 Arschloch Arschloch!
BOY 2
Asshole! Asshole!
UDO
UDO
Don’t they feed you at home?
BOY 1
Fuck you!
BOY 2
Fuck you, asshole!
UDO
If you want something from me, you
should at least try to be nice.
BOY 2
We’ll stab you!
JUNGE 2 Wir stechen dich ab!
UDO
Careful now!
UDO
BOY 1
YOU be careful!
JUNGE 1 Sei DU vorsichtig!
UDO
That’s enough guys!
UDO
Hey, es reicht Jungs!
BOY 1
(Pulls out a knife.) I say when it’s enough!
JUNGE 1 (Zieht ein Messer.) ICH sag wann es
reicht!
UDO
(Pushes one side of his jacket open, so that they
can see his service weapon.) I don’t think so,
Bekommt ihr zu Hause nichts zu
essen, oder was?
JUNGE 1 Fick dich!
JUNGE 2 Fick dich, Arschloch!
UDO
UDO
96
Also wenn ihr was von mir wollt,
müsst ihr wenigstens versuchen, nett
zu sein.
Vorsichtig!
(Schiebt eine Seite seines Sakkos zur Seite, so
dass man seine Dienstwaffe sieht.) Ich denke
little fart knocker!
BOY 2
Asshole has a gun!
nicht, Furzknoten.
BOY 1
(Hits the other boy in the face.) Shut up!
JUNGE 2 Das Arschloch hat ne Knarre!
UDO
JUNGE 1 (Schlägt dem anderen Jungen ins Gesicht.)
Halt`s Maul!
Now calm down! And bring me to
your parents.
BOY 2
I’ll rip open your chest and shit on
your heart!
97
UDO
Jetzt beruhigt euch mal! Und bringt
mich zu euren Eltern.
The BOYS run away. UDO stays, sits smoking in front
of the pub. Much time passes.
JUNGE 2 Ich reiß dir die Brust auf und scheiß
dir ins Herz!
3
Die Jungen laufen weg. Udo bleibt rauchend vor der
Kneipe sitzen. Viel Zeit vergeht.
TOM is on a swing. He brings momentum to the swing
by ramming his walking stick into the earth again and
again. UDO approaches him. He sits down on the
empty swing next to TOM. All around the buildings
stare at them. The glass slabs of curtain-less windows
form rows of haunting eyes.
3
Tom schaukelt. Er holt Schwung, indem er seinen
Gehstock immer wieder vor sich in die Erde rammt.
Udo kommt auf ihn zu. Setzt sich auf die leere
Schaukel neben Tom. Um sie herum starren die Platten
aus gardinenlosen Fenstern. Das Tumbleweed fegt über
den Spielplatz.
TW
98
Ein trauriger Indianer
sitzt da und ißt sein Eis
Straciatella und Banana
Das ist alles, was er weiß.
UDO
Hast du keine Angst vor der Zukunft,
Tom?
TOM
Ich habe keine Angst davor, eines
Tages mit Aluminiumunterwäsche in
einer Raumstation zu sitzen, wenn sie
das meinen, Mister.
TUMBLEWEED sweeps about the playground.
TW
A gloomy Indian
Sits and eats his ice cream cone
Straciatella and banana
That is all he’s ever known.
UDO
Are you afraid of the future, Tom?
TOM
I’m not afraid I’m going to end up
on a space station in aluminum-foil
underwear—if that’s what you mean,
Mister.
UDO
Not exactly.
TOM
Then I don’t know.
UDO
I see.
99
100
UDO
Not exactly.
TOM
Any progress with your investigation?
TOM
Dann weiß ich es nicht.
UDO
No.
UDO
Ich verstehe.
TOM
What seems to be the problem?
TOM
Sind sie weiter gekommen mit ihren
Ermittlungen?
UDO
No one wants to talk.
TOM
Now, Mister Udo. I talk a lot.
UDO
Nein.
UDO
Yeah, that’s true.
TOM
Was ist denn das Problem?
TOM
Then ask me something.
UDO
Dass keiner redet.
UDO
Where do you live?
TOM
Nun. Mister, Udo. Ich rede doch sehr
viel.
TOM
I live in 7b. Just above Gunther’s
Corner.
UDO
Ja, das stimmt.
UDO
With your family?
TOM
Dann fragen sie mich doch mal was.
TOM
Not exactly.
UDO
Wo ist denn dein zu Hause?
UDO
Your mother?
TOM
Ich wohne in der 7b. Gleich über
Günther`s Eck.
TOM
Nope.
UDO
Mit deiner Familie?
UDO
Your father?
TOM
Not exactly.
TOM
Nope.
UDO
Deiner Mutter?
UDO
Your brothers and sisters?
TOM
Only child, Mister.
TOM
Nope.
UDO
Who do you live with?
UDO
Deinem Vater?
TOM
Well, alone, Udo.
TOM
Nope.
UDO
What?
UDO
Deinen Geschwistern?
TOM
Is there a problem with that?
TOM
Only child, Mister.
UDO
You’re jerking my chain, son…
UDO
Mit wem denn bloß?
TOM
You got something against chains?
TOM
Na alleine, Udo.
UDO
UDO
Was?
No, I don’t. But I got something
against crime.
TOM
Ist daran was auszusetzen?
TOM
That makes two of us.
UDO
Du erzählst mir Märchen Junge…
UDO
Did you know those two boys, Tom?
TOM
Haben sie was gegen Märchen?
TOM
We weren’t exactly buddies… but yes.
I’d seen them around, I guess.
UDO
Nein, habe ich nicht. Aber ich habe
etwas gegen Verbrechen.
UDO
And didn’t you notice that you stopped
seeing them around?
TOM
Da sind wir ja schon zwei.
TOM
Yes.
UDO
Kanntest du die beiden Jungen, Tom?
UDO
TOM
Wir waren nicht gerade Buddies…
aber ja. Ich kannte sie vom Sehen.
And didn’t you wonder what might
have happened to them?
TOM
Yes.
UDO
And what did you think happened to
them?
UDO
102
Und ist dir nicht aufgefallen, dass sie
immer seltener zu sehen waren?
103
104
TOM
Ja.
UDO
Und hast du dir da nicht Gedanken
gemacht, was mit ihnen sein könnte?
TOM
Ja.
UDO
Und was hast du gedacht, was mit
ihnen ist?
TOM
Ich habe gedacht, vielleicht sind sie
einfach gestorben. Und so war es ja
auch. Manche schaffen es eben. Und
manche nicht.
TW
I look like hell but I`m going to see
where it gets me.
TOM
I thought maybe they just died. And
that’s what it was. Some people make
it, and some don’t.
TW
I look like hell but I’m going to see
where it gets me.
I don’t wanna grow up
I don’t wanna have to shout it out
I don’t want my hair to fall out
I don’t wanna be filled with doubt
I don’t wanna be a good boy scout
I don’t wanna have to learn to count
I don’t wanna have the biggest amount
I don’t wanna grow up
I don`t wanna grow up
UDO
Why do you wear a hat, Tom?
I don’t wanna have to shout it out
I don’t want my hair to fall out
I don’t wanna be filled with doubt
I don’t wanna be a good boy scout
I don’t wanna have to learn to count
I don’t wanna have the biggest amount
I don’t wanna grow up
TOM
For the sun, I guess.
UDO
And the walking stick?
TOM
It holds me up.
UDO
Tom, how old are you?
TOM
Pretty-old-almost-dead.
UDO
That isn’t an age.
UDO
Wozu hast du einen Hut, Tom?
TOM
Na gegen die Sonne.
105
106
UDO
Und der Spazierstock?
TOM
Yeah it is. Only not in numbers.
TOM
Stützt mich.
UDO
Where is your father?
UDO
Tom, wie alt bist du?
TOM
Left the house and never came back.
TOM
Ziemlich-alt-fast-tot.
UDO
Tom, come with me! I can help you.
UDO
Das ist kein Alter.
TOM
TOM
Doch. Nur nicht in Zahlen.
So you’re saying you can throw a piano
out of the 12th floor? I’d really like to
hear how that sounds.
UDO
Wo ist dein Vater?
UDO
No. I can’t do that.
TOM
Ging aus der Wohnung und kam nie
wieder zurück.
TOM
Then you can’t help me, Mister.
UDO
Mensch, Tom, komm mit mir! Ich
kann dir helfen.
TW
I look like hell but I’m going to see
where it gets me.
TOM
Sie meinen, sie können ein Klavier
aus dem 12. Stock werfen, damit ich
endlich höre, wie das klingt?
UDO
Nein. Das kann ich nicht.
TOM
Dann sind sie mir keine Hilfe, Mister.
TW
I look like hell but I`m going to see
where it gets me.
4
Kiosk in the housing development. A tattered advertisement banner hangs askew from a barred window.
In front of that, on a camping chair, sits HANS the
barkeep. He reads a sports magazine.
HANS
Damn guinea-wop-bastards, those
bastards… those—
UDO
Hello Hans. No pub today?
107
4
Kiosk in der Siedlung. Eine zerfledderte BILD-Fahne
hängt windschief vor einem vergitterten Fenster. Davor
auf einem Campingstuhl sitzt Hans, der Barkeeper,
und ließt den Kicker.
108
HANS
Yeah. Day off.
UDO
Fair enough…
HANS
Is there a problem, Sheriff?
UDO
Yes. There is. Actually.
HANS
Itacker, die Hurenböcke…die!
HANS
Maybe you should just let it rest.
UDO
Hallo Hans, Kneipe zu?
UDO
It’s not my job to let things rest.
HANS
Ja. Ruhetag.
HANS
What about the dead?
UDO
Muss auch mal sein…
UDO
HANS
Gibt`s ein Problem, Sheriff?
Hans, what do you know about those
kids?
UDO
Ja. Gibt es. Tatsächlich.
HANS
I already told you, we don’t talk about
that around here.
HANS
Vielleicht sollten sie das Ganze
einfach ruhen lassen.
UDO
Did you know the two?
UDO
Es ist mein Job, die Dinge nicht ruhen
zu lassen.
HANS
I’d seen them around.
UDO
And didn’t you notice that at some
point you stopped seeing them
around?
HANS
What do I know… What do I care
about other people’s kids? There are
too many of them anyway. (Mumbles.)
How many kids can the world bear…
HANS
Und die Toten?
UDO
Hans, was wissen sie über die Kinder?
HANS
Ich hab ihnen schon gesagt, das ist hier
kein Thema…
UDO
Haben sie die beiden gekannt?
109
HANS
Vom Sehen vielleicht.
UDO
What?
UDO
Und ist ihnen nicht aufgefallen, dass
sie irgendwann nicht mehr zu sehen
waren?
HANS
Leave me alone with this shit… in
peace! We live in peace here!
UDO
And what about Tom? Do you provide
for him?
HANS
(Laughs.) Provide!! You think because I
HANS
UDO
Was?
HANS
Lassen sie mich mit ihrem Kram zu
Frieden. Wir leben hier in Frieden!
UDO
HANS
UDO
110
Was weiß ich denn…Was gehen mich
fremde Kinder an? Gibt sowieso zu
viele von denen hier. (Nuschelt.) Wieviele
Kinder verträgt die Welt…
give him a few glasses of apple juice I
buy his diapers or something?
UDO
Who provides for the boy?
HANS
Well, his parents!
Und was ist mit Tom? Versorgen sie
ihn?
UDO
He has no PARENTS! He said he
lives alone…
(Lacht.) Versorgen!! Denken sie, nur
HANS
weil ich ihm 3 Gläser Apfelsaft am
Tag vor die Nase stelle, kauf ich ihm
Windeln, oder was?
No idea. Never talked with him about
it.
UDO
Who sends him to school? Who feeds
him? Who’s watching him?
Wer versorgt den Jungen?
HANS
HANS
Na seine Alten!
UDO
Er hat keine ALTEN. Er sagt, er
wohnt alleine…
(Looks into his paper.) Get off my ass and
go to hell.
UDO
What?
HANS
Tonight’s Lazio against Hertha.
111
HANS
Keine Ahnung. Nie mit ihm geredet.
Hab nichts gehört.
UDO
Wer schickt ihn zur Schule? Wer
macht ihm essen? Wer passt auf ihn
auf?
HANS
(Guckt in seinen Kicker.) Rutsch mir den
Buckel runter und geh sterben.
UDO
Was?
HANS
Heute Abend ist Lazio gegen Hertha.
TW
Das Kindel
Brust der Mutter
Der Wind weht
Fläschchen, Zucker
Little child
Wants mother’s teat
The wind blows
A bottle, sweet
When I’m lyin’ in my bed at night
I don’t wanna grow up
I really don’t wanna grow up
5
When I’m lyin’ in my bed at night
I don’t wanna grow up
I really don`t wanna grow up
5
Wieder in Günther`s Eck. Tom sitzt an der Bar.
Hans poliert ein paar Gläser. Die Schwingtür geht auf
und zu. Knarrt. Das Tumbleweed raschelt über den
dreckigen Boden.
112
TW
Back in Gunther’s Corner. TOM sits at the bar.
HANS polishes a few glasses. The swinging-door goes
to and fro. Creaks. TUMBLEWEED rustles on the
dirty floor.
UDO
Hi Tom.
TOM
Hi, Mister Udo.
UDO
I thought I’d find you here.
TOM
Good thinking, I guess.
HANS
The paper says the investigation is
over.
UDO
Yes, it is.
TOM
That’s good. Congratulations.
113
UDO
Hi Tom.
TOM
Hi Udo, Mister.
UDO
Ich hab mir gedacht, dass ich dich hier
finde.
Tom, I think you should get out of
here.
TOM
Why?
UDO
It’s a bad place.
TOM
Gut gedacht.
TOM
It’s my home.
HANS
In der Zeitung stand die Ermittlungen
sind abgeschlossen!
UDO
We should try to find your father.
TOM
UDO
Ja, sind sie.
There’s more than one way to live in
this world, Udo.
TOM
Das ist gut. Gratuliere.
UDO
What do you mean?
UDO
Tom, ich finde, du solltest von hier
verschwinden.
TOM
I mean I’m happy.
UDO
TOM
Warum?
But you don’t know how life is
anywhere else.
UDO
Das ist ein böser Ort.
TOM
What’s it like?
TOM
Das ist meine Heimat.
UDO
UDO
Wir sollten versuchen, deinen Vater
zu finden.
A beautiful home. A good education.
Nice friends…
TOM
You know what’s strange?
UDO
What? No.
TOM
That you spend half your time trying
to get people to listen to you and the
rest of the time trying to get them to
leave you the fuck alone.
TOM
UDO
114
UDO
Es gibt auf der Welt nicht nur eine Art
zu leben, Udo.
Wie meinst du das?
115
116
TOM
Ich meine, dass ich glücklich bin.
UDO
Tom, how old you are?
UDO
Du weißt nicht, wie es anderswo ist.
TOM
I mean I’m happy.
TOM
Erzählens sie es mir.
UDO
UDO
Ein schönes Zuhause. Eine gute
Ausbildung. Nette Freunde…
Tom, you know something about the
crime. Don’t you?
TOM
Because I’ve already seen the worst.
Already put it behind me.
UDO
What did you see?
TOM
I mean I’m happy.
UDO
What happened here?
TOM
I’ll tell you all my secrets but I’ll lie
about my past…
TW
I’d rather stay here in my room
Nothin’ out there but sad and gloom
I don’t wanna live in a big old Tomb…
TOM
Weißt du, was seltsam ist?
UDO
Was? Nein.
TOM
Dass man die Hälfte seines Lebens
damit zubringt, die Leute dazu zu
bringen, einem zuzuhören, und den
Rest der Zeit verwendet man dann
darauf, dass sie einen verdammt
nochmal in Ruhe lassen.
UDO
Tom, sag wie alt bist du?
TOM
Ich meine, dass ich glücklich bin.
UDO
Tom, du weißt doch was über das
Verbrechen, oder?
TOM
Weil ich das Schlimmste schon
gesehen habe. Hab`s schon hinter mir.
UDO
Was hast du gesehen?
Tom quickly pulls the service weapon from
UDO’s open jacket and shoots several times at the
TUMBLEWEED.
TOM
What’s wrong, Udo? Why ya
sweating?
END
117
TOM
Ich meine, dass ich glücklich bin.
UDO
Was ist hier passiert?
TOM
I`ll tell you all my secrets but I`ll lie
about my past.
TW
I’d rather stay here in my room
Nothin’ out there but sad and gloom
I don’t wanna live in a big old Tomb…
Translator’s Note: The text quotes lyrics from Tom
Waits. It also quotes passages from an interview with
Tom Waits by Tim Adams (The Observer).
Tom zieht blitzschnell die Dienstwaffe aus Udos
geöffnetem Sakko und ballert mehrmals auf das
Tumbleweed.
TOM
Was ist los, Udo? Fängst du an zu
schwitzen?
ENDE
Unter freier Verwendung von Zitaten aus „I don`t
wanna grow up“ von Tom Waits und einem Interview
von Tim Adams (Observer) mit Tom Waits (Übersetzung erschienen im Blog von „der Freitag“ 16.12.2011)
118
119
u i ck
Q
n
a
y
r
B
t)
n excerp
a
(
n
o
o
Blue M
hatten Theaterstück)
c
s
d
n
o
M
m
aus eine
z t vo n
u b erset an n
S ta d e lm
J u li a n e
:
g
(Auszu
MAN
WOMAN
THE BLUE MOON {also, THE VIOLINIST}
OLD MAN
(Together, THE OLD COUPLE)
OLD WOMAN
SINGLE MAN
HIS SMALL DAUGHTER
FATHER TIME (and, THE PHOTOGRAPHER)
MOTHER SPACE (and, THE CAFÉ WAITRESS)
MANN
FRAU
DER VOLLMOND (ist auch der GEIGENSPIELER)
ALTER MANN
(Zusammen sind sie DAS ALTE PAAR)
ALTE FRAU
ALLEINSTEHENDER MANN
Seine kleine TOCHTER
GEVATTER ZEIT (ist auch der FOTOGRAF)
MUTTER RAUM (ist auch die KELLNERIN)
Time has stopped.
Die Zeit ruht.
Space is endless.
Der Raum ist endlos.
There is silence.
Schweigen.
There is stillness.
Stille.
}
ACT I
SCENE I
AN OUTDOOR CAFÉ ON A SUMMER EVENING.
THE BLUE MOON SHINES. HIS VIOLIN REMEDIES THE DEAF WORLD BELOW. MAN AND
WOMAN SHARE AN INTIMATE CONVERSATION
AMOUNGST THE BUSTLE OF PEOPLE. MAN LOVES
WOMAN, BUT SHE MAY NOT LOVE HIM BACK.
The image of a large and full blue moon becomes
visible. Spots of its deep sapphire are engulfed by the
streams of a surrounding night sky. Glimmers of white
122
}
AKT 1
SZENE 1
EIN STRAßENCAFÉ AN EINEM SOMMERABEND. DER
VOLLMOND SCHEINT. SEIN GEIGENSPIEL HEILT DIE
VIELEN TAUBEN OHREN UNTER IHM. MITTEN IM
GEWIMMEL UNTERHALTEN SICH MANN UND FRAU
VERTRAUT MITEINANDER. MANN LIEBT FRAU. ABER
ES KÖNNTE DURCHAUS SEIN, DASS FRAU IHN NICHT
ZURÜCK LIEBT.
Der große, volle Mond wird sichtbar. Saphirblau gebettet
auf Wolken. Das Schimmern weißer Lichtflecken (Sterne).
123
specks of light (stars) come and go. A distant violin
melody is heard. A man, the VIOLINIST, is revealed:
He is bathed in a tint of blue that embodies him
wherever he goes.
The sound of laughter and gallivanting are heard
coming from another part of the space. The blue moon
shines brighter and the rest of the environment below is
drawn out of darkness:
124
Geigenklänge aus der Ferne. Ein Mann, der GEIGENSPIELER, erscheint. Wohin er auch geht, scheint er immer
von einer blauen Aura umgeben.
Lachen und Flirten aus einer anderen Ecke des Raumes.
Der Vollmond scheint heller und der Rest der Umgebung
unter ihm zeichnet sich nun klar auf dem dunklen Hintergrund ab:
Four black restaurant-style patio tables are staggered
equidistant from one another—an outdoor café on a
cool summer night. Each table has four attached chairs
and an umbrella blooming from its center. The blue
moon’s light leaves long black shadows throughout the
environment. The rest of the space is bare, filled only
with the people who occupy a fraction of its vastness.
Together, they create a stylized masque of pedestrian interactions. Their jovial dance is not verbally articulated.
Vier schwarze Terrassentischchen, wie in Restaurants üblich,
sind in gleichem Abstand, versetzt voneinander aufgestellt—
ein Straßencafé in einer kühlen Sommernacht. Jeder Tisch ist
mit vier Stühlen bestückt und einem Sonnenschirm, der aus
seiner Mitte sprießt. Das Licht des Vollmondes hinterlässt
lange, dunkle Schatten in der Umgebung. Der Rest des
Raumes ist leer, ist nur bestückt mit den Menschen, die
einen Bruchteil seiner Weite besetzen. Zusammen vollführen
sie ein stilisiertes Maskenspiel: Fußgänger in Fußgängerzone.
Ihr heiterer Tanz bleibt stumm.
(At the center-most table sit MAN and WOMAN,
who are both very young. They speak to each other
uneasily in a whisper for the duration of the opening
scene. The VIOLINIST (later revealed as the BLUE
MOON) stands playing near the patio tables. He is
a busker, his violin case at his feet, responsible for the
melody in the air. The PHOTOGRAPHER (later
FATHER TIME) rises from one of the tables and
attempts to take MAN and WOMAN’S picture. The
tension of their conversation halts so they can decline
his proposition. Another man (SINGLE MAN) sits
with his SMALL DAUGHTER next to him. He
flirts with and tries to touch the CAFÉ WAITRESS
(later MOTHER SPACE). The CAFÉ WAITRESS
enjoys the rush she gets from teasing him. As they flirt,
the PHOTOGRAPHER approaches and acquaints
himself with the SMALL DAUGHTER. The PHO-
(Am mittigen Tisch sitzen MANN und FRAU. Beide
sehr jung. Ihr unruhiges Geflüster ist während der ganzen
Eröffnung der Szene zu hören. Der GEIGENSPIELER
(später tatsächlich der VOLLMOND) steht Geige spielend
neben ihrem Terrassentischchen. Als Straßenmusiker, den
Geigenkoffer zu Füßen, sorgt er für den Klang im Raum.
Der FOTOGRAF (später GEVATTER ZEIT) steht
von einem Tisch auf mit der Absicht, von MANN und
FRAU Fotos zu schießen. Sie unterbrechen ihr intimes
Gespräch, um das Angebot abzulehnen. Ein anderer Mann
(ALLEINSTEHENDER MANN) sitzt mit seiner
kleinen TOCHTER daneben. Er flirtet mit der KELLNERIN (später MUTTER RAUM), versucht sie auch zu
berühren. Die KELLNERIN genießt das Vergnügen, das
es ihr bereitet, ihn zu necken. Während sie flirten, nähert
sich der FOTOGRAF und macht sich mit der kleinen
TOCHTER bekannt. Der FOTOGRAF gestikuliert in
125
TOGRAPHER gestures to the SINGLE MAN to
see if he can take a picture of his daughter and himself.
SINGLE MAN agrees. As they pose for the photo,
the CAFÉ WAITRESS continues on. She approaches
MAN and WOMAN to see if they would like a
beverage. Again, they graciously decline despite their
uneasiness. Throughout all of this the OLD COUPLE
enters at an impossibly slow pace. They stop and listen
to the VIOLINIST before the OLD WOMAN helps
the OLD MAN to a seat at the remaining table. They
sit next to each other in blissful harmony. Having left
MAN and WOMAN, the CAFÉ WAITRESS
approaches them.)
The sound of a clock striking on the hour rings through
the outdoor café. The bustle stops and a tableau is
created. Stillness. Its presence is highlighted further by
the absence of the violin melody. The clock continues to
strike, then: Silence. Time and space no longer exist.
Bodies are frozen in a void surrounded by an eternity
of nothing. At the center of the tableau are MAN
and WOMAN. MAN is leaning forward, towards
WOMAN, who is sitting erect and avoiding his starryeyed gaze. After forever:
Richtung des ALLEINSTEHENDEN MANNES. Er
will herausfinden, ob dieser von der TOCHTER und ihm
selbst ein Foto schießen kann. Der ALLEINSTEHENDE
MANN willigt ein. Während sie für das Foto posieren, geht
die KELLNERIN wieder ihrer Arbeit nach. Sie nähert
sich MANN und FRAU, um sie nach einem Getränk
zu fragen. Trotz ihrer Anspannung, lehnen sie wieder
höflich ab. Während all dies passiert, kommt, unglaublich
langsam, DAS ALTE PAAR herein. Sie halten kurz an,
um dem GEIGENSPIELER zuzuhören, bevor die ALTE
FRAU dem ALTEN MANN dabei hilft, sich an den
verbleibenden Tisch zu setzen. Sie sitzen in seliger Harmonie
nebeneinander. Die KELLNERIN kommt zu den beiden,
nachdem sie MANN und FRAU verlassen hat.)
Das Geräusch einer zur vollen Stunde schlagenden Uhr tönt
durch das Straßencafé. Das Gewimmel hält inne und eine
Art Gemälde entsteht. Stille. Sie wird noch verstärkt durch
die Abwesenheit der Geigenklänge. Die Uhr schlägt weiter.
Dann: Endgültige Ruhe. Zeit und Raum hören auf zu existieren. Die Körper sind in Leere festgefroren, umgeben von
endlosem Nichts. In der Mitte des Gemäldes sind MANN
und FRAU. MANN lehnt sich nach vorne, hin zur FRAU,
die aufrecht sitzt und seinem starren Blick ausweicht.
Nach einer Ewigkeit:
MAN
I love you.
The tableau is broken. The blue moon shines above. After a beat, the violinist again begins playing his melody.
(Everyone except MAN and WOMAN, who remain
frozen, and the VIOLINIST, who continues playing
for the rest of the scene, exits. The three patio tables not
occupied by the two young lovers are removed.)
126
MANN
Ich liebe dich.
Das Gemälde ist zerstört. Der blaue Mond scheint. Einen
Moment später fängt der GEIGENSPIELER wieder an,
seine Melodie zu spielen.
(Alle verlassen den Raum. Außer MANN und FRAU, die
wie festgefroren scheinen und der GEIGENSPIELER, der
127
MAN
Do you love me?
WOMAN (pause) I don’t know.
MANN
Liebst du mich?
MAN
FRAU
(Pause) Ich weiß nicht.
WOMAN But I’m not sure.
MANN
Entweder du tust es oder nicht.
MAN
FRAU
Aber ich bin mir nicht sicher.
WOMAN I don’t know… (pause)
MANN
Warum nicht?
MAN
FRAU
Ich weiß nicht… (Pause)
MANN
Es ist wirklich relativ einfach—entweder
du liebst mich oder eben nicht…
FRAU
Ich glaube, ich bin mir nicht richtig sicher,
was Liebe ist…
MANN
Und wenn du dir sicher wärest, würdest
du mir dann sagen können, ob du mich
liebtest?
WOMAN Love is pure?
FRAU
Ja. (Pause) Ich glaube schon.
MAN
MANN
Na gut! Also. (Pause) Liebe ist… (Pause)
Liebe ist rein.
FRAU
Liebe ist rein?
MANN
(Pause) Ja.
You either do or you don’t.
Why not?
It’s really quite simple—you love me or
you do not…
WOMAN I guess I’m not sure exactly what love is.
MAN
And if you were, then would you be
able to tell me if you love me?
WOMAN Yes. (pause) I suppose.
MAN
Alright. (pause) Love is… (pause) love
is pure.
(pause) Yes.
WOMAN (She does not respond)
MAN
128
bis zum Ende der Szene durchspielt. Die drei unbesetzten
Terrassentischchen werden entfernt.)
Let me try and explain again.
129
WOMAN Please. Do.
FRAU
(Sie antwortet nicht)
MAN
MANN
Ich will versuchen, es noch einmal zu
erklären.
WOMAN (pause) I’m still not sure—
FRAU
Bitte. Tu das.
MAN
MANN
Liebe ist rein, weil (Pause) sie grenzenlos
ist.
FRAU
(Pause) Ich bin mir immer noch nicht
sicher—
MANN
Sie wird durch nichts begrenzt. Du würdest für jemanden, den du liebst, alles tun.
FRAU
Für immer und ewig? Egal, was die Stunde
geschlagen hat?
MANN
(Pause) Ja, aber nicht nur das.
WOMAN So it’s bound by nothing.
FRAU
Was denn noch?
MAN
MANN
Zeit, Raum, Entfernung, Hindernisse
jeglicher Form und Größe. Wenn du
jemanden liebst, würdest du alles tun.
FRAU
Also ist sie grenzenlos.
MANN
Genau.
FRAU
Und würde SIE dasselbe für dich tun?
Love is pure because (pause) it holds no
boundaries.
It’s bound by nothing. You would do
anything for someone you love.
WOMAN Regardless of the time?
MAN
(pause) Yes, but not only that.
WOMAN What else?
MAN
Time, space, distance, obstacles of
all shapes and sizes, when you love
someone, you would do anything for
them—nothing can stand in your way.
Exactly.
WOMAN And would the other person do the
same for you?
MAN
If they love you too.
WOMAN What if they don’t?
MAN
130
(pause, nervously) What if they don’t
131
what?
MANN
Wenn SIE mich auch liebte.
WOMAN What if they don’t love you too?
FRAU
Was ist, wenn SIE das nicht tut?
MAN
MANN
(Pause, nervös) Wie, wenn SIE das nicht tut?
WOMAN How come?
FRAU
Was ist, wenn SIE dich nicht zurückliebt?
MAN
MANN
Das tut nichts zur Sache.
FRAU
Wieso das denn?
MANN
Na, weil Liebe an nichts gebunden ist.
FRAU
Also, wenn du mich liebst, aber ich dich
nicht liebe, tut das nichts zur Sache?
MANN
(Pause) Nein.
FRAU
(Pause) Das klingt nicht so richtig fair, für
die Person, die verliebt ist.
MANN
Ist es auch nicht.
FRAU
Warum würde diese Person dann immer
noch das Gefühl haben, verliebt zu sein?
MANN
Weil Liebe an Nichts gebunden ist. (Pause)
Man gibt sich auf, egal in welcher Form.
FRAU
(Pause) Also das klingt wirklich schmerzhaft.
MANN
Hast du diese Geschichte gehört? (Pause)
It doesn’t matter.
Because love is bound by nothing.
WOMAN So if you loved me, but I didn’t love
you, it wouldn’t matter?
MAN
(pause) No.
WOMAN (pause) That hardly seems fair, for the
person in love.
MAN
It’s not.
WOMAN Then why would they still feel love?
MAN
Because, love is bound by nothing.
(pause) It’s self-sacrifice, no matter
what.
WOMAN (pause) That sounds really painful.
MAN
Have you heard the story? (pause) Of
the man who lost his heart?
WOMAN Will you tell it to me?
132
133
MAN
134
Of course. (pause) There once was
a man in a small village. He wasn’t
wealthy, but he had everything in the
world he needed. Yet something was
missing. The man wasn’t sure what it
was, but he knew he needed to find
out. So he told the other villagers
that he was leaving, but none of them
understood why. His family threatened to disown him, and his friends
told him that he could never come
back. But he knew he needed to go.
(pause) So for years the man traveled.
He met many people and made new
friends. At times he missed his family,
but he knew it was too late to go home.
Then one day he met a woman. He
continued to travel, but wherever he
went she would be there. It turned out
she was searching too, but neither of
them was sure for what. Slowly a deep
bond formed between them. They
became lovers, and it seemed to the
man that his search was over. He felt
more fulfilled than he ever had. He
hardly missed his village, although
sometimes he wished he could bring
the woman there.
Von dem Mann, der sein Herz verlor?
FRAU
Erzählst du mir die?
MANN
Na klar. (Pause) Es war einmal ein Mann
in einem kleinen Dorf. Er war nicht gerade
vermögend, hatte aber alles, was er brauchte. Doch eine Sache fehlte. Der Mann
war sich nicht sicher, was es war, aber er
wusste, er musste es herausfinden. Also
erzählte er den anderen Dorfbewohnern,
dass er gehen würde, aber keiner von ihnen
verstand warum. Seine Familie drohte
damit, ihn zu enteignen und seine Freunde
sagten ihm, er könnte nie wieder zurückkommen. Aber er wusste, er musste gehen.
(Pause) Also reiste der Mann jahrelang
umher. Er traf viele Menschen und schloss
neue Freundschaften. Manchmal vermisste
er seine Familie, aber er wusste, es war zu
spät, um nach Hause zurückzukehren.
Dann eines Tages traf er eine Frau. Er
reiste weiter, aber wohin er auch ging, sie
kam mit. Es stellte sich heraus, dass auch
sie etwas suchte, aber keiner der beiden
wusste, nach was genau. Langsam entstand
eine enge Bindung zwischen den beiden.
Aus ihnen wurden Liebende und dem
Mann schien es so, als wäre seine Suche
135
WOMAN Did the woman come from a small
village too?
MAN
She did, a different village, far away
from the man’s own. And as they
lived tranquilly together the woman
began to miss her home. Her parents
were surely back there, all alone in the
woods, praying she would come back.
The man was content with his new
life, but she could not overcome the
uneasiness of remembering her home.
This led to violent arguments between
the lovers. Man resented that he could
never go home, and that he was not the
only thing the woman dreamed of at
night. One day the woman finally left.
“I need to continue my search,” she
told him, “and there won’t be enough
room in my life for you now.” He tried
to stop her, but she went anyways. The
man knew she had gone back home,
but he could not understand why. He
did not know what to do. He couldn’t
go home, and the woman had made
it clear that she did not want him to
chase after her.
WOMAN (pause) What did he do?
136
vorüber. Er fühlte sich zufriedener als
jemals zuvor. Sein Dorf vermisste er kaum,
obwohl er sich manchmal wünschte, er
könnte die Frau dorthin bringen.
FRAU
Kam die Frau denn auch aus einem kleinen
Dorf?
MANN
Ja, aus einem anderen Dorf, weit weg von
dem des Mannes. Und als sie so friedlich
nebeneinander her lebten, begann die
Frau ihr Zuhause zu vermissen. Ganz
allein in den Wäldern, beteten ihre Eltern
sicherlich dafür, dass sie zurückkommen
würde. Der Mann war zufrieden mit
seinem neuen Leben, aber sie konnte die
nagende Erinnerung an ihr Zuhause nicht
überwinden. Dies führte zu bösen Auseinandersetzungen zwischen den Liebenden.
Der Mann ärgerte sich darüber, dass er
selbst niemals zurück nach Hause gehen
konnte und dass ER nicht all das war,
wovon die Frau nachts träumte. Eines
Tages ging die Frau schließlich fort. „Ich
muss meine Suche fortsetzen“, sagte sie
ihm, „in meinem Leben ist jetzt einfach
nicht genug Platz für dich“. Er versuchte
sie aufzuhalten, aber sie ging dennoch.
Der Mann wusste, dass sie zurück in ihre
137
MAN
The man spent many years of his
life waiting for the woman to come
back. When they were together she
had taken his heart, and she had not
returned it when she left. He often
contemplated what she had done
with his heart, if she still had it, or if
it was lost along the way. Even if she
never returned, he knew that nothing
could ever replace her. He would do
anything for her, even after all the time
that had gone by since she left. It was
then that he realized what he had been
searching for all along: He had been
searching for true love. He was happy
to know that he had lost his heart for
something greater than himself.
WOMAN (pause) That sounds quite painful.
MAN
It’s been said before: pain is love.
WOMAN (pause) I still don’t get it.
MAN
What?
WOMAN Why would you do anything for
someone even if they wouldn’t do the
same for you? Even if they left you and
never came back?
138
Heimat gehen würde, aber konnte
nicht verstehen warum. Er wusste
nicht, was er tun sollte. Er selbst
konnte nicht nach Hause und die Frau
hatte ihm ganz klar gesagt, dass er ihr
nicht folgen sollte.
FRAU
(Pause) Was hat er gemacht?
MANN
Der Mann verbrachte viele Jahre
damit, auf die Frau zu warten.
Während sie zusammen waren, hatte
sie sein Herz in Besitz genommen
und ihm nicht wieder freigegeben, als
sie ihn verließ. Er dachte oft darüber
nach, was sie wohl mit seinem Herzen
angestellt hatte, ob es immer noch in
ihrem Besitz oder ob es auf dem Weg
verloren gegangen war. Auch wenn sie
niemals zurückkam, wusste er, dass
nichts sie jemals ersetzen konnte. Er
würde immer noch alles für sie tun.
Auch nach der langen Zeit, die vergangen war, seit sie ihn verlassen hatte.
Da verstand er, wonach er so lange
gesucht hatte: nach wahrer Liebe. Er
war glücklich, dass er sein Herz an
etwas verloren hatte, das größer war
als er selbst.
139
MAN
You just have no choice.
There is a long pause. The blue moon dims its light in
sadness. The music continues.
MAN
Does the explanation still not make
sense?
WOMAN No, it does.
MAN
Would you do anything for me?
Without hesitation?
WOMAN Yes.
MANN
Darum heißt es auch: Schmerz ist Liebe.
FRAU
(Pause) Das verstehe ich aber immer
noch nicht.
MANN
Was?
FRAU
Warum sollte er alles für sie tun, wenn
sie nicht dasselbe für ihn tun würde?
Sogar wenn sie ihn verlässt und
niemals zurückkommt?
MANN
Er hat einfach keine Wahl.
Lange Pause. Der Vollmond dämmt sein Licht. Die
Musik geht weiter.
MANN
Macht die Erklärung immer noch
keinen Sinn?
FRAU
Doch, das tut sie schon.
WOMAN Yes!
MANN
Warum bist du dann unsicher?
MAN
FRAU
(Pause) Weiß ich nicht.
MANN
Würdest du für mich alles tun? Ohne
zu zögern?
FRAU
Ja.
MAN
Would you stop me (pause) if I tried to
leave?
Would you wait for me (pause) if I
went away?
WOMAN Of course. Yes, of course I would.
MAN
140
(Pause) Das klingt ziemlich schmerzhaft.
Then why are you unsure?
WOMAN (pause) I don’t know.
MAN
FRAU
Is that not love?
141
There is a long pause. MAN sits in stillness facing the
audience. WOMAN slowly turns her head towards
him. After a moment she gently turns his head towards
hers and kisses him, creating a new tableau. The blue
moon is waning. The music continues.
WOMAN I just (pause) don’t want you to expect
anything.
MAN
So you don’t love me?
WOMAN That’s not what I said.
MAN
Would you do anything for me?
MANN
Würdest du mich aufhalten, wenn
(Pause) wenn ich versuchen würde, zu
gehen?
FRAU
Ja!
MANN
Und würdest du auf mich warten,
wenn (Pause) wenn ich fort ginge?
FRAU
Natürlich. Natürlich würde ich das.
MANN
Und ist das nicht Liebe?
Lange Pause. MANN sitzt bewegungslos da, mit dem
Gesicht zum Publikum. FRAU dreht langsam ihren
Kopf zu ihm hin. Nach einer Weile zieht sie seinen
Kopf sanft zu ihrem und küsst ihn. Ein neues Gemälde
entsteht. Der Vollmond nimmt ab. Die Musik geht
weiter.
WOMAN Yes. In an instant.
MAN
Then what is not to expect?
WOMAN (pause) That we will be together.
FRAU
Ich will nur nicht (Pause), dass du
etwas von mir erwartest.
MANN
Also liebst du mich nicht?
FRAU
Das habe ich nicht gesagt.
WOMAN (pause) You shouldn’t be.
MANN
Würdest du alles für mich tun?
MAN
FRAU
Ja. Jederzeit.
MANN
Also was ist es dann, was ich nicht von
dir erwarten kann?
MAN
Why wouldn’t we be?
There is a long pause. The blue moon is engulfed by a
purple cloud. The music continues.
MAN
I’m hurt.
I would do anything for you.
WOMAN I know that you would.
MAN
142
Regardless of time or space.
143
WOMAN And if I tried to leave—
MAN
There is a long pause. The blue moon is nearly invisible.
The VIOLINIST stops playing. He watches the young
couple.
What am I to do?
WOMAN I don’t know…
MAN
You don’t love me…
WOMAN It’s not that simple…
MAN
MANN
Warum sollten wir nicht zusammen
sein?
I’d wait for you.
WOMAN (She does not respond)
MAN
(Pause) Dass wir zusammen sein
werden.
I’d stop you!
WOMAN And if I went away—
MAN
FRAU
I love you.
WOMAN (pause) I know.
The final hints of light disappear along with the blue
moon. The couple is frozen in time. The clouds in the
night sky disappear.
Lange Pause. Der Vollmond wird durch eine dunkelrote Wolke verdeckt. Die Musik geht weiter.
MANN
Ich bin verletzt.
FRAU
(Pause) Das musst du nicht sein.
MANN
Ich würde alles für dich tun.
FRAU
Ich weiß.
MANN
Egal, was die Stunde geschlagen hat.
FRAU
Und wenn ich versuchen würde,
fortzugehen…
MANN
Würde ich dich davon abhalten!
FRAU
Und wenn ich wirklich fortginge…
MANN
Würde ich auf dich warten.
FRAU
(antwortet nicht)
Lange Pause. Der Vollmond ist fast unsichtbar. Der
GEIGENSPIELER hört auf zu spielen. Er schaut das
junge Paar an.
MANN
144
Was soll ich jetzt machen?
145
FRAU
Weiß ich nicht…
MANN
Du liebst mich nicht.
FRAU
So einfach ist das nicht…
MANN
Ich liebe dich.
FRAU
(Pause) Ich weiß.
Mit abnehmendem Mondschein verschwindet auch
das Schimmern der Lichtflecken. Das Paar ist in der
Zeit festgefroren. Am Nachthimmel verschwinden die
Wolken.
147
:
müller
e
ichte
s
d
e
e
W
G
n
e
e
n
l
El
ter mei n Arbeiter?
i
e
b
r
A
Können oder bin ich ei
n
verstehe
tand
s
r
e
d
n
rkers U
o
ker?
r
W
o
e
h
W
t
a
n
Ca
r Am I
o
,
y
r
t
e
io n b y
My Po
t ra n s la t
ur
Ra c h e l
S
I. Im Hasenzüchterverein
S
eitdem ich schreibe, literarisch schreibe,
und das von mir Geschriebene in LiteraturWerkstätten zur Disposition stelle, sagen andere
über meine Texte, sie seien „pädagogisch“. Ich
müsse aufpassen, dass mein Roman nicht zum
„Bildungsroman verkomme“, sagt man mir in
diesen Seminaren, manchmal bemüht jemand das
Fremdwort „didaktisch“. Nicht selten wird auch
in die Schatztruhe der weniger wissenschaftlichen
Worte gegriffen und das nach DDR oder linoleumverklebten Heimfluren riechende „erzieherisch“
herausgezogen.
Meine Geschichten seien „zu intellektuell“, „zu
thesenhaft“ „zu reflektierend“, ich sei „programmatisch zu verplant“ und „ideologisch“, ich versuchte,
den Leser zu „überreden“, sei „suggestiv“ und
gegenüber meinen Figuren „denunziatorisch“.
Wenn es jemand einmal gut mit mir meint, nennt
er meine Texte, den Essay Sartres „Qu’est-ce que la
littérature?“ zitierend: „engagiert“. Ich fühle mich
dadurch nicht erleichtert, sondern jedes Mal so,
als schriebe ich mit der gleichen Motivation, mit
der man einem Hasenzüchterverein vorsitzt, für
Ökostrom wirbt oder Neuköllner Unterschichts-
150
I. In the Rabbit Breeders Club
F
or as long as I’ve been writing—literature,
that is—and handing in my work to writing
workshops, my pieces have been called “pedantic.”
I have to be careful that my novel doesn’t “devolve
into a Bildungsroman,” say my peers, and sometimes they’ll invoke the academic word “pedagogical.” Occasionally a less scholarly word is dragged
down from the attic, and “educational” trots out,
with its East German smell or linoleum-crusted institutional hallway stink. My stories, apparently, are
“too intellectual,” “too reflective,” “too claim-heavy.”
I am “agenda-laden” and “ideological.” I am guilty, it
seems, of being “suggestive,” of trying to “persuade”
the reader, of “denouncing” my characters.
If someone ever means to say something kind,
then he’ll call my work “engaged,” as in Sartre’s
essay “Qu’est-ce que la littérature?” This word
brings no relief, and always makes me feel that I
must be writing for the same reason that someone
presides over a rabbit breeders club, or promotes
green energy, or tutors the disadvantaged children
of Neukölln in fifth grade Ethics. No pride sets in,
only shame, and I realize that what dwells inside
the word “engaged”—unlike in Sartre’s time—is
151
kindern Nachhilfe im Fach „Ethik“ gibt. Es stellt
sich kein Stolz ein, sondern Scham und ich merke,
dass dem Wort „engagiert“ anders als zu Sartres
Zeiten nicht der emanzipatorische Kampf, sondern
der gutmenschelnde Krampf, meinen Texten doch
noch etwas Positives abzugewinnen, innewohnt.
Ich kann mich nicht des Gedankens erwehren,
dass dieses Ringen um ein paar aufmunternde
Worte einer Art repressiven Toleranz gleicht, die
milde lächelnd Anerkennung heuchelt, um sich
dann unauffällig abzuwenden und die Schublade
mit mir und meinem Text darin sanft schubsend
zuzustoßen.
Diese Adjektive, die ich jeweils in die obere rechte
Ecke meiner Notizbuchseiten schreibe, unter die
imaginierte Rubrik „Kritik, die ich nicht verstehe“,
beschäftigen mich, sie lassen mich nicht in Ruhe.
Ich kann die Ablehnung, die in ihnen zum Ausdruck kommt, nicht einordnen, nicht verarbeiten,
ich kann meine Texte nicht umarbeiten—nicht,
weil ich nicht wüsste, was ideologische Literatur ist,
sondern weil ich nicht weiß, was nicht-ideologische
Literatur ist.
Wenn ich schreibe, dann, um etwas auszusagen
über Menschen in sozialen Beziehungen, die sie
zurichten oder die sie retten, über ihre Alltage, in
die sie verstrickt sind. Ich beobachte, ich schreibe
auf, nicht, um meine Zeit totzuschlagen, sondern
152
not the liberator’s fight, but some do-gooder’s plight
of desperately trying to extract something positive from my text. I can’t help but think that this
wrestling to find a few words of encouragement is
a repressive sort of tolerance, the kind that feigns
recognition with a benign smile, only to quietly
turn away and gently slam the drawer shut, with me
and my text inside.
These adjectives, which I jot down in the upper
right corner of my notebook pages under the imaginary heading “Criticism That I Don’t Understand,”
preoccupy me; they don’t leave me in peace. I can’t
seem to process or make sense of the rejection they
cast off. I can’t transform my work—not because
I don’t know what ideological literature is, but
because I don’t know what non-ideological literature
is.
When I write, it’s because I want to reveal
something about people and the social relationships that save or destroy them, something about
the everyday lives in which they are entangled. I
observe, write down, not to kill time, but so that
others—indeed, as many as possible—will read
what I have to say, sniff at it, feel something, think it
over after, think about the world in which they live.
I shape, in this way, how things make sense to me,
and formulate assertions that, for the time being, I
assume are right. I hope, by sinking my characters
153
damit andere Leute das, was ich zu sagen habe,
lesen, und zwar möglichst viele von ihnen, daran
riechen, etwas fühlen, danach denken, nachdenken
über die Welt, in der sie leben. So forme ich, wie
die Dinge für mich zusammenhängen, formuliere
darüber Thesen, von denen ich erst einmal annehme, dass sie richtig sind. Ich hoffe so—in der
Einsenkung der Verhältnisse in Figuren—etwas
beitragen zu können zu Welterkennungsmethoden,
Wahrheitsfindungsstrategien, zu Glücksfang
und Unglücksbekämpfung, etwas auszusagen
über gesellschaftliche Wahrscheinlichkeiten und
Unwahrscheinlichkeiten, über Widerstand und die
Lücken im System. Nicht zuletzt zu meiner eigenen
Erkenntnis beizutragen, über die Revision meiner
Gedanken durch die Leser, durch den Austausch
mit anderen, durch gelebtes Leben zu neuen Erkenntnissen zu kommen, die dann im nächsten Text
münden.
Wäre das keine Literatur, ich sähe keinen Sinn
darin, zu schreiben.
II. Eine Lehr-Stelle
A
uch der Essay, so heißt es manchmal,
sei ein Textwerk „ohne Belehrung“. In
Übereinstimmung mit meiner oben beschriebenen
Erfahrung und eingeordnet in das Bewertungs-
154
in circumstance, to be able to contribute something
to insight-harvesting methods, truth-sniffing
strategies, to how to fetch happiness and fend off
unhappiness; to expose something about societal
probabilities and improbabilities, about resistance
and the gaps in the system; and, not least, to further
my own insight by re-imagining my ideas by way of
the reader, by exchanging ideas with others, by lived
experience and the new insight it brings—all of
which will lead me, then, to my next text.
If this were not literature, I would see no point in
writing.
II. A Teaching Vacancy
S
ome say that even essays should not be
“instructive.” I can report, based on my
experiences above, that instructing, even for the
sake of disabusing, is—to borrow the rating system
of fashion magazines—out. The prefix “in-“ sounds
spoon-fed, patronizing, passive; the root “struct”
sounds insular, conformist, dogmatic. The other
side of the rating chart, in turn, documents what is
in: processing the world through literature for the
purpose of active, emotional participation in the
internal life of others, which can carry you, move
you—and yes, even disturb you—but it shouldn’t
bring you down, because you wouldn’t want that.
155
system diverser Glamour-Magazine stelle ich fest:
Belehren lassen, auch eines Besseren, ist out. Die
Vorsilbe „Be-“ klingt nach Bevormundung, Gängelung und Passivität, das Suffix „-ung“ klingt nach
Vereinheitlichung, Engstirnigkeit und Dogma. Im
Umkehrschluss lässt sich in der anderen Spalte
des Bewertungssystems verzeichnen, was in ist: die
literarische Verarbeitung von Welt zum Zweck der
aktiven, emotionalen Teilhabe am Gefühlsleben
anderer, die mitnehmen, bewegen, ja: erschüttern
kann, aber schlechte Laune möchte man davon
nicht bekommen.
Keine Thesen, sondern Lust. Keine Erkenntnis,
sondern Identifikation. Keine Aufklärung, sondern
Einfühlung.
Und zwischen „Be-“ und „-ung“: die „-lehr-“-Stelle,
die sich als Leerstelle heraus stellt. Denn dass
die Abwertung über das Wortfeld „Lehre“ von
den Institutionen des Bildungsbürgertums selbst
kommt—von Literaturinstituten, Textwerkstätten,
Feuilletons und Literaturzeitschriften—, Akteuren
eines sozialen Feldes also, das die Bildung im Namen trägt, dem die Lehre von der Lehre inhärent
ist, bleibt ungesagt.
Pleasure instead of premise. Identification instead
of insight. Empathy instead of enlightenment. And
though “learning” and “education” come with an implied teaching position, it turns out to be an empty
space. It usually goes unsaid that the downgrading
of instruction comes from the very institutions of
the educated classes—the literary institutes, writing
workshops, journals, feuilletons—actors in social
fields dedicated to teaching in name, in which the
doctrine of education is inherent. “So who’s the
one being instructive here?” one could shout back
at them. “Isn’t the constant instruction that one
should not instruct the most instructive thing of
all?”
But because no one shouts this, a paradox
develops. On the one hand, “education” is stored
in the collective memory as “a good thing,” though
the underlying questions of who is teaching whom,
teaching what and for what purpose, get ignored.
On the other hand, an artificial wall is erected—
perhaps precisely to distract us from the classist
nature of education, the pseudo-freedom of the
mind—that devalues instruction and separates it
from education: Education, yes. Instruction, no.
„Wer ist denn hier belehrend?“, könnte man also
zurückrufen. „Ist nicht das ständige Belehren, nicht
belehrend zu sein, überhaupt das Belehrendste von
allem?“
156
157
Weil das aber niemand ruft, bildet sich ein
Paradox. Bildung wird einerseits im kollektiven
Gedächtnis als „gut“ gespeichert. Außer Acht
bleibt dabei die Frage: Wer bildet wen, worüber
und zu welchem Zweck? Andererseits wird eine
künstliche Wand eingezogen—vielleicht gerade, um
nicht an den Klassencharakter der Bildung, an die
Scheinfreiheit des Geistes erinnert zu werden -, die
die „Belehrung“ von der Lehre trennt und abwertet:
Bildung ja, Belehrung nein.
III. Auf dem Beifahrersitz des Baggers
N
och nie hat jemand schwer einatmend,
augenbrauenhochziehend und leicht
kopfschüttelnd gesagt: Dein Text ist zu politisch.
Vielleicht sind meine Texte auch gar nicht politisch. Vielleicht aber, so denke ich, kommt dieses
Adjektiv auch nicht über die Lippen, weil sich
niemand zutraut zu sagen, was politische Literatur
eigentlich sein soll. Das ist umso erstaunlicher, als
dass in Zeiten der Krise eines finanzmarktdominierten Kapitalismus gleichzeitig eine Sehnsucht
nach und Hoffnung auf politische Texte bekundet
wird, die sich nicht zuletzt an Schriftsteller heftet.
Man könnte nun auf die in krisenhafter
Regelmäßigkeit wiederkehrende Frage, wie ein
politischer Text zu schreiben sei, antworten: „Geht
158
III. Riding Shotgun in the Front-End
Loader
N
o one has ever raised an eyebrow, inhaled
deeply, and then, shaking his head, said to
me: your writing is too political. Maybe my writing
is not political at all. But maybe, I argue, this adjective doesn’t pass anyone’s lips because no one claims
to know what political literature is truly supposed
to be. This is all the more surprising considering
that the crisis of our age—of financial marketdominated capitalism—has been accompanied by
an expressed longing for political texts, a craving
that clings, especially, to writers.
As for how to create a political text, a question
that recurs with crisis-like regularity, one might
respond: “Go to an unemployment office in this
country, get in line, talk to the people in front of
you and behind you, and write about it!” That
sounds about right. But apparently it’s not so
simple. Why not? Is it hard to make contact with
people who live a different reality? Does it seem too
“ journalistic” to do research? Or has this approach
already been proven futile?
One of the principal assertions of 20th-century
Marxist literary theory was to understand literature
as political whenever it captured and dealt with
the so-called “worker’s reality.” It is here, in this
reality, that the subject of exploitation is found—so
159
in die Jobcenter dieses Landes, stellt euch an der
Schlange an, befragt den Menschen vor und den
Menschen hinter euch und schreibt darüber!“ Das
hört sich gut an. Aber anscheinend ist das nicht so
einfach. Warum nicht? Fällt es schwer, Kontakt zu
Menschen mit anderen Lebensrealitäten aufzunehmen? Gilt es als „journalistisch“, zu recherchieren?
Oder erscheint diese Herangehensweise sogar als
„historisch widerlegt“?
Literarische Texte als politisch zu begreifen,
wenn sie die sogenannte Arbeiterrealität aufgreifen
und verarbeiten, war eine der prominentesten
Thesen der marxistischen Literaturtheorie des 20.
Jahrhunderts. Hier ist das Subjekt der Ausbeutung
zu finden, so die Überlegung, hier formiert sich der
Widerstand gegen dieselbige, darüber zu schreiben
bedeutet, politisch zu schreiben.
So einfach und plausibel das klang, so wenig war
klar, welche Praxis daraus zu folgen hatte. Schon
in der Weimarer Republik stritten sich links-intellektuelle Bildungsbürger mit Arbeitern im Bund
proletarisch-revolutionärer Schriftsteller darüber,
ob Erstere über Letztere authentisch schreiben
könnten und ob andererseits Letztere, die, die über
sich selbst schrieben, die Arbeiter, überhaupt zum
ästhetischen Schreiben in der Lage wären.
In der DDR wurden die Arbeiter konsequenter
Weise nicht mehr als Subjekte der Ausbeutung
160
the argument goes—and here that the resistance
against it is deployed. Writing about these things
meant writing politically.
As reasonable and straightforward as this sounds,
it was not at all clear what practical steps should
come from this. In the Weimar Republic, the
left-leaning bourgeoisie intellectuals and working
class writers in the Association of ProletarianRevolutionary Authors were already arguing about
whether the former could write authentically about
the latter and, in turn, whether the latter—the
workers, who were writing about themselves—
could write aesthetically at all.
In the GDR, workers were no longer viewed as
subjects of exploitation, in keeping with the doctrine, but conventional wisdom still held that writers should observe workers. And so, for example,
every student at the Johannes R. Becher Institute
in Leipzig had to intern at a workplace. Institute
alumnus Ronald M. Schernikau recounts what is at
once the most touching and most tragic example of
the failure of reflection theory in his book, Die Tage
in L., in which he ponders the impact of his extravagant shoes on his comrades, while feeling infinitely
useless in the passenger seat of a front-end loader in
an open-pit coal mine. There is no better example
of anthropological zoology, of literary class-struggle
tourism, or of the lack of oneness among the diverse
161
angesehen, dennoch zählte die Arbeiterbeobachtung durch Schriftsteller zum guten Ton. So
musste etwa jeder Student des Johannes-R.-BecherInstituts in Leipzig ein Praktikum in einem Betrieb
absolvieren. Am rührendsten und zugleich tragischsten ist das Scheitern der WiderspiegelungsTheorie nachzulesen beim Absolventen Ronald
M. Schernikau, der sich in „Tage in L.“ Gedanken
über die Wirkung seiner extravaganten Schuhe
auf die Genossen macht, während er sich auf dem
Beifahrersitz des Baggers im Braunkohletagebau
unendlich nutzlos vorkommt. Ein besseres Beispiel
für anthropologische Zoologie, für literarischen
Klassen-Tourismus, für das Nicht-Eins-Sein
der unterschiedlichen Milieus im Arbeiter- und
Bauernstaat gibt es nicht.
milieus of the “workers’ and peasants’ state.”
Aus dieser notwendigen historischen Erfahrung
ist nur niemand schlau geworden. Die einzige Konsequenz scheint heute der Umkehrschluss zu sein,
partout nicht mehr auf die Straße, in die Fabrik,
auf die Ämter gehen zu müssen, sondern die Frage
nach politischer Literatur ausschließlich auf Podien
zu heben und in Zeitschriften zu behandeln.
Elsewhere, however, is not here. While the Occupiers in New York and Tel Aviv are enthusiastically
received in this country, including their essayistic
treatment, somehow the Occupy movement in
Germany ends up as cute.
Das ist umso absurder, als dass sich jene
politischen Ereignisse zu überschlagen scheinen,
die man versuchen könnte, zu beschreiben,
einzufangen und weiterzutreiben: den arabischen
Frühling, die Anti-Atom-Bewegung in Japan, die
162
No one, as of yet, has managed to make sense of
this essential historical experience. Today it would
appear that the only consequence is the inverse: no
more taking to the streets, factories, or government
bureaus whatsoever. Instead the question of political literature is elevated at podiums and dealt with
in journals, exclusively.
This is all the more absurd given what appears
to be the dramatic turnover of recent political
incidents, all of which can be described, captured,
pushed farther: the Arab Spring, the anti-nuclear
movement in Japan, the Occupy movement, the
general strikes in Spain and Greece, the riots and
looting in England.
This certainly has something to do with those
who come together under the Occupy label in this
country. It has something to do with the lethargy
and lack of ideas of all those who don’t come
together. But most of all, it has to do with the fact
that no one can imagine that for once something
downright new could happen here. And so, the
163
Occupy-Bewegung, die Generalstreiks in Spanien
und Griechenland, die Riots und Plünderungen in
England.
Anderswo ist jedoch nicht hier. Denn während
die Occupisten aus New York und Tel Aviv
hierzulande begeistert rezipiert werden, inklusive
ihrer essayistischen Verarbeitung, findet die
Occupy-Bewegung in Deutschland irgendwie jeder
niedlich.
Das hat sicherlich etwas mit denjenigen zu tun,
die sich hierzulande unter dem Label Occupy
versammeln. Das hat zu tun mit der Lethargie und
Ideenlosigkeit aller, die sich nicht versammeln. Vor
allem aber hat es damit zu tun, dass sich keiner
vorstellen kann, dass hier wirklich einmal etwas
völlig Neues passieren könnte.
So werden sich umgekehrt proportional so viele
Gedanken über politische Literatur gemacht, wie
sich andererseits nichts tut. Getreu dem Motto:
Sagen kann man alles, nur machen kann man
nichts.
Dass es politische Literatur trotzdem geben
kann, ist dabei richtig und falsch zugleich. Jeder
Text beschreibt Gesellschaft und macht damit
einen mehr oder minder offensiven Vorschlag,
welcher Natur gesellschaftliche Konflikte sind,
ob und wie man sie lösen kann. Da unterscheidet
164
amount of thinking about political literature
becomes inversely proportional to the amount of
actually doing something. As if the motto were: Say
everything and do nothing.
The claim that political literature can nonetheless
exist is both true and false simultaneously. Every
text describes society and, in doing so, suggests
something more or less obvious about the nature of
social conflict, and about whether and how it can be
solved. In this sense, there is no difference between
Judith Herman’s a-couple-eating-Chinese-takeouton-the-floor and Dietmar Dath’s cybervisions
of three lovers who live in each other’s bodies.
Both social portraits are political—one romanticconservative, the other futuristic-communist.
It’s true that research does not automatically
make a text political. Writing about “others” who
are, at best, socially discriminated against, does not
automatically make for political literature. Getting
the critics to cheer that novelist so-and-so has now
finally written her “social novel” could simply be a
sign of successful marketing. Writing that is voyeuristic is not political. The author should instead
ask herself how to draw connections between what
she has seen and heard and her own life: do I feel
that my writing also speaks for me?
165
sich Judith Hermanns Zu-zweit-auf-dem-BodenMitgebrachtes-vom-Chinesen-essen nicht von
Dietmar Daths Cyborg-Visionen, in denen drei
Verliebte im Körper der jeweils anderen leben.
Beide Gesellschaftsporträts sind politisch, das
eine romantisch-konservativ, das andere zukunftsweisend-kommunistisch.
Richtig ist, dass ein Text nicht gleich politisch
ist, nur weil man recherchiert hat. Es ist nicht
gleich politische Literatur, wenn man „über
andere“ schreibt, die sich am besten noch in einer
gesellschaftlich diskriminierten Position befinden.
Es kann auch Zeichen einer erfolgreichen Marktplatzierung sein, wenn die Feuilletons jubeln,
dass die Romanautorin XY jetzt endlich „ihren
Gesellschaftsroman“ geschrieben hat. Ein Text
ist dann nicht politisch, wenn er voyeuristisch ist.
Stattdessen sollte der Autor sich fragen, wie er das
Gesehene und Gehörte mit seinem eigenen Leben
in Verbindung setzen kann: Fühle ich mich von
meinem eigenen Text mitgemeint?
IV. Können Arbeiter meine Gedichte
verstehen oder bin ich ein Arbeiter?
D
em Diskurs über „politische Literatur“ liegen dabei zwei falsche, da nicht-dialektisch
gedachte Dichotomien zu Grunde: zwischen Leben
166
IV. Can the Workers Understand My
Poetry, or Am I a Worker?
U
nderlying the discourse about political
literature are two false dichotomies, false
because they are conceived as non-dialectic:
between living and writing, between production
process and product. The product (the writing) may
be thought of as political without any examination of the writer’s involvement in the production
and reproduction processes, the conditions under
which the product comes into being, the social and
economic relationships that situate and entangle
the writer, and the writer’s own reflections about all
this.
So went the headline in the literary supplement
of Die Zeit: “How do writers live? Do they live at
all, or do they only write?” Writers were asked:
“Does your life get in the way of writing?”
As a writer who came to literature from politics,
reading such headlines makes me want to ask these
journalists whether they don’t know, or whether
they deliberately withhold the knowledge, that the
most important (and not just German) writers of
the past century not only raised children and had to
work for wages, but were also politically active—for
example, in the Communist Party; they fought
against National Socialism in Germany, against
Fascism in Spain, against colonialism, and every
167
und Schreiben, zwischen Produktionsprozess
und Produkt. Das Produkt (der Text) wird dabei
als politisch imaginiert, ohne die Einbindung des
Autors in Produktions- und Reproduktionsprozesse zu beleuchten, die Arbeitsbedingungen, unter
denen das Produkt entstanden ist, die Stellung
und Verwicklung des Autors in soziale und
ökonomische Zusammenhänge sowie dessen eigene
Reflexion darüber.
So titelte DIE ZEIT in einer Literaturausgabe:
„Wie leben die Schriftsteller? Leben sie überhaupt
oder schreiben sie nur?“ Und fragte die Schreibenden: „Stört das Leben Sie beim Schreiben?“
Bei solchen Titeln möchte ich, als eine, die von
der Politik zum literarischen Schreiben gekommen
ist, zurückfragen, ob die Journalisten nicht wissen
oder absichtlich verschweigen, dass die wichtigsten
(nicht nur deutschen) Literaten des vergangenen
Jahrhunderts nicht nur Kinder erziehen und
lohnarbeiten mussten, sondern politisch aktiv
waren, zum Beispiel in der Kommunistischen Partei, gegen den Nationalsozialismus in Deutschland
kämpften, gegen den Faschismus in Spanien, gegen
den Kolonialismus, zwischendurch im Gefängnis
saßen und manchmal sogar im Konzentrationslager.
Doch auch manche Schriftsteller leisten dem
Klischee des schreibenden anstatt lebenden
168
now and then sat in prison, some even in concentration camps.
But some writers, too, nurture clichés about the
writer as a writing, and not a living, creature. In her
essay “Writing,” Marguerite Duras reports that she
can only write when isolated, that she can’t carry
out any long-term romantic relationships while
composing her literary texts—only flings, at the
most—and that she never divulges her unpublished
manuscripts for the sake of discussion with anyone.
But are there no circumstances that require writers to do something other than write a novel, like,
say, maintaining a relationship? Maybe. Having
children? Sure. Living with others? It happens.
But to organize politically in order to advance the
revolution? This, to most of us, seems really a bit
too much.
The truth is, sadly, that we can understand
Marguerite Duras. It is a lot to take on. And it
may not be possible in each and every phase of life.
Perhaps then the question is not: writing OR living?
Not even: writing OR revolution? But rather: How
can I contribute to political upheaval using my
capabilities—that is, by writing?
Though the separation of life from writing is
false, it does fill a true need, which arises from the
crisis-laden reality that everyone escapes and wants
169
Menschen Vorschub. So erzählt Marguerite Duras
in ihrem poetologischen Essay „Schreiben“, dass
sie nur isoliert literarische Texte verfassen könne,
währenddessen keine Liebesbeziehungen sondern
allerhöchstens Affären zu führen in der Lage wäre
und niemals ihre unveröffentlichten Manuskripte
herzeige, um sie mit jemandem zu besprechen.
Doch gibt es nicht Umstände, die auch von
Schriftstellern erfordern, etwas anderes zu tun, als
einen Roman zu schreiben? Eine Beziehung zu erhalten? Vielleicht. Ein Kind zu bekommen? Sicher.
Ein Haus mit anderen bewohnen? Kommt vor.
Aber sich politisch organisieren, um die Revolution
voranzutreiben? Das erscheint den meisten dann
doch ein bisschen zu aufwendig.
Die Wahrheit ist leider: Man kann Marguerite
Duras verstehen. Das ist alles sehr aufwendig. Und
es ist vielleicht nicht jedem und in jeder Phase des
Lebens möglich, all das zu tun. Vielleicht lautet
die Frage deshalb nicht: Schreiben ODER Leben?,
auch nicht: Schreiben ODER Revolution?, sondern:
Wie können Sie mit Ihren Möglichkeiten zur
politischen Umwälzung beitragen, INDEM Sie
schreiben?
Die Trennung von Leben und Schreiben ist
zwar „falsch“, entspricht aber einem „wahren“
Bedürfnis, das wiederum der krisenhaften Realität
entspringt, der man entfliehen, von der man kein
170
no part of. I, too, began to write because I falsely
assumed that writing is not work. But writing a
novel is Work, and not, as I hoped, Not Work.
Not only is it not Not Work, but sometimes I
even think that artists train themselves in how to
self-govern, a practice that can later be implemented
in other arenas. We practice how to describe our
work as pleasure and not as work, and if we don’t
have fun, it’s our own fault. We practice how to not
get paid for what we do for publications, readings
and lectures—and we barely get paid for our
published books. We practice how to constantly
mobilize ourselves, how to be our own harshest
critics, how to set the alarm willingly even on
Saturdays and Sundays, how to establish timelines
and develop objectives, how to network and apply
for stipends, competitions, prizes and residencies, and, if that weren’t enough, how to create a
financial basis for ourselves. We practice this not
by choice—we are left with little choice. And when
this doesn’t work out for everyone, which anyway
it doesn’t for most—because it always seems that
there are too many of us here, because it’s not in
the plan that all who want to express themselves
artistically and make a living from it will be able to
do so, because the market shapes demand, because
there is no basic income guarantee—then this we,
which was never really one, splits apart. Some get
a contract with a big publishing house, some go
171
Teil sein möchte. Auch ich habe mit dem Schreiben
angefangen, weil ich fälschlicher Weise annahm,
es sei keine Arbeit. Doch das Romanschreiben ist
Arbeit und nicht, wie gehofft, Nichtarbeit. Es ist
nicht nur nicht Nichtarbeit, manchmal denke ich
sogar, dass Künstler Selbstregierungspraktiken
einüben, die später in anderen Bereichen genutzt
werden können: Wir üben, unsere Arbeit nicht als
Arbeit zu bezeichnen, sondern als Lust, und wenn
sie uns einmal keinen Spaß macht, sind wir selbst
schuld. Wir üben, nicht bezahlt zu werden für das,
was wir tun, nicht für unsere Textveröffentlichungen, Lesungen oder Vorträge, kaum bezahlt zu
werden für unsere Buch-Publikationen. Wir üben,
uns ständig selbst zu aktivieren, unsere stärksten
Kritikerinnen zu sein, uns den Wecker freiwillig
zu stellen, ihn auch an Samstagen und Sonntagen
nicht auszuschalten, Timelines aufzuhängen,
Zielvorgaben zu erarbeiten, zu netzwerken, uns um
Stipendien, Wettbewerbe, Preise und Aufenthalte
zu bewerben und uns so nebenbei unsere eigene
Finanzierungsgrundlage zu schaffen. Wir üben
das nicht freiwillig, uns bleibt nicht viel anderes
übrig. Und wenn das alles nicht klappt, jedenfalls
nicht für die meisten, weil wir hier immer zu viele
zu sein scheinen, weil es nicht so gedacht ist, dass
sich alle, die wollen, künstlerisch ausdrücken
und davon leben können, weil der Markt die
Bedürfnisse formt, weil es kein bedingungsloses
172
back to regular paid work or, as they say, get a “real”
job, while others get money from their parents or
grandparents.
All this is an instruction manual for the start-ups
of tomorrow. Or, better yet, we are the start-ups of
tomorrow. And tomorrow is today.
And though I’m doing what I want to be doing
and it actually shouldn’t feel like a job, I feel empty
and angry and confused with this constant selfevaluation, with grading myself up and down along
with the others, most of whom mean well, who
lead and take part in this critique, all so that I, in
the meanwhile, can practice and prime myself for
the criticism that will one day show up in the book
reviews.
Sometimes I’d like a punch card and cafeteria,
like my father once had. Then I would greet the
cafeteria lady every day by name, and she would
greet me back, and my train would always head
there and back, and, really sorry, but I’d never be
able to pick up the kids.
But I have no punch card and no cafeteria. I never
even had an office. I have no children and no one
else lives at home, and when I’m not there, it bothers no one. And the truth is, sadly, that in circumstances like these, negation doesn’t help much.
So what to do? In the discourse about political
173
Grundeinkommen gibt: dann splittert dieses Wir,
das nie eines war, und die einen gewinnen einen
Vertrag bei einem großen Verlag, die anderen gehen
lohnarbeiten, oder „richtig“ arbeiten, wie sie sagen,
die dritten bekommen wieder Geld von Eltern oder
Großeltern.
All das sind Gebrauchsanleitungen für die
Betriebe von morgen, oder besser: Wir sind die
Betriebe von morgen. Und morgen ist heute.
Und obwohl ich mache, was ich will und es sich
eigentlich nicht nach Arbeit anfühlen sollte, fühle
ich mich leer und durcheinander und aufgebraucht,
werte mich ständig selbst aus und auf und ab und
die anderen mit ihrer Kritik machen mit, machen
vor, und die meisten meinen es gut mit mir, damit
ich schonmal üben kann, damit ich vorbereitet
bin, weil die Kritik spätestens in den FeuilletonRezensionen steht.
Manchmal hätte ich dann gerne eine Lochkarte
und eine Kantine, wie mein Vater sie gehabt hat,
dann würde ich jeden Tag die Kantinenfrau mit
Namen begrüßen und sie mich, und mein Zug
führe immer dann und dann nach Hause und um
die Kinder könnte ich mich so leider gar nicht
kümmern.
Aber ich habe keine Lochkarte und keine
Kantine, ich habe noch nicht einmal ein Büro. Ich
174
literature, there is the notion that one can write
“politically” without having to work and live
politically. This is of course absurd, since one would
never insinuate that a cashier practices “political
cash collection”; a mason, “political wall building”; a
bank employee, “political account opening”; unless
they operated politically in their respective places of
work—in other words, unless they understood their
fate as something other than fate, and recognized
and fought for their interests in the workplace, and
joined forces with others to promote these interests.
Yet this is precisely what “political writing” never
means. It refers to the content, to the language,
maybe even to how writers talk about their language, but not to collective cooperation in the work
process. But so far my attempts to compose a piece
of writing with others have come to nothing. If I ask
around, people just smile back politely, then gracefully change the subject, and by the time I notice it’s
always too late.
This is not the artists’ fault. It’s a reaction to
the reward system of the literary industry, which
only rewards individuals. Authorship must remain
discernable, dividable, discretely appraisable. By no
means does “political literature” in this discourse
mean collective action against one’s working
conditions. With regard to this, the musician and
transgender activist Terre Thaemlitz said: “The
175
habe auch keine Kinder und an dem Ort, an dem
ich wohne, ist niemand und wenn ich nicht dort
bin, stört es nicht weiter.
Und die Wahrheit ist leider: Bei solchen Verhältnissen hilft Negation auch nicht viel weiter.
iconic struggling artist who volunteers her work is
a scab, but does not know it. If demanding payment for our labor means culture industries would
collapse, then so be it.”
Was also tun? In dem Diskurs von „politischer
Literatur“ gibt es die Vorstellung eines „politischen“
Schreibens, ohne dass es ein „politisches“ Arbeiten,
ein „politisches“ Leben geben müsste. Das ist
absurd, würde man doch einer Kassiererin kein
„politisches Kassieren“, einem Maurer kein „politisches Mauern“ und einem Postbankangestellten
kein „politisches Kontoeröffnen“ unterstellen,
würde er nicht an seinem Arbeitsplatz selbst
politisch agieren, das heißt, sein Schicksal als kein
Schicksal zu begreifen, seine Interessen am Arbeitsplatz erkennen und erkämpfen, sich zu diesem
Zweck mit anderen zusammenschließen.
This would all be very devastating if it weren’t, by
deduction, telling us exactly what to do: to collaborate, to question our production conditions, to
stop being complacent. Walter Benjamin said that
“true literary activity cannot aspire to take place in a
literary framework.” For that it might be necessary
to write things other than the requisite and championed novel. Pamphlets, for example. Posters or
postcards. For that it might be necessary to explore
other means of production—self-publication, Ebooks, blogs—beyond the publishing world and its
hierarchical paths that not everyone can climb. For
that, ultimately, it might be necessary to interact
and ally with others.
Genau das ist jedoch mit „politischem Schreiben“
nie gemeint. Gemeint ist der Text, die Sprache, vielleicht noch die Kommunikation über die Sprache,
jedoch nicht eine gemeinschaftliche Kooperation im
Arbeitsprozess.
In order to establish what is political literature
today, in order to say whether someone writes
politically, the question can’t be: Can I understand
the workers? Or: Can the workers understand my
poetry? But rather: Am I a worker?
Bisher jedoch liefen jedenfalls meine Versuche,
einmal einen Text zusammen mit anderen zu
verfassen, ins Leere. Frage ich in die Runde, lächeln
die Menschen milde, dann wechseln sie elegant das
176
177
Thema und ich merke es zu spät.
Das ist den Künstlern nicht anzulasten. Es ist
eine Reaktion auf die Anerkennungsmechanismen
des Literaturbetriebs, der Würdigungen nur an
Individuen vergibt. Die Autorenschaft muss dafür
klar erkennbar, trennbar und einzeln bewertbar
bleiben.
Keinesfalls ist im Diskurs mit „politischer
Literatur“ das gemeinschaftliche Handeln gegen die
eigenen Arbeitsbedingungen gemeint. Der Musiker
und transgender Aktivist Terre Thaemlitz sagt
dazu: „Der ikonische, am Hungertuch nagende
Künstler, der sich freiwillig ohne Lohn selbst
verwirklicht, ist ein Streikbrecher, ohne dass er es
weiß. Wenn Kulturindustrien zusammenbrechen,
sobald wir angemessene Bezahlung für unsere
Arbeit fordern, dann sei es eben so.“
Das wäre alles sehr niederschmetternd, ließe
sich nicht daraus ableiten, was zu tun ist: Kollaborieren, die eigenen Produktionsbedingungen
hinterfragen, nicht mehr hinnehmen. „Unter diesen
Umständen kann wahre literarische Aktivität
nicht beanspruchen, in literarischem Rahmen sich
abzuspielen“, sagt Walter Benjamin. Dafür wäre
es vielleicht nötig, anderes zu schreiben als den
geforderten und geförderten Roman, Flugblätter
zum Beispiel, Plakate oder Postkarten. Dafür
könnte es nötig werden, andere Produktionswege
178
zu erforschen, Eigendruck, E-Books, Blogs, jenseits
der hierarchischen Wege der Verlagswelt, auf die
nicht jeder herauf zu kraxeln im Stande ist. Dafür
wäre es, schlussendlich, nötig, sich mit anderen
auszutauschen und zu verbünden.
Um festzustellen, was politische Literatur heute
ist, um zu sagen, ob jemand politisch schreibt, kann
die Frage heute nicht mehr lauten: Kann ich die
Arbeiter verstehen? Noch: Können die Arbeiter
meine Gedichte verstehen? Sondern: Bin ich ein
Arbeiter?
180
Sur
011
2
Ra c h e l
,
d
l
i
h
Rothsc
y
p
u
c
c
O
:
rd, 2
a
v
e
l
u
o
ild B
h
c
s
h
t
o
R
z t vo n
Occupy
u b erset
ll e r
:
esem ü
Ell e n W
011
I
t began with one tent. A twenty-something
film student claimed Rothschild Boulevard
as her home after the latest hike in her Tel Aviv
rent sent her packing. The boulevard is lined with
Bauhaus buildings and trees, bars and banks,
restaurants and apartments; its wide center strip
has bike paths and benches, café kiosks and a few
mini-dog parks. She plopped her nylon shelter
down, there among the trees and bikes and many
pedestrians. She put up a sign: “If I were a Rothschild…,” referring to the famous French baron and
banker whose name was now her new address. Her
name was Daphne Leef. Her cause: the rising cost
of housing in Israel, which is eroding middle-class
life. Soon she was joined by several friends. They,
in turn, brought more friends. The media thought
it cute and curious, and spotlighted them in a short
segment, after covering serious matters like politics
and defense and the weather.
It was the summer of 2011, the summer after
the Spring. That Spring, when tyrants in the Arab
world started toppling from their high, sturdy
perches. One after the other they came tumbling
down, by the sheer fury of their subjects. The young
were in the streets, in city squares not far from Tel
Aviv, and they were setting the entire Middle East
184
E
s begann mit einem einzigen Zelt. Eine
Filmstudentin Mitte zwanzig erklärte
den Rothschild Boulevard zu ihrem zu Hause,
nachdem die jüngste Mieterhöhung sie aus ihrer
Tel Aviver Wohnung gejagt hatte. Den Boulevard
säumen Bäume und Bauhaus-Architektur, Bars und
Banken, Restaurants und Mietshäuser; sein breiter
Mittelstreifen beherbergt Fahrradwege und Bänke,
Straßencafés und ein paar winzige Hundespielplätze. Dort ließ sie ihr Notdach aus Nylon fallen,
zwischen den Bäumen und Fahrrädern und vielen
Fußgängern. Sie stellte ein Schild auf: „Wenn ich
ein Rothschild wäre…“, und spielte damit auf den
berühmten französischen Baron und Bänker an,
dessen Name nun ihre neue Adresse war. Ihr Name
war Daphne Leef. Ihr Anliegen: Die steigenden
Mieten in Israel, die das Leben der bürgerlichen
Mittelschicht untergruben. Bald schlossen sich
ihr ein paar Freunde an. Diese brachten weitere
Freunde mit. Die Medien fanden das niedlich und
kurios und porträtierten sie alle in einem kurzen
Beitrag, nachdem sie über ernste Angelegenheiten
berichtet hatten, wie Politik und Verteidigung und
das Wetter.
Es war im Sommer 2011, dem Sommer nach dem
Frühling. Jenem Frühling, in dem die Tyrannen in
185
on fire. We Israelis watched them on our screens,
with eyes wide and mouths open. The Arabs were
angry, and for a change it wasn’t at us.
They scared us. Mostly because we dreaded the
aftermath. We had learned over the years that in
this part of the world the bad can always be outdone
by something much, much worse, especially when it
comes to our neighbors’ governing regimes. Yet we
felt them, those men and women setting themselves
alight, standing together in defiance against their
own governments, against their own armies—some
of the most brutal in the world. Despite our worry
and well-earned cynicism, they moved us. Shocked
and impressed us. They had done something to the
air in the Middle East that year. That thing. That
mysterious, misshapen thing that academics will
spend the next century trying to decipher and fit
neatly into theory. Their stubborn, naïve, nationtransforming will, spreading east to west, invisible
and contagious. And though as Israelis we excel at
mentally detaching ourselves from the region we
inhabit, it penetrated us. Punched a tiny hole in
our chronic comatose state. There are limits—it
seems—even to our geographic denial. Still it is
our air. Still it is our neighborhood. Our fucking
Middle East.
And then, something radical happened. We also
started shouting in the street. Within days hun-
186
der arabischen Welt begannen, von ihren hohen,
robusten Thronen zu stürzen. Sie wurden gestürzt,
einer nach dem anderen, durch die schiere Wut
ihrer Untertanen. Die jungen Menschen gingen
auf die Straße, versammelten sich auf öffentlichen
Plätzen, unweit von Tel Aviv, und entzündeten
einen Funken, der auf den ganzen Mittleren Osten
übersprang. Wir Israelis sahen ihnen mit großen
Augen und offenen Mündern vor unseren Bildschirmen zu. Die Araber waren wütend—und zur
Abwechslung einmal nicht auf uns.
Sie machten uns Angst. Vor allem, weil wir
die Folgen fürchteten. Wir hatten über die
Jahre gelernt, dass in diesem Teil der Welt das
Schlechte immer von etwas viel, viel Schlechterem
überboten werden konnte, besonders, wenn es um
die Herrschaftssysteme unserer Nachbarn ging.
Trotzdem konnten wir mit diesen Männern und
Frauen mitfühlen, die sich anzündeten, die zusammenstanden im Ungehorsam gegenüber ihren
Regierungen, gegenüber ihren Armeen, die zu den
brutalsten der Welt gehörten. Trotz unserer Sorgen
und unseres wohlverdienten Zynismus bewegten
sie uns. Schockierten und beeindruckten uns. Sie
hatten in diesem Jahr etwas in der Luft über dem
Mittleren Osten verändert. Dieses Etwas. Dieses
mysteriöse, unförmige Etwas, das Wissenschaftler
noch hundert Jahre versuchen werden, zu dechif-
187
dreds of people joined Daphne on Rothschild. Soon
thousands of tents sprouted throughout the city.
In a country where yelling often replaces speaking,
where speaking is more common than listening,
and where reality television had recently drowned
out both—a giant conversation erupted. And, for
a change, it was not about war. It was not about
peace. It was about the crushing cost of housing, the
rising cost of food, the lack of affordable daycare,
the widening income gap, the slow strangulation of
our country’s middle class. The little student protest
against housing prices ignited a national debate
about dozens of issues, wide-ranging but all related
somehow. It seemed that over the past few decades,
while we were busy defending borders and fretting
over terror, we forgot to notice that our social
democracy had been privatized and sold.
This wasn’t supposed to be our story—our grandmothers and grandfathers were commune-dwelling
idealists. But their children and grandchildren acquired an American affliction, that religious fervor
for consumption, so we traded our collective way of
life for cheaper imported goods. In our longing to
become America, we widened our once narrow gaps
between rich and poor so that our income inequality is now one of the highest among developed
nations. We were blinded by all the excitement
about our robust economic growth, which gave us
188
frieren und feinsäuberlich in Theorie einzupassen.
Dieser unbeugsame, naive Wille, der ganze Staaten
verwandelte und sich von Ost nach West ausbreitete, unsichtbar und ansteckend.
Und obwohl wir Israelis Experten darin sind,
uns innerlich von der Region, in der wir leben, zu
distanzieren, drang dieses Etwas in uns ein. Stanzte
ein kleines Loch in unseren chronisch komatösen
Zustand. Es schien, dass auch unsere geografische
Verleugnung Grenzen hatte. Denn dies war noch
immer unsere Luft. Noch immer unsere Nachbarschaft. Unser verdammter Mittlerer Osten.
Und dann passierte etwas Einschneidendes.
Auch wir fingen an, auf der Straße zu rufen.
Innerhalb weniger Tage schlossen sich Daphne auf
dem Rothschild Boulevard hunderte von Menschen
an. Bald sprossen in der ganzen Stadt tausende
von Zelten aus dem Boden. In einem Land, in dem
Schreien oft Reden ersetzt, in dem Reden verbreiteter ist als Zuhören und in dem Reality-TV zuletzt
beides übertönt hatte—fing plötzlich eine riesige
Unterhaltung an. Und zur Abwechslung ging es
einmal nicht um Krieg. Es ging nicht um Frieden.
Es ging um die erdrückenden Mietpreise, die
steigenden Lebensmittelpreise, das Fehlen bezahlbarer Kinderbetreuung, die sich weiter öffnende
Einkommensschere, das allmähliche Abwürgen der
bürgerlichen Mittelschicht unseres Landes. Der
189
some solace for our endless tribal wars. Growth and
security rose to the top of national priorities while
the idealism that built the nation was deemed not
practical enough for survival mode living. We kept
silent and swallowed the consequences—the price
of progress, we were told.
Silent until a bunch of kids in tents managed to
wake us from our stupor. They held up a nation-size
mirror and made us stare in fidgety discomfort
at who we had become. And so, we began to pry
ourselves from our flat-screen sedatives and airconditioned comfort and gathered outdoors. We
remembered faintly that once we had done this
more often, before hi-tech made us rich, before
terror made us numb, before we became defined by
an ugly occupation. We had read somewhere that
once we were proud to be idealists.
Suddenly talking about matters other than
national security was not just legitimate—it was
urgent. Suddenly looking inside became a national obsession, dominating every headline in this
media-saturated little state. The news outlets in the
country largely sympathized with the movement
and made it their mission to make sense of the
issues now on everyone’s mind. The movement’s
growing list of grievances would have to transcend
slogans and signs, or all claims would be dismissed
as class warfare clichés, relics from another time.
190
kleine Studentenprotest gegen Mietpreise entfachte
eine landesweite Debatte über dutzende Themen,
die alle irgendwie zusammenhingen. Es sah so aus,
als ob wir über die vergangenen paar Jahrzehnte,
während wir damit beschäftigt waren, Grenzen zu
verteidigen und uns über den Terror aufzuregen,
vergessen hatten zu bemerken, dass unsere soziale
Demokratie privatisiert und verkauft worden war.
Unsere Geschichte aber hatte anders aussehen
sollen—unsere Großmütter und Großväter waren
Idealisten gewesen, die in Kommunen lebten.
Ihre Kinder und Enkel aber hatten sich mit einer
amerikanischen Krankheit angesteckt, mit dem
religiösen Eifer nach Konsum, und so hatten wir
unseren kollektiven Lebensstil gegen Billigimporte
eingetauscht. In unserer Sehnsucht danach,
Amerika zu werden, hatten wir den einst schmalen
Spalt zwischen arm und reich so ausgeweitet, dass
der Einkommensunterschied nun einer der größten
unter den Industrieländern war. Wir wurden von
der Begeisterung über unser robustes Wirtschaftswachstum geblendet, das uns ein wenig über
unsere endlosen Stammeskriege hinweg tröstete.
Wachstum und Sicherheit standen nun ganz oben
auf der nationalen Prioritätenliste, während der
Idealismus, der unseren Staat geschaffen hatte, als
zu unpraktisch für den Überlebensmodus galt. Wir
blieben stumm und schluckten die Konsequen-
191
Our journalists helped rescue the language of
the movement from the bog of angry rants and
empty tag-lines. They believed that information
was crucial in this fight, that we would have to wrap
our heads around the mechanisms forging our new
way of life and to call them by name. They launched
investigations, translated policy jargon, reduced
comparative studies to bite-size news pieces. In a
matter of weeks, the debate on Rothschild went
from sensational to professional. Talk of war and
celebrities were pushed to the back pages, while
social and economic policy–those dry, numberheavy matters usually left to the academics—found
their way to the spotlight.
In reading and watching and listening to the
news, we learned that our cost of living is one of the
highest in the world and that our public housing
per capita is one of the lowest in the world. We
learned that as our government privatizes parts of
our healthcare system, the poorer among us are
becoming much sicker than the rich. We learned
that our government gets kickbacks from real estate
contractors instead of solving the housing shortage;
that our mobile phone service rates are among the
highest in the world and set by a price-colluding
cartel; that our most respected economists for
years have been railing about the cronyism in our
system that is stifling competition and raising
192
zen— solches ist der Preis des Fortschritts, wurde
uns gesagt.
Stumm, bis eine Handvoll Kinder in Zelten es
schaffte, uns aus unserer Benommenheit aufzuwecken. Sie hielten einen Spiegel hoch, in dem
sich das ganze Land sehen konnte, und zwangen
uns, mit Unbehagen auf das zu starren, was aus
uns geworden war. Und so rissen wir uns langsam
von unseren betäubenden Flachbildschirmen und
unserer klimatisierten Behaglichkeit los und versammelten uns draußen. Wir erinnerten uns vage
daran, dass wir das früher öfter getan hatten, ehe
wir durch Hightech reich und durch Terror taub
geworden waren, ehe uns eine hässliche Besetzung
definierte. Wir hatten irgendwo gelesen, dass wir
einst stolze Idealisten gewesen waren.
Plötzlich war es nicht nur legitim, über andere
Dinge als die nationale Sicherheit zu reden—es
war dringend notwendig. Plötzlich wurde der
Blick nach innen zu einer landesweiten Obsession,
die jede Schlagzeile in diesem kleinen, mediengesättigten Staat dominierte. Die Nachrichtenkanäle des Landes sympathisierten weitgehend mit
der Bewegung und machten es sich zur Aufgabe,
die Fragen, die nun in aller Munde waren, auszubuchstabieren. Die wachsende Mängelliste, die die
Bewegung erstellte, musste schon über Schlagworte
und Symbole hinausweisen—sonst hätte man alle
193
prices—benefitting the very few at the expense of
so many—to a largely silent room. We learned that
while our incomes have increased over the past few
decades, it has become much harder to own a home
and support a family; that while we own more stuff
than ever before, we have plunged a large part of
our population into a type of poverty that we never
knew before—and we had facts and figures to back
all of this up.
There is something fundamentally unacceptable to Israelis about the glaring inequality that
American-style capitalism inevitably brings. Maybe
it’s the remnants of the old socialist ideals of the
generations before us. Maybe it’s that when you live
in a state that demands so much of you, that asks
you to devote the best years of your life to military
service, you also need a state that gives something
back. The neoliberal enterprise—and the extreme
disparities that it nurtures—is corrosive to the
unity essential in a country that demands so much
collective sacrifice. There is something enraging
about gross inequality in a country where almost
every home has been hit by tragedy, where death
and war scar the rich and poor equally. None of this
was new—but we’d been distracted for so long with
all our shopping and wars.
That thing on Rothschild soon had a name:
Social Justice, also known as J14—for July 14th,
194
Forderungen als Klassenkampf-Klischees abgetan,
als Relikte aus einer anderen Zeit.
Unsere Journalisten halfen, die Sprache der
Bewegung aus einem Meer wütender Tiraden
und leerer Slogans zu retten. Sie glaubten, dass
Informationen in diesem Kampf ausschlaggebend
wären, dass wir die Mechanismen, die unseren
neuen Lebensstil formten, durchschauen und
beim Namen nennen müssten. Sie recherchierten,
übersetzten Politiker-Jargon, bereiteten Studien
in mundgerechten Nachrichten-Häppchen auf.
Innerhalb weniger Wochen wurde die sensationslustige Debatte über den Rothschild Boulevard
sachlich. Krieg und Promis wurden auf die hinteren
Seiten verbannt, während soziale und wirtschaftspolitische Fragen—diese trockenen Themen voller
Zahlen, die gewöhnlich Akademikern überlassen
werden—ins Scheinwerferlicht rückten. Wir lasen,
sahen und hörten die Nachrichten und erfuhren
so, dass unsere Lebenshaltungskosten zu den
höchsten der Welt zählten, und dass die Zahlen
für unseren sozialen Wohnungsbau pro Kopf die
niedrigsten der Welt waren. Wir erfuhren, dass
die Tarife unserer Mobilfunkanbieter von einem
Preiskartell festgelegt werden, und dass, weil
die Regierung Teile unseres Gesundheitswesens
privatisiert, die Ärmeren unter uns kränker werden
als die Reichen. Wir entdeckten, dass sich unsere
195
Daphne’s first night in the tent. It had a slogan:
“The People Demand Social Justice,” chanted to the
melody made popular by the protestors in Cairo’s
Tahrir Square, an homage to our brave neighbors
in the east, the ones who had brought a dictator
down just months before. Within weeks it had the
support of more than two thirds of the population.
It had become way too big for Daphne and friends
to manage alone.
So they asked for help, for volunteers of every
kind, and the public responded. Internet professionals took over the website, fundraisers sought
donations, advertisers and PR people managed the
movement’s promotion. Production professionals
handled the logistics of the large-scale rallies.
Lawyers fought for demonstration permits; consultants crafted strategies. Many brought furniture
and food, or toolboxes from home to build tent-city
infrastructure. Academics and policy experts typed
away at their computers, helping movement leaders
create a list of demands, proposals for reforms in
education and housing, healthcare and daycare.
They devised real goals from the mass anger on the
street, specific and achievable.
In the unforgiving Middle East heat, thousands
from around the country flocked to see the spectacle at Rothschild—part rally, part Woodstock, part
Indian mela. They came from Haifa and Jerusalem,
196
Regierung den Immobilienunternehmen andient,
statt die Wohnungsnot zu lösen; dass unsere
Wirtschaftsexperten jahrelang über Korruption
und Wettbewerbsverzerrungen geschimpft hatten—größtenteils ins Leere hinein. Wir erfuhren,
dass es viel schwerer geworden war, ein Haus zu
besitzen und eine Familie zu ernähren, obwohl
unsere Einkommen über die vergangenen paar Jahrzehnte gestiegen waren; dass wir, obwohl wir mehr
besaßen als jemals zuvor, einen Großteil unserer
Bevölkerung in eine Armut gestürzt hatten, die wir
noch nicht kannten—und wir hatten Zahlen und
Fakten, um all dies zu belegen.
Für Isrealis ist die schreiende Ungerechtigkeit,
die der Kapitalismus amerikanischen Stils
zwangsläufig mit sich bringt, grundsätzlich nicht
zu akzeptieren. Vielleicht liegt das an den Überresten der alten sozialistischen Ideale früherer
Generationen. Vielleicht braucht man—wenn man
in einem Staat lebt, der einem so viel abverlangt, der
von einem erwartet, die besten Jahre seines Lebens
der Armee hinzugeben—einen Staat, der auch
etwas zurückgibt. Das neoliberale System—und
die extremen ökonomischen Unterschiede, das
es nährt—zerrüttet die unentbehrliche Einheit
eines Landes, das so viele gemeinschaftliche Opfer
verlangt. In einem Land, in dem fast jede Familie
von einer Tragödie heimgesucht wurde, in dem Tod
197
from the suburbs and the desert. They were young
and old, conservative and liberal, educated and not.
They brought their friends, their children, their
parents, their pets and sometimes their tents. There
was food and coffee and port-a-potties and hookahs.
There were drumming circles and folk singers with
acoustic guitars. Generators powered open mics
and amplifiers. Battery-powered laptops projected
documentary films about the crisis of capitalism
for spectators of all ages. Some watched in rapture
on dirt floors while others walked by, pausing for
a few moments before heading to the next station
down the street. Each block had a lounge area with
old mattresses, sofas, lounge chairs and straw mats.
The schedule for all events was updated daily on
the protest website via Google calendar. Flyers and
posters were tacked to trees and tents. One poster
displayed photos of the oligarchs that control most
of the nation’s wealth next to a list of the companies
owned by each of them. They were the names on all
our bills—food, communications, transportation,
utilities, insurance—showing passers-by that the
bulk of our paychecks are funneled into the pockets
of a handful of families. Soon there were tents in
every major city and in several towns.
Saturday nights were set aside for the rallies, each
one drawing thousands, sometimes tens and hundreds of thousands. On August 6, 2011, just three
198
und Krieg bei Armen und Reichen gleichermaßen
Narben hinterlassen haben, machte diese massive
Ungleichheit wütend. Nichts von alledem war
neu—wir waren nur so lange abgelenkt gewesen mit
unserem ganzen Shopping, unseren Kriegen.
Die Sache auf dem Rothschild Boulevard hatte
schnell einen Namen: „Soziale Gerechtigkeit“ oder
auch „J14“, für den 14. Juli, Daphnes erst Nacht
im Zelt. Sie hatte eine Parole: „Die Bevölkerung
verlangt soziale Gerechtigkeit“, gerufen mit der
Melodie, die von den Demonstranten auf dem
Tahir-Platz in Kairo verbreitet worden war, eine
Hommage an unsere mutigen Nachbarn im Osten,
die nur einige Monate zuvor einen Diktatoren
gestürzt hatten. Innerhalb weniger Wochen hatte
die Bewegung die Unterstützung von mehr als
zwei Dritteln der Bevölkerung. Sie war viel zu groß
geworden, als dass Daphne und ihre Freunde sie
allein bewältigen konnten. Also baten sie um Hilfe,
um Freiwillige jeder Art, und die Öffentlichkeit reagierte. Computerprofis übernahmen die Webseite,
Fundraiser sammelten Spenden, Werber sowie
Presse- und Öffentlichkeitsarbeiter promoteten
die Bewegung. Organisatoren kümmerten sich um
die Logistik der groß angelegten Demos, Anwälte
kämpften um Demonstrationsgenehmigungen,
Berater entwickelten Strategien. Viele Menschen
brachten Möbel und Essen oder Werkzeugkästen
199
weeks after the first tent on Rothschild, almost 8%
of the population of Israel took to the streets of Tel
Aviv and other cities. This was the largest number
of Israelis that had ever left their homes on one
night to protest anything—about 430,000 people—
surpassing the monumental demonstrations of the
1990s, when the Oslo peace process bitterly divided
the nation. This was greater than the massive
demonstrations sweeping over Spain—a country
with six times our population. Protests smaller in
size had just managed to overthrow several autocrats nearby. It was one of the most impressive feats
of nonviolent dissent of our time, way too big for
any government to ignore.
Under mounting pressure, Prime Minister
Netanyahu appointed an independent committee
to appease the protestors. The committee chair was
Manuel Trajtenberg, former chief economic advisor
to the prime minister and a Harvard-trained
professor of economics. Its mission was to evaluate
the Israeli economy and to recommend reforms
that would mitigate both income inequality and
the rising cost of living—and to do so quickly. In
an attempt to include the protest movement in this
process, the committee invited twenty activists to
appear before it. But while Trajtenberg and his colleagues worked speedily behind closed government
doors, the movement outside continued to grow.
200
von zu Hause, um eine Infrastruktur für die Zeltstadt zu bauen. Akademiker und Politikexperten
schrieben so schnell sie konnten, um den Führern
der Bewegung zu helfen, eine Liste von Forderungen zu erstellen, Reformvorschläge für Bildung und
Wohnen, Gesundheitswesen und Kinderbetreuung.
Aus dem Volkszorn der Straße entwickelten sie
realistische Ziele, konkret und erreichbar.
Unter der erbarmungslosen Hitze des Mittleren
Ostens strömten Tausende aus dem ganzen Land
auf den Rothschild Boulevard, um das Spektakel
zu sehen—eine Mischung aus Demo, Woodstook
und indischer Mela. Sie kamen aus Haifa und
Jerusalem, aus den Vororten und der Wüste. Alt
und jung, konservativ und liberal, mit und ohne
Ausbildung. Sie brachten ihre Freunde mit, ihre
Kinder, ihre Eltern, ihre Haustiere und manchmal
auch ihre Zelte. Es gab Essen und Kaffee und
Dixiklos und Schischas. Es gab Trommelgruppen
und Folksänger mit Gitarren. Generatoren lieferten
den Strom für Verstärker und Open Mikes, batteriebetriebene Laptops zeigten Dokumentarfilme
über die Krise des Kapitalismus für Zuschauer
jeden Alters. Manche schauten begeistert auf
dreckigen Böden sitzend zu, andere gingen nach
wenigen Augenblicken weiter, eilten die Straße
hinunter zum nächsten Stand. Jede Querstraße
hatte einen Loungebereich mit alten Matratzen,
201
W
e read the papers and argued with friends.
We listened to talk radio during our daily
commutes. We went to rallies on the weekends. We
kept coming to Rothschild, still the beating heart
of the movement, thousands each week, usually in
the evenings, still hot and humid despite the setting
sun. We sat on sidewalks as sweat dripped down
our skin and listened to speakers use words like
social justice and distribution of wealth. Words that
our grandparents believed in but that our parents
had brushed aside. Words that our generation—until last summer, anyway—had barely said out loud.
There were lectures and meetings almost every
night on Rothschild. One night leading academics
from the U.S. and Europe spoke via Skype about
models for mixed-income urban housing, their faces
projected onto a makeshift white screen. Another
night, Yarom Ariav, the former director general of
the Ministry of Finance, sat before us in a dusty
black leather armchair. He gave a detailed lecture
about which exact changes in the national budget
were truly possible, given Israel’s high defense and
public sector spending, because the money for social
justice has to come from somewhere. We sat crosslegged on the ground, stood underneath the trees,
listened, asked questions, raised hands and took
turns. We challenged him about the 90s reforms
that exacerbated income inequality. He defended
202
Sofas, Polstersesseln und Strohmatten. Der
Stundenplan für Veranstaltungen auf der Webseite
der Bewegung wurde täglich mit Google-Kalender
aktualisiert. Flugblätter und Poster wurden an
Bäume und Zelte geheftet. Auf einem der Poster
waren Fotos der Oligarchen zu sehen, die die
Mehrheit des Reichtums im Land kontrollieren,
daneben eine Liste mit den Firmen, die ihnen
gehören. Die Firmennamen standen auf all unseren
Rechnungen—für Lebensmittel, Kommunikation,
Transport, Nebenkosten, Versicherungen—und
bewiesen den Passanten, dass der Großteil unseres
Lohns in die Taschen einiger weniger Familien
floss. Bald gab es Zelte in jeder Großstadt und in
mehreren Kleinstädten.
Die Samstagabende waren Kundgebungen
vorbehalten, die jedes Mal Tausende, manchmal
Zehn- und Hunderttausende anzogen. Am 6.
August 2011, nur drei Wochen, nachdem das erste
Zelt auf dem Rothschild Boulevard aufgeschlagen
worden war, gingen fast acht Prozent der israelischen Bevölkerung auf die Straßen in Tel Aviv und
anderen Städten. So viele Israelis waren noch nie an
einem einzigen Abend auf die Straße gegangen, um
gegen irgendetwas zu protestieren—es waren etwa
430.000 Menschen, mehr als auf den Großdemonstrationen der 90er, als der Osloer Friedensprozess
das Land bitterlich spaltete. Größer als die Mas-
203
the changes but admitted where, in hindsight,
things had gone wrong. Moderators supervised
the charged audiences and intervened when angry
outbursts threatened to morph the discussion into
something destructive—and all too familiar. The
movement organizers had developed a vocabulary
of hand symbols, a sort of sign language, to teach
us how to communicate without shouting. We
swallowed our cynicism and awkwardly attempted
to speak a new regional dialect.
Summer started waning and soon October
came. The Trajtenberg committee had completed
their work, having handed over its final report to
parliament during the last week of September. Its
recommendations impressed even the harshest of
critics; the prime minister swore that change would
soon come. Professor Trajtenberg addressed the
protesters with the following promise: “There is no
chance that the government will bury the report—
the protest movement is too strong.” Prodded by the
police, we packed our tents and went home.
Winter was on its way. Then another spring and
summer, less hopeful than before. The Arabs awoke
to the revolution Morning After. Their to-do list
was long—there were leaders to elect, institutions
to build, order to restore. We in Israel had reports
and promises, and the same leaders as before. Soon
there was terror in the Negev, a bombing in Bul-
204
sendemonstrationen, die Spanien erfassten—einem
Land mit sechsmal so vielen Einwohnern. Zahlenmäßig kleinere Proteste hatten nebenan gerade
mehrere Autokraten gestürzt. Dies war eine der
eindrucksvollsten Bekundungen von gewaltfreiem
Widerstand unserer Zeit, keine Regierung konnte
sich erlauben, sie zu ignorieren.
Unter steigendem Druck ernannte Premierminister Netanyahu eine unabhängige Kommission, um
die Demonstranten zu beschwichtigen. Der Vorsitzende der Kommission war Manuel Trajtenberg,
ehemaliger Wirtschaftsberater des Premierministers und Professor für Wirtschaftswissenschaft,
der in Harvard promoviert hatte. Die Aufgabe der
Kommission war es, die israelische Wirtschaft zu
evaluieren und Reformen zu empfehlen, die beides
entschärfen würden: die Einkommensungleichheit
und die steigenden Lebenshaltungskosten—und
zwar schnell. Um die Protestbewegung in diesen
Prozess einzubeziehen, lud die Kommission
zwanzig Aktivisten zur Aussprache ein. Doch
während Trajtenberg und seine Kollegen zügig
hinter geschlossenen Regierungstüren arbeiteten,
wuchs die Bewegung draußen immer weiter an.
W
ir lasen die Zeitung und diskutierten
mit Freunden. Auf dem Weg zur Arbeit
hörten wir die Nachrichtensender im Radio. An
205
garia, the Muslim Brotherhood takeover in Egypt
next door, across the street an Iran with nuclear
ambitions—enough fear all around to retreat and
stay indoors. As the Arabs started fighting to fill the
new power vacuums, we began bracing for the next
round of war.
den Wochenenden gingen wir auf Kundgebungen.
Wir kehrten immer wieder auf den Rothschild
Boulevard zurück, das pochende Herz der Bewegung, Tausende kamen jede Woche, meist abends,
wenn es noch heiß und schwül war, obwohl die
Sonne schon untergegangen war. Wir saßen auf den
Bürgersteigen, während uns der Schweiß hinunterlief und hörten Rednern zu, die Worte wie „soziale
Gerechtigkeit“ und „Umverteilung des Vermögens“
gebrauchten. Worte, an die unsere Großeltern
geglaubt, die unsere Eltern aber beiseite geschoben
hatten. Worte, die unsere Generation—bis zu
diesem Sommer, jedenfalls—kaum laut ausgesprochen hatte.
Auf dem Rothschild Boulevard gab es fast jeden
Abend Vorträge und Treffen. Einmal sprachen führende Akademiker aus den USA und Europa per
Skype über städtische Wohnungsbauprogramme
für unterschiedliche Einkommen. Ihre Gesichter
wurden auf eine provisorische, weiße Leinwand
projiziert. Ein anderes Mal saß der ehemalige
Generaldirektor des Finanzministeriums in einem
staubigen, schwarzen Ledersessel vor uns. Er hielt
einen detaillierten Vortrag über die spezifischen
Änderungen, die angesichts der hohen Ausgaben
für Verteidigung und öffentlichen Dienst in Israels
Staatshaushalt möglich seien—irgendwo muss das
Geld für soziale Gerechtigkeit schließlich herkom-
206
207
men. Wir saßen im Schneidersitz auf dem Boden,
standen unter den Bäumen, hörten zu, stellten
Fragen, meldeten uns und ließen uns gegenseitig zu
Wort kommen. Wir kritisierten die Reformen der
90er, die die Einkommensunterschiede verschärft
hatten. Er verteidigte die Veränderungen, gab
aber rückblickend Punkte zu, an denen Dinge
schiefgelaufen waren. Moderatoren begleiteten das
emotionsgeladene Publikum und schritten ein,
wenn wütende Ausbrüche drohten, die Diskussion
ins Destruktive zu kippen—etwas, das wir nur all
zu gut kannten. Die Organisatoren der Bewegung
hatten ein Vokabular aus Handzeichen entwickelt,
eine Art Zeichensprache, mit der wir uns ohne
Schreien verständigen konnten. Wir schluckten
unseren Zynismus und versuchten ungelenk, diesen
neuen Dialekt der Region zu sprechen.
Der Sommer neigte sich dem Ende zu, bald kam
der Oktober. Die Trajtenberg-Kommission hatte
ihre Arbeit beendet und dem Parlament in der
letzten September-Woche einen Abschlussbericht
überreicht. Ihre Empfehlungen beeindruckten
selbst die schärfsten Kritiker; der Premierminister
schwor, dass es baldige Veränderungen geben
würde. Professor Trajtenberg wandte sich mit folgendem Versprechen an die Demonstranten: „Die
Regierung kann diesen Bericht nicht vergraben—
die Protestbewegung ist zu stark.“ Angeschubst von
209
der Polizei packten wir unsere Zelte und gingen
nach Hause.
Der Winter nahte. Dann ein neuer Frühling
und Sommer, weniger hoffnungsvoll als im Jahr
zuvor. Die Araber erlebten den Katzenjammer der
Revolution. Ihre Aufgabenliste war lang—Regierungen mussten gewählt, Institutionen gegründet,
Ordnung wiederhergestellt werden. Wir in Israel
hatten Berichte und Versprechen und die gleiche
Regierung wie zuvor. Bald folgten Terror in der
Negev-Wüste, ein Bombenanschlag in Bulgarien,
die Machtübernahme der Muslimbruderschaft
im benachbarten Ägypten, gegenüber ein Iran mit
atomaren Ambitionen—überall genug Angst, um
sich zurückzuziehen und zu Hause zu bleiben. Als
die Araber anfingen, um die neuen Machtvakuen
zu kämpfen, machten wir uns langsam für die
nächste Kriegsrunde bereit.
211
:
rüh auf
F
d
i
v
a
rspiel)
D
e
d
n
i
K
n. (Ein
e
b
e
l
t
r
o
f
Child ’s
(
.
e
f
i
l
after
Play)
io n b y
t ra n s la t wsk i
M ako
M ic h a e l
214
Bühne ist Raum, d.h. jeglicher, auch Körper, Gestik,
Mimik und Sprache; ist also Text (folgender, der doch
nur Anlass und Reizwörter bildet, demnach auch
verworfen, gestrichen oder umgeschrieben werden
kann), den es zu füllen gilt, zu erfüllen, in jeglicher
Hinsicht (in Eurer, in keiner), von wem oder was oder
wie vielen auch immer, während sich die Zeit auf die
Dauer von etwa Jetzt bist Jetzt beläuft. Mehr sei dazu
nicht gesagt.
Stage is space, meaning every space, even the body, gestures,
facial expressions and language—it is text (The following,
which is only an occasion for emotive words that can be
rejected, stricken or rewritten) a text that needs to be filled,
fulfilled in every respect (in yours, in none) by whom or what
or however many, while time lasts from about Now till Now.
Nothing more shall be said.
Hänschn / Gretchn: Ich bin neun Jahre alt, etwa
1,40 Meter groß, habe blondes, langes Haar und als
ich zuletzt gesehen wurde, trug ich eine graue
Jogginghose und ein gemustertes T-Shirt. Meine
Augenfarbe ist braun, und die Zeit ist mir stehengeblieben. Ich habe eine Vergangenheit und ein
unbestimmtes Jetzt. Jetzt, früher, später, ja, ganz
bestimmt, irgendwie, irgendwann. Reihum dann,
im Kreis, so spielt’s sich, so spielt es sich von selbst.
Die Abläufe, sie spielen auch mit. Oder spielen
mich und verlaufen nebenher. Also verlaufen sich,
und ich: Ich habe vieles vergessen und wenig
erfahren. Dabei bleibt es, nicht nur Jetzt. Wenn Sie
mich sehen, melden Sie sich umgehend. Ihr Umgang selbst kann gut oder schlecht sein, ist jedoch
von größter Bedeutung. Umgehen Sie es daher
Hans’l/Gret’l: I’m nine years old, about four and half
feet tall, have long blond hair and when I was last seen, I
was wearing gray sweatpants and a checkered shirt. My
eye color is brown, and my time has run out. I have a
past and an indefinite now. Now, earlier, later… Yes,
definitely, somehow, in sometime. In turn then, in a
circle, so as to play, so it plays itself, the order, playing
with it too, or play me, yes, and run alongside. Till they
go astray. And me? I have experienced little and
forgotten much. That’s how it is, not just Now. If you
see me, notify the authorities. Your actions may be
fortified or compromised, but it is the highest priority in
a surfeit of priorities. So please don’t forfeit. Every
second counts. Every clue, the smallest indication of my
whereabouts grows more critical by the minute. An
hour. A Morning. At some point it will be written in
my face and nothing will be lacking anymore, neither
215
nicht, denn jeder Hinweis kann Sekunden bedeuten, jede Angabe meines Aufenthalts vielleicht sogar
mehr. Eine Stunde. Ein Morgen. Irgendwann wird
es in mein Gesicht geschrieben sein und es wird an
nichts mehr fehlen, weder Richtung noch Weg,
weder vorwärts noch ruckwärts, doch das sagt sich
so leicht. Leichter wird es wohl nie. Nie mehr. Oder
war es das jemals. Gab es das früher. Ein einfaches
Sprechen. Ein Verlauten der Dinge. Ein Bewusstsein, in dem ich verlässlich die Routen erkannte,
denen zu folgen war. Als gäbe es das, gäbe es das
wirklich, denn wem wäre zu folgen. Und wem noch
zu weisen. Ihnen nicht, mir nicht, ene, mene, muh,
und kein Wort sagt mehr bleiben, keines zeigt
heimwärts. Die Sehnsucht, dass es doch nicht so
sei, sondern anders. Wohin also, und wie lange ist
das noch möglich. Seit Tagen kein Licht mehr
gesehen, und die beständige Frage, ob es noch
länger andauern kann. Ich habe versucht, mich
Punkten zu nähern, ein wenig zumindest, im
Taumeln, in Sprüngen, ganz schwerelos. Sehen Sie,
mal hierhin, mal dorthin, richtungs- und ziellos,
wie nahezu träumend, fliehend und fliegend, ein
Müller am Wandern—bis ich dann schwankte,
stolperte, fiel. Wie lange das alles her ist. Wie lange
das alles bereits her sein muss. Als ich wieder auf
die Beine kam, Boden unter meinen Füßen hätte,
216
direction nor path, neither forward nor backwards, but
that’s easy to say. It won’t get any easier. Never again.
Or was it ever. Was it? Did it exist before? A simple
speech. An announcement of how things stood. Has
there ever been an awareness, in which I consistently
recognized the safe path I was to follow? As if there
really were such a thing as a safe path… Yet whom
should one follow? And point the way for whom? Not
for you, not for me, eeny, meeny, miney moe, and not a
word says to remain, and none point homeward. There
is a longing for it to be, not like this, but different. So
where to go, and how much longer is this possible? No
light for days, and the question, how long can this
continue, lingered. I tried to approach certain points, a
little at least, in the tumbling and jumping, completely
weightless. You see, now here, now there, without direction and no goal—almost like dreaming, flying, fleeing,
a wandering miller—I drifted until I swayed, stumbled
and fell. How long ago it is. How long ago it must be
already. When I come to, my feet come to the ground,
ungrounded. It was evening, forever, in the outskirts on
the fringe of forest. My feet ran over sticks and stones,
yes, they ran and ran and they took me away, as if of
their own accord, all on their own. Covering up scrapes
with moss as if I still had something to hide. You ask
whether I miss that (if you were to ask me) or just
imagined it. I put myself in a false light, the image not
quite. Once more arriving and back once again, look
around, illude me, yet once again, just make it once, me,
217
sicheren oder auch nicht, war es Abend, für immer,
am Stadtrand, am Waldrand, und sie liefen über
Stock und über Stein, ja, liefen und liefen und
brachten mich fort, ganz wie von selbst, wie von
allein. Schurfwünden mit Moos bedecken, als hätte
ich noch etwas zu verbergen. Ob ich das vermisse,
fragen Sie (wenn Sie mich denn fragen würden),
oder mir doch nur einbildete. Mich ins falsche Bild
setzte, ins falsche Licht rückte. Noch einmal
zurück- und ankommen, noch einmal umsehen,
mich noch ein einziges Mal täuschen lassen. Ein
einziges Mal nur mich enttäuschen, dafür jedoch
ganz und gar. Vollkommen. Absolut. Etwas muss
schließlich unternommen werden, irgendetwas
muss doch getan werden, irgendwas muss doch
getan werden können. Ich trug Ohrringe und einen
schwarzen Rucksack, den man Tage danach in der
Nähe eines Flusses fand. Weitere Spuren verliefen
sich oder brachen bereits nach wenigen Metern
wieder ab, trotzdem will man die Hoffnung nicht
aufgeben. Man hebt sie besser noch auf, in Kisten,
in Schränken, verwahrt sie, für härtere Zeiten, um
sie aufs Neue zu sichten und verklären zu können.
Dabei an Glücklicheres denken, um die Zeit zu
überbrücken, und die wiederholte Frage, ob es so
etwas je gab. Damals vielleicht, doch ich weiß nichts
davon, weiß nichts mehr darüber, denn was heißt
218
disillusioned, and evermore. Complete. Absolute.
Something must finally be taken under… something
must be done. Anything that can be done must be
done. I wore earrings and a black rucksack, which was
found days later near the river. Other traces ebbed
away, or were abandoned after a few meters; nevertheless, one does not want to give up hope. Understand
that it’s best to keep it in the boxes and cupboards and
save it for darker days so you can sift through again and
romanticize. Here, to pass the time, think of happiness
and the repeated question, was there ever such a thing?
Back then, perhaps, but I know nothing about it, do not
remember anything about it, because what’s “back
then”? What’s this word from a language that is foreign
to me, supposed to mean? Once upon a time. Time
upon. What from then, remains still. I never learned to
talk about it, spoke only soap, bubble, mother, said
stone, smash, father, and I heard no other words to
schlep-herd me with the comforts of their flocking
sounds. Call, clang, resound; signals resonating with
something mundane, familiar, some thing like nothing.
None of it will remain forever. None of this has to
persist. Take with you what needs to be kept. Tell us
what was heard. Every clue can be significant. It will be
examined carefully. There is little to lose, and it is small
and fading, hardly worth mentioning: the belief in
something that might have the ability to endure. Other
days, one wishes for certainty, even though one always
thought one knew. I had eyes that poked along the
219
das, damals, dieses Wort einer Sprache, die mir
fremd geblieben ist. Bleibendes Damals. Damalige
Bleibe. Was von damals übrigblieb. Ich habe nie
darüber sprechen gelernt, sagte nur Seife, Blase,
Mutter, sagte Stein, Schlag, Vater, und keine
anderen Worter ließen von mir hören, hüteten mich
wohler in ihrem Klang. Schall, Ton, Klang; Signale,
in denen etwas anklingt, etwas Zeitliches, Vertrautes, etwas wie nichts. Nichts davon muss ewig
halten. Nichts davon wird ewig währen. Nehmen
Sie mit, was zu behalten ist. Teilen Sie mit, was sich
vernehmen lässt. Alles kann bedeutend werden,
jeder Hinweis wird sorgsam geprüft, denn zu
verlieren gibt es wenig, schwindend gering, beinahe
kaum Rede wert. Der Glaube an etwas, das noch
Bestand haben konnte. An anderen Tagen wünscht
man sich Gewissheit, auch wenn man immer schon
zu wissen meinte. Ich hätte Augen, die am Boden
entlang tasteten und kam doch nur Schritt für
Schritt voran. Zwang mich dazu, ohne zu vertrauen, dass es so noch weitergehen könnte. Um
nicht mehr daran zu denken, um nicht noch mehr
sehen zu müssen, streute ich mir schließlich Sand in
die Augen, und verrieb ihn darin, bis wirklich
nichts mehr zu entdecken war. Kein Boden, kein
Grund, kein Ziel und dennoch das Wissen von
einem Ende der Nacht. Ich erinnere mich nicht, je
220
ground, and even so, only made progress by poke and
grope, with no other choice, into the darkness. In order
not to think about it, to not have to see more, I sprinkled sand in my eyes, rubbing it in until there was really
nothing more to discover. No ground, no reason, no
goal, and yet a knowledge that the other end of the night
was waiting. I do not remember having ever felt a
longing for this kind of excitement. Why did they not
let me sleep in peace till all was quiet again? Only
differently, without tears without disappointment, it
would never have come this far, and my beloved parents
could have had a hundred better children, but so it was,
and I was, and was one of many; we were father, mother,
children, a pack of wolves, but it’s a very hard winter,
when a wolf, a wolf, a wolf that eats another is a wolf, a
wolf, a wolf, that eats another. How hard it is not to cry
when I sing, when I pray for God to protect me while I
sleep, and call me eternally: child. Ever, ever, this
continuous condition: a snapshot runs its course, losing
its way and in time, really just rushing to its conclusion.
In a knick of time, to the exact Oh! Clock, and always at
that stroke ticking me off, like a surging snap of a sail,
time overtakes me. What would it mean to be a child
when childhood is concluded, and nonetheless is, still
excluded? How many slices must one make to begin to
cut through the threads and finally be set free? I could
fall into a precarious place, you say, but I already know
what it means to fall from grace. They gave me arms to
use as a shovel, legs for wandering, and a head to run
221
eine Sehnsucht nach dieser Art von Aufregung
verspürt zu haben. Warum hat man mich nicht
ruhig schlafen lassen, bis alles wieder still gewesen
wäre. Es wäre nie so weit gekommen, nur anders,
ohne Tränen, ohne Enttäuschung, und meine lieben
Eltern hätten hundert bessere Kinder haben
konnen; doch so wurde und war ich, und war eines
unter vielen; wir waren Vater, Mutter, Kinder, ein
Rudel wilder Wölfe, doch ein sehr harter Winter
ist, wenn ein Wolf, ein Wolf, ein Wolf, den andren
frisst, ein Wolf, ein Wolf, ein Wolf, den andren
frisst. Wie schwer es ist, nicht zu weinen, wenn ich
singe, wenn ich bete, dass Gott mich behüten möge,
während ich schlafe, und mich ewig Kind nenne.
Ewig, ewig, ein fortlaufender Zustand. Eine
Momentaufnahme, die sich verläuft, und mit der
Zeit doch nur einem Abschluss entgegen hetzt.
Pünktlich, auf die Minute genau und immer in der
Zeit, denn sie läuft, sie drängt, sie vergeht, vergeht
sich an mir. Was ein Kind sein hieße, wenn die
Kindheit abgeschlossen und doch außen vor
gelassen wurde. Wie viele Schnitte man ansetzen
müsste, um die Fäden durchzuschneiden und
endlich loszulassen. Ich könnte in eine unsichere
Lebenssituation fallen, meinen Sie, doch weiß ich
bereits, was es bedeutet, am Boden zu sein. Man
gab mir Arme, um sie als Schaufel zu benützen,
222
into walls. I have dug myself a hole and there sought a
reason. I remain there and have taken off my shoes and
made a pillow of sand where I lie. It took me years to
find my way back to the light. I would have liked there,
right there, to put a period to it, and then because of the
silence, this bye and bye, called farewell. Dot, dot, dash,
dash, first a final stroke is drawn, done, but what crosses
it, what keeps crossing it out? I would gladly have
reinforced the notion that a story could not begin until
it had a place to end: It used to be, once upon a time—it
was and is perhaps still not yet ready. It was and still
is—what may lie between these words. And what after
them? What was before? I started again and again to
tell the tale and yes, I am already failing. How many
more times will this occur? How many more times is it
possible, and how many tenses will I require before this
will have been over? An act of violence cannot be ruled
out, a large-scale manhunt has been launched. People
said I was a happy child and that I lacked for nothing,
was given lots of attention, and that I was very much
loved, unconditionally. Bit by bit, day-by-day, blow for
blow, a life of hand to mouth, and in each ear a burst of
good advice. Assistance is still urgently requested. I can
yell for help, get help, run away. I should stick close
with people I know, and be aware of my surroundings. I
must be well behaved. Fear is my friend. Don’t talk to
strangers. Strangers are all the people that do not know
my parents. Strangers are all the people who only know
the names of my parents. If I notice something, or if
223
Beine, um zu wandern und einen Kopf, um damit
gegen Wände zu laufen. Ich, ich habe mir ein Loch
gegraben und einen Grund darin gesucht. Bin darin
liegen geblieben, habe die Schuhe ausgezogen und
mir ein Kissen aus Sand geformt. Es brauchte Jahre,
um mir den Weg ans Licht zurück zu zeigen. Gerne
hätte ich dort, genau dort, einen Punkt gesetzt,
danach, der Stille wegen, und dies dann Abschied
und Leb wohl genannt. Punkt, Punkt, Strich,
Strich, ist erst einmal ein Schlussstrich gezogen,
fertig, doch was kreuzt ihn, was streicht ihn immer
noch aus. Gern hätte ich den Eindruck verstärkt,
dass eine Erzählung erst dort beginnen kann, wo
etwas endet: Es war einmal, es war einmal—es war
und ist vielleicht dann doch noch nicht soweit. Es
war und ist—was mag noch zwischen diesen
Wörtern liegen. Und was danach. Was davor. Ich
setzte wieder und wieder zum Sprechen an und bin
ja doch bereits daran gescheitert. Wie viele Male
das noch vorkommen wird. Wie viele Male das
noch möglich ist und wie viele Zeitformen ich
gebraucht haben werde, ehe dies vorbei gewesen
sein wird. Eine Gewalttat kann derzeit nicht
ausgeschlossen werden, eine großräumige Fahndung
wurde eingeleitet. Man sagte, ich sei ein glückliches
Kind gewesen, und dass es an nichts fehlte, dass es
mir an nichts fehlte, dass mir die nötige Liebe und
224
someone talks to me I can talk about it. I have to be
quiet. I decide for myself. I may accept no gifts. I have
to go my way firmly and learn to finally make my own
decisions. I know where to meet my friends. I can enter
any approved place of my choice, then leave it or remain.
I am allowed to roam freely, but must be back home in
time. No excuses or distractions, no more games. No
swearing, no whining. I must go to bed right away. I
have the right to remain inviolate. I have every reason
to, every reason for, while every reason against. I have
my reasons. In me there is no property. I can arbitrarily
dispose over or of myself, transfer myself in part or in
whole to others or definitely forgo doing so. I have to
rely on myself, give myself respect, and learn a word like
yes, no, maybe, or stop, take off and never take them
into my mouth again. I must not lie or steal. Do not
show weakness. My freedom is inalienable. In all
suspicious cases contact the appropriate authorities. I
shall not give myself hope. Everything is in perfect
order. Boys don’t cry. Unless the investigation proves
otherwise, it is prudent to assume that there is a danger
to the life and health of the child. But please tread
warily, there are lots of cracks and shards of rock and no
one wishes to break something and nonetheless, still no
luck. I score my forearms with a splinter of wood, one
cut per day, and already after a few weeks, or what I
took for a few weeks, for time stopped when there was
no place left to scratch another morning. There were
only other signs, time and time again, until eventually,
225
Zuwendung gegeben, geschenkt wurde, in höchstem Maße, aus freien Stücken. Stück für Stück,
Tag für Tag, Schlag um Schlag, ein Leben von der
Hand im Mund, und in jedem Ohr ein Dutzend
guter Ratschläge. Um Mithilfe wird weiterhin
dringend gebeten. Ich kann Hilfe schreien, Hilfe
holen, weglaufen. Ich soll mich immer in Gesellschaft befinden und über meine Umgebung wachen.
Ich muss artig sein. Meine Angst kann Leben
retten. Ich soll nicht mit Fremden sprechen. Fremd
sind alle Menschen, die meine Eltern nicht kennen.
Fremd sind alle Menschen, die nur den Namen
meiner Eltern kennen. Ich kann erzählen, wenn mir
etwas auffällt, ich etwas erlebe oder mich jemand
anspricht. Ich muss still sein. Ich bestimme über
mich. Ich darf keine Geschenke annehmen. Ich
muss meine Wege bestimmt gehen und endlich
lernen, eigene Entscheidungen zu treffen. Ich weiß,
wo ich meine Freunde treffe. Ich kann jeden
zulässigen Ort meiner Wahl betreten, wieder
verlassen oder dort verbleiben. Ich darf mich frei
entfalten, muss aber rechtzeitig wieder zuhause
sein. Keine Ausflüchte oder Ablenkungen, keine
Spielereien mehr. Ich soll nicht fluchen. Ich darf
nicht quengeln. Ich muss ins Bett, und zwar sofort.
Ich habe das Recht auf Unversehrtheit. Ich habe
allen Grund dazu, dafür, darauf, dagegen. Ich habe
226
the place one thought one was finally arriving at, proved
to be a false conclusion. How many false trails I tried to
follow. How many branches I, and others, threw
between my steps. Please do not try to stop me. I see
no point and no other way, furthermore I have become
blind, by and by, yes, blind and deaf and dumb. This
might have been noticed earlier. One might have started
taking preventive measures, might have wanted to, had
to, before any disruptions occurred, so that from a
passing crisis there would be no lasting malfeasance.
Any failing, any conspicuous anything, anything that
did not fit the expected norm should have been recognized and grasped early on. I, I clutch behind me, ahead
into solid material, into emptiness. As intended long
before, I wanted to make my own decisions, wanted to
break lines, cracks and no more borders, no, and not my
own. I wanted to open all borders, open, to blow up and
fly in the face of myself. I wanted to exploit to the
fullest the unusual situation, I wanted to determine
something; something in particular wanted my voice
heard. I wanted to hear my voice when it is breaking or
distant, fading from the field around expected values
where mostly everything comes to a standstill. I
wanted, yes, however want wants, but I just want my
arms, to stretch my legs, spread my fingers to see a little
more, not just through them. I just want to bend stretch,
turn around four times, clap, stomp and stand. Only that.
Nothing else. No more nose tips, no more tunnel
vision. There were moments in which what was said or
227
meine Gründe. An mir besteht kein Eigentum. Ich
kann mich willkürlich verfügen, benützen, vertilgen, ganz oder zum Teil auf andere übertragen,
oder unbedingt mich derselben begeben, das heißt,
mich verlassen. Ich muss mich auf mich selbst
verlassen, auf mich acht geben, und ein Wort wie Ja,
Nein, Vielleicht, Halt, Aus und Stop lernen oder
nie wieder in den Mund nehmen. Ich darf nicht
lügen, nicht stehlen, keine Schwäche zeigen. Meine
Freiheit ist unverletzlich. In etwaigen Verdachtsfällen kontaktieren Sie die zuständigen Behörden. Ich
soll mir keine Hoffnungen machen. Es ist alles in
bester Ordnung. Ein Indianer kennt keinen
Schmerz. Solange die Ermittlungen nichts anderes
ergeben, wird vorsichtshalber von einer Gefahr für
das Leben oder die körperliche Unversehrtheit
ausgegangen. Aber bitte, seien Sie vorsichtig,
niemand möchte, dass etwas zu Bruch geht, in die
Brüche geht, Scherben gibt es genug und trotzdem
noch kein Glück. Mit einem der Splitter ritzte ich
in meine Unterarme, einen Schnitt pro Tag, und
bereits nach wenigen Wochen, oder was dafür zu
halten war, gab es keine Stelle mehr, die auf ein
Morgen schließen ließ. Es ließ sich nur auf anderes
schließen, immer und immer wieder, bis das, wohin
man schlussendlich zu kommen glaubte, sich als
Trugschluss zu erkennen gab. Wie vielen falschen
228
thought could be believed. There were hours, in which
everything would have to be tossed aside, the young cast
from the nest, with each other; themselves rejected,
thrown far away arcing high over the houses, mountains,
valleys, wandering from one hand to the next. Days and
nights were converging to resemble each other, changing
places at irregular but steady intervals and touching in
their polarity. I recognized the contradictions and their
shortcomings, recognized the connections of opposites,
their points of contact, circumstantial nearness and the
approximation of distant moments. I want to have, per
contra, and wanted to recognize the contrasts as part of
the way out. I wanted to recognize myself in it. The
open window in my room consisted of an inside and an
outside, into which I climbed and also fit, felt fitting,
where I found my way in and found my way, or else just
started trying to find myself, or else I attempted to find
it. It was as if I maintain one nature outside myself
while sensing myself between and distinct from the
things and places about me where I am reified, reborn to
mind, and sallying forth quite naturally with just a few
personal items, out into the open, out of bounds. I
exposed myself unconditionally to the given norms and
laws, all sorts of factors. I was a typical case, the
conditions preexisting in certain geographical and
regional climates. The land lay before me and stretched
out, sprawling and expanding, yes, pasturing, it became
bigger and wider, a stretch, a tug of planes and surfaces.
I stitched the sky to the stretch of road in front of the house.
229
Fährten ich dabei zu folgen versuchte. Wie viele
Äste ich und andere zwischen meine Schritte
warfen. Versuchen Sie bitte nicht einzugreifen,
mich aufzuhalten, ich sehe keinen Sinn und keinen
anderen Weg mehr, bin blind für weiteres geworden, nach und nach, ja, blind und taub und stumm.
Man hätte es früher bemerken können. Man hätte
praventive Maßnahmen ergreifen und ansetzen
sollen, wollen, können, müssen, noch vor Auftreten
einer Storung, so dass aus einer zeitweiligen Krise
kein dauerhaftes Fehlverhalten entstünde. Man
hätte jegliches Fehlen, jegliche Auffälligkeit,
jegliches nicht in die erwartete Messreihe passende,
frühzeitig erkennen und begreifen mussen. Ich, ich
griff zurück, voraus, ins Volle, ins Leere; von langer
Hand geplant wollte ich eigene Entscheidungen
treffen, wollte Bruchlinien, Risse und keine Grenzen mehr, nicht meine und nicht eigene. Ich wollte
alle Grenzen offen, öffnen, sprengen, mich darüber
hinwegsetzen. Ich wollte die Unregelmäßigkeit in
vollen Zugen ausschöpfen, wollte etwas bestimmen,
etwas bestimmtes, wollte meiner Stimme Gehör
verschaffen. Ich wollte meine Stimme hören, wenn
sie sich absetzt oder entfernt von den Streuungsbereichen um Erwartungswerte, in denen meist alles
zum erliegen kommt. Ich wollte, ja, will aber, will
aber, will doch nur meine Arme, meine Beine
230
Everything seemed accessible. Everything seemed to be
taken, appropriated, misused, taken under a wing, or
deleted from memory. At some point, you had to have
learned to forget, at some point you had to deploy oblivion because soon it would be too late for that. Soon it
would have been too late. So far, 125 witnesses concur
and 247 pieces of information from the community have
been processed. Somehow even the past will go,
bequeathed and filed away. Somehow, too, this will be
over, survived somehow, somewhere between fact and
fiction, everything else is just decoration, anecdote, a
makeshift fix. In this in-between, this gray-zone, set
your foot-trap and hold the doors open. Nothing has
been said yet, no final statement made, but it is still not
finally decided, not before every opinion has been heard,
every perspective separately considered. First each
statement should be considered. Each position must be
evaluated, yes each note must be included in the
evaluation, because every vote counts, counts off, eeny,
meeny, miney moe, and out goes y, o, me, get out. I am still
far from being able to get out of here. I must first say what
happened. An event and quite something. An incident
and an adventure. Games and fun and excitement. All
one. Almost everything at once. Everything of interest,
promises to be so fascinating. Everything, the outcome
of which is still incapable of surprising and shocking
one. All that and so much more. All start off without
passing by way of fortune. Everything to an end, then,
about which you would like to know nothing better.
231
strecken, meine Finger spreizen, um etwas mehr zu
sehen, nicht nur durch sie hindurch. Ich will mich
bloß bücken strecken, rundum drehn, viermal
klatschen, stampfen, stehn. Nur das. Nicht sonst.
Keine Tellerränder mehr und noch lange kein Blick
in den Tunnel. Es gab Momente, in denen geglaubt
werden konnte, was gesagt oder gedacht wurde. Es
gab Stunden, in denen alles überworfen werden
musste, man sich selbst überwarf, mit sich; sich
selbst verwarf, weit weg, in hohen Bögen, über die
Häuser, Berge, Täler; zu werfen und zu wandern,
von der einen Hand zur andern. Tage und Nächte
näherten sich, glichen sich an, wechselten die Plätze
in unregelmäßigen, doch stetigen Abständen und
beruhrten sich in ihrer Gegensätzlichkeit. Ich
erkannte die Gegensätze und ihre Verbindlichkeiten, erkannte die Verbindungen der Gegensätze,
ihre Berührungspunkte, Näheverhältnisse und
Distanzierungsmomente. Ich wollte mich im
Gegensatz haben, und wollte den Gegensatz als
Teil des Auswegs erkennen. Ich wollte mich darin
erkennen. Im Öffnen meines Zimmerfensters
verband sich ein Innen und Außen, in das ich stieg
und auch passte; mich passend empfand, in dem ich
mich ein- und zurechtfand, oder aber mich eigentlich erst zu finden versuchte. Es war, als erführe
ich eine Natur außerhalb von mir, als spürte ich
232
Oh, how good that nobody knows. Oh, how good that no
one knew of the few blank spaces that perhaps still
remain. But I. I know. I spy with my little eye—dark,
darker, very, very black. Vacancies that still remain.
Holes to fill still. Secrets that must remain. At the
very least for now. One last secret that finally must be
kept; must be kept secret for all time. At the very least
forever. One last secret that wants to be secreted eons
beyond all intentions to mystify, lie or deny. At least
forever. I have nothing more to say. No comment. The
right to a secret must be preserved, though I burn with
curiosity, as much as I burn with a grave need to lay bare
and archive the things that must be buried evermore.
My silence will never be broken on this; I will never
break it. Any concerns you have, dial 911 at any time.
It’s free. In case of any other concerns they will serve
you in every way with information and help. In the
meantime, I’ll invent my excuses, my will already
articulated; I’ll make an illustration that gives me room
to maneuver. I’ll get me some air. I’m going to do it or
at least have taken the test. Inhale. Exhale. Measure
out and weigh up. Load up the scale. A few breaths and
still many more. As many as necessary. Inhale. As
many as possible. Exhale. I will do my utmost. Up
until now, they say, no results have been achieved, but
meanwhile one is clutching at every straw to make out a
sign that can be interpreted. Hasty conclusions shall
not be drawn and you should shun mentioning the
worst by name, because its designation is not a question
233
mich zwischen und im Unterschied zu den Dingen,
zu den Orten, als würde ich mich vergegenständlichen, vergegenwärtigen, mich ganz selbstverständlich mit nur wenigen persönlichen Gegenständen
aufmachen, hinaus, ins Freie, ins Aus. Ich setzte
mich bedingungslos den gegebenen Normen und
Gesetzen, den verschiedensten Faktoren aus. Ich
wurde den charakteristischen Vorkommnissen und
Bedingungen in bestimmten geographischen und
klimatischen Regionen aus- und vorgesetzt. Das
Land vor mir präsentierte und erstreckte sich; es
streckte und weitete, ja, weidete sich aus, wurde
größer und weiter, ein Strecken, ein Zerren der
Ebenen und Flächen. Ich vernähte den Himmel mit
dem Straßenstück vor dem Haus. Alles schien
erreichbar. Alles schien ergriffen, vereinnahmt,
zweckentfremdet, unter die Fittiche genommen,
oder aber aus dem Gedächtnis gestrichen. Irgendwann musste man das Vergessen schließlich auch
gelernt haben, irgendwann musste auch das
Vergessen eingesetzt haben, denn ein andermal
würde es zu spät dafür sein. Ein andermal würde es
zu spät dafür gewesen sein. Bisher wurden 125
Zeugen einvernommen und 247 Hinweise aus der
Bevölkerung bearbeitet. Ein Ende ist derzeit nicht
in Sicht, auch wenn man vermeintlich darauf
zusteuert, tastend näher zu kommen scheint, oder
234
of the past, because the question of the naming is not a
matter of the past. It is the question of the future, the
question of the future itself, the question of a response,
of a promise and of confidence for tomorrow, which will
be clarified. One morning, to clarify this, this will clear
up. Another time perhaps. Only in the future will it be
possible to know what will be the meaning of my name.
Only in times to come will everyone be able to know
how my name will have been acclaimed. Not tomorrow,
but someday, once upon a time, once or never. Surely
somehow, somewhere, sometime. Another time. Yes,
surely then, because there is a great promise in this
future. Unfortunately, a great future cannot be promised or even predicted with certainty. Under any
circumstances, never. Not by any means. Previous
testimony does not provide a single clue. At the moment there is no identifiable crime, but that does not
mean anything. It should not be suggested that any
previous efforts were in vain nor that it was all forgotten
or forgiven. Not really, but one should be curious for
sure. One should be prepared for every possible
scenario. First, you want to be on the safe side and
remove any reasonable doubt. The first hours are always
critical. First of all, one should, however, concentrate on
the essentials. In the presence of certain evidence,
including other circumstances said to exist. Any suggestion leads to more conjecture and this should be
investigated even without strong suspicion. Act first,
then wait. Wait, even if there is no waiting period for
235
den Standpunkt wechselt. Irgendwie wird auch das
Vorbei gehen, weitergereicht und zu den Akten
gelegt werden. Irgendwie wird auch das überstanden werden können, irgendwie, irgendwo zwischen
Fakt und Fiktion, alles andere ist nur Ornament,
Anekdote, Lückenfüller. In dieses Dazwischen,
diesen Graübereich einen Fuß stellen und Türen
offenhalten. Es ist noch nichts gesagt, keine
endgültige Aussage getroffen; es ist schließlich noch
nichts entschieden, bevor nicht jede Meinung
gehört, jede Perspektive für sich betrachtet wurde.
Jede Aussage soll zuerst gewertet werden. Jede
einzelne Position muss zuerst ausgewertet werden,
ja, jeder einzelne Hinweis muss in die Bewertung
mit einfließen, denn jede Stimme zählt, zählt sich
aus, ene, mene, muh, und raus bin ich, raus bin ich
noch lange nicht, muss erst sagen, was geschehen
ist. Ein Geschehen und Erlebnis. Ein Ereignis und
Abenteuer. Spiel und Spaß und Spannung. Alles in
Einem. Fast alles auf einmal. Alles was interessiert,
ja, faszinierend zu sein verspricht. Alles, bei dem
der Ausgang noch zu überraschen, zu schockieren
vermag. Alles, und noch so vieles mehr. Alles auf
Anfang ohne Gang über Los. Alles zu Ende,
worüber man dann besser doch nichts wissen
möchte. Ach, wie gut dass niemand weiß. Ach, wie
gut dass niemand wusste, von den paar Leerstellen,
236
the acceptance and filing of the complaint. A complaint
must be filed, even if there is no guarantee of justice.
Act first, then hope. Let us help you, even if the most
bitter and the most obvious truth can only be nurtured
with secret doubts. Speak openly about things. Talk
about things as they are and give them their proper
name at last. Tree. House. Garden. Fence. Gap.
Blood and track. Then there is nothing more to lose.
No, not anymore. No more than that. I will perhaps
finally be traceable, will at least get to where I am
entirely lost. At some point I will have achieved my
goal. Finally. So far I’ve only ever lost to someone or
other—even if taking part is all that matters, commiseration crucial, and the journey the goal. Before this
there was really no deciding about winners and losers.
Up to this point I have unfortunately been incapable of
losing, attaining or catching up with this and myself.
Now or yet, I cannot. Not yet. No more, no less.
Possibly it would only lead me astray from the essentials—far from initiating the necessary steps at the
critical moment, to say loudly, No and to run home.
Head for a safe haven. To return home. Approach a
place and no longer believe in it, or no longer have to
remember it. When a word like home still existed,
sometimes I hid under my bed, in the hope that the
gathering clouds would clear even without my help.
Mostly hope failed and even the roof over my head did
not stop the downpour from soaking me. Thunder,
wind, it was so gloomy, frost and lightning too, and so
237
die vielleicht noch bleiben werden. Nur ich, ich
weiß etwas. Ich weiß etwas, was ihr nicht wisst und
das ist—dunkel, dunkler, ganz, ganz schwarz.
Leerstellen, die noch übrigbleiben. Löcher, die noch
zu stopfen sind. Geheimnisse, die noch übrigbleiben müssen. Zumindest jetzt. Ein letztes Geheimnis, das schlussendlich doch gewahrt werden muss,
für alle Zeit verheimlicht. Zumindest für immer.
Ein letztes Geheimnis, das noch über die Absicht
zu verheimlichen, zu lügen oder zu verleugnen
verheimlicht werden will, auch wenn das Land und
Grab weit offen steht. Zumindest auf ewig. Ich
habe nichts weiter dazu zu sagen. Kein Kommentar. Das Recht auf ein Geheimnis muss bewahrt
werden, wiewohl ich vor Wissbegierde brenne,
wiewohl ich vor Begierde darauf brenne, wissen zu
lassen und das zu archivieren, was für alle Zeit
verschwiegen werden muss. Mein Schweigen
darüber aber wird trotzdem niemals gebrochen,
werde ich niemals brechen. Bei womöglich auftretenden Fragen steht Ihnen die Notrufnummer Eins
Eins Null ohnehin jederzeit kostenlos zur Verfügung. Bei etwaigen anderen Belangen wird man
Ihnen sowieso mit Rat und Tat zur Seite stehen. In
der Zwischenzeit werde ich meine Ausflüchte
bereits erfunden, meinen Willen artikuliert und
eine Erklärung abgeben haben, die mir Freiräume
238
bitterly cold. And then finally, upon my soul, storm and
rain, drop by drop, until even someone like me at last
understood what it means to be wet. Until even I would
have learned at last to be still, to keep my wits and wait
for the storm to fade and withdraw. Wherever. However distant. How far it must be already. How distant
already that is from me. All that happened then and
then and then. Everything that happens then and then
and then had to happen. Inevitably. In a succession of
tenses. Recently, in the course of a continuous narrative,
and in several fragments of a chronology of events, I just
do not know when something is said to have occurred. I
do not know when I will have most recently experienced
something. An experience among others. A life among
others. I was born, I was laughing and crying, I woke
up and I dreamed I went to sleep and died. Something
like that maybe, even though I still am not sure in which
order they will appear in reality. It is like that, you will
learn the secret that entwines about it. It will become at
last tangible. At the end everything will have to be
tangible. From empirical studies we knew that time was
actually the biggest enemy. Despite this factor, it is
often cited as a potential indicator for the wellbeing of a
case, and not some reoccurring dip. While some cases
resolve themselves within the first week, statistics show,
that it can come to a final submerging, when it repeats
itself. There are no official figures, but if a body enters
the water, breathing will become completely impossible
at a specific depth. That’s proven. Therefore, under no
239
schafft. Ich werde mir ein bisschen Luft verschaffen.
Ich werde es schaffen oder zumindest den Versuch
gewagt haben. Einatmen. Ausatmen. Dosieren und
abwägen. Auf die Waagschale legen. Ein paar
Atemzüge oder doch noch viele mehr. So viele wie
nötig. Einatmen. So viele wie möglich. Ausatmen.
Ich werde alles daran setzen. Bisher sei man noch
zu keinem Ergebnis gekommen, doch greift man
mittlerweile nach jedem Strohhalm, um ein
Zeichen auszumachen, das zu deuten wäre.
Voreilige Schlüsse sollen dabei nicht gezogen
werden, und man schrecke davor zurück, das
Schlimmste beim Namen zu nennen, denn die
Frage der Benennung ist keine Frage der Vergangenheit. Es ist die Frage von Zukunft, die Frage
der Zukunft selbst, die Frage einer Antwort, eines
Versprechens und des Vertrauens auf ein Morgen,
das zu klären sein wird. Ein Morgen, das aufklären,
das aufzuklären sein wird. Ein andermal vielleicht.
Erst künftig wird man wissen können, was mein
Name bedeutet haben wird. Erst in zukunftigen
Zeiten wird jeder wissen können, wie mein Name
gelautet haben wird. Nicht morgen, sondern
irgendwann einmal, vor langer, langer Zeit, sogleich
oder vielleicht doch niemals. Ganz bestimmt,
irgendwie, irgendwo, irgendwann. Ein Andermal.
Ja, sicherlich dann, denn es ist ein großes Ver-
240
circumstances leave your children unattended. Be
interested in what they are doing, where they are, how
they’re doing. Feel responsible. Make them familiar
with the surroundings. Learn to trust. Confine your
confidence to a minimum. Be clear, draw the boundaries and explain the difference between good and evil.
Draw clean lines. Orient them. Dress the children in
non-colors. Further, everything at your own risk.
Prepare them for the cruel yet banal reality, with actual
atrocities, if necessary. Reinforce your words always
with action. Tell them to be quiet. With a raised
backhand. Let the deeds follow up more deeds. Tell
them to be good. So avoid procrastinating, call, if
possible. Every action produces an equal reaction. Call
it muzzle-child. Everything else without guarantee.
Every action must trigger a sequence of actions, appear
to be necessary to itself and fisticuffs. Everything that
follows will later have to be of yourself and discovering.
To go hence, please take no unnecessary risks, even if
something blatant or unexpected reveals itself to you.
The avoidance of possible harm is the priority. It is the
ultimate aim to refrain from deviating from the stated
objectives of an event. Furthermore, to refrain in any
situation with a clear course of events that cannot be
influenced by a state or behavior with reasonable
certainty, leads to an expected loss. So do not play the
hero. Do not go over lots. Keep your children with you
at all times; do not run the risk of forgetting them, or
leaving them somewhere. During risky and unwanted
241
sprechen an eben diese Zukunft. Eine große
Zukunft kann nur leider nicht mit Sicherheit
versprochen oder gar vorausgesagt werden. Niemals, nie. Auf keinen und in jedem Fall. Bisherige
Zeugenaussagen erbrachten indes noch nicht den
entscheidenden Hinweis. Ein eindeutiger Tatbestand ist momentan noch nicht gegeben, aber das
soll nichts heißen. Es soll vor allem nicht heißen,
dass alle vorherigen Bemühungen vergebens waren,
und auch nicht, das alles vergessen oder vergeben
sei. Wirklich nicht, doch sollte man auf jeden Fall
gespannt sein. Man sollte auf jeden möglichen Fall
gefasst sein. Zuerst muss und möchte man auf alle
Fälle auf Nummer sicher gehen, um jedweden
Zweifeln auszuräumen. Dabei sind die ersten
Stunden stets entscheidend. Zu aller erst sollte
man sich jedoch auf das Wesentliche konzentrieren.
Bei Vorliegen bestimmter Gegebenheiten ist
schließlich auch immer vom Vorliegen weiterer
Gegebenheiten auszugehen. Jede Vermutung führt
zu mehr Vermutungen und diesen ist auch ohne
dringenden Verdacht nachzugehen. Zuerst
Handeln und erst dann Warten. Abwarten, auch
wenn es für die Aufnahme der Anzeige keine
Wartezeit gibt. Eine Anzeige muss erstattet
werden, auch wenn die Rückerstattung nicht
gewährleistet werden kann. Zuerst Taten und dann
242
side effects, please leave a message after the beep. Lean
out, but not too far. Anticipate, but not too much. If
there is no news yet as to what actually happened, just
convey mere conjecture. Put all your eggs in one basket.
Put all possible forces in motion. The attempt is worth
it. Always go whole hog. No half measures. Your
statement about what may happen could drastically
alter the course of history, even if nothing changes.
Your statement currently beyond what may have
happened, with its tendency toward deliverance and
self-reliance could actually attest. Become a witness.
Testify with your eyes and ears and decide today if
you’re for or against, life and body. Take advantage of
this unique opportunity. A single drop could push the
most long-smoldering conflict over the edge. The
threshold of inhibition to make a decision, and the ensuing internal conflict can be overcome. Prepare yourself.
Make the leap! I will not be able to help myself or
prepare for it. I’ll be ready and at the end, take my
chances. I will have made my time dependent on, and
an image of that. I will have had to. First I want,
however, to be able to have counted every drop in order
to paste it into a larger whole. Once it is over, I shall
necessarily also be forced to acquiesce to the directive.
Under threat and coercion, I will acknowledge it.
Otherwise, I forbid any outside influence as well as
coincidence or any further intervention by fate. This is
none of your business. Don’t reveal too much. Several
witnesses claim they heard a scream in the field, which
243
Hoffen. Lassen Sie sich helfen, auch wenn bereits
zu diesem Zeitpunkt die bitterste Wahrheit
eingestanden und das Offensichtlichste nur mit
insgeheimen Zweifeln genährt werden kann.
Sprechen Sie offen über die Dinge. Sprechen Sie
über die Dinge wie sie sind und nennen Sie sie
endlich bei ihrem eigentlichen Namen. Baum.
Haus. Garten. Zaun. Lücke. Blut und Spur. Dann
gibt es nichts mehr zu verlieren. Zumindest nicht
mehr. Nicht mehr als das. Ich werde dann vielleicht
auch endlich auffindbar, oder zumindest dorthin
kommen, gänzlich verloren zu sein. Irgendwann
werde auch ich mein Ziel erreicht haben. Endgültig.
Bisher habe ich immer nur gegen irgendjemand
anderen verlieren können, auch wenn dabeisein
alles, die Teilnahme entscheidend und der Weg das
Ziel ist. Bisher ließ sich doch nie wirklich über
Gewinner und Verlierer entscheiden. Bis hierher
konnte ich dies und mich selbst leider noch immer
nicht verlieren, erreichen oder einholen. Nun oder
noch kann ich es nicht. Noch nicht. Nicht jetzt.
Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Womöglich
würde es mich ja doch nur am Eigentlichen vorbeiführen, weit davon entfernt im entscheidenden
Augenblick die nötigen Schritte eingeleitet zu
haben, laut Nein zu sagen und nach Hause zu
laufen. Einen sicheren Hafen anzusteuern. Heim-
244
then intensified the manhunt. The area was searched
with a large contingency. Whom may this help for all
that? Bloodhounds, helicopters with infrared cameras
and additional technical equipment were already used
during the night. I hardly think that this will achieve
anything. The urge to communicate by psychics and
so-called watch-holding hypnotists holds, meanwhile it
continues unabated, and a group of officials to follow
psychic clues are spellbound to chance. Who is ever,
ever going to be able to help? Previously, neither relief,
nor naïve certainty or blind trust, have set in. Once, on
a happier day I too had blindly trusted my instincts. In
milder hours or other times I had told myself with eyes
closed, always follow your nose until even that was be
taken with a grain of salt. I know that one has to take
precautions, that you have to have precautions being
taken, so as not reach the limits: its own as well as
other’s. In order not to run into walls completely, one
needs to one, two, three, in the blink of an eye. Always all,
all borders are respected. Both the predetermined and
the fixed, as well as the required and the temporary.
The necessary local information was said to be in poorly
accessible terrain, but still by no means obsolete. Too
few details and the lack of a precise positional reportage
would make distinctions between light and dark fields
particularly difficult. The ratio between the number of
statistically recorded acts and the actual acts would only
further increase the inaccuracies. Based on the collection of empirical data by representative surveys, one
245
zukehren. Mich einem Ort zu nähern, an den nicht
mehr zu glauben, oder der längst nicht mehr zu
erinnern sein wird. Als es ein Wort wie zuhause
noch gab, versteckte ich mich manchmal unter
meinem Bett, in der Hoffnung, die aufziehenden
Wolken würden sich auch ohne mein Zutun
lichten. Meist schlug die Hoffnung fehl und selbst
das Dach über meinem Kopf hielt den Wolkenbruch nicht ab, sich über mir zu entladen. Donner,
Wind, es war so finster, Frost und Blitz, und auch
so bitter kalt. Und dann schließlich, Potzblitz,
Sturm und Regen, Tropfen um Tropfen, bis selbst
jemand wie ich begriffen haben musste, was es
heißt, nass zu werden. Bis auch ich endlich gelernt
haben würde, still zu sein, den Kopf einzuziehen
und darauf zu warten, dass sich das Unwetter legte
oder verzog. Wohin auch immer. Wie fern auch
immer. Wie fern das nun schon bereits sein muss.
Wie fern mir das schon alles ist. Alles, was dann
und dann und dann geschah. Alles, was dann und
dann und dann geschieht, geschehen musste.
Zwangsläufig. In Abfolge der Zeitformen. In
kontinuierlichem Verlauf einer Erzählung und in
etlichen Fragmenten einer Chronologie der Ereignisse. Ich weiß nur nicht, wann sich zuletzt
etwas ereignet haben soll. Ich weiß nicht, wann ich
zuletzt etwas erlebt haben werde. Ein Erleben unter
246
deems oneself, for the time being, only capable, to a
certain extent, of surreptitiously estimating the
certain variable relations of light and dark. For this
reason, one says that one hardly dares to step out of
the dark figure, let alone, talk about something like
light. I’d much rather stick to my instincts there.
Much rather, you stick to intuitive answers or
estimations of things that are quantifiable. Exact
enumeration, declaration and clarification are thus
not possible. The current opportunities you could
probably count on one hand, and in the meantime
we wanted to reflect better and appeal to the good
in people. As long as there is no end in sight, it will
call to reason and the watchful eye of society.
Otherwise you want to fetch from memory,
previous successes, even if you cannot for that
matter build upon them. Connecting points and
reference points would indeed receive, on one hand,
attention, but one must first of all, maintain the
medial memory, yes, the collective memory must be
kept awake as long as possible with force. One
needs to be roused. One must be wrested from
one’s resting, and in the long run, back and forth,
swing. Back and forth. Without ceasing. This is
the ultimate maxim.
247
anderem. Ein Leben unter anderen. Ich wurde
geboren, ich lachte und weinte, ich wachte und
träumte, ich ging, schlief und starb. So in etwa
vielleicht, auch wenn ich mir noch nicht sicher bin,
in welcher Reihenfolge diese Erfahrungen in der
Wirklichkeit erscheinen werden. So oder so ähnlich
vielleicht, auch wenn das Ende so nicht zu erfahren
sein wird. Es ist anzunehmen, dass man das
Geheimnis, das sich darum rankt, doch erfahren
werden wird. Es wird schlussendlich doch erfahrbar
sein werden. Schlussendlich wird es doch erfahrbar
sein müssen. Aus empirischen Studien wusste man,
dass die Zeit der eigentlich größte Feind sei.
Trotzdem dieser Faktor in vielen Fällen als potenzieller Indikator für das Wohlergehen angeführt
wird, tauchen manche dennoch nicht wieder auf.
Während sich einige Fälle bereits innerhalb der
ersten Woche erledigen, belegen Statistiken den
Verdacht, dass es bei mehrmaliger Wiederholung
zum endgültigen Untertauchen kommen kann.
Offizielle Zahlen gibt es dafür nicht, doch geht
man davon aus, dass eine Rückkehr bereits ab einer
bestimmten Tiefe immer schwieriger wird. Soviel
steht fest. Ab einer gewissen Tiefe wird beim
statuierenden Eintreten des Körpers in diesen
Zustand Luftholen bereits vollkommen unmöglich.
Das ist bewiesen. Lassen Sie Ihre Kinder deshalb
248
unter keinen Umständen unbeaufsichtigt. Interessieren Sie sich dafür, was diese tun, wo sie sind, wie
es ihnen geht. Fühlen Sie sich zuständig. Machen
Sie sie mit der Umgebung vertraut. Lernen Sie zu
vertrauen. Grenzen Sie Ihr Vertrauen jedoch auf
ein Mindestmaß ein. Zeigen Sie die Grenzen klar
auf und erklären Sie den Unterschied zwischen Gut
und Böse. Ziehen Sie klare Linien. Geben Sie
Orientierung. Lassen Sie ihre Kinder nur mit
Nichtfarben malen. Alles weitere auf eigene Gefahr.
Bereiten Sie sie auf die grausame doch banale
Realität vor, wenn nötig auch mit tatsächlichen
Grausamkeiten. Untermauern Sie ihre Worte stets
mit handhabbaren Taten. Zögern Sie nicht. Heißen
Sie es still. Lassen Sie den Taten weitere Taten
folgen. Heißen Sie es artig sein. Um nicht zum
Stillstand zu gelangen, rufen Sie, wenn möglich,
durch jede Aktion eine aktive Folge hervor. Heißen
Sie es Maul-Korb-Kind. Alles Andere ohne
Gewähr. Jede Handlung muss eine Folgehandlung
auslösen, bis selbst Handgreiflichkeiten notwendig
erscheinen. Alles Folgende wird sich später dann
von selbst weisen und zu entdecken sein. Es kann
aber nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob wirklich
etwas zu entdecken sein wird. Gehen Sie daher
bitte kein unnötiges Risiko ein, auch wenn sich
wirklich etwas aufdeckt oder Ungewöhnliches zu
250
sehen sein wird. Die Vermeidung eines Ereignisses
mit der Möglichkeit negativer Auswirkung ist stets
vorrangig. Das höchste Ziel ist es, von der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses und dessen
Konsequenz, bezogen auf die Abweichung von
gesteckten Zielen, abzusehen. Des weiteren ist
jedwede Situation, in der bei ungehindertem, nicht
beeinflussbarem Ablauf des Geschehens ein
Zustand oder ein Verhalten mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit zu einem erwarteten Schaden
führt, zu unterlassen. Spielen Sie also nicht den
Helden. Gehen Sie nicht über Los. Bewahren Sie
Ihre Kinder stets bei sich, um nicht das Risiko zu
laufen, sie zu vergessen oder irgendwo liegenzulassen. Bei Risiken und unerwünschten Nebenwirkungen hinterlassen Sie bitte eine Nachricht am
Ausgang. Lehnen Sie sich dabei jedoch nicht zu
weit raus. Greifen Sie noch nicht zu weit vor. Sofern
bisher keine Nachrichten darüber vorliegen, was
eigentlich geschehen ist, können auch bloße Vermutungen geäußert werden. Setzen Sie dabei stets alles
auf eine Karte. Setzen Sie alle möglichen Kräfte in
Bewegung. Den Versuch ist es wert. Gehen Sie
immer aufs Ganze. Keine halben Sachen. Ihre
Äußerung über das, was möglicherweise geschehen
ist, könnte den Verlauf der Geschichte drastisch
beeinflussen, wenn nicht gar verändern. Ihre
252
Äußerung über das, was möglicherweise passiert ist,
könnte die Tendenz zur Emanzipierung und
Verselbstständigung eventuell sogar bezeugen.
Werden Sie Zeuge. Bezeugen Sie mit Auge und
Ohr und entscheiden Sie sich noch heute für oder
wider Leben und Leib. Nützen Sie diese einmalige
Gelegenheit. Ein einzelner Tropfen kann den meist
schon lange schwelenden Konflikt zum Überlaufen
bringen. Die Hemmschwelle, eine Entscheidung zu
treffen, und der damit einhergehende innere
Konflikt werden dann auch überwunden werden
können. Machen Sie sich gefasst. Überwinden Sie
sich. Ich werde nicht anders können, als mich
ebenso darauf vorzübereiten. Ich werde bereit sein
und es am Ende darauf ankommen lassen. Ich
werde meine Zeit davon abhängig und mir ein
eigenes Bild gemacht haben. Haben müssen. Zuerst
will ich jedoch noch jeden Tropfen gezählt haben,
um es dann zu einem großen Ganzen fügen zu
können. Wenn es überstanden sein wird, werde ich
mich zwangsweise auch den Anordnungen fügen.
Unter Drohung und Zwang werde ich mich dazu
bekennen. Ansonsten verbiete ich mir jedoch
jedwede fremdbestimmte, wie auch auch jede
Fügung und jeden weiteren Eingriff seitens des
Schicksals. Halten Sie sich erst einmal raus. Geben
Sie noch nicht zu viel preis. Mehrere Zeugen gaben
254
an, in dem Gebiet einen Schrei gehört zu haben,
woraufhin die Fahndung intensiviert und das
Gelände mit einem Großaufgebot durchsucht
wurde. Wem das noch wirklich nützen mag.
Spürhunde, Hubschrauber mit Wärmebildkameras
und weiterem technischem Gerät kamen während
der Nacht bereits zum Einsatz. Ich glaube kaum,
dass das noch etwas bringen soll. Der Mitteilungsdrang von Hellsehern und sogenannten Pendlern
hält unterdessen unvermindert an, und eine
Beamtengruppe erklärte sich bereit, parapsychologischen Spuren zu folgen und an den Zufall zu
glauben. Wem das überhaupt jemals helfen können
wird. Bisher setzte weder eine Erleichterung ein,
noch naive Gewissheit oder blindes Vertrauen.
Einst, an einem fröhlicheren Tag hätte auch ich
mich blind meinen Instinkten anvertraut. In
leichteren Stunden oder ein andermal hätte ich
mich mit geschlossenen Augen stets der Nase nach
geheißen, bis selbst das mit Nachsicht zu genießen
war. Seitdem weiß ich, dass Vorsicht gewaltet lassen
werden muss, um nicht an Grenzen zu stoßen.
Sowohl an die eigenen als auch an fremde. Um
nicht vollends gegen Mauern zu laufen, müssen
eins, zwei, drei im Sauseschritt, stets alle, alle
Schranken eingehalten werden. Sowohl die
vorgegebenen und starren, als auch die erforderten
256
und zeitlich begrenzten. Die erforderlichen
Ortskenntnisse, so hieß es, seien bei schlecht
zugänglichem Terrain jedoch weiterhin keineswegs
verzichtbar. Mangelnde Details und das Fehlen
einer genauen Lageberichterstattung würden die
Unterscheidung zwischen Hell- und Dunkelfeld
zusätzlich erschweren. Das Verhältnis zwischen
der Zahl der statistisch ausgewiesenen und der
wirklichen Handlungen würde die Ungenauigkeiten einzig weiterhin vermehren. Basierend auf
der Erhebung empirischer Daten durch repräsentative Befragungen sieht man sich deshalb zum
gegebenen Zeitpunkt nur in der Lage, in gewissem
Rahmen die variable Relation von Hell zu Dunkel
unter der Hand abzuschätzen. Aus diesem Grund
wage man sich kaum aus der Dunkelziffer zu
treten, geschweige denn über so etwas wie Licht zu
sprechen. Viel eher halte ich mich da noch an meine
Instinkte. Viele eher hält man sich dann an intuitive Angaben oder Bewertungen von messbaren und
zahlbären Größen. Eine exakte Aufzählung,
-klärung und Erhellung ist somit leider nicht
möglich. Derzeitige Chancen könne man sich aber
wohl ohnehin bereits an fünf Fingern abzählen, und
unterdessen wolle man sich lieber besinnen und an
das Gute im Menschen appellieren. Solange kein
Ende abzusehen ist, ruft man dann lieber nach-
258
drücklich die Vernunft und das wachsame Auge
der Bevölkerung an. Ansonsten will man bisherige
Erfolge in Erinnerung rufen, wenn schon nicht
daran angeknüpft werden kann. Anknüpfungs- und
Bezugspunkte würden einerseits zwar das Interesse
erhalten, aber man müsse zuallererst das mediale
Gedächtnis aufrechterhalten, ja, die kollektive
Erinnerung muss möglichst lange und mit Nachdruck wach gehalten werden. Man müsse wachgerüttelt werden. Man muss aus der eigenen
Ruhelage gelenkt werden und auf Dauer hin und
her schwingen. Vor und zurück. Ohne Unterlass.
Das ist die oberste Maxime.
260
sk i
w
o
k
a
M
M i ch ael
e Is…
m
a
N
y
M
z t vo n
u b erset auf
rüh
D a v id F
:
:
ist…
e
m
a
N
Mein
M
y name is (insert name) any name, I was
born here, a city that defines me as such, or
not; for Michael is a city like any other, with private
roads and public avenues, and who is kind of like…
(But not to be worshiped with biblical intimations
in dimly lit cul-de-sacs or empty courtyards—
though we see no danger of that) unknowable,
because had you lunched in the Boulevard de
Thoracic you would have seen only moss-covered
statues and old buildings made of hand-carved
stone. And as you ate your ceviche and sipped your
Montrachet, you would have said, “Now this is a
city for lovers,” having never understood that along
l’Avenue des Femurs young men were being castrated, their screams funneled into marching bands.
This is a city at war with itself, the city of Michael.
If I were, say the city of Lye, Alabama, might I not
have been a better person. Or worser perhaps, were
you from its rival town, and my name Cardamom
and not Michael.
C
ardamom likes to talk just above whisperlike; he’s in a church of sorts. These quiet
conversations of ours—threnodies more-like—on
botany and entomology take place on a Galleon
264
M
ein Name ist (Name einsetzen) ein
beliebiger Name—ich wurde hier geboren,
in einer Stadt, die mich als solche definiert, oder
eben nicht; denn Michael ist eine Stadt wie jede
andere, mit Privatwegen und öffentlichen Straßen,
und in gewisser Weise ist sie… (Sollte jedoch
nicht in schwach beleuchteten Sackgassen und
leeren Hinterhöfen mit biblischen Andeutungen
verehrt werden—auch wenn wir nicht die Gefahr
sehen, dass es je dazu kommt) unerkennbar, denn
hättest du auf dem Boulevard de Thorax zu Mittag
gegessen, hättest du nur moosbedeckte Statuen und
alte Gebäude aus handgemeißeltem Stein gesehen.
Und während du dein Ceviche gegessen und deinen
Montrachet genippt hättest, würdest du gesagt
haben: „Also, das ist eine Stadt für Verliebte“,
vollkommen vergessend, dass entlang der l’Avenue
des Femurs junge Männer kastriert wurden, deren
Schreie sich in Marschkapellen kanalisierten. Dies
ist eine Stadt im Krieg mit sich selbst, die Stadt
von Michael. Wäre ich, sagen wir, die Stadt Lye,
Alabama, wäre ich dann nicht ein besserer Mensch
gewesen? Oder ein schlechterer vielleicht, kämst
du aus deren rivalisierender Stadt, und mein Name
wäre Kardamom und nicht Michael.
265
moored or less where the Hudson turns brackish,
but farther south at dusk. We are drinking black
coffee beneath the crossbeam where the lantern
sways. Cardamom enters, to what amounts to as
his church, a tone of voice. A sound reserved for the
Jewish girl he is always talking about. This is where
he spends most of his time. It doesn’t matter what
the subject is; he could be discussing the chemical
composition of aphid shit, or the psi possibilities on
various exoskeletons; when he slips into the tone, it
is always about her. Here she is practically deified,
his self crucified, two gods at war.
“For instance,” says he with his fragrant breath,
“did you know that the female silk moth, Bombyx
Mori,” Insert Abigail, “secretes a pheromone so
potent, but the thousandth part of a gram can be
detected by the male,” Insert Cardamom—insertion
sad—“over the distance of a half mile. And—Get
this,” whispers he with reverence, “after decapitation, the antennae of the male moth,” insert speaker
again, “will continue to twitch to a mere molecule of
Bombykol,”—Abigail’s pheromone.
“G_d is sick,” I say.
S
ometimes I get the impression that Cardamom communicates in pilfered metaphor
only. I like him but he needs to die; all this malar-
266
K
ardamom findet Gefallen daran, in gerade
noch hörbarem Tonfall zu sprechen; er
ist in einer Art Kirche. Diese leisen Gespräche
unsererseits—Threnödien allenfalls—über Botanik
und Etymologie finden auf einer vertäut und
zugenähten Galeone statt, wo der Hudson brackig
wird, jedoch etwas weiter südlich in der Abenddämmerung. Wir trinken schwarzen Kaffee unter
dem Querbalken, an dem eine Laterne schwingt.
Kardamom fällt in die Tonlage, die seiner Kirche
entspricht. Ein Klang, der jenem jüdischen Mädchen vorbehalten ist, über das er ständig spricht.
Dort verbringt er auch die meiste Zeit. Ganz egal,
was Sache ist—er könnte die chemische Zusammensetzung von Blattlausscheiße erörtern, oder die
psi-Möglichkeiten verschiedener Hautpanzer—,
sobald er in den Tonfall rutscht, dreht sich alles nur
noch um sie. Hier wird sie praktisch vergöttert, sein
Ich gekreuzigt, zwei Götter im Krieg.
„Wusstest du etwa,“ sagt er mit seinem
duftendem Atem, „dass die weibliche Seidenspinnerin, Bombyx mori“—setz Abigail ein—„ein
dermaßen potentes Pheromon absondert, dass
allein ein Tausendstel Gramm genügt, damit das
Männchen“—setz Kardamom ein—Einschub betrübt—„es über die Entfernung einer halben Meile
wahrnehmen kann?“ „Und halt dich fest“, flüstert
er andachtsvoll, „selbst nach der Enthauptung
267
key of love is getting us nowhere. What he needs,
I think, is a proper herb, something asymptomatic
and insidious, vile yet aromatic and toothsome,
(insert into the batter, berries of the Belladonna.)
T
here were conflicting factions. They approached the ship. Their main purpose was
to the purpose—set the drama: people disappearing
into people, an et cetera so tedious it ended as an
ellipsis of memory—in the heart, an empty space.
C
ardamom was the first to admit that when
he loved someone, he loved him or her to
death. I thought this counterproductive.
A
long the black shore-shapes of shadows,
movement ran, rose, then dipped like buoys.
I
n the city of Michael, there is a courtyard
just outside of Cardamom that resembles the
plaza in Lye, Alabama where people actually do go
to die. Lye, Alabama is a retirement community
where Cardamom, Theo and I, once lived, or lived
once, cities within a city, but no more. We’ve known
each other for years. The city knows them and they
nose the city like their own farts, with a mixture
268
zuckt die Antenne des männlichen Falters“—setz
erneut den Redner ein—„ aufgrund eines bloßen
Bombykolmoleküls weiter“, Abigails Pheromon.
„G_tt ist krank“, sage ich.
M
anchmal habe ich das Gefühl, Kardamom
kommuniziert einzig in gemauserten
Metaphern. Ich mag ihn, aber er muss sterben;
dieser ganze Liebesquatsch führt ja schließlich
doch zu nichts. Was er, glaube ich, braucht, ist ein
anständiges Kraut, irgendwas asymptomatisches
und schleichendes, das widerlich, gleichzeitig aber
auch aromatisch und schmackhaft ist (setz in den
Teig ein: die Beeren der Belladonna.).
E
s gab gegensätzliche Lager. Sie näherten sich
dem Schiff. Ihr Hauptanliegen war dem
Zweck—Vorhang auf: Menschen verschwinden
in Menschen, ein et cetera so öde, dass es als
Auslassung des Gedächtnisses endete—im Herzen
dienlich, ein leerer Raum.
K
ardamom würde nie abstreiten, dass, wenn
er jemanden liebte, er ihn oder sie zu Tode
liebte. Ich fand, dies sei kontraproduktiv.
269
of subversive glee and shame, the bewitching scent
that pulls from one darkened hedge-row to the next,
an abandoned car, a stray cat, a long stretch of road
here, a dive bar there, but mostly blackened streets
narrowed by the brick of buildings and rotting
stoops. In this part of town—which resembles Lye,
Alabama so much so, they named it Lye Square—
we haven’t seen the sun in six years. Here, the war
seems far away from every direction as if we were
living in a sealed jar falling off the counter in slow
motion.
Old people wait here by their windows and
watch birds peck weather. Most days our world is
a still-life painted by the terminally ill; any color
or composition even distantly related to hope is
systematically polluted, drained of color, gray filled.
It’s the little things, like toast with strawberry jam
that get you through the day. Though the color of
the jam, not as vibrant, the taste not as sweet, the
dry grit of toast feels good against the tongue. So
good, we could almost remember what those colors
were like before the coup, and the bullet-pocked
post office; before we knew the courting rituals of
moths and how to travel by night undetected. We
send our love by carrier pigeon.
The courtyard just outside of Cardamom is
cobbled and empty but for one wooden bench
where he has carved her name thirty seven times
270
E
ntlang der schwarzen Schattenstrandgestalten lief, stieg und tauchte die Strömung
wie eine Boje.
I
n der Stadt von Michael gibt es einen
Hinterhof etwas außerhalb von Kardamom,
der dem Platz in Lye, Alabama, wo Menschen
tatsächlich zum Sterben hingehen, bis aufs Haar
gleicht. Lye, Alabama ist eine Rentnersiedlung,
in der Kardamom, Theo und ich einst lebten,
oder ein Mal lebten, Städte innerhalb einer Stadt,
aber nicht mehr. Wir kennen uns seit Jahren. Die
Stadt weiß um sie und sie wittern die Stadt wie
ihre eigenen Fürze, aufgrund eines Gemischs aus
subversiver Heiterkeit und Scham, des betörenden
Dufts, der von einer verdunkelten Heckenreihe
zur anderen zieht, eines verlassenen Autos, einer
streunenden Katze, einer langen Fahrbahnstrecke
hier, einer Spelunke dort, aber vorrangig wegen der
abgedunkelten, durch Mauerziegel und verfallenden
Treppen verengten Straßen. In diesem Teil der
Stadt—der Lye, Alabama so dermaßen ähnelt, dass
sie ihn Lye Platz tauften—haben wir die Sonne
seit sechs Jahre nicht gesehen. Hier erscheint der
Krieg fern jeglicher Führung, als ob wir in einem
versiegelten Einweckglas leben würden, das in
Zeitlupe vom Tresen fällt.
271
and his own only once. It can be seen from the
kitchen window, where we are eating breakfast. He
treats it as a personal shrine to her, shooting pellets
at anyone who loiters within a gesture of it. A tree
grows there too, bench-side, spawning leaves the
shape and size of elephant ears. If the sun existed in
places like this, Place de Here, if you could only see
the way he points to his chest, it would be the only
source of shade, these elephant ears. The ship creaks
a bit on nights like this, but we don’t much notice.
The coffee is strong and hot, and I remember that
elephants never forget. What kind of a gift is that.
The temperature has dropped and I stoke the
potbellied stove. Cardamom wears a light green
cardigan and pulls it tight. His eyes are large and
the way he squats, gives him a bird-like totem
quality, what Theo refers to as, the Bird That Cries
With Grief, which is the name of an actual bird
that sounds like a cat mewling. Cardamom’s voice
has that quality sometimes. He is taller than I…
and me… Or would be if he stood up straight,
but better looking with a full shock of dark hair. I
wish I were like him. He rolls his own cigarettes.
Cardamom is a paragon of men, as I imagine men,
and it’s easy to see how Theo fell in love with him.
Cardamom offers me a cigarette. Lights it, but I
cough, suck it up, burn inside.
If you follow the Rue du Du you can see City
272
Alte Menschen warten dort an ihren Fenstern
und beobachten die Vögel beim Picken des
Wetters. Meistens ist unsere Welt ein Stillleben,
von Todkranken gemalt; jede noch so entfernt
hoffnungsfrohe Farbe oder Komposition wird
systematisch verschmutzt, farbentleert, vergraut.
Es sind die kleinen Dinge, wie Toast mit Erdbeermarmelade, die einen den Tag überstehen lassen.
Auch wenn die Farbe der Marmelade nicht so
kräftig, der Geschmack nicht so süß ist, tut es
gut, den trockenen Toastgrieß auf der Zunge zu
spüren. So gut, beinahe gelingt es uns, uns daran
zu erinnern, wie diese Farben vor dem Putsch und
den kugelübersäten Postfilialen aussahen; bevor wir
über die umwerbenden Rituale der Motten wussten
und wie man in der Nacht unentdeckt reist. Wir
senden unsere Liebe mittels Brieftauben.
Der Hinterhof etwas außerhalb von Kardamom
ist gepflastert und bis auf eine Holzbank, in die
er ihren Namen siebenundvierzig Mal und seinen
eigenen nur ein einziges Mal eingeritzt hat, leer.
Man kann sie vom Küchenfenster aus, wo wir
gerade frühstücken, sehen. Er betrachtet die Bank
als persönlichen Schrein für sie, schießt Kügelchen
auf jeden, der sich auch nur in deren Nähe wagt.
Ein Baum wächst dort auch, bankseitig, seine
Blätter sprießen in Form und Größe von Elefantenohren. Wenn die Sonne an Plätzen wie diesen,
273
Hall whe policy was passed. Flames flicker out the
top floors. A limp flag on the roof hangs in smoke.
We hear the breaking of glass. Someone is flicking
a white hanky out the window. Gun shots in the
distance.
Cardamom sighs; with him, it is always that
Jewish girl. There are c tain plants that lend
themselves best to star-fucked lovers and the legions
of unrequited. Cerbera Odollam, for instance,
named after the guardian of Hades, and culled
from the dank mangrove swamps of India—where
that faggot Theo lways imagined he mi t find the
entrance. This doozey of a pit, by the weight, has
enough cardiac glycosides to sto a heart in minutes,
turning heart ache i to arrest… Ache at rest…
L
ooking at Cardamom, you’d never know he is
himself, thus poisoned by self.
A
board this ship, there is a that lives. It
is a letter thief—the mailman hangs from
a rope—When it s uck aboard, I cannot tell. It
s eals our language, eats it. I find the tiny bones
scattered about the bow-boats, sometimes like little
piles of eyelash. At
it fucks his mouth while
he sleeps. I’ve watched it. His mouth open, filled
with darkness, his head til ba in silent ga . In
274
Place de Hier, existieren würde, wenn du nur sehen
könntest, wie er auf seine Brust zeigt—die einzige
Quelle der Schatten wären diese Elefantenohren.
Das Schiff ächzt ein wenig in Nächten wie dieser,
aber es stört uns nicht weiter. Der Kaffee ist stark
und heiß, und mir fällt ein, dass Elefanten niemals
vergessen. Was für eine Gabe soll das sein?
Die Temperatur ist gesunken und ich heize den
dickbäuchigen Kanonenofen an. Kardamom trägt
eine hellgrüne Strickjacke und zieht sie straff. Seine
Augen sind groß und seine Art zu kauern verleiht
ihm eine vogelartige Totemqualität, die Theo als
Vogel Der Vor Kummer Weint bezeichnet, was
wiederum der Name eines realen Vogels ist, dessen
Ruf wie das Miauen einer Katze klingt. Manchmal
besitzt Kardamoms Stimme diese Eigenschaft.
Er ist größer als ich… und als mein… oder würde
es sein, wenn er aufrecht stünde, aber mit seinem
vollen, dunklen Haarschopf sieht er besser aus. Ich
wäre gern wie er. Er dreht seine eigenen Zigaretten.
Kardamom ist der Inbegriff von Männlichkeit,
zumindest wie ich mir Männer vorstelle, und es
ist leicht nachzuvollziehen, wie sich Theo in ihn
verlieben konnte. Er bietet mir eine Zigarette an.
Entzündet sie, aber ich muss husten, sauge sie auf,
brenne im Innern.
Folgst man der Rue du Du, sieht man das
Rathaus, in ein Gesetz verabschiedet wurde.
275
the morning, his name is for en and the power of
spee diminished. I am responsible for reminding
him, to ca his name. Cardamom, I say, would you
pass the sugar. Nothing could have prepared him
for the confluence of this moment. The creature is
. Shush, he says, shhh… It is A gail… wind
beyond compare, a sucking skin peeling wind…
her body s the demesne (dots gone)
crotch,
the ev slime
sli he will
enter. Sleeping,
he whimpers. Help, I heard once. She tied him to
a post. Flicked his flapdoodle. He told me in the
morning… ass the sugar, I re eated. There was no
oubt an in ervention was eeded.
She had controlled him with breath and the
positioning of her lips. On account of his unusually
easy tone-producing properties, very often overblown and a cause of hardness and shrill, she needs
only gentle air. His waves meet with resistance
from air contained in the lower part of the crea ure. To compensate for his weakness, she blocks the
tone-gaps closest to the mouth-hole. The column of
air t irls, closed within him, h ms. It is comparable
to a stretched viola string you might hear in the
Boulevard de Thoracic where rogue vibrations are
pilfered and bullets pop against the concrete post
office. These longitudinal vibrations in the air
column resist and moan d ache for the edges of the
mouth-hole where they can never cross, never leave,
276
Flammen züngeln aus dem obersten Geschoss. Auf
dem Dach hängt eine Fahne schlaff im Rauch. Wir
vernehmen das Brechen von Glas. Jemand schnippt
ein weißes Taschentuch aus dem Fenster. Schüsse
in der Ferne.
Kardamom seufzt; bei ihm dreht sich immer alles
einzig um das jüdische Mädchen. Es gibt b timmte
Pflanzen, die sich am besten für die arschkriechenden Liebhaber und Legionen von Verschmähten
eignen. Zerberusbau zum Beispiel, benannt nach
dem Torhüter des Hades und geerntet in den
feuchten Mangrovensümpfen Indiens—wo sich
diese Tunte Theo tändig einbildete, er k nne
den Eingang zur Unterwelt finden. Dessen stattlicher Kern besitzt—für sein Gewicht—genug
Herzglykoside, um ein Herz in Minuten zu sto ,
den Herzschmerz i Stillstand zu verwandeln…
Schmerzgestillt…
B
etrachtet man Kardamom, wüsste man
nie, ist er es selbst, sprich, durch sich selbst
vergiftet.
A
n Bord des Schiffs, da gibt es ein , das lebt.
Es ist ein Letterndieb—der Postbote hängt
an einem Strick—Wann es an Bord s ich, weiß ich
nicht. Es s iehlt unsere Sprache, isst sie. Ich finde
277
where no light c enter. Depending upon the weather, the creature may
attempt to break him into octaves. Her music
can only be heard inside of him where her name
ricochets from rib to ib to ri like a rapped fly, his
mout , reathless. But no he is “free.” The stealer
of names has been hermetically sealed in an old
fruit jar. His ords come back like rotting fruit, a
compote of regret.
At dawn, I crept past Cardamom sprawled on his
cot, his head tilting right, mouth open and hanging
off the cot. A puddle of drool. He’d stayed up late
slurring incantations into a wine bottle. I placed a
bowl beside him to catch the vomit and absconded,
my satchel filled with letters and a jar full of her.
C
ontrary to popular belief, the bush was,
indeed, consumed. Abigail married last
July. That is, she married within the tribe. She once
asked me if I were Jewish. It’s complicated, I said,
said Cardamom.
C
ardamom shuffled into the kitchen in a pair
of socks and nothing else. His penis did
not dangle but looked like something made of wax.
He went straight for the coffee and poured himself
278
die winzigen Knochen am Schiffsrumpf verstreut,
zuweilen wie kleine Wimpernhäufchen. In der
während er schläft, fickt es seinen Mund. Ich habe
es gesehen. Sein offener Mund, mit Dunkelheit
gefüllt, sein Kopf kipp nach hint in einen stummen Wit . Am Morgen ist sein Name ver sen und
die Macht seiner Spra vermindert. Ich muss ihn
daran erinnern, seinen Namen zu sa . Kardamom,
sage ich, reichst du mir den Zucker. Nichts hätte
ihn auf die Vereinigung dieses Moments vorbereiten können. Die Kreatur ist
. Pst, sagt
ie, pssst… Es ist A gail, ein Starkwind… Wind
ohnegleichen, ein aussaugender, hautpellender
Wind… ihr Körper st die Domäne (Punkte fehlen)
Schrittes, der bö Schleim , schlitt wird
er eindringen. Schlafen, winselt er. Hilfe, hörte
ich einst. Sie band ihn an einen Pfosten. Schnalzte
seinen Schwanz. Er erzählte es mir in der Früh…
eich mir den Zucker, wie holte ich. Es bestand
kein eifel, eine In ervention war ötig.
Sie hatte ihn mit ihrem Atem und der Positionierung ihrer Lippen kontrolliert. Aufgrund seiner
außergewöhnlich simplen Tonerzeugungseigenschaften, die meist übersteuert und Ursache der
Härte und Schrille sind, benötigt sie dazu nur
sanfte Luft. Seine Wellen treffen auf den Widerstand der im Unterteil der Krea ur enthaltenen
Luft. Zum Ausgleich seiner Schwäche blockiert
279
a cup. Theo, was making blueberry pancakes and
started talking—to whom, I had no idea.
“Today,” he said, “I woke up thinking about
Apollo and Daphne. I was thinking about their
chase.”
Theo’s the one who likes to view everything
through greek mythology. He poured more batter
onto the griddle.
“What was the message of that tale?” He asked,
rhetorically. “If you love someone too hard you’ll
change their chemical constitution. Alchemy at it’s
most horrific. Yes,” he said, “I think that’s it. The
mutating powers of desire always sour the purity of
its object. That’s what I think.” Then Theo looked
over at Cardamom. “Do you think this is true, C?”
Cardamom said nothing. He was back on the
Galleon, swaying.
“Why do you ask?” I said.
“Because I woke up thinking of the Greeks.” He
flipped two pancakes. “What do you think, C?”
Cardamom slurped his coffee. “Fuck the Greeks.”
“How perceptive. Such an acute insight. Your
mind is like a laser.”
“You should see my cock,” he said.
Theo’s face flushed and I could tell he was trying
280
sie die Klanglücken, die seiner Mundhöhle am
nächsten sind. Die Luftsäule w rbelt, schlossen in
ihm, s mmt. Es ist vergleichbar mit einer gedehnten
Violinensaite, wie man sie im Boulevard de Thorax
hören kann, wo zerstörerische Schwingungen
gemausert werden und Kugeln gegen die betonierte
Postfiliale knallen. Die Longitudinalschwingungen
in der Luftsäule halten stand und ächzen d
Schmerz der Mundhöhlenränder, die sie niemals
überqueren, niemals verlassen, in die kein Licht
eindringen k .
Je nach Wetter versucht die Kreatur, ihn in
Oktaven zu brechen. Ihre Musik lässt sich nur in
ihm hören, wo ihr Name von Rippe zu ippe zu
Ri querschlägt, wie eine ingeschlossene Fliege,
sein Mun dabei ganz temlos. Doch je ist er „frei.“
Der Dieb der Namen sitzt, hermetisch versiegelt, in
einem alten Einweckglas. Seine orte kehren wieder
wie faulende Früchte, ein Kompott des Bedauerns.
In der Dämmerung schlich ich heimlich an Kardamom vorbei, der ausgespreizt auf seiner Pritsche
lag, sein Kopf nach rechts geneigt, der Mund offen
und von der Pritsche hängend. Eine Sabberlache. Er
war lange wach geblieben und hatte Beschwörungen
in eine Weinflasche gelallt. Ich platzierte eine Schüssel neben ihn, die Kotze darin sammelnd, und stahl
mich—meinen Ranzen am Rücken, voller Lettern
und einem Einweckglas voll von ihr—davon.
281
very hard not to look at it.
“Well, maybe someday you’ll have the decency to
show us,” he said, and started twirling his spatula.
Then he began to scrape around the pancake.
“Pancake anyone?”
“Sure.”
Theo handed me a plate. “Thanks,” I said.
“You’re welcome.” Theo turned to Cardamom. “Oh
my God! Cardamom! There’s a hole in your pants!”
I choked on some pancake.
“Fuck you, Theo. It’s just as much my apartment
as yours.”
“That’s a good one, mind if I jerk off in your bed
room?”
“As long as you clean up, be my guest.”
“You’re sick,” he said.
“No, you’re sick.”
“We’re all sick,” I said.
Then as an afterthought, he held out a plate with
both hands, like an offering of offal, a better version
of himself: “Pancake?”
“Thanks,” Cardamom said, and took the plate
with one pancake, shuffled to the table, and sat
down next to his window.
282
E
ntgegen der vorherrschenden Meinung war
der Busch dann doch verbrannt. Abigail heiratete letzten Juli. Das heißt, sie heiratete innerhalb
des Stamms. Ein Mal fragte sie mich, ob ich jüdisch
sei. Es ist kompliziert, sagte ich, sagte Kardamom.
K
ardamom schlurfte in einem Paar Socken
und sonst nichts in die Küche. Sein Penis
baumelte nicht, wirkte jedoch wie etwas aus
Wachs. Er ging schnurstracks zum Kaffee
und schenkte sich eine Tasse ein. Theo machte
Blaubeerpfannkuchen und fing an zu reden—mit
wem, wusste ich nicht.
„Heute“, sagte er, „wachte ich mit einem Gedanken an Apollo und Daphne auf. Ich dachte an ihre
Jagd.“
Theo deutet gerne alles anhand griechischer Mythologie. Er schüttete mehr Teig auf das Backbleck.
„Was war die Botschaft dieser Geschichte?“ fragte
er rhetorisch. „Wenn man jemanden zu sehr liebt,
verändert man deren chemische Zusammensetzung? Alchemie vom Grausamsten? Ja,“ sagte er,
„ich denke, genau so ist es. Die mutierenden Kräfte
der Begierde säuern immer die Reinheit ihres
Gegenstands. Das glaube ich.“ Anschließend sah
Theo rüber zu Kardamom. „Denkst du, das es wahr
ist, K?“
283
Theo flipped two more pancakes. “Are they
good?”
“Mmmm. Excellent,” I said. “I love blueberries.
They remind me of my true love.”
“Who’s that?”
“She’s married now.”
“I see. You still love her.”
“I want to kill her.”
“I know,” Theo said. “ Love is poison.”
He sat down with his plate of pancakes and
began eating in silence and I could tell, for him the
world disappeared when he ate, for not once did he
glance at Cardamom. I watched him. When he was
finished he placed his fork on the plate and looked
up at me and licked his lips.
The morning was sticky and sluggish and felt
more like an afternoon. I had maple syrup on my
fingertips and in the corners of my mouth.
“Sometimes,” he said, “I think that desire cracks
the cup from which it came, leaving one dry inside,
hard and gritty. This has been my experience?”
“Blueberries,” I said, “remind me of a woman I’ve
been trying to forget. That’s all I know.”
With that I stared out the window and began
waiting. I began waiting for the morning to change.
284
Kardamom sagte nichts. Er war zurück auf der
Galeone, taumelnd.
„Warum fragst du?“, sagte ich.
„Weil ich, als ich aufwachte, an die Griechen
dachte.“ Er wendete zwei Pfannkuchen. „Was
denkst du, K?“
Kardamom schlürfte seinen Kaffee. „Scheiß auf
die Griechen.“
„Wie scharfsinnig. So eine präzise Erkenntnis.
Dein Verstand ist wie ein Laser.“
„Du solltest mal meinen Schwanz sehen“, sagte er.
Theos Gesicht errötete und ich könnte schwören,
er versuchte ernsthaft, nicht darauf zu starren.
„Naja, vielleicht besitzt du eines Tages den
Anstand, das zu beweisen“, sagte er und fing an,
seinen Pfannenheber zu wirbeln. Dann begann er,
um den Pfannkuchen herum zu kratzen. „Möchte
jemand Pfannkuchen?“
„Sicher.“
Theo reichte mir einen Teller. „Danke“, sagte ich.
„Gern geschehen.“ Theo wandte sich Kardamom
zu. „Oh mein Gott! Kardamom! Da ist ein Loch in
deiner Hose!“
Ich verschluckte mich am Pfannkuchen.
285
I began waiting for the afternoon, and for the
evening to change too. I wanted it to change into
the evening, and the evening into night, and for the
night into a better night. I began waiting for an end.
I lingered there until I withered away into a dry
ball of dust that would disperse from the faintest of
breath.
At least that’s how I thought of it. Thinking back,
I think Cardamom was staring out the window
too, but I can’t be sure. But I imagine him. And I
imagine myself, the two of us (as we were) poisoned
by the berries that I made us eat. I had to bring
an end to it. They weren’t blueberries that I gave
Theo… oh no! No! I handed Theo the good batch,
the final batch. They were the berries of the Belladonna. And as we lay there dying in the gray City of
Michael, just outside of Cardamom or Lye Alabama, Theo too. I began to wonder and think about
this creature that lay along l’Avenue des Femurs,
Cardamom, who I so wanted to be, this critter so
in love with Abigail, oh Abigail, he moaned, lying
on the pavement with his head severed. Abigail so
far away, his heart twitching as the marching bands
played, Bring in the Clowns. I saw lovers laughing
as we lay bleeding out in front of the post office—
the lot of us, Theo, Cardamom, and me—We lived
in our thoughts, barely living.
It is as if we are a Russian Doll. Cardamom opens
286
„Fick dich, Theo. Es ist genauso meine Wohnung,
wie deine auch.“
„Dass ich nicht lache—dann stört es dich ja
nicht, wenn ich mir in deinem Schlafzimmer einen
runterhole?“
„So lange du hinterher aufräumst, kannst du
machen was du willst.“
„Du bist krank“, sagte er.
„Nein, du bist krank.“
„Wir sind alle krank“, sagte ich.
Daraufhin streckte er, als nachträglichen Einfall,
mit beiden Händen einen Teller hin, wie ein
Angebot an Abfall, eine bessere Version seiner
selbst: „Pfannkuchen?“
„Danke“, sagte Kardamom und nahm den Teller
mit dem Pfannkuchen, schlurfte zum Tisch und
setzte sich neben sein Fenster.
Theo wendete zwei weitere Pfannkuchen.
„Schmecken sie?“
„Mmmm. Exzellent“, sagte ich. „Ich liebe
Blaubeeren. Sie erinnern mich an meine wahre
Liebe.“
„Wer soll das sein?“
„Sie ist mittlerweile verheiratet.“
287
up the outer shell and extracts a more wounded
form of himself, something I could never bear.
Something squishy, that he thinks of as a truer version. He holds it up, disgusted, as if it were a dead
animal. He addresses it, forgetting that it is himself
to whom he speaks. He says, for instance, “Why do
you lust for her, the alligator girl, the one with the
wide mouth and thick lips?”
When he’s not being a dead animal, he is a doll,
a raggedy one culled from the shelly Russian core,
ill-treated, spineless and flopped. He talks about
himself in the third person like something on the
horizon, so much so, in front of himself… How
rude.
“So much so has passed since he first met her,”
he says to himself of himself. “I hate to state the
obvious, but she is out of his league.”
Someone hands someone a Schlitz.
“You lack discipline!” he says, jabbing his finger
at him. “This is why you are unfit for girls like her.
You are too old, too, also,” he continues, slurping an
anchovy into his mouth. “You have bad habits, fatty.
Bad grammar and an overdue electric bill.” He
takes a gulp of strawberry milk.
The dead animal wants to be a doll again,
something he can hold onto, something others can
hold, something cuddled and drooled upon. He
288
„Achso. Du liebst sie immer noch.“
„Ich möchte sie töten.“
„Ich weiß“, sagte Theo. „Liebe ist Gift.“
Er setzte sich mit seinem Pfannkuchenteller
nieder und begann schweigend zu essen, und ich
könnte schwören, dass, während er aß, die Welt für
ihn verschwand, denn nicht ein Mal fiel sein Blick
auf Kardamom. Ich beobachtete ihn. Als er fertig
war, legte er seine Gabel auf den Teller und sah zu
mir hoch und leckte seine Lippen.
Der Morgen war stickig und träge und fühlte sich
eher wie ein Nachmittag an. Ich hatte Ahornsirup
auf meinen Fingerspitzen und in den Ecken meines
Mundes.
„Manchmal“, sagte er, „habe ich das Gefühl, dass
Begierde die Schale knackt, aus der sie kam, und
einen ernüchtert zurücklässt, hart und kiesig. Das
ist meine Erfahrung?“
„Blaubeeren“, sagte ich, „erinnern mich an eine
Frau, die ich zu vergessen suchte. Das ist alles, was
ich weiß.“
Daraufhin starrte ich aus dem Fenster und
begann zu warten. Ich begann, auf die Veränderung
des Morgens zu warten. Ich begann, auf den
Nachmittag zu warten, auf den Abend und dessen
Veränderung. Ich wollte, dass es Abend würde,
289
wants Abigail to call him with her alligator-mouth,
a bark and hiss—called out of the blue sky like a
peregrine falcon—her name cawed over the lea. Yes,
he says, he said yes.
“Would you like to get some tea, sometime?”
“I’m so glad you asked.”
In this cave that resembles the inside of a skull,
the cities of Lye, Cardamom and Michael are a
lifetime away. Their voices echo. There is a pool of
water too, with the bell-like shimmer of a mirror. A
flower grows there. This is where they Greek under
the clock of midnight where time does not exist. It
is snowing outsided in the past where he used to
be no longer as it now existed in his brain case, too
thick for hammers, too jaded for the oils of insouciance.
“We’re no longer together,” she says of her
husband. “I poisoned him.”
Her fingers slip into his third person and their
arms swing forward and back, and the dead animal
that became a doll that became a man, could not
feel the ground. He is struck by an overwhelming
need to count the freckles on her nose; she smiles at
his focused gaze. It is like a drain that sucks him in.
She is the kind of girl who speaks three languages
fluently and stops after the first beer. But he is a
dead animal. He speaks one language poorly. There
290
und der Abend zur Nacht und die Nacht zu einer
besseren Nacht. Ich begann, auf das Ende zu
warten. Ich lungerte dort, bis ich zu einer trockenen
Kugel aus Staub verkümmerte, die vom leisesten
Hauch aufgelöst werden würde.
Zumindest dachte ich damals so darüber. Rückblickend meine ich, dass Kardamom auch aus dem
Fenster starrte, aber sicher bin ich mir nicht. Doch
so stelle ich ihn mir vor. Und ich stelle mir uns
beide vor (wie wir dort saßen), vergiftet durch die
Beeren, die ich uns essen ließ. Ich hatte es zu einem
Ende bringen müssen. Es waren keine Blaubeeren,
die ich Theo gegeben hatte… oh nein! Nein! Ich
hatte Theo den guten Stoff gegeben, den finalen
Stoff. Es waren die Beeren der Belladonna. Und als
wir dort lagen, sterbend in der grauen Stadt von
Michael, etwas außerhalb von Kardamom oder Lye,
Alabama, Theo auch, begann ich mich über diese
Kreatur, die entlang der l’Avenue des Femurs lag,
zu wundern und über sie nachzudenken: Kardamom, der ich so gern sein wollte, dieses dermaßen
in Abigail verliebte Viech, oh Abigail, stöhnte er
mit seinem abgetrennten Kopf am Asphalt liegend.
Abigail, so weit entfernt, sein Herz zuckte noch
als die Marschkapelle Bring in the Clowns spielte.
Ich sah Liebende lachen, als wir vor der Postfiliale
in unserem eigenen Blut lagen—die vielen Wir,
Theo, Kardamom und ich—wir lebten in unseren
291
is something rotting and garbled about his sound,
like it is trying to invent itself. He slurs into bottles
until white turns black.
But when he is a doll, anything can happen, like
for instance, the holding of hands, or watching her
towel off after a shower in France, or better yet, the
poisoning of her husband—so finely crafted—so
that she could abscond, former doll-man in hand…
Her, a pale nakedness trapped in a Degas—a
madness he knows—it would take more than just
his penis to impregnate her. It would take a time
machine. He could go back in time and fix himself.
Make better decisions. Self imposed pedigree.
Avoid the city of Michael all together. There
would be a conversion to Judaism. Classes in Elf Is
Steam: a whistling puff of magic, how to turn the
intangible touchable—the piping black kettle burns.
Like dipping his hands into a cold stream, he would
enter her and end the burning. She would accept his
polyglot tongue, native and otherwise. Beneath the
cupola, he would offer himself as the glass. Smash
me, he would say. Break me into discernibles. Fuck
me, she says, fuck me.
We learn, quickly; discernibles shrink, grow
buzz, useless things. The marching band is passing,
a conglomerate of objects placed parceled onto a
conveyor of broken figured-out. Make sense out
of this hole-form from where I speak, the speak
292
Gedanken, kaum lebend.
Es ist, als seien wir eine russische Puppe. Kardamom öffnet die äußere Hülle und offenbart eine
schwerer verwundete Form von sich, etwas, was ich
nie ertragen könnte. Etwas Matschiges, das er für
eine wahrere Version hält. Er hält es angewidert
hoch, als wäre es ein totes Tier; spricht es an,
vergessend, dass er es selbst ist, den er anspricht. Er
sagt zum Beispiel: „Warum begehrst du sie, dieses
Alligatorenmädchen, mit dem ausladenden Mund
und den dicken Lippen?“
Wenn er kein totes Tier ist, ist er eine Puppe,
eine zerlumpte, aus dem schaligen russischen
Kern ausgestoßen, schlecht behandelt, rückgratlos
und versagend. Er spricht über sich in der dritten
Person, wie etwas am Horizont, so sehr, vor ihm…
Wie unhöflich.
„So viel ist also vergangen, seit er sie zum
ersten Mal gesehen hat“, sagt er zu sich selbst
über sich selbst. „Ich hasse es, das Offensichtliche
anzumerken, aber sie ist eine Nummer zu groß für
ihn.“
Jemand reicht jemandem einen Schraubenzieher.
„Dir mangelt es an Disziplin!“, sagt er, mit seinem
Finger auf sich einstechend. „Deshalb bist du für
Mädchen wie sie ungeeignet. Und außerdem bist du
ebenso zu alt“, fährt er, eine Sardelle in den Mund
293
bouncing off bone like ricochet, bullets, through
the boulevard turning doll-men into dead animals.
Cart the lot of us away in your slowest train. The
first person plural, like a shotgun, a flock of birds,
shattered into the winter… Where we can—if I
had known then, what I know now—count the
snow falling lucky. To be alive in the whiteout of
my loneliness and what will never be, not existed.
Mistress Abigail you reign supreme thrown before
me, my dizzy dreidel; consume me with your dreary
afternoon tea, your whirling skirt, your delicate
hands… Hold my cock, mold long hours divorced
in memory, moored to this fantasy. I have a coin for
Charon, a reflection, an echo… an echo.
stopfend, fort. „Du hast schlechte Angewohnheiten,
Dicker. Eine fehlerhafte Grammatik und eine
überfällige Stromrechnung.“ Er nimmt einen
Schluck Erdbeermilch.
Das tote Tier möchte wieder eine Puppe sein,
etwas, an dem er sich festhalten kann, etwas, was
andere halten können, etwas Gehätscheltes und
Besabbertes. Er möchte, dass Abigail ihn mit ihrem
Alligatorenmund ruft, ein Bellen und Fauchen—
wie ein Wanderfalke aus heiterem Himmel
gerufen—, ihr Name über den Flur gekrächzt.
Ja, sagt er, er sagte ja.
Möchtest du irgendwann einmal Tee trinken
gehen?“
„Ich bin so froh, dass du fragst.“
In dieser Höhle, die dem Inneren eines Schädels
ähnelt, sind die Städte Lye, Kardamom und
Michael ein Leben entfernt. Ihre Stimmen hallen
nach. Auch eine Wasserpfütze gibt es hier, mit dem
glockenförmigen Schimmer eines Spiegels. Darin
wächst eine Blume. Hier griechen sie unter dem
Mitternachtsmantel, wo die Zeit nicht existiert. In
der Vergangenheit schneit es äußerst, wo er einst
nicht mehr, dafür jetzt, in seinem Gehirnbehälter
existierte, für Hämmer zu dick, für den Balsam der
Sorglosigkeit viel zu erschöpft.
294
295
„Wir haben uns getrennt“, sagt sie über ihren
Ehemann. „Ich habe ihn vergiftet.“
Ihre Finger schieben sich in seine dritte Person
und ihre Arme schwingen vor und zurück, und das
tote Tier, das eine Puppe wurde, die ein Mensch
wurde, verliert den Boden unter sich. Er ist von
dem Bedürfnis überwältigt, die Sommersprossen
auf ihrer Nase zu zählen; und sie belächelt seinen
fokussierten Blick. Es ist wie ein Abfluss, der
ihn einsaugt. Sie ist die Art Mädchen, die drei
Sprachen fließend spricht und nach dem ersten Bier
aufhört. Er hingegen ist ein totes Tier. Er spricht
eine Sprache dürftig. Seine Stimme hat etwas Verrottendes und Entstelltes, so als ob sie sich selbst
zu erfinden versuche. In Flaschen lallt er, bis Weiß
Schwarz wird.
Aber wenn er eine Puppe ist, kann alles passieren, wie zum Beispiel das Halten von Händen,
oder, dass er ihr, nach einer Dusche in Frankreich,
beim Abtrocknen zusieht, oder besser noch, die
Vergiftung ihres Ehemanns—so fein gestaltet—so
dass sie fliehen könnte, den früheren Puppen-Mann
in den Händen… Sie, eine blasse Nacktheit,
eingeschlossen in einem Degas—eine Frechheit, wie
er weiß—es bräuchte mehr als nur seinen Penis, um
sie zu schwängern. Es bräuchte eine Zeitmaschine.
Er könnte in der Zeit zurückgehen und sich selbst
richten. Bessere Entscheidungen treffen. Den
297
Stammbaum selbst erstellen. Die Stadt von Michael
allseits meiden. Es gäbe eine Konvertierung zum
Judentum. Dem Selbstwertgefühl ordentlich
Dampf unterm Hintern machen: ein pfeifender
Hauch Magie, wie man das Immaterielle fassbar
macht—der glühend heiße, schwarze Wasserkessel
brennt. Als tauche er seine Hände in einen kalten
Strom, dränge in sie ein und beende das Brennen.
Sie würde seine polyglotte Zunge akzeptieren,
muttersprachlich oder sonstwie. Unter der Kuppel würde er sich selbst als das Glas anbieten.
Zerschmettere mich, würde er sagen. Brich mich in
Wahrnehmbares. Fick mich, sagt sie, fick mich.
Wir lernen flugs; Wahrnehmbares schrumpft—
wächst die Begeisterung—die unwesentlichen
Dinge. Die Marschkapelle zieht vorbei an einem
Konglomerat aus Objekten, die—eingeteilt—auf
ein Förderband zerbrochener Gründe gelegt wurden. Mach dir einen Reim aus dieser Loch-Form,
von der aus ich spreche, und wo die Rede—wie
Querschläger, Kugeln am Boulevard—von den
Knochen abprallt und Puppen-Männer in tote
Tiere verwandelt. Karr die vielen von uns weg,
in deinen langsamsten Zügen. Die erste Person
Plural, wie eine Schrotflinte, ein Vogelschwarm,
zersplittert im Winter… Dort können wir—wenn
ich damals gewusst hätte, was ich jetzt weiß—den
fallenden Schnee glücklich schätzen. Wir könnten
299
in der Auslassung meiner Einsamkeit leben und
was niemals sein wird, hätte nie existiert. Geliebte
Abigail, du herrscht uneingeschränkt, mein mir zu
Füßen geworfener, schwindeliger Dreidel; verbrauch
mich mit deinem öden Nachmittagstee, deinem
wirbelnden Rock, deinen zierlichen Händen… Halt
meinen Schwanz, form lange Stunden losgelöst in
der Erinnerung, vertäut an diese Einbildung. Ich
habe eine Münze für Charon, ein Spiegelbild, ein
Echo… ein Echo.
301
The authors represented in Word for Word 2013
would like to thank Columbia University’s School of
the Arts (SoA) and the Deutsches Literaturinstitut
Leipzig (DLL) for creating the collaborative exchange
that made these translations of their work possible,
and for supporting the publication of this book. They
would also like to thank in particular: Carol Becker and
Jana Wright, Deans of the School of the Arts; Binnie
Kirshenbaum, Chair of the SoA Writing Program;
Michael Lentz, Academic Director of the DLL; William
Wadsworth, SoA Director of Academic Administration, Writing; Claudius Niessen, Managing Director
of the DLL; Josef Haslinger, Professor at DLL; Uljana
Wolf; Susan Bernofsky, Professor and Director of Literary Translation at Columbia (LTAC); Alicia Stevens,
SoA Director of Global Programs; Ian Felstead, SoA
Manager of Global Programs; Pamela Casey, SoA
Project Coordinator; Christian Parker, Chair of the
SoA Theatre Arts Program; Julie Rossi, Director of
Academic Administration, Theatre Arts; Charles L.
Mee, Head of the Playwriting Concentration, Theatre
Arts; Matvei Yankelevich and Ugly Duckling Presse;
Professor Andreas Huyssen, Director of Columbia
University’s Deutsches Haus; Professor Mark Anderson,
Department of Germanic Languages, Columbia;
Alexandra Scherbl; Austrian Cultural Forum; and Teta
M. Moehs of the American Consulate in Leipzig.
Die Autoren danken der School of Arts (SoA)
der Columbia University und dem Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL) der Universität Leipzig
dafür, dass sie dieses Austauschprogramm ins Leben
gerufen haben. Wort für Wort 2013 hat ihnen die
Übersetzungen ihrer Texte ermöglicht und sie bei der
Publikation dieses Buches unterstützt. Ihr Dank gilt
im Besonderen: Carol Becker und Jana Wright, Dekane
der School of the Arts; Binnie Kirshenbaum, Chair
des SoA Writing Program; Michael Lentz, Professor
und Direktor des DLL; William Wadsworth, Verwaltungsdirektor des SoA Writing Program; Claudius
Nießen, Geschäftsführer des DLL; Josef Haslinger,
Professor für Literarische Ästhetik des DLL; Uljana
Wolf; Susan Bernofsky, Professorin und Direktorin,
Literarische Übersetzung an der SoA; Alicia Stevens,
Direktorin für Internationale Programme an der SoA;
Ian Felstead, zuständig für Globale Programme an der
SoA; Pamela Casey, Projektkoordinatorin der SoA;
Christian Parker, Chair des SoA Theatre Arts Program;
Julie Rossi, akademische Verwaltungsdirektorin des
Theatre Arts Program; Charles L. Mee, Leiter des
Schwerpunkts Dramaturgie, Theatre Arts; Matvei
Yankelevich, Verleger Ugly Duckling Press; Professor
Andreas Huyssen, Direktor Deutsches Haus an der Columbia University, Professor Mark Anderson, Germanic
Languages, Columbia University; Alexandra Scherbl;
Austrian Cultural Forum; sowie Teta M. Moehs vom
Amerikanischen Generalkonsulat in Leipzig.
Prose/Fiction: Kevin Magruder
Prosa: Kevin Magruder
Kevin Magruder was raised in San Diego, California and
studied creative writing in San Francisco for five years before
moving to New York City in 2010. Since coming to New York
he has worked as an editorial intern in the fiction department
at The New Yorker and was the recipient of a Hertog literary
research fellowship in the spring of 2012. He was also awarded
a teaching fellowship at Columbia for the spring of 2013. He
recently finished a rough draft of a novel.
Kevin Magruder ist in San Diego, Kalifornien aufgewachsen
und hat 5 Jahre lang Literarisches Schreiben in San Francisco
studiert bevor er 2010 nach New York City zog. Seitdem hat
er als Redaktionspraktikant der Prosaabteilung des New
Yorkers gearbeitet, außerdem wurde er im Frühjahr 2012
mit einem Hertog Litertaturstipendium ausgezeichnet. Im
Frühjahr 2013 erhielt er ein Lehrstipendium an der Columbia
University. Vor kurzem hat er seinen ersten Entwurf für einen
Roman fertiggestellt.
Prose/Fiction: Michael Makowski
Prosa: Michael Makowski
Michael Makowski writes about himself in the third person
through the thick bars of the first person singular while all
along yearning for the first person plural. He currently works
in a word factory repairing words that begin with L, and all
those that should, but the press is broken. He is a graduate
of Salem State University, has been published in the Heat
City Review and Soundings East. Currently he is an MFA
candidate at Columbia University and is grateful to those who
guided him. Michael Makowski lebt in New York City, wo er auch als
Multimedia-Künstler tätig ist, und hat bereits zahlreiche
Ausstellungen und Performances absolviert. Er hat in
den Zeitschriften Heat City Review und Soundings East
veröffentlicht und ist derzeit MFA-Anwärter an der Columbia
University. Er ist all denjenigen dankbar, die ihm ihre
Unterstützung und Führung geboten haben.
Playwriting: Bryan Quick
Szenisches Schreiben: Bryan Quick
Bryan Quick is a New York-based playwright and director.
Most recently Blue Moon was performed at Columbia
University. Other works include: King Sisyphus (Reading;
The Flea Theater), The Man Who Wasn’t There (Dixon Place;
Edmonton International Fringe Festival), Hotel Valhala
(Norwegian Theatre Academy; Robert Wilson’s Watermill Center), Apology for Survivors (Schapiro Theater), A
Dream… (Dixon Place), The True Story of the Boogeyman (La
Mama etc), Battle of the Bowery (Peculiar Works Project),
and Vengeance! (Goodwin Theater). He is an MFA playwrighting candidate at Columbia University, and holds a BA
in Theater & Dance from Trinity College.
Bryan Quick ist Dramaturg und Regisseur und lebt in
New York. Vor kurzem wurde sein Stück Blue Moon an
der Columbia University uraufgeführt. Zu seinen
weiteren Aufführungen zählen King Sisyphus (Reading;
The Flea Theater), The Man Who Wasn’t There (Dixon
Place; Edmonton International Fringe Festival), Hotel
Valhalla (Norwegische Theaterakademie; Robert Wilsons
Watermill Center), Apology for Survivors (Schapiro
Theater), A Dream… (Dixon Place), The True Story of the
Boogeyman (La Mama etc), Battle of the Bowery (Peculiar
Works Project), and Vengeance! (Goodwin Theater). Er ist
Anwärter auf einen MFA in Dramaturgie an der Columbia
University, und hat einen Bachelor in Theater und Tanz vom
Trinity College.
Nonfiction: Rachel Sur
Nonfiction: Rachel Sur
Rachel Sur is a writer based in New York and Tel Aviv,
and is pursuing an MFA in nonfiction writing at Columbia
University. She is interested in the relationship between art
and politics; in how the shifting global balance of power is
shaping culture, ideologies and aesthetics; and in the recent
political transitions in the Middle East and South Asia. She
has taught calculus at Tel Aviv University and edited the
academic manuscripts of its most acclaimed sociologists. She
was a recipient of the Hertog research fellowship in 2012. She
thinks German sentences are mystical.
Rachel Sur ist Autorin und lebt in New York und Tel Aviv. Sie
absolviert derzeit Ihren MFA in Nonfiction an der Columbia
University. Ihr Interesse gilt der Beziehung zwischen Kunst
und Politik; insbesondere der Verschiebung von globalen
Machtverhältnissen und wie diese Kultur, Ästhetik und
Ideologie beeinflussen, sowie den jüngsten politischen
Umwälzungen im Mittleren Osten und Südasien. Sie hat an
der Universität Tel Aviv mathematische Analysis unterrichtet
sowie Manuskripte von dortigen namhaften Soziologen
editiert. 2012 erhielt sie das Hertog Forschungsstipendium.
Ihrer Meinung nach haben deutsche Sätze etwas Mystisches
an sich.
310
Prose/Fiction: David Frühauf
Prosa: David Frühauf
David Frühauf, born 1987 in Braunau/Inn, Austria. German
Studies and Creative Writing in Vienna and Leipzig. Coeditor
of the anthology Tippgemeinschaft 2012 of the Deutsche
Literaturinstitut Leipzig and since 2011 editorial assistant of
the literary magazine Edit. Reviews on fixpoetry.com. David Frühauf, geboren 1987, studierte Germanistik &
Sprachkunst in Wien, seit 2010 Studium am Deutschen
Literaturinstitut Leipzig. Redaktionsassistent bei Edit,
Mitherausgeber der Anthologie Tippgemeinschaft 2012,
Rezensionen auf fixpoetry.de.
Prose/Fiction: Ursula Kirchenmayer
Prosa: Ursula Kirchenmayer
Ursula Kirchenmayer was born in 1984 in Lugoj (Romania)
and grew up in Nuremberg. Currently she lives in Berlin. She
pursued a master’s degree in German and Hispanic Literature
at Potsdam University and studied two semesters abroad at
San Marcos University in Lima (Peru). In 2010, she joined the
Creative Writing Program in Leipzig. In 2012, she received
the second prize in the 17th MDR literary competition
for one of her short stories. Her fiction was published in
numerous magazines and anthologies, such as BELLA triste,
Tippgemeinschaft and poet.
Ursula Kirchenmayer wurde 1984 in Lugosch (Rumänien)
geboren und lebt in Berlin. Sie studierte Literaturwissenschaft
und Spanische Philologie an der Universität Potsdam
sowie an der Universidad Nacional Mayor de San Marcos
in Lima. Nach weiteren Aufenthalten in Lateinamerika
ist sie seit 2010 Studentin am Deutschen Literaturinstitut
Leipzig. 2012 gewann sie den zweiten Preis des 17. MDRLiteraturwettbewerbs sowie das Wettschreiben „You
want to read in Frankfurt“ der Jungen Verlagsmenschen:
Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, u.a.
Tippgemeinschaft, poet und BELLA triste.
311
312
Playwriting: Juliane Stadelmann
Szenisches Schreiben: Juliane Stadelmann
Juliane Stadelmann is 27 years old. Born and raised in
Salzwedel, in the “wild wild east” of Germany, she was an
exchange student at „Colégio Objetivo“ in Santa Maria/Brazil
in 2002/2003, a surf teacher in France and Hawaii, then
in 2007, came back to Germany. From 2008-2011, she was
in drama school in Berlin. Shortly after graduating drama
school, she applied at the Deutsches Literaturinstitut Leipzig
where she studies since fall 2011. This year she is coeditor
of „Tippgemeinschaft 2013“ the annual anthology of the
Deutsches Literaturinstitut Leipzig.
Juliane Stadelmann ist 27 Jahre alt und wurde in Salzwedel,
im “wilden Osten” Deutschlands geboren. 2002/2003 war
sie Austauschschülerin am “Colégio Objetivo” in Santa
Maria/Brasilien. Außerdem arbeitete sie als Surflehrerin in
Frankreich und Hawaii, um 2007 schließlich zurück nach
Deutschland zu kommen. Von 2008 bis 2011 besuchte
sie die Schauspielschule in Berlin. Nach ihrem Abschluss
dort, bewarb sie sich am Deutschen Literaturinstitut
Leipzig, wo sie seit Herbst 2011 studiert. In diesem Jahr
ist sie Mitherausgeberin der “Tippgemeinschaft 2013”,
die Jahresanthologie der Studierenden des Deutsche
Literaturinstituts.
Nonfiction: Ellen Wesemüller
Nonfiction: Ellen Wesemüller
Ellen Wesemüller was born 1980 in Hanover. She studied
Political Studies, History and Social Psychology in Hanover
and Cape Town (Master of Arts). She was an associate
lecturer in Sociology and History at the University of
Hanover. She was educated at the Berlin School of Journalism,
including an internship with the ZDF - German Television in
NYC. She works as a freelance journalist for daily and weekly
newspapers, including DIE ZEIT. Since 2010 she studies
Literary Writing (Master of Arts) in Leipzig and is writing
her first novel. Her poems and short stories were published
in „Tippgemeinschaft“ and „Edit“. She participated in the
workshop for literary writing in Klagenfurt 2012 and won the
scholarship „Alfred Döblin“ of the Academy of Arts, Berlin.
Ellen Wesemüller wurde 1980 in Hannover geboren. Studium
der Politikwissenschaft, Geschichte und Sozialpsychologie
in Hannover und Kapstadt. Lehrbeauftragte am Institut für
Soziologie und am Historischen Seminar der Universität
Hannover. Ausbildung an der Berliner Journalisten-Schule,
Praktikum beim ZDF in New York. Freie Arbeit als
Journalistin, u.a. für die Berliner Zeitung und DIE ZEIT.
Seit Oktober 2010 am Deutschen Literaturinstitut in
Leipzig, wo sie im Masterstudiengang ihren ersten Roman
schreibt. Lyrik von ihr ist in der Tippgemeinschaft erschienen,
Kurzprosa in der Edit. 2012 nahm sie am Klagenfurter
Literaturkurs teil und erhielt das Alfred-Döblin-Stipendium
der Akademie der Künste Berlin.
313
The Master of Fine Arts Writing Program of Columbia
University’s School of the Arts was founded in 1967, and
is one of the foremost creative writing programs in the
United States. Students in the Program pursue degrees in
fiction, poetry, or creative nonfiction, with the option also
to pursue a joint course of study in literary translation. The
Program is distinguished by the intellectual rigor of its
curriculum, the eminence of many of the writers on faculty,
and the significant number of its alumni who have gone on
to become eminent authors in their own right.
Der Masterstudiengang für Literarisches Schreiben an
der School of Arts der Columbia University wurde 1967
gegründet. Er ist einer der führenden und bedeutendsten
Creative Writing Studiengänge in den USA. Studierende
können Abschlüsse in Prosa, Lyrik und Sachliteratur
erlangen und haben gleichzeitig die Möglichkeit, einen Kurs
in literarischer Übersetzung zu belegen. Der Studiengang
zeichnet sich durch seinen überaus anspruchsvollen
Lehrplan ebenso aus, wie durch die bedeutenden Autoren
die hier unterrichten und nicht zuletzt auch durch die hohe
Anzahl an Absolventen, die inzwischen selbst zu bekannten
Autoren wurden.
Das Deutsche Literaturinstitut Leipzig (DLL) ist
eine zentrale Einrichtung der Universität Leipzig.
Seit 1995 bietet es einen Studiengang zur Ausbildung
angehender Schriftsteller. Neben dem dreijährigen
Bachelor-Studiengang „Literarisches Schreiben“ mit den
Schwerpunkten Lyrik, Prosa und Szenisches Schreiben
wird seit dem Wintersemester 2009 auch ein MasterStudiengang „Literarisches Schreiben“ angeboten. Dieser
dauert zwei Jahre und ist als Romanwerkstatt angelegt.
Ziel des Studiums ist es, den Studierenden in den beiden
angebotenen Studiengängen sowohl eine möglichst
professionelle Schreibkompetenz und literarische
Gestaltungsfähigkeit als auch literarhistorische und
literaturtheoretische Kenntnisse zu vermitteln.
The German Creative Writing Program Leipzig (Deutsches
Literaturinstitut Leipzig / DLL) is a central institution at
Universität Leipzig, providing the only degree course for
writers in the making in Germany since 1995. Alongside
the three-year BA in Creative Writing, focusing on poetry,
prose and drama, an MA in Creative Writing has also been
on offer from the winter semester of 2009. This is a two-year
degree designed as a novel workshop. The aim of the program
is to provide students with highly professional writing skills
and creative competence, along with knowledge of literary
history and theory.