Zu einigen spaten Spruchgedichten Brechts

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Zu einigen spaten Spruchgedichten Brechts
Zu einigen spaten Spruchgedichten Brechts
von Joachim Muller.
Die Fulle der lyrischen Formen, die sich sowohl in den bisher vorliegenden
vier Banden von Brechts Gedichten als auch in den bis jetzt bekannt gewordenen, an sehr verstreuten Stellen veroffentlichten lyrischen Einzelwerken
darbietet, ist erstaunlich. Sie stellt den Lyriker Brecht ebenbiirtig neben
den Dramatiker. Die Skala der lyrischen Aussagen reicht von der Ballade
bis zum Song, von der Moritat bis zum Chorlied, vom Sonett bis zum
Spruch; tradierte Formen werden polemisch verfremdet oder parodistisch
aufgebrochen. Gereimte Gedichte gesellen sich zu ungereimten, strophisch
strenger Bau wechselt mit strophischer Vielgliedrigkeit ab. Hymnische Ge­
dichte in breitfliessenden Langzeilen finden sich neben der åussersten Lakonik einiger Gruppen von Spriichen, besonders in der spåteren Zeit.
Man trifft Spruchformen im gesamten bisher iiberschaubaren lyrischen
Oeuvre Brechts. Ein Blick durch die vier Bånde Gedichte zeigt, wie schon
im ersten Band einige reimlose Kurzverse auftreten — in den zum Lesebuch
fiir Stådtebewohner gehorigen Gedichten (3,14,20) — , im zweiten neben
einigen verstreuten spruchartigen Gebilden eine Gruppe von fiinf Kurzgedichten unter dem Titel »Kleine Epistel, einige Unstimmigkeiten entfernt
beriihrend« begegnet — das kiirzeste ist ein dreizeiliger Aphorismus — ; im
dritten Band gibt es einen Vierzeiler »Grabschrift; 1919« (auf Rosa Luxem­
burg), einen Siebenzeiler »Ein Bericht« und einen gereimten Vierzeiler, der
an den Stil der Marterl-Inschriften erinnert (S. 211). Grabschriften und
Gedenkspriiche sind alte volkstiimliche Gebrauchsformen, an die Brecht
gern ankniipft. Im vierten Band wird eine weitere wesentliche Quelle fiir
Brechts Spruchlyrik in den Umdichtungen chinesischer Kleingedichte ausdrucklich genannt. Dazu kommen Anregungen durch japanische Klein-
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formen.1 In der »Deutschen Kriegsfibel«, die insgesamt durch intensive
Prågnanz, gepresste Kargheit, verbissenen Ernst, harte Mahnung, plakathafte
Grelle, pointierte Direktheit wie gezielte Indirektheit gekennzeichnet ist, heben
sich zwei Vierzeiler heraus, die in unerhorter inhaltlicher Dichte und sprachlicher Zeigekraft weltgeschichtliche Spannung und schonungslose Anklage
einfangen:
A u f der M auer stand m it Kreide:
Sie wollen den Krieg.
Der es geschrieben hat
Ist schon gefallen.
☆
Die Oberen sagen:
Es geht in den Ruhm .
Die Unteren sagen:
Es geht ins G rab.
In der sechsten Abteilung der »Svendborger Gedichte« pråzisiert ein Achtzeiler die bittere Situation des Emigranten:
Zufluchtsståtte
E in Ruder liegt auf dem Dach. E in mittlerer W in d
W ird das Stroh nicht wegtragen.
Im H o f fiir die Schaukel der Kinder sind
Pfåhle eingeschlagen.
D ie Post kom m t zweimal hin
W o die Briefe w illkom m en wåren.
D en Sund herunter komm en die Fåhren.
Das Haus hat vier Turen, daraus zu fliehn.
Das Bild des dånischen Asyls gibt sich in einer klar iiberblickbaren Syntax,
die vorwiegend parataktisch bestimmt ist. Nur zwei von den sechs Såtzen ha­
ben Nebensåtze. Der Nebensatz in Zeile sechs ist wie mit halber Stimme gesprochen: der von der Welt Abgeschnittene sehnt sich nach Briefen. Der
Infinitivsatz am Ende von Vers acht bildet mit dem Hauptsatz eine Einheit.
Das Ganze macht den Eindruck friedlicher Gesichertheit. Die Gefliichteten haben sich eingerichtet, fiir die Kinder ist sogar eine Schaukel da. Die
1. Reinhold Grimm, Brecht und die Weltliteratur, Niirnberg 1961, S. 63 ff. — Hans Mayer,
Bertolt Brecht und die Tradition, Pfullingen 1961, S. 100.
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Statte scheint stabil zu sein, relativ geschiitzt gegen Wetterunbilden. Dennoch
drohen Gefahren: die Fåhren, die den Sund herunterkommen, konnen Verfolger bringen. Ein Ruder auf dem Dach verweist einmal darauf, dass man
vorerst zur Ruhe kam und das Boot einzog, das einen herbrachte, zum
andern aber darauf, dass man stets bereit ist, es hervorzuholen, wenn man
fliehen miisste, und dann ist es trostlich zu wissen, dass das Haus nach
allen Seiten offen ist.
Wenn einmal eine genaue Chronologie von Brechts Spruchdichtung festliegt, wird man eine Geschichte der Kurzverse innerhalb von Brechts lyrischem Gesamtwerk schreiben konnen. Eine solche Geschichte wird auch
in dieser Sonderform einen notwendigen Ausdruck der geistig-politischen
Entwicklung und der kiinstlerischen Entscheidungen des Dichters begreifbar
machen.
Die erste eindringliche und
uberzeugende Gesamtcharakteristik von
Brechts Lyrik gab Ernst Fischer in einem Essay mit dem allzubescheidenen
Untertitel »Notizen zur Lyrik Bertolt Brechts«.2 Er nannte als ihre wesentlichen Merkmale das Aggressive und Brillante, die strahlende Nuchternheit
und wohliiberlegte Sparsamkeit, die kristallinische Feinstruktur, die Konzentration des Konkreten und die Transparenz des Wirklichen.
Differenzierte Spezialanalysen diirften diese klugen Beobachtungen im
einzelnen beståtigen. Wir wollen hier den Blick auf die Spruchform der
spåteren Jahre lenken. In diesen Spruchgedichten schuf sich Brecht ein einzigartiges dichterisches Instrument seines Denkens und Handelns. An einigen
Beispielen soli die Intensitåt und Tiefgrundigkeit des lyrischen Sprechens in
reimlosen Kurzversen dargelegt werden.
iJber Brechts Lyrik insgesamt konnte als Motto ein kleines Gedicht von
fiinf Kurzversen stehen: es lautet:
A u f einen chinesischen Theewurzellowen
D ie Schlechten fiirchten deine Klaue.
D ie G uten freuen sich deiner Grazie.
Derlei
Horte ich gern
V o n meinem Vers.
Die Uberschrift ist ein Teil des Gedichts, ist schon Gedicht, auch wenn sie
2. Sinn und Form 2. Sonderheft Bertolt Brecht 9. Jahr 1957 1., 2., 3. Heft S. 124- 138.
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textlich und rhythmisch abgehoben ist. Man konnte von einer doppelten
Funktion sprechen. Die eine: ganz traditionel! nennt die Uberschrift den
Gegenstand, auf den die zu erwartenden Verse zu beziehen sind, und eben
dieser Gegenstand wird — ebenfalls noch traditionell — in den Versen unmittelbar angesprochen. Mit der Uberschrift sagt der Dichter: ich werde jetzt
einige Verse auf einen chinesischen Theewurzellowen bringen (wir behalten
Brechts Schreibweise bei); er stellt damit diesen Gegenstand vor, stellt ihn vor
uns hin. Es ist freilich ein sehr merkwiirdiger, exotischer, buchståblich weit
her geholter Gegenstand, und es ist die Frage, ob wir uns gleich auf Anhieb unter einem »Theewurzellowen« etwas vorstellen konnen. Da nicht
anzunehmen ist, dass Brecht den Horer oder Leser seines Spruchgedichtes
vexieren will oder ihm zumutet, sich erst umståndlich iiber chinesische
Kunstgegenstånde zu informieren, durfen wir uns wohl den Assoziationen
iiberlassen, die der fremde Begriff eines Theewurzellowen in uns erweckt:
es wird sich um eine ornamentale Kunst handeln, die Pflanzen- und Tiermotive kombiniert. Mehr verlangt offenbar die Uberschrift nicht von uns,
mehr will sie kaum geben. Das Fremdartige, das aber die Nennung heraufbeschwort, ist zugleich das Befremdende, Verfremdende, das die traditionelle
Geste: ich will ein paar Kurzverse auf einen vorstellbaren, bildhaften Gegen­
stand geben — heraushebt aus dem Gewohnten und den Leser besonders
wach und munter macht.
Die andere Funktion der Uberschrift: die Anrede des Gegenstands, auf
den der Dichter Verse verspricht, erhebt ihn zum Du des Sprechenden.
Die beiden ersten der fiinf reimlosen Verse holen den Gegenstand aus
seiner objektiven Isolierung in die lyrische Bewegung herein. Die Uberschrift
hat nun keinen orientierenden Charakter mehr, sondern sie wird mitwirkende
Figur. Umgekehrt entfaltet sich erst in der Anrede das Besondere des fremdartigen Kunstgegenstands: dieser gestrickte oder gemalte oder plastische Lowe
hat neben den sozusagen normalen Attributen des Raubtiers — furchterregende Klauen — auch die Grazie, die allein eine kiinstlerische Gestaltung
erlaubt. Und eben der Lowe in der kunstlerischen Verfremdung chinesischer
Provenienz ist geeignet, die doppelte Wirkung eines Kunstwerks symbolisch
zu evozieren, um die es dem Dichter zu tun ist. Er resiimiert aus dem
Vorgang, der sich im Zusammenwirken der Uberschrift mit den ersten
beiden, rhythmisch ein Legato darstellenden Versen ergibt, in drei Kurzversen — staccato zu sprechen — eine Anwendung auf seine eigene Kunst.
Was ihm als doppelte Wirkung des chinesischen Bildwerks aufging, wird
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ihm fiir seinen Vers, fiir seine Poesie wiinschbar: die einen sollen ihn fiirchten, die andern sich iiber ihn freuen. Derlei ist ebenso zuriickgreifend, zuriickbindend wie trennend — es geschieht eine Blickwendung des lyrischen
Ichs: es blickte und wies erst auf das fremde Kunstwerk, das zunåchst als
Gegenstand erschien, dann auf seine Wirkung hin angesprochen wird, und
dass dies nicht nur feststellend, sondern zustimmend geschah, wird nun aus
dem Fortgang deutlich: jetzt gehen Blick und Geste auf den eigenen Vers,
durchaus mit deiktischem Nachdruck: seht, wie dieser chinesische Theewurzelldwe, dies merkwiirdige exotische Gebilde wirkt, so såhe ich gern meinen
Vers wirken.
Derlei ist geradezu die rhythmische Achse des Gedichts. Es steht genau
in der Mitte der fiinf Verse, die als Ganzes den Gegenstand der Uberschrift
einbeziehen und durch das Spruchgedicht tragen, doch in diesem Ganzen
die gegliederte Verseinheit bilden. Die starke Akzentuierung des Wortes
Derlei, das die ganze dritte Verszeile ausftillt, ist daher sowohl vom lyrischen
Vorgang als auch von der strophischen Komposition her gerechtfertigt.
Dieses pragnante Derlei, mit seiner energischen R.iickwendung und seiner
Entschlossenheit zur Anwendung des lyrisch Vorgestellten auf das eigene
Gedicht des Sprechenden, deckte auch die ethische Alternative erst vollståndig auf, die schon in der scheinbar nur feststellenden Relation der formal
gleichlåufigen, aber inhaltlich vollig kontråren ersten beiden Verse enthalten
war:
D ie Schlechten fiirchten deine Klaue.
D ie G uten freuen sich deiner Grazie.
Der erste Vers ist iibrigens metrisch streng alternierend, der zweite daktylisch
gelockert (entweder: fréuen sich deiner Grazie — oder: fréuen sich déiner
Gråzie). Derlei — dass die Schlechten die Klaue meines Verses fiirchten,
dass die Guten sich iiber seine Grazie freuen — horte der Dichter gern.
Demnach traut er seinen Versen die gleiche doppelte Funktion zu, wie sie
der chinesische Lowe erweist. Das setzt voraus, dass die Verse des Dichters
fiir die Schlechten stets die zu fiirchtende Klaue, fiir die Guten die erfreuende
Grazie in sich bergen. Was aber in der kiinstlerischen Vorlage schon schwer
trennbar sein mag — die Klaue als gegenståndliches Attribut, die Grazie
als Ausdruck der Gesamtgestalt, die auch die Klaue relativiert — , das
diirfte im Vers des Dichters erst recht nicht mehr abhebbar sein. Der gleiche
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Vers soli die Schlechten in Furcht versetzen, den Guten aber Freude bringen,
und diese dialektische Verquickung, die dem gleichen Vers doppelte Wir­
kung erlaubt, konkretisiert die ethische Alternative von Schlecht und Gut,
wie sie der Vers des Dichters relativiert: was er dichterisch zu sagen hat,
ist Abwehr der Schlechten, weil die Guten sich freuen sollen, oder anders:
was seine Verse sagen, haben nur die Schlechten zu furchten; fiir die Guten
ist es erfreuende Grazie. Nicht die Verse trennen abstrakt Schlechtes und
Gutes, sondern in der Wirkung, die seine Verse haben, scheiden sich die
Geister in schlechte und gute.
Die Maske des Bosen
A n meiner W a n d hångt ein japanisches Holzwerk
Maske eines bosen Dam ons, bem alt m it G oldlack.
M itfiihlend sehe ich
Die geschwollenen Stirnadern, andeutend
W ie anstrengend es ist, bose zu sein.
Noch einmal ein exotisches Kunstwerk als gegenstandlicher Bezug. Von den
fiinf Versen sind die ersten und letzten beiden Zeilen etwa gleichlang. Sie
umrahmen den kiirzeren Mitteivers. In den beiden ersten Zeilen ist viel
Aufwand an Worten und Lauten, man konnte von einer dicken Instrumen­
tation sprechen — der vorherrschende a-Vokal und die drei scharfen Umlaute fallen auf. Die goldlackierte Holzmaske bietet sich aufdringlich dar.
Die beiden letzten Verse aber verdeutlichen einprågsam, wie viel Aufwand
vergebens vertan ward, wie das Sichdarbieten eines bosen Dåmons anstren­
gend ist — das Wort anstrengend tragt den Gipfelakzent des Gedichtes.
Haben die beiden ersten Verse etwas ungefiig Statisches, so geraten die
Verse vier und fiinf gleichsam in Bewegung. Doch wie anstrengend die
Bewegung ist, wie Dynamik nur gemimt wird, ist sprachkiinstlerisch adåquat
in der schwerfliissigen Fiigung »Die geschwollenen Stirnadern« verwirklicht,
die gleichsam breit Besitz nimmt vom vierten Vers und ihn iiberladen macht.
Doch wird er noch rechtzeitig durch das folgende andeutend ins Gleichgewicht der metrisch-rhythmischen Gesamtstruktur des Gedichtes geruckt.
Der dritte Vers aber unterbricht nicht nur den Zusammenhang der
statischen Drohung und der pseudodynamischen Anstrengung, sodass das
Bose sich nicht unmittelbar entfalten kann, sondern er ironisiert es, indem
er es in die Sieht des betrachtenden Ichs riickt, die im Grunde schon durch
den Situationsverweis zu Beginn des Spruches: An meiner Wand vom ersten
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Vers an gegenwårtig ist, Im Mitfiihlen mit der vergeblichen Anstrengung
des Bosen distanziert sich das Ich und reduziert das bedrohliche und sich*
anstrengende Bose auf das Ungefåhrliche der Kunstgestalt. Ubrigens haben
die drei Pråsenspartizipien, die von Vers drei bis fiinf eine Art metrischrhythmischen Dreiecks bilden, eine deutlich abschwachende Funktion, das
dritte, Anstrengend, gegenwendig gegen seine Bedeutung, was im Dreiecksensemble mit den beiden vorangehenden mitfuhlend und andeutend moglich
wird.
Der so iiberlegen-distanziert dem Bosen Begegnende und mit der vergeb­
lichen Anstrengung des Gewaltsamen Mitfiihlende ist gegen das drohende
Bose weitgehend gefeit.
D er Radwechsel
Ic h sitze am Strassenhang.
D er Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
W a ru m sehe ich den Radwechsel
M it U ngeduld?
Von den sechs reimlosen Kurzversen sind die vier ersten in parataktischer
Lakonik gebunden, die die polymetrisch variable Struktur nicht spiirbar
werden lasst. Die beiden letzten sind in einer Frage gebunden, die durch
die nochmalige Verkiirzung des sechsten Verses besonders drångend auf
uns zukommt. Trotz der modernen Situation des Radwechsels ist der Traditionscharakter der Spruchform deutlich: die dritte und vierte Zeile mit ihrem
anaphorischen Parallelismus assoziieren einen alten Hausspruch, der in
vielen Spielarten begegnet und etwa die Grundform hat:
Ich weiss nicht, wer ich bin
Ich weiss nicht, woher ich kom m
Ich weiss nicht, w ohin ich geh
Ich weiss nicht, wann ich sterb
M ich wunderts, dass ich so frohlich bin
Aber diesem gemutvoll-sentimentalen, zart elegischen und doch fromm vertrauenden Ton des Volksspruches stellt sich in Brechts Gedicht die harte
Fiigung der beiden Mittelverse entgegen: da ist kein bedåchtiges Reflektieren,
sondern unwirsches Abwehren, nicht banges Fragen und leises Erstaunen,
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sondern ungeduldiges Drången — der Spreeher ist unzufrieden mit dem
erzwungenen Aufenthalt. Die Situation wird in den beiden ersten Versen
genau vergegenwårtigt. Die erste Zeile impliziert die Vorgeschichte: in der
niichternen Sprache der Autofahrer hat eine Reifenpanne die Fahrt unterbrochen. Der Spreeher ist ausgestiegen und wartet, am Strassenhang sitzend,
bis das Rad ausgewechselt ist. Aber der Spruch gestaltet nur den transitorisehen Moment des Radwechsels, nicht etwa den weiter zu erwartenden
Ablauf, den vollzogenen Radwechsel und die Weiterfahrt. Der Spruch lasst
die Situation in der Schwebe und bringt das Transitorische zu lyrischem
Bewusstsein, und das Transitorische evolviert die Reflexion in den beiden
anaphorischen Mittelversen. Der unerwartete Aufenthalt mit dem notwendig
gewordenen Radwechsel stellt dem Dichter seine Zwischensituation eindringlich vor Augen: dort wo er herkommt, war er nicht gern; dort wo er hinkommt, ist er nicht gern. Die Grunde fiir diesen unbehaglichen Zwischenzustand werden nicht genannt. Aber dies Verschweigen verstårkt nur den
Eindruck, den die Schlussfrage evoziert: nirgend ist der Fahrende behaust,
aber er vermag trotzdem die Bewegung vom einen zum andern Punkt nicht
aufzuhalten; es halt ihn auch nicht im Transitorischen, obwohl jeder neue
Punkt, den er ansteuert, nur wieder eine transitorische Situation sein wird.
So muss er sich iiber seine Ungeduld wundern: miisste er nicht den durch
den Radwechsel bedingten Aufenthalt begriissen, ja sollte er nicht wiinschen,
ihn zu verlangern? Die Schlussfrage zielt sowohl auf das Weitergetriebenwerden als auch auf den Willen zum Weitergehen. Wohl treibt es den
unvermutet Aufgehaltenen weiter, aber er will auch weiter. Es ist keine
rhetorisclie Frage, sondern eine Frage, die aus bitterer Lebenserfahrung
wuchs und auf Lebensentscheidung drångt. Die innere Gewissheit, nicht
stehen bleiben zu konnen, sieht zugleich voraus, dass er auch dort, wo er
hinfåhrt, nicht verweilen wird, und dennoch verlangt es ihn ungeduldig nach
dem Weiterfahren. Geduld ist nicht sein Wesen, nicht seine Sache. Der
Radwechsel ist die Versuchung zur Geduld, der Wink zum Verweilen, aber
er ist zugleich das konkrete Symbol eines unvorhergesehenen Aufenthalts,
der nicht willkommen ist, weil sich der Dichter fiir die Fahrt entschieden
hat, nicht fiir den Aufenthalt, fiir das Ansteuern immer neuer Ziele, nicht
fiir das transitorische Verweilen zwischen den Stationen. Auch das neue
Ziel wird ihm nicht genugen, er weiss: ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Der Radwechsel aber zielt auf ein neues Rad, das die Weiterfahrt ermoglicht;
sie ist die notwendige Konsequenz der Fahrt, wenn man einmal unterwegs
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ist, und das Unterwegssein bewirkt als adåquaten seelischen Zustand die
Ungeduld. Geduld hiesse auf der Stelle bleiben wollen. Das Gedicht vom
transitorischen Moment des Radwechsels fångt in der architektonischem
Prågnanz und in der rhythmischen Exaktheit der fiinf reimlosen Kurzverse
den Widerspruch zwischen dem zogernden Nicht gern und der drangenden
Ungeduld nahtlos ein.
»Der Radwechsel« gehort zu einer Gruppe von Spriichen, die Brecht
selbst als »Buckower Elegien« bezeichnete. Sie entstanden wohl zumeist
Anfang der 50er Jahre an einem Ort der von Seen und Kiefernwåldern
geprågten mårkischen Landschaft. Diese Landschaft hat einen eigentiimlichen
motivischen Anreiz fiir die lyrische Situation gegeben. Fiir Brecht ist Land­
schaft nicht etwas selbstzwecklich in sich Ruhendes; er steht weder als
romantischer Schwårmer noch als neutraler Beobachter vor ihr, vielmehr
geht ihm am Kontrast von Landschaft und Mensch die Notwendigkeit der
menschlichen Beziehung auf, ohne die ihm die Landschaft leer wåre.
Der R auch
Das kleine Haus unter Båum en am See
V o m D ach steigt Rauch
Fehlte er
W ie trostlos dann waren
Haus, Baume und See.
Laute
Spater, im Herbst
Hausen in den Silberpappeln grosse Schwarme von Kråhen.
A ber den ganzen Sommer durch hore ich
D a die Gegend vogellos ist
N u r Laute von Menschen riihrend.
Ich bins zufrieden.
Der Fiinfzeiler »Der Rauch« beginnt zwar mit einem scheinbar idyllischen
landschaftlichen Stilleben. Noch die zweite Zeile scheint auf ein in sich
ruhendes Bild zu deuten, das einen wohlgefålligen Anblick bietet. Aber wir
haben es hier mit einer Art lyrischer Vexation zu tun. Denn der Rauch, in
der zweiten Zeile als selbstverståndliches und zusåtzliches Ingrediens des
friedlichen Bildes erscheinend, wird plotzlich ins Konjunktivische verkehrt
und damit verfremdet. Das Selbstverståndliche und bisher kaum Bemerkte
erweist sich als das Entscheidende: ohne den Rauch wåre die Idylle keine
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Idylle, sondern bote das Haus unter Båumen am See einen trostlosen
Anblick. Nicht Haus, Båume und See konstituieren schon das harmonischidyllische Bild, sondern allein das Zeichen der Bewohntheit des Hauses macht
aus dem starren Daliegen, dem bloss Daseienden ein bewegtes Leben. Erst
der Mensch im Haus, erst das håusliche Tun des Menschen, das sich im
herzensberuhigenden Rauch, der vom Dach steigt, kundgibt, macht die
Landschaftsidylle zur sinnvollen Lebenseinheit.
Der Konjunktiv der dritten Zeile trennt das Gedicht scharf in zwei Teile:
die verfremdende Vorstellung der dritten und vierten Zeile, die durch die
harte Fugung des verkiirzten Konditionalsatzes eingeleitet wird, wirft auf
den ersten und zweiten Vers ein grelles Licht des Kontrastes, wodurch erst
der Lebenszusammenhang der in den beiden ersten Versen lyrisch versammelten Gegenstånde zu Bewusstsein und Wirkung kommt. Wåhrend im ersten
Vers der gegenståndliche Grundbestand in fast behaglicher Rhythmik sich
ausbreitet, die sich nach dem zweiten Vers hin offnet, sodass sich das Haus
nicht unter Båumen am See verliert, sondern den Blick fångt, zum Dach
zieht, das im aufsteigenden Rauch das bewegliche und bewegende Sinnbild
des Lebens, die Bewohntheit dichterisch pråsentiert, schrumpft in der letzten
Zeile die Fugung, die sich aus dem gleichen Wortbestand — Haus, Båume,
See — zusammensetzt, gleichsam unter der verfremdenden Moglichkeit der
Unbewohntheit ein. Es bleibt eine abstrakte Dreiheit — das Enjambement
presst die beiden Zeilen auch rhythmisch in eins. Der Sinnakzent liegt auf
trostlos, das die Dreiheit uberschattet, sodass sie ungegliedert konform
anmuten muss. Aber zugleich ist diese Vorstellung unter dem Signum des
potentiellen wåren schon iiberholt durch das trostreiche Anfangsbild, das als
Wirklichkeit bleibt.
Der Sechszeiler »Laute« kontrastiert ebenfalls eine dunklere und eine
hellere Situation. Doch gånzlich anders sind Bau und Ablauf des Spruchs.
Die beiden ersten Zeilen antizipieren ein Spåter, das Spater, im Herbst wird
freilich einmal Gegenwart sein. Die beiden Verse sind von å -Lauten regelrecht eingerahmt — Krdhen assoziiert ohnedies Kråchzen, das mit den drei d
-Lauten da ist, ohne dass das Wort gebraucht wird. Gegeniiber dieser durch
das aufdringliche å geweckten beklemmenden Vorstellung, die noch durch
das Unruhe und Ungeordnetheit aufrufende Hansen verstårkt wird, mildert
das Wort Silberpappeln: sie markieren das Bleibende, das freilich durch den
herbstlichen Einzug der Kråhenschwårme gefåhrdet wird. Was antizipiert
wird, ist unaufhaltsam. Es ist nichts Potentielles. Es wird eintreten. Aber
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deshalb gerade wird der sommerliche Zustand so gewichtig. In vier Zeilen
baut er sich auf: doch der Gegensatz ist nicht, wie zu erwarten wåre, Kråhen
im Herbst und Singvogel im Sommer, sondern iiberraschenderweise Kråhen
im Herbst und Menschenlaute im Sommer. Statt des drohenden Gekråchzes
der Kråhen im Herbst erfullen die sonst vogelSose Gegend im Sommer
Menschenlaute. Die Aussparung des Wortes Gekråchz erweist sich als kunstvolle Absicht: es ist mit Lauten nicht einmal im Kontrast zusammenzubringen,
so erschreckend fern liegt es. Das Pråsenspartizip ruhrend schwingt zweifellos
in der Doppelbedeutung: die von Menschen ruhrenden Laute sind ruhrende
Laute. Dadurch wird erst der ganze Tiefgang des Wortes zufrieden erschlossen. Zufrieden sein heisst nun die Vermenschlichung der Landschaft auskosten gegeniiber der kreatiirlichen Fremdheit eines von Kråhen durchschwårmten Herbstes. Der wird kommen, und die Silberpappeln werden
unter den Schwårmen verschwinden, aber das Zufriedensein in der sommerlichen Vertrautheit ist so im Wesen des lyrischen Ichs verwurzelt, dass daraus
der feste Halt gegeniiber dem drohenden Spåter geworden ist.
Noch andere lyrische Bewegungen erweckt die Landschaft. Auf dem See
wird gerudert. Aber das friedliche Bild von Menschen im Kahn oder Boot
vermag sehr unterschiedliche Vorstellungen zu evozieren.
Rudern, Gespråche
Es ist Abend. Vorbei gleiten
Zw ei Faltboote, darinnen
Zwei nackte junge M anner. Nebeneinander rudernd
Sprechen sie. Sprechend
Rudern sie nebeneinander.
Heisser Tag
Heisser Tag. A u f den Knien die Schreibmappe
Sitze ich im Pavillon. E in grimer K ahn
K o m m t durch die W eide in Sieht. Im Heck
Eine dicke N onne, dick gekleidet. V o r ihr
E in åltlicher Mensch im Schwim manzug, wahrscheinlich ein Priester.
A n der Ruderbank, aus vollen Kraften rudernd
E in K in d. W ie in alten Zeiten! denke ich
W ie in alten Zeiten!
In dem Fiinfzeiler geschieht nichts, als dass zwei nackte junge Månner in
zwei Faltbooten nebeneinander rudern und miteinander sprechen. Ein Bild
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abendlicher Harmonie. Alles, was siehtbar wird, ist miteinander verbunden.
Alle fiinf Verse gehen im Enjambement ineinander iiber. Das ist auffallend
und lenkt auf die kiinstlerische Absicht, weil die Såtze selbst einfache, iibersichtliche Hauptsåtze sind, der erste und die beiden letzten sehr kurz, der
von ihnen eingerahmte etwas langer, doch in etwa gleiche parataktische Teile
gegliedert. Es entsteht eine schone syntaktische Symmetrie: nach dem einstimmenden, die Situation lakonisch pråzisierenden Eingangssatz: Es ist
Abend — je zwei eng zueinandergehorige Såtze mit anaphorischen Korrespondenzen. Das Vorbeigleiten der beiden Boote an den beiden jungen Menschen,
das der lyrische Berichter konstatiert, zielt auf das Nebeneinander, das ziemlich genau die Mitte des Spruches bildet und den Gipfelakzent trågt. Dies
Nebeneinander in der Mitte verweist auf das Nebeneinander des Schlusses.
Das Wort in der Mitte und das Wort am Ende reichen einander die Hand,
dermassen eindrucksvoll und ausdrucksstark das Verbundensein im Neben­
einander markierend. Das wird aber noch intensiviert durch die syntaktische
Verklammerung von rudern und sprechen. Nicht nur wird durch das Pråsenspartizip das Untrennbare von Rudern und Sprechen, das Zugleich beider
Vorgånge, des praktischen Tåtigseins und der menschlichen Verståndigung,
lyrisch vergegenwårtigt, sondern durch die spiegelbildliche Umkehr, den
syntaktischen Chiasmus rudernd sprechen — sprechend rudern wird das sich
gegenseitig Ergånzende des poetischen Geschehens vollzogen, was aber kein
Ineinsschmelzen bedeutet: beidemale sind die spiegelbildlich bezogenen,
iiberkreuzten, jeweils aber zusammengehorigen Fugungen im Enjambement
gebrochen, sodass das Nebeneinander bei aller Begegnung und allem Aufeinanderzugerichtetsein doch seine jeweilige Selbståndigkeit wahrt.
Der Bau des zweiten Teiles des Spruches — der letzten zweieinhalb
Verse — enthiillt sich somit als eine ungemein kunstvoll bezogene durchgångige Symmetrie:
. . . Nebeneinander rudernd
Sprechen sie. Sprechend
Rudern sie nebeneinander.
Was in der uberschrift noch durch Komma getrennt nebeneinander stand,
wird im Gedichtverlauf selbst zueinander gebracht, ohne dass das je Be­
sondere von Sprechen und Rudern und das je Individuelle der beiden
Menschen aufgehoben ist.
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Auch zu Beginn von »Heisser Tag« eine schlichte lakonische Zeitangabe.
Danach die råumliche Fixierung: der Stand-oder vielmehr Sitzort des reden­
den Ichs, das einen unscheinbaren Vorgang auf dem See beobachtet. Drei
aufeinanderfolgende Enjambements fallen auf; das Satzende liegt in der
Mitte der Verse, bildet die sinnbestimmte Zåsur. Doch ist jedes Enjambement
anders gebaut: von zwei nach Vers drei ist das Subjekt vom Prådikat
getrennt, von drei nach vier ist die Ortsbestimmung vorweggenommen und
dadurch stark betont. Das Heck wird ganz von der dicken Nonne ausgeflillt.
Von vier nach fiinf wird der Platz vor der Nonne energisch markiert —- ihr
gehort ohnedies der ganze vierte Vers. Die doppelt dicke Nonne macht sich
breit, der Vers entfaltet sich schwer-wiegend in drei kompakten metrischen
Blocken, regelrechten Trochåen. erst drei, dann zwei Hebungen, dann eine
Hebung mit je einer Senkung, doch wirken die drei Blocke nicht wie sonst
ein trochåisches Gefålle leicht, sondern infolge der Wortsubstanz schleppend.
Vers fiinf gehort dem åltlichen Mann vor der Nonne, er ist im Schwimmanzug, deshalb das vermutende wahrscheinlich, denn fiir einen Priester ist
es nicht selbsverståndlich, als Begleiter einer Nonne im Schwimmanzug zu
sein. Das wahrscheinlich bringt den Rhythmus des Verses etwas ins Wanken,
er bekommt einen die bisher harmlos-idyllisch erscheinende Situation verfremdenden Ton, der zugleich eine ironische Geste aus sich entlåsst: wer soli
schon vor einer dicken Nonne im Schwimmanzug sitzen, wenn nicht ein
Priester, so ungewohnlich es auch fiir einen Priester sein mag, sich im
Schwimmanzug zu zeigen. Die dicke Nonne und der åltliche Priester im
Schwimmanzug bieten einen leicht komischen Anblick. Das schon nicht
alltågliche Bild: Nonne und Prieste im grimen, also farbig auffallenden
Kahn — wird durch die Dicke der Nonne und den Schwimmanzug des Priesters zu einem grotesken Anblick, der belåchelt wird oder — Kopfschiitteln hervorruft. Denn der Vorgang ist noch nicht zu Ende, das beobachtete Bild
noch nicht vollståndig: Der Priester, im Schwimmanzug, konnte doch
rudern, aber er låsst das Kind rudern, und es rudert aus vollen Kraften. Fiir
ihn sind Nonne und Priester ehrwiirdig, es zollt ihnen naiven Gehorsam —
oder ist es dazu gezwungen worden? Wie auch immer: dem Beobachter
fållt der Gegensatz zwischen den bequem Dasitzenden und dem sich rudernd
anstrengenden Kind auf. Das nachdenklich hingesagte: Wie in alten Zeiten!
wird durch die Wiederholung in der folgenden Zeile zu einer nachdriicklichen
Gebarde, die wohl nur als Kopfschiitteln zu verstehen ist. Das denke ich ist
keine blosse Floskel, kein formaler Einschub, sondern wird, zwischen die
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beiden gleiehen Såtze, die aber durch ihre verschiedene Position im Vers
modifiziert sind, in ein intensiv wortlich Gemeintes gehoben: denke ich
heisst denke ich nach, bedenke ich, denke ich weiter.
Zu diesen drei letzten Versen sechs bis acht ist noch zu bemerken: auch
hier hat das Ausgesagte seine sprachkiinstlerische Evidenz. Vers sechs hat
drei starke Akzente:
. . Ruder . . . . vollen . . . . rudernd
Die Akzente, die zugleich drei rhythmische Einheiten konstituieren, liegen
auf den dunklen Vokalen, den Ernst der Anstrengung des kindlichen Ruderns
getreu spiegelnd. Der zweimalige Begriff des Ruderns umschliesst die vollen
Kråfte, die das R.udern erfordert — zwei schwer im Kahn sitzende Erwachsene
wollen gerudert sein. Umso uberraschender dann im Enjambement als
Einsatz von Zeile sieben: Ein Kind — das wirkt wie ein Schrei. Darauf war
man nicht gefasst, das ist befremdend, bestlirzend: die beiden Erwachsenen
lassen sich von einem Kind rudern. Schon als sportliches Spiel wåre es nicht
unbedenklich, aber es ist ja durch die vorangehende Figurierung deutlich,
dass man nicht das Kind etwa spielend sich im Rudern uben und vergniigen
låsst — es muss ja mit vollen Kråften rudern, ohne dass ein Anzeichen fur
seine etwaige Ablosung vorhanden ist, denn die Dicke kann unmoglich
rudern, und der åltliche Mann ist kaum gewillt zu rudern, obwohl er im
Schwimmanzug dasitzt. Warum hat er sich dann der Kleider entledigt?
Wohl nur, um am heissen Tag bequem vor der Nonne zu sitzen — vielleicht
auch aus misstrauischer Sorge, dass der Kahn kentern konnte, wenn wir
solche wohl von der Situation evozierte Moglichkeit noch ausspinnen diirfen.
Die Reflexion des lyrischen Beobachters Wie in alten Zeiten! ist in Vers
sieben zunåchst von dem scharf akzentuierten Ein Kind des Anfangs und
der rhythmisch unbetonten, wenn auch sinnstarken Zwischenrede eingerahmt,
aber von Zeile acht aus gleichsam ruckwirkend intensiviert. Die Fugung hålt
sich zwischen den beiden rahmenden Wendungen im Gleichgewicht und
bildet in der symmetrischen Anordnung von Vers sieben die Mitte. Vers
sieben kann noch kein Abschluss sein, weil der Mittelteil in der Schwebe
gehalten wird. So bekommt das scheinbar nur iterierende Wie in alten Zeiten!
das den Schlussvers ausmacht, eine unterstreichende Bedeutung, die den
gesamten Ablauf des Spruchgedichtes polemisch zusammenrafft und unwilligironisch zu bedenken gibt.
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Joachim Muller
Zum Schluss seien noch zwei Gedichte kurz analysiert, die ein Åusserstes
an Lakonik darstellen:
Tannen
In der Friihe
Sind die Tannen kupfern.
So sah ich sie
Vor einem halben Jahrhundert
V or zwei Weltkriegen
M it jungen Augen.
Eisen
Im T raum heute Nacht
Sah ich einen grossen Sturm.
Ins Baugeriist griff er
D en Bauschragen riss er
D en eisernen, abwårts.
D och was da aus H o lz war
Bog sich und blieb.
Beide Spriiche sind konzentrierte Verweisungen. In »Tannen« bringt jede
Zeile einen neuen lyrischen Gedanken: Vers eins gibt die Tageszeit an, Vers
zwei das Naturphånomen. Vers drei schneidet durch das resumierende So. . .
das Impressive ab. Vers vier und fiinf stossen jah in den Horizont der
Vergangenheit. Im letzten Vers stellt der Sprechende sein einstiges Dasein
vor. Das Ganze ein gemeisseltes Mahnmal: die in der Friihe kupfernen
Tannen sind noch da, wåhrend der einst junge Mensch durch ein furchtbares
Weltgeschehen hindurchging. Das Elegische solcher Situation ist in der harten
Fugung des Spruches vollig aufgehoben.
In »Eisen« geben vier Verse ein Traumerlebnis wieder, das sich in realer
Abfolge vollzog. Die ersten beiden und die letzten beiden Verse bilden je
einen klar gebauten Satz, der sich in seiner natiirlichen Gliederung auf zwei
Verse verteilt (Vers eins nimmt die Adverbiale vorweg, und Vers zwei
schliesst die naturliche Wortfolge des Satzkerns an; Vers sechs tragt den
Nebensatz, dem Vers sieben den Hauptsatz als Nachsatz folgen lasst).
Zwischen diesen beiden Såtzen steht der Mittelteil, der aus drei Versen
besteht: drei und vier beginnen mit aufriittelnder Inversion, in drei das
pråpositionale Objekt, in vier das direkte Akkusativobjekt voranstellend, im
syntaktischen Bau von drei und vier anaphorisch. Die Versenden reissen eine
Zu einigen spaten Spruchgedichten Brechts
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Spannung auf, die nach Losung verlangt. Vers fiinf steigert den rhythmischen
Drang: Bauschragen reisst buchståblich das syntaktisch neu mit dem Artikel
ansetzende Attribut eisern an sich. Damit kommt der dramatische Vorgang,
durch den Traum vom Sturm bewirkt, zum Gipfel. Darnach wird das Eiserne
abwårtsgerissen: das sprachdynamisch verwirklichte Ansichreissen des Bauschragens wird zur letzten Gebårde des Widerstandes vor dem Hinabgerissenwerden. Den einen Teil des Baugeriistes hat der Sturm bezwungen,
aber das was aus Holz war, bog sich und blieb: die um der monumentalen
Lakonik willen parataktische Ordnung verdeckt und enthiillt zugleich die
Kausalbeziehung: weil sich das Holz bog, blieb es. Der Spruch ist zudem
stark alliterativ und assonant gebunden. Registriert er nur? Ist er, als Traum
verkleidet, nur bittere Reminiszenz oder ist er harte taktische Lehre, die
in der geschichtlichen Realitåt befolgt sein will?
Beide Spriiche scheinen mir vor allem ein Grundpostulat des in den
hochst kunstvollen reimlosen Kurzversen besonders wachen und elastisch
gespannten Dichters, der stets ein politischer Dichter war, auszusagen: in den
Katastrophen seiner Zeit, in den Sturmen seines Jahrhunderts wird er nicht
kapitulieren, wird er zu uberleben versuchen, ohne je sich selbst in seiner
menschlichen Wurde aufzugeben. Auch die kleine Form, die Brecht meisterhaft handhabt, gibt den grossen Gegenstand.