Untersuchungen zur Arbeitsweise Georg Heyms an

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Untersuchungen zur Arbeitsweise Georg Heyms an
Untersuchungen zur Arbeitsweise Georg Heyms
an seinen Handschriften
Uber die Entstehung der Gedichte
''M ortuae", "Totenw ache” , "Letzte W ache" 1
Giinter Dammann, Hamburg
I
Vorgriffe konnen blamabel werden. W enn erst in groBerem Umfange Edi­
tionen mit textgenetischen A pparaten vorliegen2, wird sich wohl zeigen, daB
nicht nur der literarische Stil eines abgeschlossenen Werkes historisch bestimmt ist, sondern daB die Produktionsart selbst, die Weise des Arbeitens,
ihre geschichtlichen Bedingungen hat und im Fortschreiten der Jahrhunderte
eine andere wird. Eine Untersuchung iiber diesen Fragenkomplex, wenn sie
einmal moglich ist, kann mehr erbringen als anekdotische humana oder
ominose Epochenanthropologie. Der Vorgang des Schreibens ist auf eine
vielfåltige, wenngleich ungeklarte, A rt mit der jeweiligen Åsthetik und den
Strukturen des fertigen Textes verkniipft; mithin wird eine Analyse des
Produktionscharakters zusatzlichen AufschluB iiber einen literarischen Stil
geben. Dieser Aspekt soli im Folgenden, beschrankt auf Georg Heym, unter
1. Der hier vorgelegte Aufsatz entstand aus der Editionsarbeit am Nachlafi Georg Heyms
und insbesondere aus der Vorbereitung eines Papiers fur das M arbacher Editoren-Colloquium vom 17. 5. 1968, wo der hier analysierte Gedichtkomplex als Grundlage fiir die
Diskussion des fiir die Heym-Ausgabe entwickelten Apparatmodells diente. Die Anregung
zur Untersuchung erhielt ich vom Herausgeber der hist.-krit. Heym-Ausgabe, meinem
Lehrer Prof. Dr. K. L. Schneider. Ihm und der Staats- und Universitåtsbibliothek Hambuig sowie dem Verlag Heinrich Ellermann danke ich fiir die Erlaubnis, in grdlierem
Um fang aus den Handschriften zitieren zu konnen. Die genetische Darstellung der Ge­
dichte M ortuae etc. wird zusammen mit dem gesamten Lesartenapparat fur Heyms Lyrik
in Bd. 4 oder 5 der Schneiderschen Ausgabe erscheinen.
2. Vorbereitet werden u.a. ‘genetische* W erkausgaben von Brentano, Heine, Heym, Hofmannsthal, Klopstock, Morike; erschienen bzw. im Erscheinen begriffen sind solche zu
Goethe, Holderlin, C. F. Meyer, Trakl.
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Verzicht auch auf grundlegende Reflexionen3, am konkreten Fall untersucht
werden. Die Beschrankung der Analyse auf einen Gedichtkomplex bedeutet
dabei nicht Beschrankung der Ergebnisse. Durch eine langere Beschaftigung
mit dem NachlaB des Autors ist das hier Ausgewahlte als moglichst verbindlich abgesichert. Ich beginne mit einer Anekdote.
H eym dichtete eigentlich immer, beneidenswert robust gegeniiber den
TiXcken des »Milieus«. A ls wir an einem heiflen Sonntag des Sommers 1910
zusammen an der Locknilz wanderten, sprang er in krdftigstem Lebensiibermut auf einmal in vollem Anzug ins Wasser, schwamm um einen
gerade vorbeirauschenden Dampfer herum, lieft sich von der Julisonne wieder trocknen, wdhrenddessen ich ihn aus einem juristischen Repetitorium
abfragen mufite, klappte nach einer Weile das Buch zusammen und dichtete,
vom A nblick der sommerlichen Fluren ergriffen, die ersten Strophen von
»O weites Land des Sommers und der Winde«A
3. U nter einer solchen Grundlagendiskussion verstehe ich die zunachst philosophische, dann
methodologische Erorterung der Unterschiede zwischen Textentwicklung und Text. Sie
sollte ontologisch ansetzen und dadureh die Gegensåtze scharf herausarbeiten. »Vor allem
mussen wir zwischen dem Fundam ent des Entstehens des literarischen Werkes und dem
ontischen G rund seines Bestehens (Existierens nach der Gestaltung) unterscheiden. Das
erstere haben wir bereits in den subjektiven Operationen gefunden, die der A utor bei der
Gestaltung des Werkes vollzieht und die in erster Linie in den satzbildenden Operationen
bestehen (. . .) Die subjektiven BewuBtseinsakte, in welchen sich die satzbildenden Opera­
tionen vollziehen, sind seinsautonome Gegenstandlichkeiten. Das geschaffene Werk und die
geschaffenen Satze sind keine seinsautonomen Gegenstandlichkeiten, sondern nur rein
intentionale«, existieren also als seinsheteronome Gebilde (Rom an Ingarden: Das literarische Kunstwerk. 2. Auflage. Tiibingen 1960. S. 385 f.). Auf dieser Basis lassen sich
verschiedene Begriffe entwickeln, an denen ieweils der Gegensatz von Entstehung und
Produkt deutlich gemacht werden kann. Zu ihnen gehort der Ze;7-Begriff, der fiir das
fertige W erk als un-zeitliche »Ordnung der Aufeinanderfolge« (Ingarden, a.a.O., S. 328),
fiir die Genese aber als objektive bzw. subjektive Zeit zu fassen ist.
Im AnschluB an die ontologische Klårung ware eine Theorie der analytischen M ethode
zu entwickeln. Hier tritt nun das Dilemma auf. daB wir - um die BewuBtseinsakte untersuchen zu konnen - einen psychologistischen Ansatz brauchten, mit ihm aber nicht viel
anfangen konnen, da die Entstehung uns nicht vollstandig als Objekt gegeben, sondem
ihrerseits nur in der H andschrift iiberliefert ist, also in der F onn geschaffener Satze vorliegt. Dadureh fallt die ontische Position der entstehenden Satze wiederum in die der entstandenen Satze, und die Methoden nahern sich einander.
Die folgende Arbeit ist unter diesem Zugestandnis der nicht ausreflektierten Ontologie
und Methodologie unternommen worden.
4. Friedrich Schulze-Maizier: »Georg Heyms NachlaB.« In: Dresdner Neueste Nachrichten
vom 21. 10. 1922. W iederabgedruckt in: Georg H eym . D okum ente zu seinem Leben und
W irken. Hg. von K. L. Schneider und G. Burkhardt. Hamburg-M iinchen 1968, S. 299.
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Giinter Dammann
DaB Heym schnell sehrieb, bei jeder Gelegenheit sehrieb, daB er kaum
einen Plan, einen Vers der Priifung durch die innere Zeit aussetzte, ist uns
vielfach berichtet. Selbst wenn wir es nicht wiiBten, konnten wir die Geschwindigkeit der Produktion am Verhåltnis der uberlieferten Textmengen
zur Z ahl der Schriftstellerjahre ablesen; wie auch, etwa im vorliegenden
Fall, an der Tatsache, daB fiinf Seiten Lyrik auf den 4. September 1911
datiert sind. Solche beangstigende Produktivitåt, mit der Heym im ubrigen
durchaus in seiner Zeit steht, ist der Obertitel; sie hat ihre Auswirkungen
zunachst auf die Technik des Arbeitens, auf Schrift, Strophenfertigung und
»Besserung«, sodann auf den abgeschlossenen Text selbst und seine Asthetik.
Das erste zu beschreiben, das zweite zu analysieren, wird die Aufgabe sein.
Ich fasse, damit der Leser bei den folgenden Untersuchungen die Entstehung des gesamten Textkomplexes in Grundziigen gegenwårtig haben
kann, die Daten der Genese zusammen: Sechs Handschriftenseiten iiberliefern die Texte zu Mortuae, Totenwache, Letzte Wache. Sie lassen sich,
da Heym meist Entwurf und Reinschrift deutlich trennt, in zwei Gruppen
gliedern. Drei Seiten der Inv.-Nr. 27/7 (die im Heym-NachlaB der H am bur­
ger Staats- und Universitatsbibliothek das M anuskript der Erzåhlung Der
Dieb enthalt) enthalten Stichwortentwiirfe und Ausarbeitungen; drei Seiten
des Reinschriftheftes Heym-NachlaB Inv.-Nr. 10 bringen die jeweiligen Abschriften. - Die Arbeitsstufen verlaufen wie folgt5:
( ( IH ) )
( (2H ) )
=
=
Stichw ortentvvurf o h n e T itel in Inv.-N r. 27/7, Seite 33.
S tich w o rte n tw u rf u. d. T. E in e r T o te n in Inv.-N r. 2717,
Seite 33. 1.
3H
=
E n tw u rf, 3 S tro p h en u. d. T. E in e r T o te n , in Inv.-N r. 27/7,
Seite 33. 2.
4H
=
R ein sch rift von 3H , u. d. T. M ortu a e, in Inv.-N r. 10,
B latt 2v.
5H
=
E n tw u rf, 5 S tro p h e n u. d. T. T o ten w a ch e, in Inv.-N r. 2711,
Seite 33. 1.
6H
=
7H
=
R e in sch rift von 5H , m eh re re T itel, in Inv.-N r. 10, B latt 3r;
am A n fan g d e r v ierten S tro p h e a b gebrochen.
R einschrift, 4 S tro p h e n u. d. T. L e tz te W ache, in In v .-N r. 10,
B latt 3V; zw ischengeschaltete E n tw lirfe in 2 7 /7 .3 3 1 und
10/2v.
5. Die Siglen, diakritischen Zeichen und Darstellungsmethoden sind hier und im Folgenden
nach den Prinzipien der Heym-Edition verwendet. Diese Prinzipien sollen in einem demnåchst erscheinenden Aufsatz von G unter Mårtens vorgestellt werden; vgl. G unter Mårtens
und H ans Zeller (Hg.): Texte und Varianten. M unchen 1971.
,
Untersuchungen zur Arbeitsweise Georg Heyms
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Die Texte aus 4H, 5H und 7H sind abgedruekt in: Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Herausgegeben von Karl Ludwig Schneider. Bd. 1.
Hamburg-M iinchen 1964, S. 340-342.
II
W ir wollen uns zunachst ansehen, womit wir es zu tun haben. Der erste
abgeschlossene Text lautet in seiner reinschriftlichen Fassung (4H ), unter
Einbeziehung einiger nachtraglicher Varianten:
1
2
3
4
M o rtu ae.
W a r es n u r ein T ra u m im H a lb -E rw a c h en
K iih ler M orgen? W ar es n u r ein W ind?
O d e r k u rz er D u ft von friihen B lum en,
D e r verfliegt, ehe die N a c h t beginnt?
5
6
7
8
G e h st D u schon, wo m eine H a n d e z ittern
So n a ch D einen? U n d ein je d e r T ag,
w ird ein G ra b to r sein, um h iillt m it W einen?
B linden gleich, u n d lee rer G lo c k en Schlag?
9
10
11
12
Jed e N a c h t, w ie eine w eite L eere,
U n d wo sonst D ein leiser A tem w ar,
tief im D unkel, n u r das langsam schw ere
R in n en to te r S tunden, J a h r um Ja h r?
Das vorgelegte Gedicht umfaBt drei Strophen und laBt sich unter mehrfachen Aspekten (syntaktischen, semantischen, rhetorischen) auf ein und
dieselbe Weise gliedem:
»Einleitung«: Strophe 1
Hauptteil: Strophen 2 und 3.
Der Text besteht aus Fragesåtzen. Die »Einleitung« fragt dreimal War es,
wobei die letzte Frage zeugmatisch angeschlossen wird. Der Hauptteil, wenn
wir v. 5f. zunachst ausklammern, fragt dreimal wird sein, wobei die beiden
letzten Fragen zeugmatisch angekniipft sind:
6
7
U n d ein je d e r T ag,
w ird ein G ra b to r sein. ( . . . ) ?
(...)
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Giinter Dammann
9
11
12
Jed e N a ch t, (w ird) wie eine w eite L eere (sein),
(U n d w ird dort) n u r das lan g sam schw ere
R innen to te r S tu n d en (sein) (. . .)?
Jede Trias von Fragen verwendet eine Form des Verbums sein, die erste
eine pråteritale, die zweite eine futurische. Die erste zeigt in allen Såtzen
dasselbe Subjekt, die zweite in allen verschiedene Subjekte; die ersten
Fragen sind durch oder verbunden, die letzten durch und.
Zwischen den beiden Frage-Komplexen steht eine weitere Frage. Sie fållt
aus der Reihe der Prådikationsfragen heraus. Ihre syntaktische Sonderstellung fållt zusammen mit ihrer Position am Anfang des Hauptteiles; so markiert sie den Einschnitt, den wir festgestellt haben, und organisiert den Aufbau des Textes,
Von den drei parallelen Fragen der Verse 6—12 haben die beiden ersten
als Subjekt ein zeitbezeichnendes Nomen {Tag; Nacht). Die dritte hat (gewissermaBen neutralisierte) Nomina dieser Kategorie sich genitivisch und adver­
bial angehångt (Stunden; Jahr).
So ist unser Gedicht ein Gebilde åuBerlicher Klarheit. Was aber meint es?
W oruber spricht es? Der 4. September 1911, an dem es entstand, stellt sich
in Heyms Tagebiichern folgendermaBen dar: 4. IX . Ich habe einen heroischen K am pf gefiihrt. Plotzlich aber ist es mir, als wenn ich nicht mehv
weiter konnte. Naturlich wird Leni nicht so tapfer sein, das Verbot zu bre­
chen. (. . .) Jedenfalls ist der 4. IX . 1911 wieder ein kritischer Tag erster
Ordnung. Wie der 5. 11. 08., wie der furchtbare 18. 8. 09.6
Die mortua ist, was freilich der lyrische Text selbst schon nahelegte, die
ungliicklich Geliebte. Heym kleidet seine Trennung von Leni F . . ., im Ge­
dicht so iibersteigernd wie in den Formulierungen des Diariums, in die
Hyperbel: Du bist tot. Was als Totenklage auftritt, ist mithin Liebesschmerz.
Die Tagebuchnotiz als datum vorausgesetzt, das vom Gedicht transzendiert
wird, wåre nun zu klåren, in welchen Formen der Text uns die Information
darbivtet, das fiihrt zu Schwierigkeiten. Schwierigkeiten bestehen solange,
als wir mit den hermeneutischen Kategorien logisch-diskursiven Verstehens
umgehen.
6. In: Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Hg. von K. L. Schneider. Bd. 3. HamburgMiinchen 1960, S. 162.
Untersuchungen z.ur Arbeitsweise Georg Heyms
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Der Interpret allerdings, dem die E ig e n s c h a f te n m oderner Lyrik schon
vollig die adåquaten Rezeptionsweisen aufgeprågt haben, wird den Text
nach dem biographischen datum kurz und schliissig zerlegen: Das Dasein
der Geliebten ist gewesen, war kurz und fliichtig; sie ist fort, die Zukunft
tot und aussichtslos.
Dem ware, gerade um die Voraussetzungen solchen Verstehens in ihrer
Eigenart sichtbar zu machen, banausenhaft entgegenzufragen: Wofiir steht,
in v.1-4, esl Warum wird die Tatsache des Todes, die doch sicher ist, in v.512 noch erfragtl Warum, wenn diese Fragen vielleicht rhetorische sein sollten
und Emphase auszudriicken hatten, sind sie der syntaktischen Struktur nach
gerade keine Fragesatze?
Blumen sind benutzbar zum Ausdruck fiir Verganglichkeit; sie welken.
Ihr Aussehen und ihr Parfiim, die uns angenehm erscheinen, gehen zugrunde; welches zuerst? Wie lange bluhen Blumen? Friihe, die, in einem
Kontext mit Nacht, doch morgendliche sind, entsenden einen kurzen Duft,
der vergeht vor Anbruch der Nacht. Ist das Kiirze? - Auch diese Frage zu
jenen vorigen; das logisch-normative Verstehen stellt sie, um zunachst die
Diskrepanz zwischen seinen Anspriichen und den faktischen Strukturen des
Textes einfach herauszuheben und zu konstatieren.
III
Die Entstehung unseres Gedichts mit dem Titel Mortuae ist im Handschriftenmaterial des Heym-Nachlasses luckenlos bezeugt.
Im oberen Fiinftel der Seite 33 (Heym-NachlaB, Inv. - Nr. 27/7) befinden
sich in kleiner Schrift drei Entwurfszeilen ohne Titel:
W illst D u n ich t aufw achen
L eer.
W ie soli ich oh n e D ich sein.
Wir bezeichnen dieses Textfragment als die erste Arbeitsstufe ((IH )) im
Gedichtkomplex. Der Rest der Seite bleibt frei.
Wenn wir um blattern, finden wir auf der Seite 33.1 einen weiteren Stichwortentwurf. E r ist umfangreicher und tragt den Titel Einer Toten. Untereinander stehen (z. T. mit groBeren Zwischenraumen) zunachst folgende
Zeilen:
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Gunter Dammann
[W ar es den n nur]
W ar es
o d e r w ie B lum en, die w elken
ehe die N a c h t beginnt.
W ar es n u r ( .. .p
W ir bezeichnen dieses Textfragment als die zweite Arbeitsstufe ((2H)) im
Gedichtkomplex.
Die Arbeit beginnt an den Themen Schlaf, Leere, Entfernung; zweimal ist
dabei von einem Du die Rede. In dem lokal und graphisch deutlich abgesetzten Neuanfang ((.2H )) erscheinen diese Elemente nicht wieder. Die
scheinbare Inkongruenz zwischen den Texten aus ((IH)) und ((2H)) lost
sich, wenn wir die fertige Reinschrift kurz nachschlagen: D er erste Stichwortentwurf ist in die Strophen 2 und 3 eingegangen, der zweite in die
Strophe 1. Die genetische Analyse weist also aus, daB der A utor seinem
ersten Entwurf nachtraglich einen zweiten, anderen, vorordnet, und sie rechtfertigt, das abgeschlossene Gedicht in eine deutlich eigenståndige »Einleitung« und einen Hauptteil zu zergliedern.
Wie entsteht nun aus diesen, zwar spateren, aber ersten Versuchen der
vollstandige Text der ersten Strophe?
Dreimal wird im zweiten Stichwortentwurf ((2H)) - in jeweils leichter
Variation - der Einsatz War es versucht. - Ich unterbreche und riicke hier
Ullmanns Modell der Sprachwissenschaft ein, damit fiir die folgenden Pas­
sagen das Interpretieren stets auf ein begriffliches Geriist bezogen bleibt;
Ullm ann8 teilt auf:
I. P h o n o lo g ie
II. L exikologie:
III. S yntax:
1.
2.
1.
2.
lexikalische
lexikalische
syntaktische
syntaktische
M o rp h o lo g ie
S em antik
M o rp h o lo g ie
Sem antik
7. [ ] steht fur Streichung. - Die Stichwort-Kolumne ist hiermit nicht zu Ende. Ich meine
aber m it Sicherheit annehmen zu konnen, dali alle folgenden Notizen einer erheblich spa­
teren Arbeitsstufe entstammen; sie lauten, wiederum mit z.T. grofieren Zwischenraumen
geschrieben: wie ein Schatten, / [///] / [[iiber] und ein wi] / windiger Tag. / Grdber. /
leerer Glocken Schlag. / oder ein Schlummer. / iiber herbstlichen Fluren / unter dem
windigen Tag.
8. Stephen Ullmann: Grundziige der Semantik. Die Bedeutung in sprachwissenschaftlicher
Sicht. Deutsche Fassung von Susanne Koopm ann. Berlin 1967, S. 33. - Die im Folgenden
verwendete Unterscheidung von Voll- und Pseudowdrtern findet sich bei Ullmann, S. 54f.
Auch meine Terminologie (N am e - Sinn) ist Ullmann verpflichtet (S. 64f.).
Untersuchungen zur Arbeitsweise Georg Heyms
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Uberpriifen wir den Satzteil War es unter den drei letzten linguistischen
Blickrichtungen! Vom Standpunkt lexikalischer Semantik gesehen liegen
Pseudowdrter (sein und es) vor. Syntaktisch-morphologisch handelt es sich
um den Beginn einer Frage; das Prådikat ist unvollståndig. In Hinsicht syntaktischer Semantik hat War es einen sehr allgemeinen und unbestimmten
Sinn; es spricht Vergangenheit und Unsicherheit aus. An dieser Stelle iiberschreiten wir die rein linguistische Begrifflichkeit und wagen uns in Psychologie vor. Ein merkwurdiger Sachverhalt! Der A utor scheint sich in diesem
Stadium seiner Arbeit lediglich der Pseudowdrter War es sicher zu sein und
die semantisch qualifizierten Vollworter gar nicht zur Verfugung zu haben.
Der ProzeB der Textfindung geht nicht prim ar von Substantiven aus, die ja
als sprachliches Åquivalent dinglicher (oder verdinglichter) BewuBtseinsinhalte bezeichnet werden konnen; im vortextlichen BewuBtsein des Autors
sind folglich offenbar keine mit Realien gesattigten und bis in Dingdetails
ausgearbeiteten Vorstellungen enthalten. Was vorhanden ist und was allein
vorhanden zu sein scheint, ist jenes vage Gefiihl des Vergangenen und Unsicheren, das sich sprachlich nur in einem mehrmaligen War es zu fixieren
vermag.
Dieser Verdacht, durch den psychologischen Exkurs initiiert, soli auf
einen vorlaufigen linguistischen Begriff zuriickgebracht werden: Im Satzteil
War es ist die syntaktisch-semantische zuwngunsten einer syntaktisch-raørphologischen Funktion bevorzugt worden.
Indessen hat der Einsatz War es immer noch seine Stellung als syntaktischer Rahmen. Ihn gilt es aufzufiillen. Das geschieht in der Arbeitsstufe 2
nicht mehr. Wir finden allerdings, wie erinnerlich, zwischen den drei Ansåtzen die deutlich abgesetzten beiden Zeilen
o d e r w ie B lum en, die w elken
ehe die N a c h t beginnt.
Diese Zeilen sind nun sicherlich im Zusammenhang mit den War esFragmenten zu sehen. Wahrscheinlich gelten sie schon hier als das letzte
Glied einer Reihe von Pradikaten, die syntaktisch von War es abhangen
sollen. Das graphische Bild der Handschrift lieBe eine Absicht nach folgendem M uster vermuten:
W a r es xxxxxxxx
xxxxxxxxxx
o d e r w ie B lum en, die w elken
ehe die N a c h t beginnt.
Giinter Dammann
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Wir wollen uns fiir einen Augenblick vergegenwårtigen, wie breit (lexikalisch und syntaktisch) das Angebot an W ortern und Strukturen ist, die von
War es abhangig gemacht werden konnten. Dann fiillt doch immerhin auf,
daB die vorliegende Fiillung wiederum »irgendwie« als Sinn jenes Vergehen
und jene Unsicherheit aussagt, die wir schon aus dem Fragm ent War es entnahmen. Ich formuliere scharfer, ich formuliere die Arbeitshypothese: Unter
syntaktisch-morphologischem Gesichtspunkt konnte der Satzteil wie Blumen
etc. als pradikative Erganzung zu War es gesehen werden; damit wiirde die
anschlieBende syntaktisch-semantische Analyse sich mit dem Gesamtsatz
War es wie Blumen etc. zu befassen haben. Das ware ein ProzeB »normalen«
Verstehens; »normal« soli heiBen: auf einer korrekten syntaktischen A na­
lyse aufbauend. Ein neues und - wie ich zeigen mochte - Heym angemessenes Verstehen wiirde die Satzteile War es und wie Blumen etc. unverkniipft
belassen, aus beiden, jeweils getrennt, durch syntaktisch-semantische Teilanalysen zweimal den gleichen Sinn herausdeuten, wiirde mithin den Satzverband als zerbrochen voraussetzen.
Ich gebe zunachst noch den fertigen Text der ersten Strophe. E r befindet
sich auf der dem Stichwortentwurf ( ( 2 H ) ) gegeniiberliegenden Seite 33.2.
W ir nennen diese Arbeitsstufe 3H; sie ist die Basis der schon bekannten
Reinschrift 4H. Der Text lautet nach geringfiigigen Korrekturen:
1
2
3
4
W a r es n u r ein T ra u m im H a lb erw ach en .
K iih le r M o rgen, w a r es n u r ein W ind?
o d e r k u rz er D u ft von friih en B lum en
d e r v erfliegt, ehe die N a c h t beginnt.
Die Leerstellen, die wir in unser Modell eingesetzt hatten, sind nun mit
Namen aufgefiillt - und auch deren Sinn entspricht, unter der noch ungeklarten Bestimmung eines »Irgendwie«, wiederum jener Vorstellung des
Vergangenen und Unsicheren, die wir kennen. Bevor ich aber unsere A r­
beitshypothese auf diesen Text anwende und das, was ich zu erkennen
glaube, begrifflich ausarbeite, mochte ich den Bogen noch etwas weiter
schlagen. Vielleicht sind wir einem beispiellosen Einzelfall aufgesessen und
haben uns verrannt. In Kiirze sei deshalb die Genese eines zweiten Textes
entwickelt.
Das Gedicht Die Vogel bleibt auBergewohnlich lange in einem Vorstadium stecken. In fiinfzehn Ansatzen versucht Heym, sich iiber den An-
Untersuchungen zur Arbeitsweise Georg Heyms
51
fang Klarheit zu verschaffen. Erst dann gelingt ihm eine zweistrophige Rohfassung. Ich setze die wichtigsten dieser 15 Ansatze hierher9:
1 W ie fa h le r M orgen
1 D ie m iide re g en ro te N a c h t
1 D ie W o lk e im
1 D e r d ro h e n d en H im m el re g en ro te N a c h t ( . . . )
1 D e r stein ern en W o lk e re g e n ro te N a c h t
1 D ie W olke d ro h e n d in ro te r N a ch t,
2 im R egen streifen d u n d m it Å chzen voll ( . . . )
X I I I 1 In re g e n ro te r N a c h t
X V 1 D ie d u n k le W olke re g e n ro te r NachtlO
I
III
IV
V II
V III
X
Eine genaue Analyse dieser Ansatze zeigt, daB der Sinn der verschiedenen
Satzfragmente erheblicher differiert, als man zunachst meint. Dieses erste
Meinen, der fliichtige Uberblick, fixiert sich namlich auf die herausragenden
Substantive und Adjektive und nimmt an, daB, da diese immer die gleichen
sind, auch der Satzsinn gleich wåre. Indem man aber zunachst syntaktischmorphologisch die Beziehungen feststellt, erkennt man, daB beispielsweise die
W orter Nacht und Wolke in den einzelnen Ansatzen einmal als Subjekt,
dann als Teil des Adverbs, einmal im Nominativ, dann im Genitiv etc.
stehen. Die hierauf errichtete syntaktisch-semantische Analyse ergibt, daB
Nacht und Wolke einmal Handlungstrager, dann Situationshintergrund, ein­
mal »real«, dann »metaphorisch« sein sollen. Die den einzelnen Ansatzen
zugrundeliegende Vorstellung, so miiBte die psychologische Untersuchung
vermuten, ist jeweils vollig verschieden. Das ist merkwiirdig. Sehen wir uns
die fertige erste Strophe des Gedichts an:
1
2
3
4
G le ic h triib e r R ote
L angsam b e g in n e n d er T age
E ine fa h le N a c h t voll R egen und Ode
H a n g e t schw er a u f den T u rm e n d e r K lage.l°
Dies nun ist ein Text, der einige der sukzessiven sich andernden Vorstellungen simultan zusammenfaBt und somit - wenn das normale Verstehen
mit dem Primat der syntaktischen Analyse beibehalten wurde - einen nichtkoharenten Sinn ergabe; denn eine fahle Nacht, die wie Morgen-Rote aus-
9. Vgl. Heym-Nachlali, Inv.-Nr. 26, Blatt 113, S. 2.
10. Die W iedergabe des Textes ist um etliche Zwischenansåtze und Varianten verkiirzt. Die
vollstandige Darstellung erscheint im A pparatband der Ausgabe.
Gunter Dammann
52
sieht, ein Vergleich also von Nacht und Tagesanbruch, ist eine Unmoglichkeit, Z u iiberlegen ist, wie wir aus dem Dilemma, in das uns der angenommene rasche Vorstellungswechsel und sodann die Inkoharenz der »fertigen«
Strophe gebracht haben, herauskommen. Wir erinnem uns, daB wir ganz am
Anfang der Meinung waren, die Ansåtze seien einander ziemlich ahnlich.
Als wir dies glaubten, befanden wir uns im Stadium vor der strengen syntaktisch-morphologischen Untersuchung. Es folgt: Wir mussen die Basis der
syntaktischen Beziehungen zumindest teilweise wegschlagen und eine weitgehend a-grammatikalische semantische Analyse vornehmen, um linguistisch
dem fertigen Text eine Einheit des Sinns zusprechen und psychologisch die
Intentionen des Autors als gleichbleibend bezeichnen zu konnen. Lingu­
istisch hat das die Konsequenz, daB wir Ullmanns Modell damit auf zwei
Untersuchungsperspektiven reduzieren:
1.
2.
L exikalische Sem antik
»S yntaktische« Sem antik.
Die Anfuhrungszeichen um »syntaktisch« werden notig, da dieser Art
von semantischer Analyse nach der hier pointierten These ja keine syntakti­
sche mehr vorhergehen soli. So ergibt sich der Sinn eines Textes zunåchst
aus der semantischen Interpretation der Einzelworter; sodann aus derjenigen der Wechselbeziehung isolierter W orter - wie man etwa den unverbundenen W ortern fallen; Herbst; Blatter jenseits aller Syntax einen Sinn
entnehmen kann
endlich aus derjenigen der Wechselbeziehung kleinerer
W ortgruppen. Damit ist die iiberspitzte These auf ein richtiges MaB zuriickgenommen: denn ganz sicher ist nicht mit einer volligen Vernachlassigung
der Syntax bei Heym zu rechnen. Syntaktische Analyse muB immer wieder
vorgenommen werden und Basis sein. Doch gleichzeitig hat man ihre G ren­
zen zu sehen. Aus dem Zusammen- und Widerspiel von Syntaxrelevanz und
-irrelevanz hebt die semantische Interpretation den Sinn.
N ur so ist die Genese der Vogel psychologisch zu verstehen: H ier ist ein
Prinzip am Wirken, das W orter setzt und einmal gesetzte W orter immer neu
zusammenfiigt; nicht mit den sich andernden Syntaxstrukturen wird der
Sinn konstituiert, sondern eben mit den W ortern, so daB deren Beibehaltung
durch alle Transformationen hindurch die Einheitlichkeit der Vorstellung
garantiert. N ur so ist der endgiiltige Text linguistisch zu verstehen: Hier sind
Elemente zu einer Strophe zusammengefugt, deren Sinn nicht mehr allein
Untersuchungen zur A rbeitsw eise Georg H eym s
53
durch den Satz, sondern durch die transgrammatikalische Wechselbeziehung
von semantischen Einheiten zu entnehmen ist und etwa lautet, dafi ein
triiber Morgen nach fahler und schwerer N acht anbricht.
Dieser Zuwachs an Einsicht befahigt uns, iiber die War es-Strophe zu
einem endgultigen Urteil zu kommen. Ich interpretiere sie als fertige, nach
den auseinandergelegten Regeln, so, daB ich als ihren Sinn Vergangenheit,
Kiirze, Unsicherheit verstehe; worauf sich dieser Sinn »bezieht«, ist nicht
nur nicht festzustellen, vielmehr wird die Frage, »wofiir« es etwa »steht«,
schon als Frage illegitim - denn da der Satz parzelliert ist, liegen die Struk­
turen eines logischen Diskurses nicht mehr vor. - Ich fasse die Entstehung
unter den erarbeiteten Kategorien zusammen: Ausgesagt werden soli ein
vage umrissener Sinn von Vergangenheit und Unsicherheit. Dieser schlagt
sich »syntaktisch«-semantisch in War es nieder. Fast gleichzeitig ist schon
das zweite sprachliche Korrelat desselben Sinnes in wie Blumen etc. vorhan­
den; diese ÅuBerung stiitzt sich starker auf lexikalisch-semantische Katego­
rien, indem sie den Sinn nicht durch Prateritum und Frageform, sondern
durch entsprechende Vollworter des Lexikons aussagt. Das Modell
War es xxxxxxxxxx
etc.
wird dann durch weitere Vollworter aufgefiillt, die allesamt den gegebenen
Sinn semantisch einkreisen. Dabei ist der Mechanismus der Textfindung
leicht zu erraten: Auf das W ort Traum, das seinerseits vielleicht der (vorhandenen) N acht respondiert, folgt H alberwachen, darauf M orgen; kuhler
M orgen fiihrt zu Wind, zwischen W ind und den bereits gesetzten Blumen
schiebt sich Duft ein. Die Blumen werden zu fruhen Blumen, weil der
semantische Bereich von M orgen nachhallt; an die Stelle von welken ist,
wegen Duft, verfliegt gesetzt.
Nach gleichen Prinzipien konnen wir nun die ubrigen genetischen Vorgange in diesem ersten Stadium des Gedichtkomplexes analysieren.
Auf Seite 33. 2, unter Strophe 1, entsteht zunachst ein erster Ansatz zur
zweiten Strophe:
I
5
6
G ehst Du schon? U nd sollen alle Tage
nur w ie Schlag von leeren G locken
Der ProzeB der Textfindung scheint hier gewissermaBen neu einzusetzen.
Allerdings kann Heym auf die Notizen in ((IH )) zuriickgreifen, die ja den
54
Giinter Dammann
ersten Entwurf dieses »Hauptteiles« darstellten. Ich zitiere sie noch einmal:
W illst D u nicht aufwachen / Leer. / W ie soli ich ohne Dich sein. Eine affir­
mative Aussage liegt vor, dazu zwei Fragen, die - das ist wichtig - die Tatsache des Todes als sicher voraussetzen. Zwei Fragen leiten auch den ersten
Ansatz I 5f. der Ausarbeitung ein; ihr Sinn allerdings ist dem der Notizen
nicht gleich. Das wird deutlich, wenn wir I 5f. mit einem ((IH )) entsprechenden V okabular ausstatten. Dann wiirde gefragt: W illst du einschlafen? Soli
alles leer sein? Der Tod ist nicht mehr sicher.
Natiirlich hat ein Autor das Recht, seinen ersten Entwurf zu andern. In
diesem Falle ware nicht weiter nachzufragen. Der Fortgang aber wird uns
zeigen, daB die inhaltliche Variante aufzeigbare Grunde hat, vielmehr: gar
keine ist.
Der erste Ansatz wird getilgt und durch einen zweiten ersetzt, in dem die
Strophe vollendet wird. Deutlich ist am Ergebnis das Auffullungsprinzip
abzulesen, mit dem schon v. 1-4 komplettiert wurden und das zwischen
gegebenem Anfang und gegebenem Ende W ortbedeutungen einfiigt, die
(unter psychologischem Aspekt) assoziativ gewonnen wurden und (unter
linguistischem Aspekt) den intendierten Sinn einkreisen:
II
5 G ehst D u schon? w o m eine H ånde zittern
6 so nach D einen? Soli ein jeder Tag.
7 w ie ein Grabtor sein, um hiillt mit W einen.
8 Blinden gleich? U nd toter G locken S chlag?n
Die Entstehung der dritten Strophe bietet nichts grundsatzlich Neues und
soli hier nicht aufgezeigt werden.
Wichtig hingegen ist, einen Vorgang bei der Reinschrift (4H) der eben gegebenen »Kladde-Fassung» festzuhalten. Dort wird zunachst, getreu der Vorlage, kopiert: Soli ein jeder Tag, \ wie ein G rabtor sein (. . .)?. In einem
zweiten Arbeitsgang aber andert Heym und gibt dem Text die Gestalt, unter
der ich ihn in II zitiert habe: Und ein jeder Tag, / wird ein G rabtor sein
(. . .)?. Die Variante zielt, daran andert auch das beibehaltene Fragezeichen
nichts, auf einen Versuch, aus der Frageform herauszukommen. Das hat
Konsequenzen. Vom Verb dieser Stelle hangen alle restlichen Subjekte ab.
11. So lautet die Strophe nach etlichen Korrekturen, die ich nicht aufzufuhren brauche.
Interessant ist allerdings, daB toter ein zunachst geschriebenes leerer ersetzt - ganz offenbar
unter der Riickwirkung der »Neu-Worter« Grabtor etc.
Untersuchungen zur A rbeitsw eise Georg H eym s
55
So konstatiere ich eine Tendenz, den gesamten »Hauptteil« des Gedichts in
die affirmative Aussage zu kehren —und mithin zu dem Sinn der ersten Notizen aus ((IH )) zuruckzugehen. D ort war die Tatsache des Todes zweifellos.
Etwas brachte offenbar den Text aus seiner vornotierten und am Ende
fast wieder erreichten Bahn. Ich vermute, daB diese Abweichung dem semantischen M aterial der ersten Strophe aus 3H zu verdanken ist. Der Sinnbereich von Voriiberhuschen und Unsicherheit, gerade abgehandelt, legte sich
iiber die zu schreibende zweite Strophe. Die Frageform der »Einleitung«
erwies sich als so suggestiv, daB sie die Tatsache der Trennung und des
Todes selbst fraglich werden lieB und W illst Du nicht aufwachen / Leer.
anderte in Gehst Du schon? Und sollen alle Tage / nur wie Schlag von
leeren Glocken. Erst die Entfernung von der »Suggestion« ermoglicht die
Riickkehr zur urspriinglichen Absicht. Dies ist, wie ich gleich darlegen
werde, ein Phanomen, das voll seinen Platz im bisher erarbeiteten Kategoriensystem findet.
IV
Es sind, nach dieser zweimaligen Untersuchung: der Analyse von M ortuae
( 4H ), der Analyse von ((IH )) bis 4H -, Folgerungen zu ziehen, solche allerdings, die sich zunåchst im Rahmen des vorgelegten Materials halten. Wir
haben uns am Text versucht; wir haben die Entstehung beschrieben und ausgedeutet. Mithin: Wie ist das Gedicht zu verstehen? Wie miiBten wir, die
Verbindlichkeit der aus der Genese erarbeiteten Intentionen vorausgesetzt,
interpretieren?
1) Die Hermeneutik muB das Prinzip der vorgangigen syntaktischen Analyse
einschrånken.
Was aus der Arbeit mit War es und den Ansatzen zu Die Vogel, also unter
dem Aspekt des Produktionsganges, herausgestellt wurde, ist in die interpretatorische Praxis umzusetzen. Der Primat des diskursiven Verstehens fållt.
Der Logiker, der in II die Frage nach dem Bezugswort des es stellte, erhielt
seine Antwort schon. Jem and fragte des weiteren: Was ist unter dem Satz
vom kurzen D uft von fruhen Blumen zu verstehen, der verfliegt, ehe die
Nacht beginnt? Ist er geeignet, jene rasche Vergangnis auszusagen, die er
aussagen soli? - Ein Verstehen, das strikt an der Syntaxrelevanz festhalt,
kann die Frage nicht beantworten und wiirde sich wahrscheinlich in litera-
56
Giinter Dammann
rische W ertung fliichten12. N ur mit unserer Kategorie der aufgelosten Syntaxverbindiiehkeit ist dieser »Satz« adaquat, nåmlieh nicht als Satz, interpretierbar; wir mussen den kurzen D uft herauslosen, dann die friihen Blumen,
dann das verfliegt, und aus ihnen jeweils »irgendwie« jenen gemeinten Sinn
fliichdg, gewesen herauslesen, den seinerseits, als isolierter, als unabhångiger,
der Satzteil ehe die N acht beginnt aussagt. Ein solches Verstehen kann sich
nicht nur generell, sondern auch ganz spezifisch auf die Genese berufen. W ir
erinnem uns, daB in ((.2H )) zunachst oder wie Blumen, die welken / ehe die
N acht beginnt. entworfen worden war. Dieser Text wurde in 3H , unter dem
Zwang der neu aufgenommenen Bedeutungen M orgen, Wind, geandert, indem ihm neue Bedeutungen einfach einkom biniert wurden. W ar der Passus
in ((2 I i)) noch als koharenter Satz zu lesen, so folglich in 3H nicht mehr.
Die Frage war auch, wie das Prinzip Interrogation, in den Strophen 2 und
3, einzuordnen sei; es sei ja »unlogisch«, jedenfalls gegen Ende immer problematischer, da die Frageform sich auf die bloBe Interpunktion hinter einem
affirmativen Satz zuriickziehe. - Die Antwort, die hier zu geben ist, stiitzt
sich ebenfalls auf die Beschreibung der Entstehung. Entstanden namlich ist
die Interrogation dieser Strophen aus den Fragen der Verse 1-4 und ihrem
semantischen M aterial Vergehen, Unsicherheit, Kiirze. Die Interpretation,
als eine, die es nur mit dem Gedicht selbst zu tun hat, muB unter der Kate­
gorie der Syntaxauflosung die Frageform aus v.5ff. abspalten und, indem sie
sie semantisch als Unsicherheit deutet, der ersten Strophe zuschlagen; mithin
bleibt fiir v.5ff. eine nun affirmative Aussage iiber den Tod der Geliebten.
Gleichzeitig ergibt sich —das sei noch einmal betont — aus diesen beiden
Beispielen, daB der Grundsatz diskursiven Verstehens, die syntaktischsem antische A nalyse miisse auf der syntaktisch-m orphologischen grunden,
nicht total, sondern nur in seiner Unabdingbarkeit aufgehoben ist. Die Entscheidung, wo der Satzverband zu gelten hat und wo nicht, ist eine weitgehend subjektive Festsetzung, das Urteil schwankend. Doch fuhrt dies nicht
notwendig auf eine schiefe hermeneutische Bahn. Denn das Gelten oder
Nicht-Gelten von Syntax muB nicht eindeutig und in dem Sinne entschieden
werden, daB fiir das eine Textstiick dies, fiir ein anderes jenes anzusetzen
ware. Beide Moglichkeiten uberlagern sich innerhalb derselben Passage;
12. DaB der zweite Ausweg — namlich zu sagen, eben weil hier ein »Fehler« sei, werde der
Text ja umgearbeitet — gleichfalls in die Irre ftihrt, wird von der Umarbeitung selbst bewiesen. In 5H lautet die entsprechende Stelle: wie ein Stem im zitternden Abend / ehe die
Nacht beginnt(\).
Untersuchungen zur A rbeitsw eise Georg H eym s
57
etwas ist Konstituent einer syntaktisehen Struktur wie auch in der Isolation
sinnhaltiges Wort. So liegt im Ineinanderspielen der gegensåtzlichen Kate­
gorien syntaktischer Relevanz und Irrelevanz der eigentliche Reiz dieser
Poesie.
2) Die W orter, W ortgruppen und Satzteile »kreisen« einen gemeinten, sehr
allgemeinen Sinn »irgendwie ein«.
Dieses zweite Diktum, welches dem ersten nicht parallel ist, sondern es
zur Voraussetzung hat, låBt sich nun nicht mehr in der Form einer Summierung des Bisherigen abhandeln. Herausgearbeitet werden muB die Struk­
tur des »Irgendwie«; sie ist noch unbekannt.
Halten wir uns an die erste Strophe und rekapitulieren wir, zu welcher
Interpretation uns die A rt ihrer Entstehung fiihrte. Unsere semantische A na­
lyse hatte den Sinn als Vergangenheit, K iirze, Unsicherheit bestimmt. Dieser
Sinn wird, so sagten wir, eben »eingekreist« durch W orter, Satzteile und
isolierte syntaktische Form en (Interrogation). Das aber heiBt, daB wir War
es, Traum, H alberwachen etc., nach ihrer Herauslosung aus dem Satz, die
nun geklårt ist und als methodische Kategorie vorausgesetzt werden kann, in
der ganzen Breite ihrer Sinnbereiche sozusagen iibereinanderlegten und den
ihnen gemeinsamen kleinsten semantischen Nenner als »Aussage« nahmen.
Das Faktum , daB hier zwischen einer »eigentlichen« Aussage und einem
anderes bedeutenden W ort ein Verhåltnis entsteht, fiihrt uns zum Phånomen
der M etaphorik.
Ich halte inne und fiihre in Kiirze den Gedankengang einer neueren M etapherntheorie vor. Jerzy Pelc13 geht in seinem Aufsatz Semantic Functions as
A p p lied to the A nalysis of the Concept of M etaphor von einem metaphoric
triangle aus, das gebildet wird von a) der m etaphorical expression, b) dem
so-called proper sense des als M etapher gebrauchten Ausdrucks, c) dem
proper term, also dem eigentlichen und ersetzten Ausdruck. Indem, sagt Pelc,
ein Ausdruck in einem Kontext metaphorisch gebraucht wird ( b wird d),
åndert sich sein semantisches Potential; er wird nåmlich nicht långer als der
Ausdruck, der er »eigentlich« ist, verstanden, sondern als einer, in dem
bestimmte Eigenschaften ausgewåhlt sind. W enn wir fiir einen Augenblick
13. Jerzy Pelc: »Semantic Functions as Applied to the Analysis of the Concept of Metaphor«.
In: Poetyka. Warschau 1961, S. 305-339, bes. S.309-315. - Ich muli betonen, dali mein
Referat nur einen Gedankengang dieser Arbeit - und auch den sehr vereinfacht - wiedergibt; im iibrigen glaubte ich das Recht zu haben, die gerade in einer Zusammenfassung
verwirrende Pelcsche Siglensprache in cm a b c und einfachere Terminologie zu iibersetzen.
58
Gunter Dammann
diese Theorie an den Heymschen Text anlegen, so miiBten wir etwa sagen,
der Ausdruck G rabtor, als ein durch den Kontext zur M etapher gemachter,
besåBe nicht mehr seine samtlichen ( b - ) Eigenschaften physisches O bjekt,
aus M armor, rundbo gig, von dieser Farbe, Eingang zur G ruft etc., sondem
lediglich einige ausgewåhlte (nåmlich a~) Eigenschaften wie Eingang zum
Ende, ohne Leben, Atm osphdre des Todes. Durch genau diese letzteren ist
aber auch jener proper term (c) bestimmt, den die M etapher Grabtor ja
erst ersetzte. Pelc nennt folglich diese beiden »Ecken« seines triangle isosemisch oder fast isosemisch. Das wollen wir festhalten: In der metaphorischen
Verwendung eines Ausdrucks werden bestimmte Eigenschaften dieses Ausdrucks ausgewåhlt, die iibrigen fortgelassen; der so semantisch beschnittene
Ausdruck deckt sich voll mit dem, den er ersetzt.
Wenn wir nun den Heym-Text nicht zum Zwecke der Illustration, son­
dern ernsthaft mit der vorgelegten Theorie konfrontieren, so zeigt sich, daB
die Pelcsche Beschreibung der M etapher nicht fiir ihn, sondern nur fiir abgelebte Textstrukturen giiltig ist. Sachverhalte der modernen Lyrik sind mit
ihr nicht zu fassen.
Der Grund dafiir liegt in der Auflosung des Satzverbandes. Ist nåmlich
einmal das einzelne W ort von syntaktischer Verpflichtung frei, so entfållt
weitgehend jener bekannte semantische Automatismus der K ontextdeterminierung. Der Sinnbereich eines Namens ist nicht vermittels der Satzstruktur an die Sinnbereiche anderer Namen gebunden, die ihn einschrånken wiirden. Sein Umfang bleibt (fast) so groB wie im idealtypischen Auftreten des
Wortes im W orterbuch.
Die semantischen Relationen etwa des Wortes Traum sind im Gedicht
folglich von zwei gegensåtzlichen Kråften bestimmt: Einmal wird, im VerstehensprozeB, in ihm jener kleinste semantische Nenner aktualisiert, der
von Traum, Halberwachen, Kiihler M orgen etc. gemeinsam abgedeckt ist;
zum andern eignet, durchaus actualiter, dem Namen sein gesamter lexikalischer Konnotationsbereich. Hier liegt der entscheidende Unterschied zu der
von Pelc beschriebenen traditionellen M etapher. W aren dort die im Text
aktualisierten Eigenschaften des metaphorischen Ausdrucks denen des ersetzten »eigentlichen« Ausdrucks gleich, war somit alles semantische Material des gesetzten Wortes in die metaphorische Struktur einbezogen, so wird
hier nur ein ganz kleiner Teil des aktualisierten Sinnbereichs von der »meta­
phorischen« Beziehung aufgebraucht; der Rest bleibt »freischwebend«.
Traum ist, als »Metapher«, gleich Unsicherheit, K iirze ; Traum ist, als Wort
Untersuchungen zur A rbeitsw eise G eorg H eym s
59
in v .l des Gedichts, aber gleichzeitig jenes W ort »Traum«, fiir das jeder
von uns semantische Bestimmungen hat. Diese »iiberfliissige« Fracht, die
der Text mit sich fiihrt, fasse ich unter den Titel der semcintischen Redundanz.
3. Aus dem RiB der syntaktischen Struktur fallt zweierlei Sinn.
Es ist nicht der doppelte der traditionellen Poetik, als Allegorie, als Sym­
bol; sondern es liegen zw ei nicht mehr notwendig zu vermittelnde Aussagen
vor. Die erste, bisher umfangreich beschriebene, gibt als Sinn, vermittels des
semantischen Nenners, Vergangenheit und KiÅrze. Die zweite, in unserer
Untersuchung sich jetzt erst konstituierende, setzt sich aus der »uberfliissigen« semantischen Fracht zusammen. Sie kann vollig inkoharent sein und
aus disparaten Sinnteilen bestehen. Doch ist das der Fall im vorliegenden
Beispiel nicht. In ihm vereinigen sich auch die redundanten Bereiche14; was
so als zweiter, vom ersten unabhangiger, Sinn entsteht, laBt sich umschreiben mit den subjektiven Konnotationen und Verkniipfungen von Halberwachen, M orgen, Wind, Blumen, Nacht. Eine hochst unbestimmte, durchbrochene »Schilderung« liegt vor; Stichworte eines Tagesablaufs. Die Inter­
pretation dieses zweiten, wenn man so will: konkreteren, Sinnes laBt sich
nicht mehr intersubjektiv uberprufen. Was jedoch iiberpriifbar bleibt, ist das
Faktum seines Vorhandenseins.
Zweierlei Sinn ist demzufolge auch den Versen 5-12 eigen. In ihnen wird
ja, nach der Feststellung, daB die Geliebte tot ist, die aussichtslose und tote
Zukunft »eingekreist«; das ware jedenfalls der Nenner, der (unter Verkniipfung mit soli sein) in G rabtor, Weinen etc. jeweils vorhanden ist. Doch
sind auch sie semantisch redundant; und auch in ihrem Fall verbindet sich
die »iiberfliissige« Fracht zu einem zweiten Sinn, den ich die »Schilderung«,
unbestimmt und durchbrochen wie die erste, eines Friedhofes nennen wurde.
Heims Lyrik wird zu einem seltsamen, schillernden, luftigen Produkt,
dessen Eigenart man gerade dann am besten fassen kann, wenn man traditio­
nelle poetische Kategorien anlegt und ihre Brauchbarkeit wie Unbrauchbarkeit heraushebt. Was namlich in den Versen 1-4 vorliegt, ist der spatmittelalterlich-barocke Pradikationskatalog etwa des Frauenpreises und ist es nicht.
Was zweitens vorliegt, ist der ebenfalls m ittelalterlich-barocke Gedichtein14. Jede zusammensetzende Operation fiihrt natiirlich - auch wenn sie nicht syntaktisch, sondem kombinatorisch verfåhrt - zu einem bestimmten Grad an Determinierung des Einzelwortes durch den »Kontext«. Der Determinationsgrad hangt dabei unmittelbar vom Grad
der Zusammenziehung ab.
60
Gunter Dammann
gang mit Landschaftsentwurf und ist es nicht. Der »Katalog« vermischt sich
mit der »Beschreibung« von Landschaft; so sind beide aufgehoben, aber
vollig veråndert wieder auseinandergelegt in ersten und zweiten Sinn.
V
Die Prinzipien der Interpretation sind, wenn wir den Blick em eut auf die
Entstehung richten, Charaktere der Genese. Das Phånomen der semantischen R edundanz kann so etwa die Vorgånge, die zur Vollendung der ersten,
auch der zweiten, Strophe fiihrten, linguistisch schårfer fassen. Es handelte
sich dabei um, wie ich vorlåufig sagte, Assoziationsprozesse. In ihnen sind
die gegensåtzlichen Kråfte des Redundanz-Phånomens wirksam:
1) Z u einem gegebenen Sinn waren Namen zu finden, die mit einem kleinen
Teil ih res semantischen Bereichs diesen bestimmten Sinn abdeckten. Gesucht
wurden, wenn man es noch so nennen will, Metaphern. Wichtig ist, daB
dieser Mechanismus der Reihung ahnelt und potentiell unabschlieBbar ist.
2) Namen, die nun bereits gesetzt waren, riefen vermittels ihrer nicht-metaphorischen Bedeutung aus dem Sprachbestand andere Namen ab, deren se­
mantische Bezirke sich mit den ihren beriihrten. DaB etwa Traum das Halberwachen herbeiholt, ist - jenseits der Suche nach »M etaphern« fur Unsicherheit - zu erklåren aus einer sprachimmanenten W ortfeldrelation. Es
zeigt sich darin eine dem Text gegeniiber souveråne Kraft der Bedeutung
Traum, die ihren Grund in dem Phånom en der semantischen Redundanz
hat. Auch diese Struktur, die »Uberfliissigkeit«, das »freie Schweben« des
semantischen Potentials drångt zur assoziativen Verbreiterung, zum kontinuierlichen »Weiter-Dichten«.
Und so arbeitet Heym in einer nåchsten Arbeitsstufe die erste, dann die
zweite Strophe zu je mehreren Strophen aus. M ortuae wird gestrichen.
W ir folgen der Weiterentwicklung des Komplexes. Heym kehrt vom Reinschriftheft zu seinen Entwurfsblåttern (Inv.-Nr. 27/7) zuriick und verfaBt auf
Seite 33.1 neben dem zweiten Stichwortentwurf eine neue Fassung. W ir
nennen diese Arbeitsstufe die fiinfte (.5H)\ sie greift, das zeigt auch das Bild
der Handschrift deutlich, auf die War es-Ansåtze aus ((2H )) zuriick:
1
2
3
War es nur w ie ein Schatten
[iiber herbstli]
der kurz auf den Feldern lag,
[unter windigem Tag]
der
Untersuchungen zur A rbeitsw eise Georg H eym s
61
Dieser T extis wird gestrichen; im zweiten Versuch gelingen zwei volle
Strophen, die nach umfangreichen Korrekturen lauten:
1
2
3
4
War es nur w ie ein Schatten,
der [iiber] die Felder schwand
unter w olkigem Tage
zu toten W aldern am Rand,
5
6
7
Kurz, w ie ein halbes Erwachen,
oder ein herbstlicher W ind,
der die Blåtter scheucht auf den StraBen,
8
ehe die N acht beginnt,
- ferner die zwei Zeilen:
oder wie eine Blume
oder wie eine Seele
Der Sinn, den eine Interpretation aus diesen Strophen herauszuholen hatte,
ist uns ja bekannt: Vergangenheit, Kiirze, Unsicherheit. Er ist der gleiche
wie in der ersten Strophe von Einer Toten\M ortuae\ verschieden (und zahlreicher) sind nur die Namen und Satzteile, die ihn vermittels ihres kleinsten
gemeinsamen semantischen Nenners abdecken sollen. Die textbildende Ope­
ration laBt sich zunachst von hier aus wieder fassen: Im Sinnfeld des Transitorischen sind Namen zu erheben, so kommen Schatten, H erbst aufs Papier
und treten zum Grundstock aus Erwachen, Wind, ehe die N acht beginnt.
Doch im selben ProzeB ist die zweite Kraft wirksam und vermutbar. Die
von Syntax freigewordenen Bedeutungen kiihler M orgen, Wind und (vergehende) Blumen treiben aus sich heraus, vermittels ihrer Redundanz, den
ihnen gleichsam zu eng gewordenen alten Text weiter; sie schwellen ihn auf.
In dieser Amplifikation andert sich der zw eite Sinn, derjenige, den die sub­
jektive Interpretation aus der nicht-metaphorischen »iiberfliissigen« seman­
tischen Fracht zusammenstellt. Wieder sehe ich zwar eine »Schilderung«,
eine unbestimmte und stichwortartige wie die erste - aber das Sujet hat sich
geandert, es wird entworfen: herbstliche Landschaft, Wolkenflug, kurze Tage
unter tiefem Himmel.
Nachdem der beredte Elan mit den zitierten zwei anaphorischen Entwurfszeilen bis in die dritte Strophe vorgedrungen ist, versiegt er. Heym versucht
sich auf einem anderen Teil des Blattes an einer Umarbeitung der alten
G ehst Du schon- Strophe, die hier wahrscheinlich als vierte Strophe einge15. Vgl. Anm. 10. - Der unter dem eingeklammerten Text stehende Text ist der ersetzende.
62
Gilnter Dammann
gliedert werden soli, bricht aber bald ab. Die dritte Strophe steht ja noch
aus; an Material dafiir liegen vor:
oder w ie eine Blume
oder wie eine Seele
und - zumindest potentiell - jenes bisher ja noch nicht wieder verwendete
Wort Traum aus v .i von Einer Toten/M ortuae. Nun geschieht etwas Bezeichnendes. Da die Fassung Einer Toten/M ortuae umgeschrieben wird,
durfen wir annehmen, daB Heym das Reinschriftheft mit dem Text M ortuae,
also das Blatt 2V, aufgeschlagen vor sich liegen hat. Auf dem oberen Rand
dieses Blattes 2V befinden sich die beiden SchluBverse des Gedichts D ie Seefahrer, das groBtenteils auf Blatt 2r steht. Die Verse lauten:
Purpurn schw ebend im A ll, w ie mit schonem G esange
U ber den klingenden Grunden der Seele ein Traum.
Da in ihnen von Traum und Seele die Rede ist und es im Augenblick gilt,
M aterial um ( Traum und) Seele zu verarbeiten, »iibernimmt« Heym den
Text dieses anderen Gedichts. E r ersetzt damit nachtraglich den schon fertigen v.7 durch einen neuen (Konnotation A l l : Stem ) und schreibt dann die
dritte Strophe:
(...)
7
8
wie ein Stern im zitternden Abend
ehe die N acht beginnt,16
9
10
11
12
W ie ein W ort im Dunkel verloren
ehe das H erz es begreift
w ie ein Traum uber einsamer Seele
K lingenden Grunden verschweifti?
Dieses Verfahren ist nur scheinbar eigenartig. Denn ob ein Wort, das weil von syntaktischer Verpflichtung frei - durch seine redundanten Sinnbezirke immer neue Namen an sich zieht, diese aus der Sprache erst abruft
oder in Texten schon vorfindet, ist sekundar. Prim ar ist: Namen werden
von Namen her assoziiert, weil der letzteren freischwebende semantische
16. Vgl. Anm. 12.
17. Auch diese Wiedergabe ist um Varianten verkiirzt. Doch sei ein bemerkenswerter Vorgang
angefiihrt: einsamer wird zunachst zu Stern (v. 7) gesetzt und getilgt; daB es spater in
v. 11 wieder erscheint, ist eben zu erklåren aus der Theorie der Redundanz und des
zweiten Sinns. Das Wort wird wohl uber Herbst assoziiert und kann, da dieser - als
zweiter Sinn - unbestimmt und notizartig durch syntaxunabhangige Einzelworter mit Redundanz »geschildert« werden soli, beliebig hin und her geschoben werden.
Untersuchungen zur A rbeitsw eise Georg H eym s
63
Kraft virulent ist. So steht hinter dem Eigenplagiat nichts anderes als das
zweite der beiden Prinzipien, die das »Weiter-Dichten« vorantreiben.
Es entstehen, als letzte dieser Arbeitsstufe, die Strophen 4 und 5. Ich beschrånke mich darauf, zu bemerken, daB sie das M aterial der zweiten Strophe
von Einer Toten/M ortuae verwenden:
13
14
15
16
G ingest D u fort? K om m st D u nicht wieder?
W as ist D ein Auge so leer.
Bist D u schon weit von dannen
U nd horst mich nicht mehr?
17
18
19
20
Sieh s, m eine Hånde. Sie bangen
so nach D einen. D och D u bist kalt
und D eine Finger sind grausam
in ewiger Starre gekrallt.i°
Erst jetzt bekommt das Gedicht seinen Titel; er lautet Totenwache. Die
Totenwache beruht auf dem breitenamplifizierten Material der ersten beiden
Strophen von Einer TotenjM ortuae. Die dritte Strophe dieser vorhergehenden Fassung ist nicht verarbeitet worden.
Heym iibertrågt (Arbeitsstufe 6) den Text in das Reinschriftheft auf Blatt
3r; als Titel wird Totenwache beibehalten. Mitten in v.14 bricht die Abschrift
ab. V.13 und 14 werden getilgt; iibrig bleiben v.1-12, also die ersten drei
Strophen. Der Titel wird geandert in K urze Liebe, dann in Eine Liebe; aus
v .l War es nur wie ein Schatten wird Es war wie ein fliehender Schatten.
Nach einigen weiteren Vorgången lautet der Text:
1
2
3
4
Eine Liebe.
Es war wie ein fliehender Schatten,
der iiber die Felder schwand,
Unter w olkigen H im m eln
zu sterbenden W aldern am Rand,
5
6
7
8
Kurz, w ie ein halbes Erwachen,
oder ein herbstlicher Wind,
w ie ein reiner Stern in der H ohe,
ehe die N acht beginnt.
9
10
11
12
W ie ein W ort, im D unkel verloren,
ehe das H erz es begreift
w ie ein Traum iiber einsam er Seele
klingendem Abgrund entschw eift
Die ehemals einstrophige »Einleitung« ist nun, nach der Absprengung
vom Hauptthem a, ein eigenes Gedicht geworden. Damit entsteht die Gefahr
64
Giinter Dammann
der semantischen Beliebigkeit, denn der erste Sinn dieser Strophen, K iirze
und Vergangenheit, ist an nichts mehr gebunden. So fixiert Heym ihn als
den alten durch den neuen Titel, der K iirze und Vergangenheit als K iirze
und Gewesensein einer L iebe bestim mt18. Das Ende der Liebe selbst, als
Hyperbel: der Tod, mithin der ehemalige Hauptteil, wird in ein zweites
Gedicht integriert. Dieses, in der Arbeitsstufe 7 entstehend, beginnt mit einer
umgearbeiteten Fassung der beiden Reststrophen aus 5H und endet mit einer
Neufassung jener Verse, die in Einer Toten/M ortuae als dritte Strophe eingesetzt und bei der Umarbeitung zur Totenwache nicht aufgenommen worden waren. Dazwischen tritt, als Strophe 3, ein vorbildloser, aber ebenfalls
durch W ort-zu-W ort-Assoziationen gewonnener Text. Das so entstandene
vierstrophige Gedicht wird ins Reinschriftheft (Inv.-Nr. 10, Bl. 3V) eingetragen und lautet:
1
2
3
4
Letzte W ache
w ie dunkel sind D eine Schlafen.
U nd D eine H ande so schwer.
Bist D u schon weit von dannen,
U nd horst m ich nicht mehr.
5
6
7
8
U nter dem flackenden Lichte
bist D u so traurig und alt,
U nd D eine Lippen sind grausam
In ewiger Starre gekrallt.
9
10
11
12
M orgen schon ist hier das Schw eigen
U nd vielleicht in der Luft
noch das Rascheln von Kranzen
U nd ein verwesender Duft
13
14
15
16
A ber die N åchte werden
leerer nun, Jahr um Jahr.
H ier w o D ein Haupt lag, und leise
imm er D ein Atem war 10
So hat sich am Ende des genetischen Prozesses jene Konstellation wiederhergestellt, die ihn einleitete: Dem Stichwortentwurf ((IH )) mit dem H auptthem a war in ((2H )) die »Einleitung« vorgeschaltet worden; diese erscheint
18. Die Fixierung des (durch den semantischen Nenner konstituierten) vagen Sinns vermittels
des Titels, die im Falle Kurze Liebe sogar soweit geht, daB sie den semantischen Nenner
explizit aussagt, ist ein bei Heym haufiges Verfahren. In gewisser Weise trat es schon bei
Einer Tot enjMortuae auf.
Untersuchungen zur A rbeitsw eise G eorg H eym s
65
am SchluB abgespalten als eigenståndiger Text Eine Liebe, wahrend das
Material um Fortgang und Tod der Geliebten restlos in die L etzte Wache
eingeht. ((IH )) wird zu L etzte Wache, ((2H )) zu Eine Liebe, nachdem sie in
Einer Toten, M ortuae und Totenwache hintereinandergeschaltet waren.
VI
Das erste, was wir uber Heyms Arbeit erfuhren, war, daB sie schnell war;
rasche Produktivitåt wurde zu unserem Oberbegriff.
Diese Weise des Schreibens, so nahmen wir an, sei mit der Åsthetik und
den Strukturen des fertigen Textes funktional verbunden. Die Aufgabe sollte
sein, durch eine Analyse des Produktionscharakters zusatzlichen AufschluB
uber einen literarischen Stil zu erhalten. Ich fasse den Gesamtkomplex der
Ergebnisse unter den Titel der K om binatorik.
Kombinatorik meint eine Weise des Zusammenstellens. - Als ein Zusammenstellen konnen wir, um die hier gemeinte Kombinatorik å fond von
ihrern Gegenteil abzuheben, die satzbildende Operation bezeichnen. Ihr liegt
ein ausfiihrlicher BewuBtseinsinhalt zugrunde19. Um diesem sprachlich Ausdruck zu verschaffen, muB nach »genauen« Namen und entsprechender
Syntax gesucht werden; beide, Wortwahl und Satzform, sind in gewissem
MaBe aufeinander bezogen: W ortvarianten bedingen, wenn der BewuBtseins­
inhalt identisch bleibt, obzwar nicht notwendig, Ånderungen der syntaktischen Struktur - wie umgekehrt. So laBt sich die auf einen und denselben
Sinn zielende satzbildende Operation als ein Modell praparieren, in dem
eine Funktion mit den beiden Gliedern Lexikon und Syntax zeichenhafter
Ausdruck flir einen Inhalt ist.
W ird dieser funktionale Zusammenhang aufgehoben: werden mithin
Namen ausgewechselt ohne zugehorige Ånderung der Syntax oder wird die
Satzstruktur geandert ohne zugehoriges Auswechseln der Namen, und soli
doch derselbe Inhalt ausgesagt sein - so ist das, im Ansatz, Kombinatorik.
Sie soli definiert sein als ein Zusammenstellen von W ortern, das nicht
von den Regeln der satzbildenden Operation bestimmt ist. Das reine Beispiel ihrer Definition wird etwa von einer Gruppe angeordneter unflektierter
Substantive geliefert.
19. Die Trennung von Satz und Denkart ist natiirlich unzulassig. Doch fiir unseren Zweck
sind philosophische Absicherungen nicht notig.
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Giinter Dammann
Kombinatorik im strikten Sinn dieser Definition liegt bei Heym nicht vor.
Doch hat die Analyse gezeigt (und eben dafiir war genetische Analyse
notig), daB das Schreibprinzip dieses Autors den Regeln der satzbildenden
Operation nicht mehr gehorcht und also auf dem Wege zur Kombinatorik
ist. Die Funktion zwischen Lexikon und Syntax ist weitgehend aufgehoben.
Diese Feststellung sei in ihrer doppelten Konsequenz an zwei Belegen noch
einmal gezeigt.
Nam en werden ausgewechselt ohne zugehdrige Ånderung der Syntax: In
6H (v. 11 f.) wird der Satz wie ein Traum iiber einsamer Seele / klingenden
Grunden schweift geåndert in (u. a.) wie ein Traum iiber einsamer Seele /
klingenden Grunden entflieht.
D ie Satzstruktur wird gedndert ohne zugehoriges Auswechseln der Namen:
In M arathon II, IH , v.5 (f.), das ish hier vorfiihre, um ein sehr deutliches
Beispiel zu haben, wird aus Sie sehn der Griechen-Panzer hellen Brand
Sie sehn der Griechen Panzer in dem [hellen ] Brand / der M orgensonné
(und endlich Sie sehn der Griechen Panzer Sonnenbrand). (Vgl. HeymNachlaB, Inv.-Nr. 26, Blatt 322, S. 1).
Diesem wie jenem, dem kombinatorischen Prinzip also, mag es sich auch
mit beibehaltenen Resten norm aler Satzbildung mischen, liegt zugrunde, daB
kein genau ausgearbeiteter, sondern ein vager BewuBtseinsinhalt nach Aus­
druck verlangt. Namen, in deren Konnotationen dieser Sinn als Nenner vorkommt, werden gefunden; diese Namen ihrerseits ziehen vermittels der Re­
dundanz neue aus dem Wortfeld heran. So wird, wenn auch nicht mit fremdem, sondern mit zunåchst selbstgeschaffenem Material, kombiniert, aufgefiillt, amplifiziert, spåter - falls notig - geteilt. Was die Kombinatorik
leisten kann, zeigt der Weg von War es und Blumen, die welken in ( (2H ) )
zum Gedicht Eine L iebe in 6H. Aus nichts als einem vagen Sinn und ein
paar W ortern entsteht ein Text; nicht die satzbildende Operation produziert
ihn, sondern die Kreativitåt der Sprache selbst.20
Die Weise des Schreibens, so nahmen wir weiter an, habe ihre Auswirkungen auf die Technik des Arbeitens, auf Schrift und Strophenfertigung.
Die Aufgabe sollte daher auch sein, dies zu beschreiben. Ich fasse das,
20. Zu ahnlichen Sachverhalten wie den hier herausgearbeiteten kommt die genetische Analyse
des Trakl-Nachlasses. Vgl. Walther Killy: iiber Georg Trakl. Gottingen 1960. (=K leine
Vandenhoeck-Reihe 88/89). Vgl. neuerdings - mit erheblicher und berechtigter Kritik an
Killy - Hans-Georg Kemper: Georg Trakls Entwurfe. Aspekte zu ihrem Verstandnis.
Tiibingen 1970. ( = Studien zur deutschen Literatur 19).
Untersuchungen zur A rbeitsw eise Georg H eym s
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was hier, allerdings nicht eigentlich thematisiert, sondern eher implizit, an
Ergebnissen zustandegekommen ist, unter den Titel des pro gr essiven A rbeitens.
Progressives Arbeiten ist, auch in diesem Falle konnen wir vom Gegenteil abheben, nicht jene A rt des Schreibens, die eine Strophe, dann ein Gedicht in einem Zuge vollendet und in mehreren Phasen nachtraglichen
»Besserns« andert. Heym arbeitet sich Zeile um Zeile zum Ende vor, miihsam und hektisch. E r produziert immer neue Ansatze, bis der Vers »steht«,
bricht eine halbfertige Strophe ab, um wieder vom e einzusetzen; er schreitet
sukzessiv voran. Nachtrågliche Varianten kommen vor, sind aber punktuell.
So entspricht die beschreibbare åuBerliche Form der Genese ihren inneren
Prinzipien und denen des Textes. Im progressiven Arbeiten tut sich die
Kombinatorik kund; die Offenheit, UnabschlieBbarkeit des amplifizierenden
Verfahrens zeigen sich in einer Produktion, die rastlos ist; die, stetig arbeitend, wenn sie an einem »Ende« ist, das Produkt wieder zerlegt und neu anordnet, aufschwellt. Die Zeit des Schreibens ist liickenlos; hinter dem kontinuierlichen output steht die Obsession einer Kombiniermaschine. Deshalb
dichtete er eigentlich immer, auch wenn er nicht immer (anekdotisches
humanum) in vollem A nzug ins W asser sprang.