Jules Renard als Dichter der zerstorten Kindheit
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Jules Renard als Dichter der zerstorten Kindheit
Jules Renard als Dichter der zerstorten Kindheit von Wilhelm Blechmann Die folgenden Zeilen erstreben ein sprachlich-psychologisches Verståndnis von Jules Renards Roman »Poil de Carotte«. Es soli an einigen ausgewåhlten Ka piteln entwickelt werden. Dieses Vorgehen erscheint umso eher berechtigt, als Renards Roman aus »tranches de vie« besteht, von denen jede einzelne einem Kapitel entspricht. Tatsåchlich ist ja »Poil de Carotte« weniger ein Buch als eine Folge unabhangiger Szenen, die nur durch die Gestalt des Helden zusammengehalten werden. Das Werk ist nicht im klassischen Sinne komponiert, und der Dichter ist erst zur Veroffentlichung in Buchform geschritten, als die zuvor in Zeitschriften abgedruckten Einzelszenen umfangsmåBig ausreichten —also ein recht åuBerlicher Gesichtspunkt. Das aber konnte Renard nur, weil der Charakter seines Helden es ihm erlaubt: Poil de Carotte macht nåmlich keine seelische Entwieklung durch. Der Passionsweg dieses Kindes hat vielerlei Stationen, aber nichts kann es umwandeln. Es bleibt, was es ist. Die hier befolgte Methode beriihrt sich mit der von Henri Morier umschriebenen »subjektiven Stilistik«.1 E s geht darum, das sprachlich Rele vante am Stile eines Autors psychologisch aufzuschlieBen. Was aber ist stilistisch relevant? Alles das, was nach der Reduktion eines Textes auf seinen intel lektuellen Mitteilungsgehalt iibrigbleibt. Der reduzierte, banalisierte Text steht jetzt vergleichsweise neben dem dichterischen Original und erlaubt uns, das Einmalige und Besondere der kiinstlerischen Gestaltungsweise zu erfassen.2 Von hier aus ist der Schritt zur psychologischen Deutung etwas sachlich Gefordertes.3 1. H enri M orier, L a Psychologie des Styles, Genéve, 1959, p. 20. 2. W ir befinden uns hier in U bereinstim m ung m it S. U lm ann, Psychologie et Stylistique, Jou rn al de Psychologie n orm ale et pathologique, Paris 1953, p. 133 ff., der schreibt: »P ou r établir les déviations individuelles d’un style, il faut d’abord connaitre la norm e dont il s’écarte«. N u r schwebt uns als Ziel nicht die E rfassung der stilistischen Physiognom ie des V erfassers, sondern das im m anente Verståndnis des W erkes vor. D as trennt uns auch von P ierre N ardin, L a langue et le style de Jules Renard, Paris 19 4 2 und von L éon G uichard, L ’æuvre et l’åm e de Jules Renard, Paris 1936. 3. D aB hier Zielsetzungen der »explication fran?aise« aufgenom m en werden, sei nur am Rande verm erkt. Cf. Blechm ann, Problem e der explication fran?aise, G R M 1957, 4. Jules Renard als Dichter der zerstor ten Kindheit 173 1. Les Lapins Das Bild der Familie Lepic am Tiseh ist nicht um seiner selbst willen gegeben. Es dient der Verdeutiichung der seelischen Konfliktsituation von Poil de Ca rotte. Perspektivisch ist bezeichnend, daB der Dichter die Aufmerksamkeit des Lesers zunachst auf Mme Lepic lenkt, die Mutter des Kleinen. Sie ist wirklich dramatis persona. Die Unmittelbarkeit der wortlichen Rede enthiillt sie selbst und ihr Verhåltnis zu Poil de Carotte: »II ne reste plus de melon pour toi«, dit Mme Lepic. »D’ailleurs, tu es comme moi, tu ne l’aimes pas«. So wird Poil de Carotte (und kein anderer der Familie »pour toi«!) - vom Nachtisch ausgeschlossen. Die Mutter ist der AusschluB schlechthin, sie halt den Kleinen ab von der genieBenden Teilhabe an der Welt. Die Negationspartikel sind aufschluBreich: im »ne . . . plus« spuren wir måchtige Aktualitåt. Gegeniiber dem statischen »il ne reste pas« wirkt es dynamisch, weil es einen Vergleich mit einem anderen Zustand heraufbeschwort: die anderen haben, du hast nicht. Zweifellos handelt es sich hier um eine echte Frustration, deren Sinn jedoch noch zu bestimmen ist. Es bleibt vom Sprachlichen aus zu zeigen, daB es der Mutter nicht nur darauf ankommt, eine Beschrånkung aufzuerlegen, fiir die der Junge leicht Ersatz findet und die nur geringe Nachwirkungen hat. Vielmehr wird deutlich werden, daB sie stets eine Bedrohung des Selbstwertgefuhls ihres Sohnes erstrebt, daB mit anderen Worten Poil de Carottes Fru stration die Personlichkeit selbst bedroht und nichts zu tun hat mit den Stufen der Anpassung, die das Ergebnis einer Druckausiibung sind. Schon die Schroffheit des ersten Teiles der wortlichen Rede weist darauf hin. Ebenso bezeichnend aber ist die Forsetzung: »D’ailleurs, tu es comme moi, tu ne l’aimes pas«. Im »d’ailleurs« steckt das psychologische Alibi dieser Mutter, deren Verlogenheit der Dichter jetzt offenbart. Sie muB doch vor der am Tisch versammelten Familie durchblicken lassen, daB der Entzug der Melone keine Hårte fiir den Kleinen bedeutet, aber doch nur durchblicken lassen, nicht ausdriicklich begrunden, daher: D ’ailleurs: wie ihr ja alle wiBt. Ein »car« wiirde zu stark rationalisieren und ihr Handeln eben deswegen verdåchtig erscheinen lassen. Sie sagt auch nicht: Je sais que tu ne l’aimes pas, sondern nur: tu es comme moi, tu ne Fairnes pas. Was ist der Sinn dieser Worte? In ihrer Knappheit ist diese Formuiierung als reine Feststellung von suggestiver Kraft, Ausdruck einer endgiiltigen Wahrheit, die unbezweifelbar ist. Psychologisch nimmt sie dem verschiichterten Kleinen jede Moglichkeit zum Einspruch. Die Mutter formuliert, was ihr Sohn zu lieben, was er zu hassen hat: Sie ist, wie sie sprieht: die wandelnde Verneinung des kindlichen 174 Wilhelm Blechmann Eigenwillens, die jedoch nach auBen gelegentlich den Schein einer zartlichen Mutter zu wahren versteht. Aber ihre Miitterlichkeit hat sich im Kinderwiegen erschopft. Mme Lepic ist in ihren Gespråchen mit ihrem Sohne durchweg Obrigkeit: Je te défends d’y aller (p. 252), iiberall, wo sie auftritt, gibt es Verbotstafeln. Wie oft bei Jules Renard wechseln direkte Rede, Erzåhlung und Reflexionen, ohne daB man genau sagen konnte, ob sie ein Kommentar Poil de Carottes oder des Dichters sind. So heiBt es: »On lui impose ainsi ses gouts et ses dégouts. En principe, il doit aimer seulement ce qu’aime sa mere«. Der Aspekt dieses Satzes und damit der psychologische Inhalt ist nicht vollig eindeutig. Wer spricht hier? Zweifellos kann Poil de Carotte so empfinden, aber er wåre nicht in der Lage, sein Empfinden so auszudrucken. Wenn er diese Moglichkeit des sprachlichen Ausdrucks hatte, hatte er auch schon die geistigen Mittel, seine Lage zu bewaltigen. Daher glauben wir in solchen sprachlichen Gestaltungen den Psychologen sehen zu durfen, der sich zum Anwalt seines Geschopfes macht und dem ungesagten Leide des Kleinen zur Sprachwerdung verhilft, wissen wir doch auch, daB Jules Renard Poil de Carotte ist und daB er sich sein Leben lang vom entsetzlichen Trauma seiner Kindheit zu befreien versucht. Fremdgesetzliche Legalitat beherrscht die Welt des kleinen Jungen. Sie auBert sich im »on«. Wer ist dieses »on«? Offenbar die Mutter, jedoch als Reprasentant einer Ordnung, die groBer ist als sie selbst. Wir stellen noch einige Belege zuammen, wo das all gegen wartige »on« Poil de Carotte be herrscht: 1. On dine, on veille, neuf heures sonnent (p. 30). 2. II n’a pas crié, car on lui a fait observer que cela ne sert å rien (p. 44). 3. Quand on aime les trompettes, on ne dit pas qu’on aime les pistolets, et surtout on ne dit pas qu’on voit des pistolets quand on ne voit rien. Aussi pour t’apprendre tu n’auras ni pistolet ni trompette (p. 75). Sicher handelt es sich heute beim ausgedehnten Gebrauch des »on« an Stelle einer personlichen Konstruktion um die fortgeschrittene Grammatikalisierung einer Stilnuance. Das enthebt uns nicht der Frage nach der psychologischen Bedeutung. Im Satz »on lui impose ses gouts« ist die Mutter Vertreterin der gesellschaftlichen Forderung, der Poil de Carotte sich als gefiigiges Kind zu unterwerfen hat: Kindheit als strammer Gehorsam, Geschmack nach Vorschrift. Das ist ein Aspekt der Erfahrungswelt des Kleinen. Jules Renard als Dichter der zerstdrten Kindheit 175 Im Satz 1 liegt die von Spitzer beschriebene Tendenz vor, das Erdenlos des einzelnen »in den groBen Kreis des allgemeinen Geschehens und Weltlaufes einzufugen, das Ich in der Perspektive des Alls, das Mikrokosmos in der des Makrokosmos zu sehen«.4 E s ist das Normativ-Prinzipielle, das dem »on« hier anhaftet. In den Satzen 2 und 3 haben wir die spezifische Farbung, die das »on« in der Welt Poil de Carottes hat: sentenziose Gedrangtheit einer moralischregulativen Forderung. Eine solche Redeweise setzt eine bestimmte Sprechrichtung voraus: die von oben nach unten. Poil de Carotte soli wie ein Lakai an Disziplin und Subordination gewohnt werden. E r empfångt Weisungen. Dazu gehort es, daB der Redeweise seiner Mutter der endothyme Gefuhlsgrund fehlt. Ihre Sprache ist diirr, rational, was sich in der Abwesenheit aller Bilder bezeugt und vermag daher nicht, das Gemiit ihres Kindes anzusprechen. Ja, eine leichte syntaktische Umstellung genligt, um die Spannung MutterKind zu verdeutlichen: »il doit aimer seulement ce qu’aime sa mere«. Das Gewicht dieser Welt des »on«, vertreten durch die Mutter, ist so groB, daB Poil de Carotte erst gar nicht den Versuch macht, zu widersprechen: »Ce n’est pas la peine d’essayer. En outre il sait que ce serait dangereux«. In dieser Resignation (pas la peine, il sait) liegt die Summe vieler Erfahrungen dieses puer senex beschlossen. Konflikthaltige Echo- oder Keimsituationen bestim men die seelische Entwicklung. Das Kapitel »Les Lap ins« aktualisiert nur eine solche Situation, aber die Ekphorie der friiheren Hal tungen ist in das aktuelle Erleben eingeschmolzen durch gewisse elementåre Ahnlichkeitsbeziige. Das ist der Sinn von »savoir« fur Poil de Carotte: Wissen als Erfahrung des tJberflussigseins. 2. L e Jour de l’An In diesem Abschnitt wird der psychologische Vorgang der Frustration be sonders in seinen charakterologischen Auswirkungen deutlich. Bei der Verteilung der Neujahrsgeschenke zeigt sich die Vorliebe der Eltern fiir die Schwester Ernestine und den Bruder Félix: »Sæur Ernestine a une poupée aussi haute qu’elle, plus haute et grand frére Félix une boite de soldats en plomb préts å se battre«. Nun verkUndet Mme Lepic ihrem jiingsten Sohne: »Je t’ai réservé une surprise« - Poil de Carotte: »Ah! oui!« - Die Sprache verrat, daB hier eine Abrichtung vorliegt. Der Hinweis der Mutter auf die Uberraschung hat nur den Sinn, Erstaunen zu provozieren. Aber Poil de Ca rottes »ah! oui!« zeigt nichts als gefiigige Hinnahme eines Schicksals. E r ist sich 4. L e o Spitzer, A ufsåtze zur rom anischen Syntax und Stilistik, 1918, p. 160. Wilhelm Blechmann 176 dariiber klar, daB hinter dieser Uberrasehung nichts stecken kann. Die Mutter, briiskiert von dieser ja-sagenden Gleichgiiltigkeit ihres Sohnes, will ihm zunåchst das Geschenk nicht zeigen, tut es aber schlieBlich doch. Und nun spielt sich der ganze seelische Mechanismus der Erfordemisreaktionen ab: »Mme Lepic ouvre le buffet: Poil de Carotte haléte. Elle enfonce son bras jusqu’å l’épaule, et, lente, mystérieuse, raméne sur un papier jaune une pipe en sucre rouge. Poil de Carotte, sans hésitation, rayonne de joie. II sait ce qu’il lui reste å faire.« Poil de Carotte weiB, daB ihm jetzt nur noch iibrig bleibt, Theater zu spielen. Alle seine Gebården sind Dressate, die in keinem Zusammenhang mit seinem Inneren stehen, also Lugen. E r spielt das Stiick, das von ihm erwartet wird. Fiir die sorgfåltige szenarische Vorbereitung hat seine Mutter gesorgt. Aber sie ist nicht nur metteur en scene, sie ist gleichzeitig auch actrice und berechnet alle ihre Bewegungen in einem gefiihlsmåBigen Crescendo: das Offnen des Buffets, ihr Arm, der darin versinkt, das Lang same und Geheimnisvolle. Das Ergebnis: eine kiimmerliche Zuckerpfeife wird ans Tageslicht gefordert. Die Diskrepanz zwischen andeutendem Tun und nichtigem Geschenk wird wirkungsvoll ironisch unterstrichen durch Wortwahl (lente, mystérieuse - das Adjektiv ist ja besonders geeignet fiir ironische Fårbung) und den Rhythmus des Satzes, der der Nichtigkeit ein maBloses Ubergewicht gibt. Der Satz ist gleichzeitig die komplette Selbstdarstellung der Verlogenheit der besorgt tuenden Mutter. Beachten wir nun die Reaktion des Jungen und fragen uns, was diese besagt: il haléte, das Verb meint das heftige Atmen: »souffler comme quand on a couru et qu’on est hors d’haleine« (Bénac). Sicher empfindet der franzosische Sprecher nicht mehr die Ableitung von »aile« und denkt nicht mehr, daB es eimal »mit den Flugeln schlagen« bedeutet hat. GewiB ist aber auch, daB das heftige Atmen nur eine Gefiihlserregung simuliert. Die Simulierung, d. h. die Luge, gehort mit zu seinen Dressaten. Wie steht es nun mit dem Ausdrack »il rayonne de joie«? Sein Gesicht scheint Strahlen auszusenden, offenbar auch final bestimmt: E r imitiert den Glucklichen, um seine Umvelt davon zu iiberzeugen, daB er gliicklich ist. So muB »man« sein, um nicht MiBfallen zu erregen. Wenn Poil de Carotte am Ende dieses Abschnittes von seiner Pfeife sagt: »Elle est bonne. Elle tire bien«, so zeigt das, wie weit die fremdgesetzliche Umgebung ihn zur Luge zwingt. Die Rolle, die er zu spielen hat, zwingt ihn auch zur Demonstration seines Gliicks: »Bien vite il veut fumer en présence de ses parents, sous les regards envieux (mais on ne peut pas tout avoir!) de grand frére Félix et de soeur Emestine«. Wieder einer der Såtze, die durch ihren Wechsel in der Perspektive das ungeklårte, widerspruchsvolle Gefiihls- Jules Renard als Dichter der zerstdrten Kindheit 177 leben des Jungen nicht einfach aussagen, sondern strukturell gestalten. Der erste Teil des Satzes ist gesprochen aus der Sicht des unechten Pflichtgewissens: So muB man spielen, damit die Dankbarkeit geglaubt wird. Aber was sollen im zweiten Teile die »regards envieux« der beati possidentes Félix und Ernestine? Emsthaft konnen sie Poil de Carotte nicht beneiden. Sie mussen im Gegenteil fiihlen, daB sie den besseren Teil bekommen haben, daB der Jiingste also ungerecht behandelt worden ist. Offenbar driickt sich hier das Wunschdenken der Mutter aus: Die neidischen Blicke sollen den Wert des unbedeutenden Geschenkes erhohen. Im eingeklammerten »on ne peut pas tout avoir« finden wir schlieBlich die imaginare oder auch die wirkliche direkte Rede an ihre beiden Lieblingskinder, damit diese sich mit dem »Vorzugsgeschenk« an den Kleinen abfinden, eine sentenziose, adultoforme Phrase, wie sie sie liebt. Damit wird die Zuckerpfeife zum Zeichen fiir Ungerechtigkeit und Verlogenheit gleichzeitig. 3. Les Moutons Dieses Kapitel spiegelt vor allem das kindlich-autistische Denken Poil de Carottes. Solches Denken reiBt die Bilder der Umwelt in die subjektive Inner lichkeit. Welche Bilder nun aus dem Angebot aufgenommen werden, ist bedeutsam. Noch deutlicher als im Monolog zeigt sich hier der unbewuBte Untergrund. Vor der Schafherde sieht der Junge zunachst nur »de vagues boules sautantes«. Das sind die kiArzlich geborenen Jungen. Die Metapher fiihrt zum auseinanderfaltenden Vergleich: »Elles poussent des cris étourdissants et mélés comme des enfants qui jouent sous un préau d’école«.Die weitereBeobachtung, daB ein Schaf sein Junges nicht trankt, fiihrt zur menschlichen Qualifizierung: »une mauvaise mére . . . « Das Mutter-Kind Verhaltnis laBt ihn bei der Betrachtung der Herde nicht mehr los. Aber was der Junge erlebt, ist etwas an deres als eine rationale Erfahrung, daher kein Vergleich seines Schicksals mit dem des anderen, sondern: Vergegenstandlichung der eigenen Erfahrung im Bilde der anderen. Enthullend ist insbesondere, wenn Poil de Carotte die »petits noms des agneaux« erfahren mochte, ist er doch der Namenlose. Auch seine Eltem und seine Geschwister rufen ihn nur »Poil de Carotte«. Das menschliche Eigenleben ist ihm versagt, was noch dadurch unterstrichen wird, daB sein Bild im Fan.ilienalbum fehlt, als ob man seine Existenz als etwas Unziemliches auf diesen dokumentarischen Blåttern am liebsten verschwiege. Warum nun Frau Lepic ihren Jiingsten, und nur diesen, haBt, laBt sich nur erschlieBen: Sie hatte bei der Geburt des Jungen die Liebe ihres Mannes 178 Wilhelm Blechmann - aus welchen Grunden auch immer - verloren. So erscheint ihr seine sommersprossige HåBlichkeit symbolhaft. Gleichzeitig versucht sie, im Jungen ihren Mann zu treffen, dessen geheime Sympathie fiir Poil de Carotte sie wohl spiirt.5 Versteht es der Dichter, im Kapitel »Les Moutons« den Leser zu riihren und zu einem tieferen Verståndnis seiner Hauptgestalt zu fiihren, so ist doch hervorzuheben, daB er jeden sentimentalen Schlagschatten vermeidet. Das gelingt ihm durch die lapidare Sachlichkeit seines Berichtes. Fast ohne adjektivischen Schmuck, ist sein Stil durchweg verbal.6 Das Kind wird bei Renard erstmalig in seiner psychischen Faktizitåt gesehen, nicht als Bild der Reinheit und der Hoffnung, als »Joie du Foyer« wie bei Hugo, nicht stilisiert wie bei Musset, nicht symbolisiert wie bei Péguy, vor allem aber nicht sentimentalisiert wie bei Daudet. 5. D aS der so frustrierte Junge wilde Zerstorungsakte an schwachen Tieren ausfiihrt (Totung des M aulw urfs, der alten K atze) ist psychologisch w abr und nim m t ein ganzes Kapitel K onfliktpsychologie voraus. 6. E t steht in der Tradition von Du Bellay bis zu Paul V aléry, wenn er sagt: »Ciel dit plus que ciel bleu, l’épithéte tom be d’elle-m ém e« und »M a phrase de demain: le sujet le verbe et l’attribut«. D agegen vergl. D audet, L e petit Chose, Paris 1923, p. 61: »Quand le petit Chose se trouva seul, dans cette cham bre froide, devant ce lit d’auberge, loin de ceu x qu’il aim ait, son cæ u r éclata . . . il se sentait faible et désarm é . . . et il pleurait, il pleurait«. Inflation der Adjektive, inszenierendes D em onstrativpronom en, weich ausschwingender Satzrhythm us, Betonung des Gefiihls.