Ich möchte glauben lernen - Dietrich-Bonhoeffer

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Ich möchte glauben lernen - Dietrich-Bonhoeffer
1
Karl Martin
Wiesbaden, Januar 2005
Ich möchte glauben lernen
Die Wandlungsprozesse in der Biographie Dietrich Bonhoeffers1
Die Jahre 2005 und 2006 sind in besonderer Weise dem Gedenken Dietrich Bonhoeffers gewidmet. 2005 ist es 60 Jahre her, dass Bonhoeffer am 9. April 1945 im Konzentrationslager
Flossenbürg, an der deutsch-tschechischen Grenze gelegen, ermordet wurde. 2006 jährt sich
sein 100. Geburtstag am 4. Februar 1906 in Breslau. Bonhoeffers Geburtsstadt südöstlich von
Berlin in Schlesien, jenseits der Oder, gehörte damals noch zu Deutschland. Heute liegt sie
auf polnischem Staatsgebiet.
Bereits 1933 gilt Bonhoeffer als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. Er tritt für die
Pflicht der Christen zum Widerstand gegen staatliche Unrechtshandlungen ein. Als Mitarbeiter der Bekennenden Kirche wird er zu einem der führenden Theologen der kirchlichen Oppositionsbewegung. 1938 wird Bonhoeffer in die Staatsstreichplanungen eingeweiht, die
schließlich zum 20. Juli 1944 geführt haben. Er benutzt seine kirchlich-ökumenischen Kontakte, um im Ausland politische Unterstützung für den Widerstand in Deutschland zu suchen.
1943 wird Bonhoeffer verhaftet und bleibt ohne Gerichtsverfahren im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis in Berlin-Tegel inhaftiert. Hier entstehen die Briefe und Texte, die nach dem
Krieg von seinem Freund Eberhard Bethge unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“2 herausgegeben wurden. Zu den sehr bekannten Texten gehört das Gedicht vom Dezember 1944
– also wenige Monate vor seiner Hinrichtung -: „Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.“3 Das Gedicht findet sich heute als Kirchenlied oder
als Gebet in den evangelischen und katholischen Gesangbüchern des deutschen Sprachraumes. Damals diente es als ein Weihnachtsgruß des Gefangenen an seine Verlobte, an seine
Eltern und an seine Geschwister.
Von der Gestalt Bonhoeffers geht bis heute eine besondere Faszination aus. Er war ein glänzender Theologe, der vielfältigste Impulse vermittelte. Weltweit setzt man sich mit seiner
Person und seinen Gedanken auseinander. Es stellt sich die Frage, was das Besondere an ihm
ist. Gute Theologen hat es auch in jüngster Zeit immer wieder gegeben. Warum weckt gerade
Bonhoeffer das Interesse so vieler Menschen weit über den kirchlichen Bereich hinaus? Meines Erachtens ist hier der enge Zusammenhang zwischen „Theologie und Biographie“4 zu
nennen. Bei Bonhoeffer sind akademische Theologie und persönliche Lebensgestaltung nicht
getrennte Welten, sondern miteinander verbunden wie in einem System kommunizierender
Röhren. Theologie ist für ihn nur glaubhaft, wenn sie auch gelebt wird. Umgekehrt bedürfen
die Nöte und Aporien des Leben, wenn ihre Aufarbeitung fruchtbar werden soll, einer Klärung und Zuspitzung im Kontext theologischer Fragestellungen und Sinnhorizonte.
1
Bei dem Text handelt es sich um einen Vortrag, den der Verfasser am 23. Januar 2005 in Casale Monferrato
(AL) in Norditalien gehalten hat. Die Vortragsveranstaltung fand statt im Rahmen der „Giornata della Memoria“, die von der Diözese und Kommune von Casale Monferrato ausgerichtet wurde.
2
Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung – Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. In der Reihe:
Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW) Band 8, Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 1998. Die
17bändigen Dietrich Bonhoeffer Werke sind herausgeben von Eberhard Bethge, Ernst Feil, Christian Gremmels,
Wolfgang Huber, Hans Pfeifer, Albrecht Schönherr, Heinz Eduard Tödt (†), Ilse Tödt.
3
DBW 8, 607 f.
4
Vgl. Christian Gremmels/Hans Pfeifer, Theologie und Biographie – Zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer, Chr.
Kaiser Verlag München 1983.
2
In seinem Bergpredigt-Buch „Nachfolge“5 hatte Bonhoeffer geschrieben, dass „eine Erkenntnis nicht getrennt werden kann von der Existenz, in der sie gewonnen ist.“6 Diese Einsicht ist
nicht nur wichtig für das Verständnis fremder Texte. Genauso wichtig ist es, dass wir sie auf
das eigene Reden anwenden. Theologische Sätze, die nichts mit unserer eigenen Existenz zu
tun haben, sind wertlos und sollten unterbleiben. Bonhoeffer geht sogar noch einen Schritt
weiter. Die Glaubwürdigkeit theologischer Sätze, die etwas mit ihrer Verwurzelung in der
eigenen Existenz zu tun hat, reicht nicht aus. Sie ist zwar notwendige Vorbedingung, jedoch
noch kein ausreichendes Legitimationskriterium. Es muss die Praxisrelevanz hinzukommen.
Mit den Worten Bonhoeffers: „Theologie ist ein Hilfsmittel, ein Kampfmittel, nicht Selbstzweck.“7 Hilfsmittel soll die Theologie sein bei den innerkirchlichen Auseinandersetzungen
„über wahre und falsche Verkündigung“8 (man denke für Bonhoeffers Lebenszeit hier besonders an den Kirchenkampf zwischen „Bekennender Kirche“ und „Deutschen Christen“). Ein
Kampfmittel soll die Theologie sein beim Kampf um die öffentliche Meinung und bei der
politischen Auseinandersetzung mit der Pseudoreligion des Nationalsozialismus. Theologie
als Selbstzweck wird von Bonhoeffer abgelehnt. Selbstzweck wäre die Theologie, wenn sie
sich damit begnügte, die Theologietreibenden mit einem Gefühl der Selbstzufriedenheit auszustatten. Genauso selbstzwecklich wäre es, wenn die Theologie sich zur Abstützung innerkirchlicher Herrschaftsverhältnisse oder zur Begründung staatskirchenrechtlicher Privilegien
missbrauchen ließe.
Dietrich Bonhoeffer ist 39 Jahre alt geworden. Seine Lebenszeit ist prall angefüllt mit Erlebnissen und Begegnungen, Grenzüberschreitungen und neuen Erfahrungen. Die sich im
Deutschland der dreißiger Jahre bis Anfang der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts überstürzenden Ereignisse haben ihm immer wieder neue Themen vor die Füße gerollt: den Kirchenkampf, die sogenannte „Judenfrage“, das Eintreten für die Ökumene aller Christen, die Friedensfrage und den christlichen „Pazifismus“, den Widerstand und die Entwicklung von Konzepten für den politisch-gesellschaftlichen Wiederaufbau nach dem Kriege. Ist es möglich, ein
solches Leben, eingebunden in die vielfältigsten Bezüge und heute vor uns ausgebreitet in
einem vieltausendseitigen Nachlass, auf einen „Begriff“ zu bringen? Gibt es ein Stichwort,
das geeignet wäre, die zentralen Motive seines Denkens und Wirkens zu benennen und zusammenzufassen? Bonhoeffer selbst wagt einen Vorschlag. Er formuliert als Überschrift für
sein Leben: „ich möchte glauben lernen“9. In dem Brief an seinen Freund Eberhard Bethge
vom 21. Juli 1944 schreibt Bonhoeffer: „Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich vor 13
Jahren in Amerika mit einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach
die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: ich möchte ein
Heiliger werden (- und ich halte es für möglich, daß er es geworden ist -); das beeindruckte
mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: ich möchte glauben
lernen.“10
Der christliche Glaube – nicht ein statisches, als Besitz erwerbbares oder als Mitgliedschaftsrecht verfügbares Personenmerkmal, sondern ein Lernprozess. Diese These ist typisch für
Dietrich Bonhoeffer. So hat er gelebt und immer wieder neu die Herausforderungen seines
Lebens – als Lernender – bewältigt. Selbstverständlich meint Lernen hier nicht die Aneignung
5
Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge = DBW 4.
DBW 4, 38.
7
GS 3, 423 = DBW 16, 496. Vgl. auch Tiemo Rainer Peters, Die Präsenz des Politischen in der Theologie Dietrich Bonhoeffers – Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht. In der Reihe: Gesellschaft und
Theologie Systematische Beiträge Nr. 18. Chr. Kaiser Verlag München / Matthias-Grünewald-Verlag Mainz
1976, Seite 53 f.
8
DBW 16, 496
9
DBW 8, 542.
10
DBW 8, 541 f.
6
3
von Fachwissen (und sei es von theologischem Fachwissen), sondern das Hineinwachsen in
mehr Vertrauen. Der Glaubende führt sein Leben in diesem Vertrauen. Er trifft seine Entscheidungen im Horizont dieses Vertrauens. Er wagt es, ungeschützt in offene Situationen
einzutreten, weil er sich von diesem Vertrauen geborgen weiß. Das Besondere des Lernens
von Vertrauen – im Unterschied zur Aneignung von Fachwissen – besteht darin, dass Vertrauen nicht vorweg erklärt oder testweise ausprobiert werden kann. Man kann es sich im
Grunde auch nicht vornehmen, Vertrauen zu lernen. Jede Absicht, jede bewusste Selbstbeobachtung würde hier alles im Keim zerstören. Vertrauen kann nur im Vollzug – sozusagen
ohne Sicherheitsnetz – gelebt und erfahren werden. Nur dem, der bereits vertraut, wird sich
der erhoffte Lernzuwachs erschließen. Christen sollen sich in der Unbekümmertheit kindlichen Vertrauens den Aufgaben ihres Lebens stellen. Sie werden aus dieser Glaubenshaltung
heraus alle Kräfte finden, die sie für ihre jeweilige Situation benötigen.
Glaube als Lernprozess – diese These umfasst den doppelten Aspekt des Glaubens und des
Lernens. Neben die Notwendigkeit, sich in den Vollzug des Glaubens und Vertrauens hineinzubegeben, tritt die Bereitschaft, sich im Verlauf des Vollzuges durch Erfahrung, Einsicht und
Lernen verändern zu lassen. Die eigene Person einem Veränderungsprozess aussetzen – auch
das ist Glaube als Lernprozess. Dietrich Bonhoeffer ist ein besonders gutes Beispiel für eine
solche Haltung. Bei ihm finden sich sowohl die Bereitschaft zu vertrauen als auch die Fähigkeit, Veränderungen zuzulassen. Ich möchte dies verdeutlichen, indem ich im Folgenden die
Wandlungsprozesse in seiner Biographie beschreibe. Angeregt worden bin ich zu meinen Überlegungen durch die berühmte Bonhoeffer-Biographie von Eberhard Bethge11. Dort wird
dargelegt, Bonhoeffer habe in seiner Biographie zwei besonders markante Lern- und Veränderungsprozesse durchlaufen. Die erste Veränderung nennt Bethge „Die Wendung vom Theologen zum Christen“12, die zweite betitelt er „Die Wendung des Christen zum Zeitgenossen“13. Über beide Wandlungsprozesse14 möchte ich – in der gebotenen Kürze – berichten, um
in einem Schlussabschnitt noch einmal die These vom Glauben als Lernprozess zu vertiefen.
Die Wendung Dietrich Bonhoeffers vom Theologen zum Christen15
Dietrich Bonhoeffer stammte aus einem Elternhaus des gehobenen Bildungsbürgertums. Bereits während der letzen Semester seines Theologiestudiums in Berlin schreibt er seine Dissertation. Mit 21 Jahren ist er fertig studiert und promoviert. Sein Lehrvikariat absolviert er in
Spanien. Zu seinen Aufgaben in der deutschen Gemeinde Barcelonas gehört die Mitarbeit bei
den üblichen Pflichten des Gemeindepfarrdienstes: Predigt, Kindergottesdienst, Seelsorge,
Veranstaltungen. Zusätzlich hält Bonhoeffer gelegentlich Vorträge. Berühmt ist sein Vortrag
„Grundfragen einer christlichen Ethik“16 geworden, weil darin das damals allgemein übliche
theologische Denken zum Ausdruck kommt. Bonhoeffer hat zu Beginn seines beruflichen
Werdegangs - also noch vor seiner „Wendung“ vom Theologen zum Christen – volkskirchlich-lutherisch-nationalkonservative Positionen vertreten. „Ethik ist Sache des Blutes und
11
Vgl. Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer: Theologe – Christ – Zeitgenosse. Chr. Kaiser Verlag München 5.
Aufl. 1983. In Zukunft zitiert als: DB.
12
DB 246 ff.
13
DB 760 ff.
14
Beide Wandlungsprozesse werden nebeneinandergestellt. Auf die Unterschiede, was ihre Art und ihren Charakter betrifft, wird hier nicht näher eingegangen. Die Unterschiede werden benannt und kommentiert in dem
Vortrag von Karl Martin, Die Wendung Dietrich Bonhoeffers vom Theologen zum Christen – Biographische
Hintergründe für Bonhoeffers ökumenische Friedensethik und Theologie, in: Zeitschrift „Verantwortung“
33/2004, S. 6 ff.
15
Eine ausführlichere Darstellung, als sie hier möglich ist, findet sich bei Karl Martin, a.a.O., S. 6-26.
16
DBW 10, 323 ff.
4
Sache der Geschichte“17, lässt er seine Zuhörer wissen. „Es gibt eine deutsche Ethik und eine
französische Ethik wie eine amerikanische Ethik“18. Das Spezifische der christlichen Ethik ist,
dass sie „den Menschen unmittelbar Gott unterstellt“19: „es gilt, sich bei ethischen Entscheidungen unter den Willen Gottes zu stellen, sein Handeln sub specie aeternitatis [im Angesicht
der Ewigkeit] zu bedenken und dann mag es laufen, wie es will, es läuft richtig.“20 Es gibt
keine verbindlichen ethischen Normen, die jederzeit und überall zu befolgen wären. Auch
Gott selbst ist in seinen ethischen Forderungen diffus. Wenn im Krieg Nächsten- und Feindesliebe zu einem Entweder-Oder werden, werde ich mich für die Nächstenliebe entscheiden:
„ich werde meinen Bruder, meine Mutter, mein Volk schützen, und weiß doch, daß das nur
durch Blutvergießen geht, aber die Liebe zu meinem Volk wird den Mord, wird den Krieg
heiligen“21. Jedes mal stocke und zögere ich, wenn ich diese Sätze zitieren soll. Sie passen
nicht zu dem uns vertrauten Bonhoeffer-Bild. Dennoch muss ich darauf eingehen, weil sie uns
den Bonhoeffer vor seiner „Wendung“ vom Theologen zum Christen vor Augen führen.
Am 8. Februar 1929 hat Bonhoeffer seinen Barcelona-Vortrag gehalten. Wenige Tage später
ist sein Lehrvikariat beendet. Bonhoeffer kehrt nach Berlin zurück. Er wird Assistent für systematische Theologie und schreibt seine Habilitationsarbeit. Im Juli 1930 absolviert Bonhoeffer das Zweite Theologische Examen. Im gleichen Monat erfolgt seine Habilitation für systematische Theologie mit Probevorlesung und öffentlicher Antrittsvorlesung. Die Ordination in
den geistlichen Stand wird vom Konsistorium zurückgestellt, weil Bonhoeffer noch nicht das
vorgeschriebene Alter von 25 Jahren hat. In dieser Situation ist es höchst willkommen, dass
ihm ein Stipendium für einen einjährigen Studienaufenthalt am Union Theological Seminary
zu New York bewilligt wird. Von September 1930 bis Juni 1931 hält sich Bonhoeffer in den
USA auf. Nach seiner Rückkehr gehören die ökumenischen Kontakte fortan zu seinem Wirken. Im August 1934 findet auf der Insel Fanö in Dänemark eine große ökumenische Tagung
statt. Bonhoeffer wird als Internationaler Jugendsekretär gebeten, ein Referat zu übernehmen.
Seine Fanö-Rede, die damals schon Aufmerksamkeit erregte, gehört mittlerweile zu den klassischen Friedenszeugnissen der Christenheit.
Es geht uns um die Wendung Bonhoeffers vom Theologen zum Christen. Die Fanö-Rede belegt, dass sich eine Wendung vollzogen hat. Bonhoeffers Denken, seine theologischen Auffassungen haben sich verändert. Worte von der Heiligung des Mordes und des Krieges würden ihm nicht mehr über die Lippen kommen. Er ist auf dem Weg von Barcelona nach Fanö –
dieser Weg umfasst eine Zeitspanne von fünf Jahren – zum Repräsentanten einer ökumenischen Friedensethik geworden. Der Wille Gottes hat seine frühere Diffusität abgelegt. Er ist
jetzt eindeutig geworden. Gott will Frieden. Der Friede ist ein Gebot. Das Gebot fordert Gehorsam. „Zum Gebot gibt es ein doppeltes Verhalten: den unbedingten, blinden Gehorsam der
Tat oder die scheinheilige Frage der Schlange: sollte Gott gesagt haben? Diese Frage ist der
Todfeind des Gehorsams, ist darum der Todfeind jeden echten Friedens.“22 Die Argumentation in der Fanö-Rede schreitet voran zu der Frage, wie Schritte zum Frieden konkret aussehen
können. Im Zusammenhang mit dieser Frage macht Bonhoeffer darauf aufmerksam, dass es
die Unterscheidung zwischen Friede und Sicherheit zu beachten gilt: „Es gibt keinen Weg
zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muß gewagt werden, ist das eine große
Wagnis, und läßt sich nie und nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung. Sicherheiten fordern heißt Mißtrauen haben, und dieses Mißtrauen gebiert wiederum Krieg.
17
DBW 10, 323.
DBW 10, 323.
19
DBW 10, 330.
20
DBW 10, 333.
21
DBW 10, 338.
22
DBW 13, 298 f.
18
5
Sicherheiten suchen heißt sich selbst schützen wollen. Friede heißt sich gänzlich ausliefern
dem Gebot Gottes“23.
Im Zentrum von Bonhoeffers ökumenischer Friedensethik steht die geschwisterliche Beziehung zwischen allen Christen, die stärker als alle weltlichen Bande zählt und jede Kriegs- und
Gewalthandlung gegeneinander ausschließt. Die Kirchen- und Christuszugehörigkeit steht
über der früher betonten Volkszugehörigkeit. Christen „können nicht die Waffen gegeneinander richten, weil sie wissen, daß sie damit die Waffen auf Christus selbst richteten“24 – und
damit nicht nur Christus erneut töteten, sondern auch ihren eigenen Glauben zerstörten. Die
„Kirche Christi lebt zugleich in allen Völkern und doch jenseits aller Grenzen völkischer,
politischer, sozialer, rassischer Art“25. Genau diese zentrale Einsicht hat Bonhoeffer während
seines USA-Aufenthaltes vom September 1930 bis Juni 1931 „gelernt“. Am Union Theological Seminary zu New York kommt er mit Studenten aus vielen Ländern, Nationen und Denominationen zusammen. Bonhoeffer befindet sich selbst im Status eines Ausländers und ist
gezwungen, auf neues zuzugehen, sich neue Beziehungs- und Bezugskoordinaten aufzubauen.
Besonders eindrücklich wird für ihn seine Mitarbeit in der Abessinian Baptist Church, einer
Gemeinde von Schwarzen im New Yorker Stadtteil Harlem. Die Schwarzen sind im Amerika
der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts immer noch eine entrechtete, ausgeschlossene
Bevölkerungsgruppe. Für Bonhoeffer zeigt das Evangelium die Kraft, Gräben der sozialen
und rassischen Distanz, der Ausgrenzung und der Verachtung zuzuschütten und Menschen in
echter Solidarität miteinander zu verbinden.
Die Wendung vom Theologen zum Christen wird durch eine neue, vom Evangelium als Brücke und Verbindungsglied ermöglichte soziale Grunderfahrung ausgelöst. Verstärkend für den
Lern- und Umdenkprozess kommen die Ausbildungsinhalte hinzu, mit denen sich Bonhoeffer
auf dem Union Theological Seminary auseinandersetzen muss. Auf der Suche nach den Voraussetzungen für das ihm in vielerlei Hinsicht fremde amerikanische Denken hat sich Bonhoeffer intensiv mit dem Pragmatismus und Behaviorismus beschäftigt. Er stößt auf den Zusammenhang von Wissen, Handeln und Wirklichkeit. In einem Kurzreferat über William James referiert er dessen These, dass das „Wissen, das sich durch sein Handeln als wirklich erweist, ‚Gott’“26 genannt werden könne. In den gleichen Zusammenhang von Wissen, Handeln
und Wirklichkeit gehört seine Auseinandersetzung mit dem social gospel und der Bergpredigt. Es vollzieht sich bei ihm eine „Abkehr vom Phraseologischen zum Wirklichen“27. Bonhoeffer „lernte, was der deutschen Theologie an Wirklichkeit fehlte und welche echten theologischen Fragen hinter den ethischen und gesellschaftspolitischen Herausforderungen der
Kirchen standen.“28 Im Zusammenhang mit seiner Wendung eröffnet sich Bonhoeffer auch
ein neuer Zugang zur Heiligen Schrift. Er liest die Bibel mit neuen Augen. Er entdeckt den
Wirklichkeitsbezug der biblischen Texte. In ihnen findet Beschreibung von Wirklichkeit statt
bzw. wird Veränderung von Wirklichkeit intendiert. Das eigene Leben und Verhalten wird
herausgefordert. Aus der Entdeckung dieses Wirklichkeitsbezuges erwächst eine deutliche
Verstärkung von Bonhoeffers Frömmigkeit.
Es gibt ein Dokument aus späterer Zeit, in dem Bonhoeffer rückblickend etwas ausführlicher
auf seine erste Wendung zu sprechen kommt. Es handelt sich um den sehr persönlichen Brief
vom 27. Januar 1936. Wörtlich schreibt er dort: „Ein wahnsinniger Ehrgeiz ... machte mir das
23
DBW 13, 300.
DBW 13, 299 f.
25
DBW 13, 299.
26
DBW 10, 668.
27
DBW 10, 588 ff.
28
DBW 10, 601.
24
6
Leben schwer und entzog mir die Liebe und das Vertrauen meiner Mitmenschen. Damals war
ich furchtbar allein und mir selbst überlassen. Das war sehr schlimm. Dann kam etwas anderes, etwas, was mein Leben bis heute verändert hat und herumgeworfen hat. Ich kam zum
ersten Mal zur Bibel. Das ist auch wieder sehr schlimm zu sagen. Ich hatte schon oft gepredigt, ich hatte schon viel von der Kirche gesehen, darüber geredet und geschrieben – und ich
war noch kein Christ geworden, sondern ganz wild und ungebändigt mein eigener Herr. ... Ich
hatte auch nie, oder doch sehr wenig gebetet. Ich war bei aller Verlassenheit ganz froh an mir
selbst. Daraus hat mich die Bibel befreit und insbesondere die Bergpredigt. Seitdem ist alles
anders geworden. Das habe ich deutlich gespürt und sogar andere Menschen um mich herum.
Das war eine große Befreiung. Da wurde mir klar, daß das Leben eines Dieners Jesu Christi
der Kirche gehören muß. Dann kam die Not von 1933. Das hat mich darin bestärkt. ... Der
christliche Pazifismus, den ich noch kurz vorher ... leidenschaftlich bekämpft hatte, ging mir
auf einmal als Selbstverständlichkeit auf. Und so ging es weiter, Schritt für Schritt. Ich sah
und dachte gar nichts anderes mehr. ... Wenn wir doch durchhalten könnten!“29
Die Wendung des Christen zum Zeitgenossen, oder:
Bonhoeffers Entschluss, sich an Widerstand und Konspiration zu beteiligen30
Eberhard Bethge unterscheidet in seiner Bonhoeffer-Biographie fünf verschiedene Stufen des
Widerstandes: „erst den einfachen passiven Widerstand, dann den offenen ideologischen, bei
dem die Kirchen bzw. Männer wie Graf Galen, Niemöller und Wurm ihre Aufgabe erfüllten –
ohne freilich eine neue politische Zukunft zu konzipieren und anzustreben; zum dritten die
Stufe der Mitwisserschaft an Umsturzvorbereitungen, in die auch Amtsträger der Kirche hineingerieten wie etwa Asmussen, Dibelius, Gruber oder Hanns Lilje; schließlich die vierte
Stufe aktiver Vorbereitungen für das Danach, die ihren vornehmsten Vertreter in Moltke hat,
wozu aber auch Steltzer, Poelchau oder Hammelsbeck rechnen; und endlich die letzte Stufe
der aktiven Konspiration, zu der ein Angehöriger evangelisch-lutherischer Tradition den
schwersten Zugang hatte, weil diese Tradition so etwas nicht vorsah.“31
Die ersten Jahre nach 1933 waren für Bonhoeffer mit dem einfachen passiven Widerstand und
vor allem mit dem offenen ideologischen Widerstand angefüllt. Der Kirchenkampf, die Auseinandersetzung zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche sowie Bonhoeffers
ökumenisches Engagement gehören in diese Zeit. Auf dem Hintergrund von Expansionspolitik, Aufrüstung und drohender Kriegsgefahr sieht Bonhoeffer in der Friedensfrage eine zentrale Herausforderung für die Christenheit. Er fordert, dass sich die Christen und Gemeinden
schützend vor die Ausgestoßenen und Verfolgten zu stellen und für deren Rechte einzustehen
hätten. Bonhoeffer wird zunehmend skeptisch, ob seine Kirche zu einer solchen Großherzigkeit, Mitleidsempfindung und Verantwortungsübernahme in der Lage ist. Statt „Kirche für
andere“32 zu sein, behandelt sie sich wie einen Selbstzweck. „Unsere Kirche, die in diesen
Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig,
Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu
sein“33, resümiert Bonhoeffer.
29
DBW 14, 112 f.
Die Wendung des Christen zum Zeitgenossen vollzieht Bonhoeffer 1939 mit seiner Rückkehr aus New York.
Näheres darüber bei Karl Martin, Warum kehrte Dietrich Bonhoeffer 1939 aus New York nach Deutschland
zurück?, in: Zeitschrift „Verantwortung“ 27+28/2001, S. 12-15.
31
DB, 890.
32
DBW 8, 560.
33
DBW 8, 435.
30
7
Der Übergang in die dritte Stufe des Widerstandes, nämlich in die Mitwisserschaft an Umsturzvorbereitungen, vollzog sich naturgemäß allmählich. Spätestens ab 1938 können wir von
einer vollumfänglichen Mitwisserschaft ausgehen. Sein Schwager Hans von Dohnanyi, erst
als persönlicher Referent des Justizministers, dann ab dem 25. August 1939 als Mitarbeiter im
Stab des Admirals Canaris im Oberkommando der Wehrmacht (OKW)34, versorgte Bonhoeffer kontinuierlich mit wichtigen Informationen. Bonhoeffer erhielt einen Überblick über die
Art und das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen. Ebenso hörte er von den Aktivitäten der Widerstandes. Dohnanyi sorgte dafür, dass sich Gelegenheit ergab, Bonhoeffer dem
engeren Kreis der Verschwörer vorzustellen35. Als die Verfolgung der Juden und der anderen
outcasts immer ungeheuerlichere Ausmaße annahm und es mit dem verbalen Eintreten für
diese Menschen und der Mitwisserschaft der Verschwörungsaktivitäten nicht mehr sein Bewenden haben konnte, hat Bonhoeffer sich für die Beteiligung am Attentat gegen Hitler entschieden. Er betrat die vierte und fünfte Stufe des Widerstands, nämlich die aktive Vorbereitung für das Danach und die aktive Konspiration36. Dies war ein Akt der Solidarität mit tödlich bedrohten Menschen. Die Verschwörer nahmen es auf sich, dass sie auch für ihre eigene
Person in eine tödliche Bedrohung gerieten.
Bonhoeffer hat sich „entschieden“ – diese Formulierung klingt nach einem klaren Entscheidungs- und Bewusstseinsvorgang. In Wahrheit ist dieser Prozess sehr diffus und für Bonhoeffer selbst anfangs weitgehend undurchsichtig verlaufen. Der Entscheidungsprozess beginnt
sogar mit einer Fluchtbewegung – als wollte sich Bonhoeffer, die Konsequenzen einer Entscheidung ahnend und fürchtend, entziehen. In der damaligen Situation ist es absolut rational,
vernünftig und nachvollziehbar gewesen auszuweichen. Niemand – weder Bonhoeffer noch
seine Angehörigen und Freunde – haben daran etwas negatives, spektakuläres oder auffälliges
erblickt. Äußerlicher Anlass für die Fluchtbewegung ist die 1938 drohende Musterung. Bonhoeffer will der Einberufung in die Wehrmacht und dem Eid auf Adolf Hitler aus dem Weg
gehen. Es gelingt ihm, sich von seinen amerikanischen Freunden eine Einladung in die USA
zu besorgen. Der Vater mit seinem berühmten Namen und seinen Beziehungen verwendet
sich für seinen Sohn. Das zuständige Wehrmeldeamt stellt für die Beurlaubung eine Unbedenklichkeitsbescheinigung über ein Jahr aus. Am 2. Juni 1939 kann Bonhoeffer die Reise
antreten – seine zweite USA-Reise.
In New York haben seine Freunde alles für ihn vorbereitet. Quartier, Einladungen zu Vorlesungen und Vorträgen, Aufgaben in der Emigrantenbetreuung. Aber auf diese Angebote kann
Bonhoeffer nicht offen und unbefangen zugehen, weil ihn die „Zweifel am eigenen Weg“37
zusehends in Unruhe versetzten. „ ... bin ich doch ... ausgewichen ... ?“38 „ ... werde ich hier
jemals wirklich sinnvolle Arbeit tun können? – Beunruhigende politische Nachrichten....
Wenn es jetzt unruhig wird, fahre ich bestimmt nach Deutschland. Ich kann nicht allein draußen sein. Das ist mir ganz klar. Ich bin ja doch drüben.“39 Bonhoeffer teilt seinen Freunden
gut zwei Wochen nach seiner Ankunft, die eigentlich der Beginn eines einjährigen Aufenthaltes sein sollte, mit, dass er sich zur Rückkehr entschlossen habe. Als Gründe nennt er die
Rückkehrversprechen, die er der Familie, seinen Freunden und der Bekennenden Kirche gegeben hat, sowie die von ihm gespürte Pflicht zur Teilnahme am Kirchenkampf und an den
politischen Auseinandersetzungen. Losungsworte bestärken ihn in seiner Haltung wie das
34
DB, 702 ff.
DB, 704.
36
Am 4. September 1940 wird Bonhoeffers Uk-Stellung durch das „Amt Canaris“ ausgesprochen, vgl. DBW 16,
715. Am 14. Januar 1941 wird die Uk-Stellung endgültig vollzogen, vgl. DBW 16, 717.
37
DBW 15, 219.
38
DBW 15, 218.
39
DBW 15, 224.
35
8
Zitat aus Jesaja 28,16: „Wer glaubt, der flieht nicht.“40 In dem Amerika-Tagebuch findet sich
am Schluss der Eintragung für den Entscheidungstag des 20. Juni 1939: „Am Ende des Tages
kann ich nur bitten, daß Gott ein gnadenvolles Gericht üben möge über diesen Tag und alle
Entscheidungen. Es ist nun in seiner Hand.“41 In der Nacht vom 7. auf den 8. Juli 1939 begibt
sich Bonhoeffer auf das Schiff, das ihn vorzeitig zurück nach Europa bringen wird.
Die Folgen, die mit dem Eintritt in den aktiven Widerstand verbunden sein können, waren
Bonhoeffer bekannt und bewusst. Sie galten ihm als „freiwilliges Leiden“42. Er kannte die
Skepsis oder gar den Hohn derer, die „freiwilliges Leiden“ als Selbsttäuschung einschätzen,
indem sie behaupten: Der wirklich Freie entziehe sich dem Leiden; wer im sogenannten
„freiwilligen Leiden“ ausharre, zeige damit seine Unfreiheit; er habe sich – selbst wo er sein
Freisein behaupte – im Grunde in die viel stärkeren Bindungen von Gewohnheit, Trägheit,
Angst und religiösen Zwangsvorstellungen „freiwillig“ eingefügt. Gegen diese landläufige
Meinung, es gebe eigentlich kein „freiwilliges Leiden“, gegen die Bestreitung einer Verantwortung, die das Tragen solcher Folgen einschließt, hat Bonhoeffer mit der ganzen Kraft seiner Seele aufbegehrt, weil sie die Ethik zerstört und den Glauben ad absurdum führt. Er wollte
sich vor dem letzten Schritt in die Konspiration – obwohl ihm dies entscheidende Motiv vor
Beginn seiner zweiten USA-Reise selbst noch unbewusst war – prüfen, ob er wirklich in
Freiwilligkeit handelt. Mit anderen Worten: Er war sich unsicher, von Skepsis erfüllt gegen
sich selbst. Ihm ging es darum zu erfahren, ob wirklich er selbst es ist, der diese Entscheidung
will und aus eigenem, freiem Willen vollzieht. Das ist der tiefste Grund für seine USA-Reise
gewesen: eine Situation realer Freiwilligkeit herzustellen, weil nur Entscheidungen, die in
einer solchen Situation gefällt werden, Tragfähigkeit besitzen und behalten. Bonhoeffer, der
diese Entscheidung in der Mitte seines Glaubens getroffen hat, um sie dann ganz in Gottes
Hände zu geben, wollte sich durch persönliche Leidensbereitschaft am Offenbarmachen der
Gottes- und Menschenfeindlichkeit des Nationalsozialismus beteiligen – das Offenbarmachen
ist der erste Schritt zur Entmachtung des sich verbergenden und verstellenden Unrechts. Deswegen ist diese Leidensbereitschaft so wichtig, weil die mit dem Leiden freigesetzten geistigen und geistlichen Kräfte zur Entmachtung des Nationalsozialismus führen.43
Schlussbemerkungen, oder:
Glauben lernen in der Diesseitigkeit des Lebens
In der Einleitung zu meinen Ausführungen habe ich Bonhoeffers Brief an seinen Freund Eberhard Bethge vom 21. Juli 1944 erwähnt. Aus diesem Brief stammt das Zitat „ich möchte
glauben lernen“44. Ich wiederhole noch einmal das Zitat, erweitert um die wenigen Sätze, die
von dem Ort des Lernens in der Diesseitigkeit des Lebens sprechen: „Ich erinnere mich eines
Gespräches, das ich vor 13 Jahren in Amerika (bei meinem ersten USA-Aufenthalt; K.M.) mit
einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was
wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: ich möchte ein Heiliger werden (- und
ich halte es für möglich, daß er es geworden ist -); das beeindruckte mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: ich möchte glauben lernen. Lange Zeit habe ich
die Tiefe dieses Gegensatzes nicht verstanden. Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem
40
DBW 15, 233.
DBW 15, 229.
42
DBW 15, 397.
43
Vgl. in Bonhoeffers Buch „Nachfolge“ die Sätze von der Überwindung des Bösen: „Das willige Leiden ist
stärker als das Böse, es ist der Tod des Bösen. Es gibt also auch keine denkbare Tat, in der das Böse so groß und
stark wäre, daß es nun doch eine andere Haltung des Christen erforderlich machte. Je furchtbarer das Böse, desto
bereitwilliger zum Leiden soll der Jünger sein“ (DBW 4, 136 f.).
44
DBW 8, 542.
41
9
ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte. ... Später erfuhr ich und erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt.“45
Die Zeilen aus dem Brief vom 21. Juli 1944 lesen sich so, als wollte Bonhoeffer hier noch
einmal die beiden Wendungen in seiner Biographie beschreiben. Mit der Wendung vom
Theologen zum Christen beginnt die erste Phase, in der er „so etwas wie ein heiliges Leben zu
führen versuchte“. Mit der Wendung des Christen in die Zeitgenossenschaft und Konspiration
beginnt dann die Zeit in der vollen Diesseitigkeit des Lebens. Was ihn jetzt umgibt, ist nicht
mehr heiliges Leben, sondern volle Diesseitigkeit: Ungewissheit über die Erreichbarkeit der
Ziele, Fragwürdigkeit der Mittel, Zwielichtigkeit der Wege, beschmutzte Finger und Hände.
„Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir
haben die Kunst der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen geworden und mußten ihnen die Wahrheit und das freie
Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar
zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?“46
Ein Heiliger werden wollen und Glauben lernen wollen sind zwei verschiedene Dinge. Bonhoeffer spricht sogar davon, dass es sich hier um einen „Gegensatz“ handelt, das heißt um
etwas, wo eines das andere ausschließt: Ich kann nicht beides zugleich wollen. Es geht nur das
eine oder das andere. Wenn ich ein Heiliger werden will, werde ich mein eigenes Gutsein in
den Mittelpunkt stellen. Ich werde mich bemühen, vor mir selbst und vor anderen als gut zu
gelten, etwas zu tun, dessen Gutsein außer Frage steht. Am fraglosesten als gut gilt, sich für
die Bewahrheitung und Verbreitung der christlichen Religion und des Christusbekenntnisses
einzusetzen47.
Genau diesen „moralischen“ und „christlichen“ Wertmaßstäben hat Bonhoeffer, als er sich
dem Widerstand und der Konspiration anschloss, nicht mehr oberste Priorität eingeräumt.
Ganz im Gegenteil: Bonhoeffer wusste, dass seine Kirche ihn nicht verstehen und sein Verhalten nicht billigen würde. Als er bereits verhaftet ist, weigert sich die Bekennende Kirche,
seinen Namen auf die Fürbittenliste zu nehmen48. Noch in den ersten Jahrzehnten nach dem
Krieg bleiben die offiziellen Kirchen auf Distanz. „Als 1953 im bayerischen KZ Flossenbürg
eine Gedenktafel für Bonhoeffer enthüllt werden sollte (‚ein Zeuge Jesu Christi unter seinen
Brüdern’), weigerte sich der evangelisch-lutherische Landesbischof, an der Feier teilzunehmen. Bonhoeffer sei schließlich kein christlicher, sondern bloß ein politischer Märtyrer gewesen.“49
Vor anderen Menschen konnte Bonhoeffer kaum auf sofortiges Verständnis rechnen. Und vor
sich selbst konnte er keineswegs nur Zustimmung und Billigung empfinden. Das Gebot „Du
sollst nicht töten“ steht hart und klar im Raum und kann nicht einfach durch subjektive Gesinnungen oder situative Gerinnungen ausgehebelt werden. Widerstand, Konspiration und
Beteiligung am Attentat bedeuten, dass Bonhoeffer schuldig wird – in einem tiefen und letzten Sinn. Die letzte Beurteilung seines Verhaltens und Tuns wagt noch nicht einmal er selbst.
Er legt sie in Gottes Hände.
45
DBW 8, 38.
DBW 8, 38.
47
Bonhoeffer weist in seiner „Ethik“ darauf hin, dass in Matthäus 5,10 Jesus diejenigen selig preist, „die um
einer gerechten Sache willen leiden, auch wenn es nicht gerade das Bekenntnis seines Namens ist“ (DBW 6,
349). Die Beschränkung des Gutseins auf das Christusbekenntnis und religiöse Intensionen hat also für Bonhoeffer keine schlüssigen biblischen Grundlagen und wird vom ihm nicht geteilt.
48
DB 893.
49
Christian Feldmann, „Wir hätten schreien müssen“ – Das Leben des Dietrich Bonhoeffer. In der Reihe: Herder-spektrum Band 5165. Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2. Auflage 1998, S. 181.
46
10
Es gibt Situationen, in denen das eigene Gutseinwollen und das Anderen-Menschen-inverantwortlicher-Tat-zu-Hilfe-Eilen zu einem Gegensatz werden. Es gibt Situationen, in denen die dringend notwendige verantwortliche Tat nur möglich ist, indem ich das eigene
Schuldlosbleiben hintanstelle50. Nicht in dem eigenen Als-gut-gelten-Wollen, sondern nur in
dem Leben und Dasein für andere entfaltet sich jenes Menschsein, für das Jesus Christus
Maßstab und Vorbild wurde51.
Glauben lernen heißt, in diese Lebenshaltung hineinwachsen. Es geht um die Fähigkeit, im
Konfliktfall auf eigene Identitätsvorteile bzw. auf eigene spannungsfreie Gewissenszustände
um des Einsatzes für andere Menschen willen verzichten zu können. Solcher Verzicht wird
dem möglich, der seine Person, die letzte Beurteilung und Zukunft seiner Person ganz der
Barmherzigkeit Gottes anvertrauen kann.
Der Brief Bonhoeffers an seinen Freund Eberhard Bethge vom 21. Juli 1944 hat in seinem
vollständigen Zusammenhang folgenden Wortlaut:
„ Ich habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt; nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der
Christ, wie Jesus – im Unterschied wohl zu Johannes dem Täufer – Mensch war. Nicht die
platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der
Lasziven, sondern die tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der die Erkenntnis des
Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist, meine ich. Ich glaube, daß Luther in dieser Diesseitigkeit gelebt hat. Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich vor 13 Jahren in
Amerika mit einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die Frage
gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: ich möchte ein Heiliger
werden (- und ich halte es für möglich, daß er es geworden ist -); das beeindruckte mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: ich möchte glauben lernen.
Lange Zeit habe ich die Tiefe dieses Gegensatzes nicht verstanden. Ich dachte, ich könnte
glauben lernen, indem ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte. ... Später erfuhr ich und erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen –
sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte
priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen
Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen,
Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, - dann wirft man sich Gott
ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes
in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube,
das ist µετάνοια; und so wird man ein Mensch, ein Christ. (Vgl. Jeremia 45!). Wie sollte man
bei Erfolgen übermütig oder an Mißerfolgen irre werden, wenn man im diesseitigen Leben
Gottes Leiden mitleidet? Du verstehst, was ich meine, auch wenn ich es so kurz sage. Ich bin
dankbar, daß ich das habe erkennen dürfen und ich weiß, daß ich es nur auf dem Wege habe
erkennen können, den ich nun einmal gegangen bin. Darum denke ich dankbar und friedlich
50
In seiner „Ethik“ kritisiert Bonhoeffer Menschen, die ihr eigenes Schuldlosbleiben in den Mittelpunkt ihres
Lebens stellen. Wer so denkt, „stellt seine persönliche Unschuld über die Verantwortung für die Menschen und
ist blind für die heillosere Schuld, die er gerade damit auf sich lädt“ (DBW 6, 233). Bonhoeffer erinnert an ein
Wort von Karl Marx: „es ist leicht, ein Heiliger zu sein, wenn man nicht Mensch sein will“ (DBW 8, 542 Anm.
7).
51
Für Bonhoeffer realisiert sich im „Dasein-für-andere“ unsere „Teilnahme am Sein Jesu“ (DBW 8, 558).
11
an Vergangenes und Gegenwärtiges. ... Gott führe uns freundlich durch diese Zeiten; aber vor
allem führe er uns zu sich.“52
52
DBW 8, 541 f.