Magdalene Riedel - Samtgemeinde Bevern
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Magdalene Riedel - Samtgemeinde Bevern
Wie ich meine Heimat verlassen mußte – Die Jahre 1945 und 1946 - Aus dem Tagebuch von Magdalene Riedel, geb. Kahlmann Magdalena Riedel lebte in Sprottau, dem damaligen Niederschlesien. Sie hatte vier Kinder und brachte kurz vor Beendigung des Zweiten Weltkriegs ein Baby zur Welt. Sie erlebte die Besetzung ihrer Heimatstadt durch sowjetische Soldaten und blieb – wohl wegen ihrer zahlreichen Kinder - vor Vergewaltigungen verschont. Sie erhielt sogar von einigen Soldaten heimlich Nahrungsmittel. Als Polen die Verwaltung Schlesiens übernahmen, wurde sie zusammen mit den anderen deutschen Bewohnern aus ihrer Heimatstadt ausgewiesen. Von ihrem Hab und Gut durfte sie lediglich zwei Handwagen, Bettzeug und Kleidungsstücke mitnehmen. Auf dem Fußmarsch war Hunger ständiger Begleiter ihrer Familie, so dass ihr Baby wegen der Entbehrungen starb. Ihr Weg in die neue Heimat war gekennzeichnet durch den Kampf ums Überleben, durch die ständige Suche nach Nahrungsmitteln und Unterkünften. Im Januar 1945 saßen wir noch gemütlich in unserer netten warmen Wohnung in Sprottau, Sagener Straße 13. Draußen zogen bei 20° Grad Kälte die Flüchtlinge mit Pferdegespannen, Fahrrädern und Handwagen auf unserer Straße in Richtung Sagan entlang. Es war herzzerreißend anzusehen. Kinder und alte Leute waren in Betten oder in dicke Decken eingepackt. Mütter stillten ihre Säuglinge auf dem Wagen. Viele Tage zogen die Trecks an unserem Haus vorbei. Sie kamen aus dem Wartegau, später aus Fraustadt, Rawitsch und Glogau. Meine Kinder hockten laufend am Fenster, denn für sie war das ein Erlebnis. Oft konnte ich sie beobachten, wie sie selbst Flüchten spielten. Sie packten ihre Spielsachen in einen kleinen Rucksack und trugen ihn auf dem Rücken durch das Zimmer. Mich fragten sie: „Wann geht es denn bei uns los?“ Die Kinder konnten es nicht begreifen, was sich da auf der Straße abspielte. Bei meinem Bruder Herbert, der gegenüber wohnte (er besaß das elterliche Gut), war jeden Abend Hochbetrieb. Es kam vor, daß bis zu 10 Pferdegespanne auf seinem Hof standen. Sein Wohnzimmer hatte er ausgeräumt und mit Stroh belegt, darin schliefen 10 bis 15 Personen. Auch im Kuhstall war ein Nachtquartier eingerichtet. Oft nahm ich mir auch in unsere Wohnung Leute mit zum Schlafen. Für mich war es nicht leicht, da ich doch vier kleine Kinder hatte. Der älteste Sohn war erst 6 Jahre alt und ich im 9. Monat schwanger. Die nächsten Tage waren für uns sehr aufregend. Deutsche Soldaten brachten die Nachricht, daß die Festung Glogau von den Russen erobert worden ist. Nun hatten wir uns jeden Abend zusammen getan, entweder bei meinen Eltern, bei meinem Bruder oder bei uns, um zu beraten, wie wir es am besten machen könnten, um nicht in die Kampfhandlungen verwickelt zu werden. Mein lieber Vater sagte: „Von meinem Hof gehe ich nicht weg“. Bald erfuhren wir von deutschen Soldaten, daß die Russen schon bis Primkenau vorgerückt waren, das waren 10 Kilometer von uns. Sie warnten uns davor zu bleiben, es würde uns nicht gut ergehen. Sie, die Russen, würden uns alle vergewaltigen. Mein Mann machte mir den Vorschlag, ich solle mich seinen Eltern und Schwestern anschließen. Meine Schwägerin Lucia hatte auch drei kleine Kinder, und so hofften wir, daß sich das Amt „Mutter und Kind“ für einen Abtransport mit der Bahn einsetzen wird. Die jüngste Schwester meines Mannes war 16 Jahre alt, von ihr konnte ich auch etwas Hilfe erwarten. Meine Eltern entschlossen sich zu flüchten. Sie wollten mich natürlich gerne mitnehmen. Ich mußte ja auch jede Stunde mit meiner Niederkunft rechnen, denn bei dieser Kälte auf der Landstraße entlang zu ziehen und dann hilflos in fremder Gegend zurückzubleiben, wollte reichlich überlegt sein. Es war der 10. Februar, mein Geburtstag, als der Flughafen gesprengt wurde. Viele Fensterscheiben in der Stadt zerbarsten. Meine Schwiegermutter holte mich und meine Kinder zu sich. Ich nahm Abschied von meinen Eltern. Mit zwei zusammengenähten Mangeltüchern - darin zwei Deckbetten und vier Kopfkissen einem Koffer für den kommenden Erdenbürger, einem Koffer Wäsche zum Wechseln und etwas Oberbekleidung für mich und meine vier Kinder zogen wir zu meinen Schwiegereltern. Mein Mann und mein Bruder wurden in den letzten Tagen zum Volkssturm eingezogen. Sie mußten eine Panzersperre bewachen. Ich hatte mich zusammen mit meinen Kindern im ehemaligen Zimmer meines Mannes niedergelegt, als es an der Haustür klopfte. Einer der Nachbarn brachte die Nachricht, daß ein Zug eingesetzt wird. Wir sollten uns beeilen und uns zur Sammelstelle „Wilhelmshütte“ begeben. Dort standen wir mehr als zwei Stunden unter freiem Himmel. Es fing an zu regnen. Es wurde so dunkel, daß man kaum die Hand vor Augen sah. Die Kinder froren und fingen an zu weinen. Da sagte mein Schwiegervater: „Komm wir, gehen in unsere Wohnung. Die Kinder erfrieren doch. Mag da kommen, was will“. Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Fahrrad in meine Wohnung, um noch etwas zu holen. Unterwegs erfuhr ich, dass meine Eltern, meine Schwägerin mit ihren fünf Kindern (Hubert, der älteste, war erst acht Jahre alt), das Hausmädchen Erna, meine Schwester Elisabeth mit ihrer Schwiegermutter und ihrem Sohn Johannes mit einem Pferdegespann geflüchtet sind. In der Nacht hatten sie viele Soldaten zum Übernachten. Sie haben einfach die Pferde angespannt und meinten, bloß raus hier. Bei den Russen wird es euch nicht gut ergehen. Mein Vater wurde von meiner Mutter überredet, das Gut zu verlassen. Mit 72 Jahren konnte er auch nicht allein zurück bleiben. Meine Eltern kauften das Gut in Sprottau, Auenweg 5, gleich nach ihrer Hochzeit. Sie fingen mit viel Schulden an, da sie nicht gleich alles bezahlen konnten. Im Laufe der Jahre wurde das Wohnhaus gebaut, die Ställe für die Pferde, Kühe und Schweine wurden ausgebaut. Ackerland und Wiesen wurden dazu gekauft. So wurde es ein schönes großes Gut mit neuzeitlichen Maschinen und Geräten. Die Ehe war gesegnet mit fünf Kindern. Als Kinder mussten wir fleißig mithelfen. Mein Bruder lernte das Schlosserhandwerk, Alfred trat nach 10-jähriger Schulzeit die kaufmännische Laufbahn an. Mein Bruder Herbert, meine Schwester Elisabeth und ich halfen auf dem Gut. Wir Geschwister waren „ein Herz und ein Sinn“. Gern denke ich an die schönen Winterabende zurück. Mein Bruder war Senior in der Kolpingfamilie; oft brachte er Kolpingbrüder mit. Da wurde musiziert, getanzt und gespielt. Meine Mutter hat so manchen Walzer mit uns getanzt. Sie sagt heute noch: „Das war die schönste Zeit, als ihr noch alle zuhause wart. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, daß sie mich so arbeitsam, sparsam und religiös erzogen haben. Alle fünf Kinder waren rein katholisch verheiratet. Das Gut wurde meinem ältesten Bruder Herbert übergeben. Meine Eltern wollten nun ihren Lebensabend gemütlich auf dem Gut verbringen. Und nun mussten sie ihr Gehöft am 11. Februar 1945 verlassen, das sie mit so viel Mühe und Schweiß erworben hatte. Wie mag ihnen zu Mute gewesen sein? Ich stand nun an diesem Sonntagmorgen so gegen 8.00 Uhr vor dem leeren Gehöft. Es ging mir sehr nahe, und eine Träne nach der anderen rollte mir über die Wangen. Ja, die Ungewissheit zu haben, ob ich sie alle noch einmal einmal wiedersehen würde, machte mir das Herz sehr schwer. Ich faßte Mut und fuhr wieder zu meinen Kindern. Am Nachmittag kam mein Bruder Alfred, um sich von mir zu verabschieden. Er hatte seine Frau Christa mit den drei Jungen zum Bahnhof gebracht. Er wurde als Oberleutnant von Berlin aus in seine Heimatstadt zum Einsatz kommandiert. Er tröstete mich und drückte mir die Hand. An seine Worte denke ich heute noch. Wer wird es von uns richtig gemacht haben: die, die geflüchtet sind, oder die, die noch hier geblieben sind. Wir müssen alles in Gottes Hand legen. Es kann auch sein, dass ich auf Vaters Erde fallen muss. Vier Tage später ist mein Vater 20 km hinter Sprottau gefallen. Der Abend rückte heran – es wurde dunkel. Meine Schwiegereltern waren der Meinung, es wäre besser, wir gehen in den ausgebauten Luftschutzkeller in Symallas Gasthaus, um das Schießen nicht so laut hören. Das Gasthaus lag über der Straße. Dort legten wir die Kinder zum Schlafen. Wir Erwachsenen konnten vor lauter Aufregung keine Ruhe finden. Am nächsten Morgen gingen wir wieder in das Haus der Schwiegereltern zurück. Am Nachmittag ging eine Parole herum: Alles in die Wilhelmshütte, es werden Busse eingesetzt. Auf einmal kam mein Mann; er hatte sich unerlaubt beim Volkssturm freigemacht. Er brachte mich und die Kinder zur Wilhelmshütte, sie lag nur fünf Minuten von seiner elterlichen Wohnung entfernt. Wie wir dort so warteten, schlugen schon die ersten Granaten ein. Eine traf einen Baum, so dass die Holzstücke in der Luft herumflogen. Nun hieß es, so schnell wie möglich in den Luftschutzkeller. Mein Mann nahm den Kinderwagen und etwas Gepäck, ich die Kinder. Er holte schnell noch einen anderen Koffer in den Keller und ging dann wieder auf seinen Posten zurück. Das war sehr aufregend, als mein Mann uns wieder verlassen musste. Er kam gerade noch zur rechten Zeit. Der Volkssturm war beim Abrücken in Richtung Sagan. Das war so gegen 6 Uhr abends. Nun fanden sich noch mehr Leute aus der Nachbarschaft ein. Wir waren mit den Kindern 21 Personen. Die Kinder legten wir in die Luftschutzbetten zum Schlafen. Mein Schwiegervater ging öfter hinaus, um zu sehen, was da vorging. Autos von der Wehrmacht rasten hin und her und brachten verwundete Soldaten aus der Stadt heraus. Frau Schuldig, die Hebamme, war die letzte, die heraus fuhr, Sie holte die Wöchnerinnen, die in den letzten Tagen entbunden hatten. Einmal war ich mit meiner Schwägerin Lucia auch auf der Straße, es herrschte eine Totenstille. Das deutsche Militär war heraus. Die Innenstadt brannte lichterloh. Es war so hell, daß man auf der Straße Zeitung hätte lesen können. Wir gingen wieder in den Keller und legten uns abwechselnd nieder, denn die Luftschutzbetten reichten nicht für alle. Schlafen konnte keiner von uns, denn es war alles so aufregend. Vom Nonnenbusch hörte man es Schießen in Richtung Sagan. Auf einmal ging das elektrische Licht aus. Wir beteten, auch die Nichtgläubigen fanden dabei Kraft. Meine Schwägerin Lucia und ich lagen zusammen in einem Luftschutzbett. Ich zitterte vor Aufregung am ganzen Körper, denn die Angst war groß, daß es bei mir los gehen könnte und die Hebamme noch nicht da wäre. Man machte sich viele Sorgen: Kommt mein Mann wieder? Werden uns die Russen vergewaltigen? Uns erschießen? Uns die Kinder wegnehmen? Die deutschen Soldaten hatten uns doch so viel Grausames erzählt. Auf einmal hatte ich eine Vision: es wurde ganz hell in einer Ecke und eine Stimme sagte: Dein Mann kommt wieder. Daraufhin bekam ich eine innere Kraft. So gegen 4 Uhr morgens hörten wir dann, wie der Russe unsere Stadt besetzte. Pferdewagen zogen hin und her, Fensterscheiben klirrten, mit Äxten wurden die Türen eingehauen. Wir hörten Stiefelschritte die Treppe herunterkommen. Ein Soldat in russischer Uniform kam herein, der sagte: „Geht in eure Wohnungen“. Wir nahmen an, daß er ein Deutscher war, denn er sagte es in einem guten Deutsch. Im Haus meiner Schwiegereltern machten wir es uns bequem, denn wir dachten, das Schlimmste wäre überstanden. Die Schwiegermutter machte gleich Feuer im Ofen und kochte Kaffee, damit wir uns wieder aufwärmen konnten. Sämtliche Schränke und Schübe waren aufgerissen und alles war durchwühlt. Es dauerte nicht lange, da kamen laufend Russen, die uns durchsuchten. Dem Schwiegervater nahmen sie zuerst die Uhr, dann auch die goldene Kette weg. Er wollte sich dagegen wehren, aber wir haben ihm gut zugeredet, sonst hätten die Russen Gewalt angewendet. Auch mir nahmen sie die Armbanduhr und meinen Trauring weg. Den ganzen Tag wurden wir belästigt. Gegen Abend wurde unser Haus besetzt. Wir –alle 21 Personen – mußten in das 16 qm kleine Wohnzimmer. Die Kinder legten wir auf den Boden. Wir hatten nicht den Platz, daß wir alle sitzen konnten. Öfter kamen Russen herein, die sagten, daß wir alle tot gemacht werden. Wir waren froh, als der Morgen endlich kam. Es war wirklich nicht einfach, mit sieben kleinen Kindern – alle unter 6 Jahren – in einem so kleinen Raum zu hausen. Meine Schwiegermutter erbettelte sich Holz, um für die Kinder ein Süppchen im Ofenlochauf offenem Feuer – zu kochen. Die Russen hatten sich eine vergnügte Nacht gemacht. Es wurde getanzt und gespielt. Es gefiel ihnen sicherlich nicht, daß wir alles mit ansehen und anhören konnten. Denn die Tür war nur eingeschlagen. Um die Mittagszeit mußten wir alle auf dem Hof antreten. Wir dachten, daß wir auf einen Platz geführt und dort erschossen werden. Sie führten uns jedoch zwei Häuser weiter in das Haus von Schorsch. Dort bekamen wir zwei Zimmer und eine Küche zu gewiesen. Auch hier mußten wir schwere Stunden durchmachen, denn laufend wurden wir von den Russen belästigt. Einmal wollten sie meinen Schwiegervater erschießen, weil er seine Tochter Ursel – 16 Jahre – nicht mitgehen lassen wollte. Wir hatten sie als alte Frau angezogen; sie wurde leider immer als junge Frau erkannt. Fast jeden Abend klopfte es an der Tür, um sie zu holen. Einmal wurde sie bis an die Vorsaaltür gezogen. Mein Schwiegervater stellte sich dazwischen und sagte: „ Bis hierhin und nicht weiter“. Da wollten sie ihn erschießen, gaben aber nur einen Warnschuß ab. Fast alle Frauen, die zu Hause geblieben sind, wurden vergewaltigt. Meine Vermieterin, Frau Windisch, wurde als 50jährige dreimal innerhalb einer Nacht vergewaltigt. Fräulein Babe wurde abends geholt und man fand sie am nächsten Tag tot auf dem Feld von Dominium. Weil wir immer unsere kleinen Kinder um uns hatten, wurden wir verschont, denn die Kinder weinten, sobald sich die Russen näherten. Die Front rückte immer weiter nach Westen vor. Dadurch kamen neue Truppen. Das Haus meiner Schwiegereltern in der Kaiser-Otto-Straße wurde wieder frei, und mein Schwiegervater ging als erstes zur Kommandantur, um nachzufragen, ob wir zurück in unser Haus ziehen dürften. Wir bekamen die Erlaubnis. Am nächsten Tag gingen wir in meine Wohnung, um nach dem Rechten zu sehen. Es kann sich niemand vorstellen, wie es auf den Straßen aussah. Die Wohnungseinrichtungen standen auf den Straßen, Gardinen und Betten hingen in den Bäumen. Das Vieh von meinem Bruder lief umher und brüllte und keiner kümmerte sich. Es war ein schrecklicher Anblick, wir waren machtlos den Dingen gegenüber. In meiner Wohnung standen nur noch die Möbelstücke. Bekleidung und Wäsche hatten die Russen mitgenommen. Frau Windisch, meine Hauswirtin, meinte, ich sollte wieder hier einziehen, um meine restlichen Sachen zu retten. Die unbewohnten Wohnungen und Häuser wurden ausgeräumt und und die Sachen nach Russland gebracht. Frau Nöthel (ihr Mann war Dachdeckermeister, sie wohnten in der Kaiser-Otto-Str. 72a ) und Frau Lachmann mit ihrem Sohn (sie hatten ein Schuhgeschäft in der Friedrichstr. 14 ) mußten aus ihrer Wohnung und wußten nicht wohin. Ich nahm sie bei mir auf; sie schliefen in meinem Schlafzimmer und ich mit meinen Kindern im Wohnzimmer. So war ich nicht allein. Frau Windisch hatte auch mehrere Frauen aufgenommen: Frau Vogt, Frau Auge und Frau Dietrich. Auch hier wurden wir von den Russen stark belästigt. Am Tag war ich allein mit den Kindern. Die anderen Frauen mußten bei den Russen arbeiten. Ich nahm noch ein älteres Fräulein auf, das aus einer Nervenheilanstalt kam. Sie wollte zu ihrer Schwester nach Berlin, aber durch die Kampfhandlungen kam sie nicht weiter. Am 5. März gegen 8 Uhr abends setzten bei mir die ersten Wehen ein. Ich hatte erfahren, dass unser Hausarzt Dr. Dobernecker - er war schon 80 Jahre alt - mit seiner Frau auch geblieben war. Aber es traute sich keiner aus Angst vor den Russen in der Nacht auf die Straße. Eine Wehe kam nach der anderen , aber das Kind nicht. Nach 5 Stunden konnte ich es vor Schmerzen nicht mehr aushalten, da fassten Frau Dietrich und Frau Vogt Mut und holten den Arzt. Die beiden Frauen brachten ein großes Opfer, denn überall hielten die Russen Wache. Die Gefahr, vergewaltigt zu werden, war riesig. Ohne die ärztliche Hilfe hätte ich es nicht geschafft. 10 Minuten, nachdem der Arzt da war, kam Johannes zur Welt. Ein paar Minuten später wurde der Arzt wieder von uns weggeholt. Im Nachbarhaus bei Krenz hatten die Russen eine Frau mehr als 10-mal vergewaltigt. Am nächsten Tag mußte ich wieder aufstehen, um mein Kind und die anderen Kinder zu versorgen. Die anderen Frauen mußten jeden Tag von früh morgens bis spät abends zum Nähen gehen und durften erst gehen, wenn sie 10 Hemden fertig genäht hatten. Das ältere Fräulein durfte bei mir bleiben und war eine kleine Stütze bei der vielen Arbeit. Am zweiten Tag nach der Entbindung kamen in der achten Stunde zwei betrunkene Russen in mein Zimmer . Alle anderen Frauen mußten aus dem Zimmer, und ich war mit den Russen allein. Zwei Kinder hatte ich mit in mein Bett genommen. Der eine Russe schob den Stubenwagen mit dem Neugeborenen in eine Ecke und zog die Zudecke von mir weg. Der kleine Günter fing an zu schreien, so laut er nur konnte. Die Russen blieben vor Schreck stehen und gingen dann. Den 3. Mai werde ich auch nicht vergessen. Da wollten zwei Russen die Vorsaaltür aushängen. Einer kam durch das kleine Fenster, das sich in der Tür befindet. Wieder einmal hat sich lautes Schreien vor Schlimmerem bewahrt. Günter hat manchmal so sehr geschrien, daß er Krämpfe bekam. Solche Stunden mußten wir öfter durchmachen. Oh, was hat das Nerven gekostet! Die Kinder waren immer wieder meine Schutzengel. Frau Nöthel und Frau Lachmann suchten im April wieder eine eigene Wohnung. Laufend kamen neue russische Soldaten, denen ich mein Schlafzimmer zur Verfügung stellen mußte. Die Belästigungen uns Frauen gegenüber ließ etwas nach. Schwierigkeiten machte die Versorgung mit lebensnotwendigen Dingen, denn Zuteilungen gab es nicht für uns. Russische Soldaten, die auch Kinder hatten, zeigten oft Verständnis für meine Lage. Sie brachten mir heimlich Nahrungsmittel. Ein Soldat stellte mir sogar mehrere Tage Milch in einen Stachelbeerstrauch. Norbert war nicht ängstlich. Er wurde oft von den Soldaten auf den Schoß genommen und bekam etwas zu essen. Wir lebten von der Hand in den Mund . Manchmal reichte es einfach nicht aus, und so war ich gezwungen, auch arbeiten zu gehen, Ich ging auf das Gut meines Bruders und fütterte und melkte dort das Vieh. Dafür bekam ich Milch, Brot und Fleisch. Ich versuchte den Russen zu erklären, daß ich die Tochter des Gutsbesitzers bin. Als sie es verstanden, gaben sie mir viele Sachen meiner Eltern zurück. Fünf Wochen lang haben wir uns so durchgeschlagen, dann zogen die Russen wieder weg. Und ich war entlassen. Mein Schwiegervater besorgte mir eine Ziege und so hatte ich wieder Milch für meine Kinder. Die Ziege war von Onkel Becke, er wohnte auf der Hindenburgstraße 23 und hatte dort eine Gärtnerei. Er wurde von den Russen erschossen, weil ihnen nicht das gab, was sie von ihm wollten. Am 8. Mai 1945 war Waffenstillstand. Das russische Militär rückte ab und Polen besetzten unsere Stadt. Am 28. Juni gegen Abend kamen zwei bewaffnete polnische Soldaten in meine Wohnung und sagten zu mir, daß ich die Wohnung in 15 Minuten zu verlassen hätte. Zu meinem Glück war das Hausmädchen meiner Schwägerin Gertrud ein paar Tage zuvor nach Sprottau zurückgekehrt, um zu sehen, wie alles aussieht. Sie half mir. Ja, was nun zuerst tun? Wir weckten die Kinder und zogen ihnen so viele Sachen an, wie es ging. Ein Koffer wurde mit Lebensmitteln vollgepackt und einer mit Wäsche. Ich hatte Tage zuvor von den Grauen Schwestern eine Büchse Trockenmilch bekommen…... und da war ich jetzt sehr froh. Ein Sack mit Strümpfen und Stricksachen, 6 Wolldecken, 3 Federbetten und 6 Kopfkissen und zwei Koffer wurden auf den kleinen Handwagen gepackt. Mit einer Wäscheleine wurde alles festgebunden. In den Kinderwagen kam als Matratze meine schöne KELIMDECKE. Diese wollte ich mir als einziges Andenken von meinen vielen Handarbeiten mitnehmen. Mehrere Jahre habe ich an ihr gearbeitet. Darauf legte ich dann das Badetuch, Windeln, Jäckchen und schließlich den Kleinen. Er war nun 3 Monate alt. Vor lauter Aufregung fand ich mein gut verstecktes Geld nicht. In meinem Portemonnaie hatte ich nur 20 Mark. Den Meisterbrief von meinem Mann, das Stammbuch und die Versicherungsdokumente waren in meiner kleinen Handtasche, die schon bei meinem vielen Herumziehen immer mitging. Sie hatte ich mit im Kinderwagen verstaut. Ich zog mir noch ein Stoffkleid an und den Mantel darüber. Das Hochzeitsbild habe ich noch schnell von der Wand genommen und aus dem Rahmen gelöst und nur das Foto eingesteckt. Der Pole drängelte uns schon laufend. Ich tat noch einen letzten Blick auf meine schöne Wohnung und dann mussten wir das Haus verlassen. Fräulein Erna zog den Handwagen. Ich hatte in einer Hand den Kinderwagen, in der anderen den Sportwagen. Im Sportwagen saßen Georg, 2 Jahre und Dorothea 3 Jahre alt. Günter und Norbert mußten laufen, sie waren 6 und 4 Jahre alt. Auf dem Rücken trugen sie einen kleinen Rucksack mit Lebensmitteln. Mit Frau Windisch und den Frauen, die bei ihr wohnten, zogen wir zunächst bis zum Ausgang Sagener Straße. Dort war die Sammelstelle der vielen Menschen, die ausgewiesen wurden. Sie standen schon zwei Stunden und warteten. Die Leute wurden müde und setzten sich in die Straßengräben. Frau und Herr Preuß – Stellmachermeister – stellten mir in ihrem Haus das Schlafzimmer zur Verfügung. So konnte ich wenigstens meinen Kinder schlafen legen. Ausziehen konnte ich sie nicht, denn wir wussten nicht, wann es weitergehen sollte. In dieser Nacht kamen noch die Menschen aus den umliegenden Dörfern. Aus Waltersdorf waren Frau und Herr Tscharn – die Eltern meiner Schwägerin Gertrud - dabei. Früh, etwa um 5 Uhr ging es dann in Richtung Sagan weiter. Der Treck soll 20 km lang gewesen sein. Wir zogen unter polnischer Bewachung von einem Dorf ins andere bis nach Sorau. Dort mußten wir auf einer großen Wiese übernachten. Auch in der zweiten Nacht mußten wir unter freiem Himmel schlafen. Am Morgen fing es an zu nieseln und bei strömenden Regen ging es so weiter bis nach Triebel. Die Kinder weinten, denn das Wasser lief ihnen am Gesicht herunter, und mit der nassen Kleidung wollten sie nicht mehr weiterlaufen. So mußte ich zu diesem Trauerspiel immer ein freundliches Gesicht machen. Die Frauen, die neben mir herliefen, staunten, daß ich ebenso schnell vorwärts kam wie sie. Oft habe ich mit den Kindern gesungen, wenn sie gar nicht mehr wollten. Das war wirklich ein Kreuzweg. Eine der Frauen war auch sehr schlimm dran, ihr Mann hatte keine Beine und Arme mehr. Sie mußte ihn auf einer Karre fahren. Sie hatte auch noch einen Handwagen mit Gepäck. Erst fuhr sie ihren Mann 100 m, dann holte sie den Handwagen nach. Ja, sie mußte den Weg zweimal laufen. Ältere Leute waren überhaupt schlecht dran, wenn sie nicht laufen konnten. Damit sie vorwärts kamen, hatte man sie auf das hohe Gepäck vom Handwagen gesetzt. An der Neiße wurden wir von den Polen noch einmal gründlich untersucht. Was ihnen gefiel, wurde uns weggenommen. Es war furchtbar anzusehen, wie sie mit Gewalt so manchem das Letzte wegnahmen. Es war dann schon in der achten Stunde abends, da suchten wir uns in den leeren Häusern ein Quartier. Das muß schon auf der anderen Seite der Neiße gewesen sein, denn nach der Kontrolle ließen uns die Polen laufen, wohin wir wollten. Wir fanden ein schönes Haus mit sämtlichem Mobiliar, Feuerung und sogar Kartoffeln. Wir machten uns gleich in einer Stube Feuer und trockneten unsere nassen Sachen. Ich kochte Kartoffeln, und so hatten wir endlich einmal wieder ein warmes Essen. Ach, wie fühlten wir uns dort wohl. Die ganze Nacht regnete es noch. Am nächsten Morgen klärte es sich auf, und wir tippelten weiter bis nach Cottbus. Dort war es schwer, ein Quartier zu bekommen, denn niemand wollte mich mit fünf Kindern aufnehmen. Vergeblich hatte ich an mehreren Türen geklopft. Wir wanderten so durch die Straßen, und da sah ich im Vorgarten eine Frau. Ihr Blick zeigte, daß sie Mitleid mit uns hatte. Ich sprach sie an und ohne Zögern durften wir in ihr Haus. Sie meinte, es wird schon Rat werden. Wir schliefen auf dem Fußboden. Ihre Tochter hat gleich alle meine Kinder gebadet. Wir blieben zwei Nächte in diesem Haus, um uns etwas zu erholen. Ich war ganz erschöpft, denn wir hatten in diesen Tagen 120 km zurückgelegt und in jeder Hand zog ich einen Wagen. Ich hielt es einfach auf den Armen nicht mehr aus, und Günter und Norbert konnten auch nicht mehr. Die Frau meinte es sehr gut mit uns. In dieser Familie war auch großes Herzeleid, ihr ältester Sohn war gefallen und von den zwei Töchtern war die älteste 30 Jahre alt und vollständig gelähmt. Die Frau sagte mir, daß die Russen auch das kranke Mädchen vergewaltigt hätten. Jeden Abend nahm sie Flüchtlinge auf und bewirtete sie. Ich wollte nun versuchen, mit der Bahn weiter zu kommen. Meine große Handtasche, die Feldbetten und den Handwagen gab ich bei der Frau in Verwahrung. Wir standen so auf dem Bahnhof, da kam ein Lazarettzug, und als sie mich und meine fünf Kinder sahen, wurden wir mitgenommen. Planmäßige Züge fuhren noch nicht. Im Kohlewagen war ein schmaler Gang, dort konnten wir hocken. Der Zug fuhr bis Hoyerswerda. Es hieß, am nächsten Tag geht es weiter. Mein Johannes wurde immer schwächer, so dass er nichts mehr zu sich nahm. Schon zu Hause in Sprottau war er krank. Ich sollte ihm alle zwei Stunden etwas zu trinken geben. Aber das konnte ich nicht mehr weiter durchführen, weil wir aus der Heimat heraus mussten. Er bekam an den ersten Tagen nur morgens und abends ein Fläschchen Kochte ich eins im voraus, so wurde es bei der Wärme sauer. Am Tage erlaubte es uns der Pole nicht. Bei einer Rast suchte ich mir etwas Holz zusammen, um dem Kleinen ein Fläschchen zu kochen. Ich war noch nicht ganz fertig, da kam der Pole und sagte, daß es weiterginge. Ich durfte das Fläschchen nicht fertig machen. Ich fragte ihn, warum er so hart sei, denn mein Kind würde mir verhungern. Da gab er mir zur Antwort: Euch geht es noch nicht schlecht, denn wie habt ihr es denn mit unseren Frauen gemacht? Sie mussten bei 30 Grad Kälte nach draußen. Ich ging zum Lazarettarzt, um mir einen Rat zu holen. Er meinte, der kleine Magen sei vertrocknet. Damit das Kind wieder die richtige Pflege bekommt, wäre es das beste, ich würde ein paar Tage hier in Hoyerswerda bleiben. Kurze Zeit darauf starb mein Kind. Das war der 2. Juli 1945 gegen 11 Uhr. Was nun mit dem Kleinen machen? Zufällig kamen zwei Sanitäter mit einem Sarg bei uns vorbei, um eine Leiche aus dem Zug zu holen. Ich erzählte ihnen von meinem Leid. Sie hatten Mitleid und meinten, sie würden mein Kind zu dem Leichnam legen. Soweit ich mich erinnere, war es ein Tischlermeister aus Guben namens Glatzer. Zur Beisetzung wollte ich bleiben, aber die beiden Sanitäter sagten: „ Es wäre besser, wenn Sie mit dem Zug weiterfahren würden, damit die Kinder endlich wieder ihre Pflege und Ordnung bekommen. Sie können beruhigt sein, der kleine Johannes kommt mit diesem Toten unter die Erde.“. So gab ich ihnen noch 10 Mark und wir waren die Sorge um unser kleines Hänschen los. Als die Sanitäter mit dem Kleinen wegfuhren, fing Nobert an zu schreien und zu weinen, daß sich die Leute auf dem Bahnsteig aufregten. Norbert sagte: „Mutti, hol doch unser Hänschen wieder zurück, die Männer schaffen ihn fort“. Wie sollte ich den Jungen trösten, wo es mir doch auch ganz anders zu Mute war. Meine Gedanken waren bei meinem Mann, denn er hat das Kind nicht einmal gesehen. Ja, wenn er das alles wüsste. Norbert tröstete ich mit den Worten: „Wir bestellen uns wieder ein neues Hänschen.“ Er gab sich damit zufrieden. Der Herrgott weiß es schon, wie er es am besten macht. Durch den Verlust des Kindes war es für mich bedeutend leichter. Die Frage, wo bade ich das Kind, wo wasche ich die Windeln, das war immer ein großes Problem für mich. Wir setzten uns wieder in den Zug, und warteten. Nun verging ein Tag nach dem anderen. Auf einmal hieß es, daß der Zug stehen bleibt. Ich wollte gern zu meinen Eltern Reichenbach, Kreis Hohenstein-Ernstthal. Eigentlich war mir der Aufenthalt meiner Eltern nicht genau bekannt. Fräulein Erna sprach immer nur von Hohenstein. Die schwerverwundeten deutschen Soldaten wurden aus dem Lazarettzug entlassen. Es war ein furchtbarer Anblick, wie Blinde über die Bahnschienen stolperten und hinfielen. Einigen fehlte ein Arm, ein anderer hatte nur noch ein Bein, auch hatten einige zerschnittene Gesichter. Und niemand kümmerte sich um sie. Ich versuchte dann mit einem Güterzug weiter zu kommen, aber es war nicht möglich, denn die Wagen waren alle zu hoch. Fräulein Erna war dann der Meinung, es wäre besser, wenn ich für uns ein Quartier in der Stadt suche. Sie blieb in der Zwischenzeit bei den Kindern. Ich klopfte an mehreren Türen, aber mit vier Kindern wollte mich keiner aufnehmen. So ging ich wieder zum Bahnhof zurück. Meine Kinder standen mit dem Gepäck allein auf dem Bahnhof. Ein Zug war gekommen und Fräulein Erna ist mitgefahren. Wir hatten davon gesprochen, daß sie vorausfahren wollte, um meine Schwester zu holen, Nun war es so. Ich nahm die beiden kleineren mit etwas Gepäck, um mich wieder auf die Suche nach einer Unterkunft zu machen. Günter und Norbert paßten auf das restliche Gepäck auf. In einer Baracke fanden wir Unterkunft. Dort hatten sich noch mehr Flüchtlinge einquartiert. Ich hatte für uns einen kleinen Raum. In der einen Ecke lag etwas altes Stroh, sonst war der Raum leer. Es sah aus bald wie ein Schweinestall, aber wir hatten ein Dach über dem Kopf. In einer landwirtschaftlichen Schule konnte ich etwas für uns kochen, sie war nur 2 Minuten von der Baracke entfernt. Während ich abwesend war, durchsuchten die anderen Flüchtlinge unser Gepäck. Die Kinder versuchten zwar unser Hab und Gut zu bewachen, sie waren aber zu klein, um es zu verteidigen. Es wurde der einzige Bettbezug und Georgs einziges Paar Schuhe gestohlen. Ich suchte mir dann eine andere Unterkunft und fand ein Zimmer bei einem älteren Ehepaar, das überhaupt kein Verständnis für unsere Situation hatte. In der Nähe war ein Kindergarten, wo ich drei Kinder unterbringen konnte. Meine Lebensmittel, die ich teilweise noch von zu Hause mitgebracht hatte, gingen zu Ende. Ich ging zum Bürgermeiste rund bat ihn um Hilfe. Ich bekam einen Bezugsschein für drei Brote, ein paar Kartoffeln und ein bißchen Öl. Für Georg bekam ich täglich einen ¼ l Ziegenmilch, und das alles sollte zwei Wochen reichen. Innerhalb von sechs Tagen hatten wir alles aufgegessen. So war ich gezwungen, betteln zu gehen. Es war an einem Sonnabend, ich hatte vier Stunden wegen Kartoffeln angestanden. Bevor ich an der Reihe war, waren sie alle. Es gab keine mehr. Ich hatte auch kein Brot mehr für meine Kinder. Georg machte mit seinen kleinen Händchen bitte, bitte, er klatschte die kleinen aneinander, ich konnte ihm nichts geben. Oh, wie weh mir das tat! Nachmittags ging ich in das Nachbardorf betteln. Ich bekam aber nichts. Es waren ja so viele Flüchtlinge, die um Nahrung bettelten. Ich zog langsam mit meinen Kindern an den Feldern vorbei wieder heim. Bei einem großen Feld mit Kartoffeln und Mohrrüben kam mir der Gedanke, wenn ich hier eine Handvoll Kartoffeln wegnähme, würde es gar nicht auffallen. Es fiel mir schwer, dies zu tun, war ich doch selbst eine Bauerstochter. Was tut eine Mutter nicht alles, um ihre Kinder am Leben zu erhalten. So konnte ich den Kindern am Sonntag etwas zu essen geben. Ein paar Tage später erfuhr ich, daß die ersten deutschen Soldaten aus einem naheliegenden Lager entlassen werden. Ich begab mich mit meinen Kindern auf die Landstraße. Da kam eine Kolonne von 2.000 Mann anmarschiert, mit einer Musikkapelle an der Spitze. Auf dem Markt hielt der Bürgermeister eine Ansprache, anschließend bekamen sie die Entlassungspapiere und etwa Verpflegung: 100 g Zucker und ein kleines Stückchen Brot. Ich ging hin und her und fragte die Soldaten, ob auch Sprottauer dabei wären, denn es waren fast alles Schlesier. Auf einmal meldete sich der Musiklehrer Walter; er war auch Chorleiter in unserer Kirche. Er brachte mir die Nachricht, daß sich mein Mann und mein Bruder Herbert im Lager Elsterhorst befäinden. Das war 2 km von Hoyerswerda entfernt. Das war eine Freude. Zu wissen, dass mein Mann in der Nähe ist. Ich versuchte alles Mögliche, um Kontakt zu ihm zu bekommen. Oft bin ich mit den Kindern bis ans Lager gegangen. Von weitem konnten wir die deutschen Soldaten sehen. Alle 20 m stand ein Posten. Mein Mann ahnte nicht, daß wir in seiner Nähe waren, denn er hatte die starke Hoffnung, daß wir noch in unserer lieben Heimat sind. Einmal sprach ich einen Wachposten an. Ich versuchte ihm mein Leid zu erklären. Er hatte Mitleid mit mir und meinte, ich solle zum Lagerkommandanten gehen, denn der könne mir helfen. Ich lief nun bis zum Eingang des Lagers. Die deutschen Soldaten standen nur 2 bis 3 Meter entfernt, aber ich durfte kein Wort mit ihnen wechseln. Der russische Kommandant klopfte mir auf die Schulter und meinte, daß die Gefangenen in kürzester Zeit entlassen würden. Das war aber kein Trost für mich, denn ich konnte täglich beobachten, wie die gesunden Soldaten zum Bahnhof geschafft wurden zum Weitertransport nach Russland. Kranke und ältere Soldaten wurden entlassen. Bei den täglichen Entlassungsfeiern war ich immer dabei, um zu sehen, ob Bekannte darunter waren. Viele Sprottauer waren dabei, die immer die Nachricht brachten, daß sich mein Mann noch im Lager befindet. In der Zwischenzeit war meine Aufenthaltszeit in Hoyerswerda abgelaufen. Ich schrieb an meinen Cousin nach Glauchau in Sachsen, ob er wüsste, wo meine Eltern wären. Es war für mich dann sehr schwer, Bezugsscheine für Lebensmittel zu bekommen; der Bürgermeister gab mir keine mehr. Ich werde es nicht vergessen, was er zu mir sagte: „Warum haben Sie sich so viele Kinder in die Welt gesetzt?“ Die Aufenthaltsgenehmigung konnte oder wollte er mir nicht verlängern. Ich hoffte nun täglich, daß meine Angehörigen uns holen würden. Ich sollte diesen Ort verlassen und wußte nicht, wohin ich gehen sollte. Die Hälfte meines Gepäcks schaffte ich zum Bezirksschornsteinfeger und zog dann mit meinen 4 Kindern auf der Landstraße in Richtung Dresden weiter. Als wir nun ein Stück gelaufen waren, merkte ich, daß es doch nun beim besten Willen nicht mehr ging. Die Kinder hatten einfach keine Kraft mehr zum Laufen. Wir gingen wieder zurück und begaben uns wieder in die Baracke, in der wir schon mal schliefen. Hier war auch ich am Ende meiner Kraft, ich war verzweifelt. Ich betete mit meinen Kindern ein Vaterunser nach dem anderen, daß der liebe Gott uns doch helfen möge. Die Kinder schliefen dabei ein. Ich selbst fand die ganze Nacht keine Ruhe, denn was sollte aus uns werden. Ich war wirklich ganz verzweifelt. Am nächsten Morgen fasste ich Mut und ging mit meinen Kindern zum Landrat. Dieser stellte mir eine Bescheinigung aus, daß mir der Bürgermeister die Aufenthaltsgenehmigung verlängern sollte. Vom Wohnungsamt bekamen wir ein Zimmer im 3.Stock eines Kindergartens zugewiesen. Eine Kindergärtnerin stellte mir einen Tisch, 4 Stühle und ein Bett zur Verfügung. Einige Tage später brachte sie mir noch Matratzen. Wir legten sie auf den Boden, so hatten die Kinder ein schönes Lager. In der Küche konnte uns etwas kochen. Dort hatten wir es wirklich schön. Ich glaube, der liebe Gott hat meine Gebete erhört. Zur Kirche war es auch nicht weit. Mit der Ernährung war es manchmal noch sehr schlecht. Einmal hielt der Herr Pfarrer eine schöne Sonntagspredigt, in der er sagte, daß jeder den Notleidenden helfen solle, so gut er kann. Ich nutzte die Gelegenheit aus und bettelte eine Frau an, ob sie nicht ein paar Kartoffeln für uns hätte. Sie nahm mich mit auf ihr Feld. Mit den Händen machten wir so ungefähr 20 Pfund heraus. Das reichte nun wieder für einige Tage. So haben wir uns durchgefochten. Eines Tages, beim Einkaufen, traf ich meine Schwester auf der Straße. Die Frau meines Cousins Max Ratzmann aus Glauchau hatte den Brief an meine Eltern weitergeleitet. Ach, wie war die Freude groß! Sie brachte mir 2 Brote und ein Stück Butter mit. Nun ließ ich die Kinder einmal richtig satt essen. Meine Schwester hatte ihren Sohn Johannes bei sich. Sie werden es nicht vergessen, mit was für einem Hunger die Kinder Brot vertilgten. Immer wieder bettelten sie nach einer Schnitte. Meine Schwester war schon das zweite Mal hier, denn das erste Mal hatte sie uns nicht gefunden, weil ich mich nicht beim Einwohnermeldeamt gemeldet hatte. Sie fuhr am nächsten Tag mit ihrem Sohn wieder zurück und wollte in drei Wochen wieder kommen. Sie brachte ein großes Opfer, denn planmäßige Züge fuhren noch nicht. Das letzte Stück wurde sie sogar in einem Russenauto mitgenommen. Wie schön ist es doch, wenn man Geschwister hat! Ich blieb noch in Hoyerswerda, weil ich hoffte, daß mein Mann oder mein Bruder entlassen werden könnte. Nach ein paar Tagen hörte ich vom Bürgermeister, daß ein Treck mit Flüchtlingen zusammengestellt werden soll in Richtung Thüringen. Wir machten uns schnell auf, um zu meinen Eltern zu kommen. Ich habe einen Zettel mit der Adresse von Reichenbach an das Brett im Rathaus angebracht, damit mein Mann und mein Bruder uns finden. Wir wurden von einem Güterzug mitgenommen. Die Kinder mussten auf einem Brikettwagen sitzen. So fuhren wir nach bis nach Dresden. Von dort aus ging dann weiter in einem Personenzug nach Glauchau. Dort kamen wir ganz erschöpft nach 2-tägiger Bahnfahrt an. Meine Verwandten schickten sofort ihren Sohn Wolfgang mit dem Fahrrad zu meinen Eltern nach Reichenbach. Am nächsten Tag wurde ich von meiner Schwester und meiner Schwägerin Gertrud mit Fahrrädern abgeholt. Wie war ich jetzt froh, dass ich bei meinen lieben Verwandten sein konnte! Als mein Vater mich sah, kamen ihm vor Freude die Tränen, denn er hatte sich große Sorgen um uns gemacht. Meine Mutter sagte: „Kinder, kommt rein, ich will euch gleich etwas zu essen geben.“ Günter hat diese ersten Worte meiner Mutter nicht vergessen. Am nächsten Tag ging ich zum Bürgermeister und bat um Aufnahme. Er stellte sich stur und wollte mich wieder abweisen. Auf den Rat meiner Verwandten hatte ich mich beim Landrat in Glauchau erkundigt, ob ich in Reichenbach aufgenommen werde. Er sagte, es besteht die Verfügung, da, wo die Eltern sind, kann auch das Kind hin. Zumal ich auch noch vier kleine Kinder hatte. Da ich nichts schriftlich hatte, glaubte mir der Bürgermeister nicht. Er hatte allerhand Ausreden. Mehrere Stunden saß ich in seiner Amtsstube. Auf einmal sagte er, daß ich mich selbst um eine Unterkunft kümmern müsse. Das versuchte ich auch, aber mit vier Kindern wollte mich keiner aufnehmen. Man schickte mich von einer Tür zur nächsten. Meine Eltern konnten mich auf Dauer nicht in ihrer kleinen Wohnung behalten. Wir schliefen alle bei ihnen auf dem Fußboden. Der Bürgermeister wies mir dann doch noch ein kleines Zimmer ohne Kochgelegenheit in einer Landwirtschaft zu. So zog ich mit meinen Kindern am 22. August 1945 bei der Familie Neubert ein. Essen gingen wir zu meinen Eltern. Zwei Tage später verlor die Tochter Ilse durch einen Unfall ein Stück von ihrem Finger. Da es in der Landwirtschaft noch viel Arbeit gab, half ich tüchtig mit, denn die Ernte war noch nicht ganz geborgen. Mir fiel die Arbeit nicht schwer, aber meine Mutter hatte die Kinder zu versorgen. Am 6. September 1945 stand mein lieber Mann vor der Haustür. Das war für uns eine große Überraschung und Freude. Am 2. September wurde er gegen Abend auf dem Markt entlassen und ist sofort nach Wittichenau gelaufen. Meinen Zettel am Brett hatte er nicht gelesen. In Radeberg holte er sich beim Pfarrer Max Scholz, einem Cousin meiner Mutter, die Nachricht, dass meine Eltern in Reichenbach bei Hohenstein sind. Er stand mit geflickter Uniformhose, schadhafter Jacke und kaputten Schuhen vor mir. Ich hatte nichts für ihn von zu Hause mitnehmen können. Von Familie Teuber, wo meine Eltern wohnten, bekam mein Mann zwei gebrauchte Jacken. Mein Mann half in den ersten Wochen bei Familie Neubert beider Kartoffelund Rübenernte mit. Nach der Ernte versuchte er wieder Arbeit in seinem Beruf zu bekommen. Er fuhr nach Chemnitz zum Schornsteinfegerobermeister Rüdiger; bei ihm bekam er gleich eine Stelle. Er blieb die ganze Woche in Chemnitz, nur am Wochenende kam er zu uns nach Reichenbach. Im Januar 1946 wurde mein Vater krank. Es ging nicht mehr, daß meine Kinder in der gleichen Stube hockten, in der mein Vater lag. Ich bat Frau Neubert, ob ich in ihrer Küche mit kochen dürfe. Sie stellte mir ihre Küche mit zur Verfügung. Meine Tochter Dorothea blieb noch bei meinen Eltern, da ich keine Schlafgelegenheit für sie hatte. Wenn mein Mann am Wochenende kam, mußten die drei Jungenin einem Bett schlafen, denn ich hatte nur zwei Bettstellen. Später bekam ich dann noch ein Bett von einer Familie geschenkt. Am 1. März 1946 starb mein Vater plötzlich an einem Schlaganfall. Er hätte so gerne noch einmal seine Heimat wiedergesehen. Oft sagte er zu uns: „Ihr werdet die Heimat schon einmal wiedersehen, aber ich werde es nicht mehr erleben.“ Wie groß war manchmal bei ihm das Heimweh, zu Hause hatte jeder sein Bett und im Winter hatten wir eine warme Stube. Oft und gerne sind meine Eltern zu einem Plauderstündchen zu uns gekommen. So verging eine Woche nach der anderen.Die Frühjahrsbestellung ging los. Ich half immer fleißig mit, so hatte ich Essen für mich und meine Kinder und konnte mich auch körperlich etwas erholen. Natürlich gab es auch schwere Stunden, denn alles spielte sich jetzt in der Küche ab, und das war für beide Familien nicht immer leicht. Aber ich muß wirklich sagen, daß es Familie Neubert gut mit uns meinte. Die Kinder sagten Oma und Opa zu ihnen. Ich habe dort auch schöne Stunden verlebt, oft haben wir gesungen und so manchen Spaß gehabt. Im September 1946 bekamen wir zwei kleine Zimmer in Chemnitz, Schloßplatz 13, als Untermieter bei Frau Lange. Der Anfang war sehr schwer, da wir buchstäblich nichts hatten. In Reichenbach gab es dann viele Menschen, die uns halfen. Von ihnen bekamen wir einige Gebrauchsgegenstände. Wir zogen am 24. September 1946 ein. Unser Inventar bestand aus drei Bettstellen, einem Tisch, zwei Stühlen, vier Hockern, einem großen und einem kleinen Regal und einem Kindertischchen.