Russkij Berlin 2005-4-138 Tsypylma, Darieva: Russkij - H-Soz-Kult

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Russkij Berlin 2005-4-138 Tsypylma, Darieva: Russkij - H-Soz-Kult
D. Tsypylma: Russkij Berlin
Tsypylma, Darieva: Russkij Berlin. Migranten
und Medien in Berlin und London. Münster: LIT
Verlag 2004. ISBN: 3-8258-6966-0; 301 S.
Rezensiert von: Christoph Schumann, Institut für gegenwartsbezogene Orientforschung,
Friedrich-Alexander-Universität NürnbergErlangen
Die neuen Kommunikationstechnologien
sind ein zentraler Katalysator für Prozesse
der Globalisierung. Satellitenfernsehen und
Internet eröffnen ganz neue Möglichkeiten, soziale Kontakte über große Distanzen
aufrecht zu erhalten und an Ereignissen an
verschiedenen Orten auf dem Globus synchron teilzunehmen. Satellitenschüsseln auf
dem Dach oder Balkon sind eindrückliches
Sinnbild dieses „Fensters zur Welt“. Eine
wesentlich ältere Form der medialen Globalisierung ist die so genannte Migrantenpresse.
Vor allem in den Vereinigten Staaten erlebte
sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine
reiche Blüte, die von Robert Park in seiner
1922 erschienen klassischen Studie „The
Immigrant Press and its Control“ beschrieben
wurde.
In ihrem Buch „Russkij Berlin“ zeigt Tsypylma Darieva anhand von russischen Wochenzeitungen in Berlin und London, dass
das Phänomen der Migrantenpresse (ethnic
press) durch Internet und Satellitenfernsehen
keineswegs obsolet geworden ist. Im Gegenteil, mit dem Fall des so genannten Eisernen Vorhangs und der darauf folgenden neuen Wanderungswelle von Ost nach West, kam
es in den 1990er-Jahren zur Entstehung einer
Reihe neuer russischer Publikationsorgane in
Deutschland und England. Sie stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Studie, die 2002 als
Dissertation an der Humboldt-Universität zu
Berlin eingereicht worden ist.
Die Autorin geht im Unterschied zur gängigen Sichtweise nicht davon aus, dass sich
das Phänomen der Migrantenpresse lediglich
durch den Aufbau von ethnischen Strukturen in der „Fremde“ und durch eine überwiegende thematische Fokussierung auf das
Herkunftsland auszeichnet. Stattdessen beschreibt sie die untersuchten Zeitungen als
ein „pragmatisches Handlungsfeld und ein
neues Netzwerkforum von zugleich lockeren
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und multiplen Bindungen, die zwischen den
Ein- und Auswanderungsländern zur Geltung kommen“ (S. 251). Sie zeigt, dass in
den untersuchten russischen Wochenzeitungen nicht die einseitige Orientierung auf die
ehemalige Heimat überwiegt, sondern eine
„Dreiteilung der medialen Weltkarte“ (S. 252),
in der die Berichterstattung über das Herkunftsland, die Aufnahmegesellschaft und
die jeweiligen kosmopolitischen Metropolen
Berlin und London mit ihren russischsprachigen Bewohnern ausbalanciert werden.
Methodisch gesehen geht es Darieva um eine „Ethnografie der Migrantenmedien“. Ihre
empirische Grundlage besteht dabei aus Teilnehmenden Beobachtungen während einer
Feldforschung, einer Reihe von Interviews
mit Redakteuren und Kulturschaffenden und
der Analyse von ausgewählten Zeitungsausgaben. Damit richtet die Autorin ihr Augenmerk hauptsächlich auf die Produktionsund weniger auf die Rezeptionsseite der russischsprachigen Zeitungen. Darieva ordnet
ihre Arbeit selbst in die Kategorie „Elitenforschung“ ein (S. 22). Ihre Interviewpartner, so
schreibt sie, traten ihr oft eher als „geschäftsorientierte Unternehmer“ (S. 22), denn als Migranten gegenüber. Einige davon versuchten
sogar, die Gespräche gleich zur Vermarktung
ihrer eigenen Interessen zu nutzen.
Zu Beginn des Buches charakterisiert die
Autorin die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion am Beispiel von sechs Portraits der von ihr interviewten Medienmacher.
Sie macht dabei insbesondere die Vielfalt der
Migrationsbiografien und Lebenssituationen
der Betreffenden in Europa deutlich. Trotz des
gleichen Herkunftslandes fallen sie in so unterschiedliche Kategorien wie „Spätaussiedler“, „jüdische Kontingentflüchtlinge“, „Wirtschaftsimmigranten“ und „Asylbewerber“.
Dementsprechend unterschiedlich ist ihre jeweilige rechtliche Stellung in den Aufnahmeländern, und es differieren ihre Identitätskonstruktionen und Zukunftsentwürfe. Vor allem in Deutschland werden Migranten aus
der ehemaligen Sowjetunion einer stark differenzierenden Integrationspolitik unterworfen. Zur staatlichen Politik kommt der Einfluss der deutschen und englischen Medien
hinzu, die die „Russen“ mit einer Reihe zum
Teil altbekannter Klischees belegen: Die Zu-
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schreibungen umfassen so unterschiedliche
Motive wie die „schwermütige russische Seele“ über die organisierte Kriminalität der russischen Mafia bis hin zu exotischen Vorstellungen von Multikulturalität. Staatliche Politiken und solcherart Mediendiskurse, so betont die Autorin, fließen in der einen oder anderen Weise auch in die Konstruktion eines
Konzeptes von „russischer Community“ ein
(S. 113).
Die von Darieva untersuchte russische
Presse unterscheidet sich in einigen wichtigen Punkten von der türkischen Presse in
Deutschland. Bei dieser handelt es sich um
Tageszeitungen, die zunächst importiert und
später durch spezielle „Europaausgaben“ an
die Bedürfnisse der Migranten angepasst
wurden. Zwar unterhalten die meisten türkischen Zeitungen Redaktionen in Deutschland und anderen europäischen Ländern,
die letztendlichen redaktionellen Entscheidungen werden jedoch meist in Istanbul getroffen. Bei den russischen Publikationen handelt es sich dagegen größtenteils um Wochenzeitungen, die genuin in den Aufnahmeländern entstanden sind. Um ihr ökonomisches
Überleben zu sichern, mussten sie sich vor
Ort eine möglichst breite Leserschaft sichern.
Die Autorin beschreibt in diesem Zusammenhang den Übergang von den spätsowjetischen
„Samizdat“-Projekten, die auf idealistischer
Kooperation und materieller Entsagung beruhten, hin zu einem journalistischen Unternehmertum (Entrepreneurship), das sich der
Ethnizität als einem Mittel zur Absatzsicherung bedient. Die Medienmacher seien in
diesem Sinne weniger ethnische Diasporapolitiker aus Überzeugung als vielmehr wirtschaftliche Akteure, die sich geschickt einer
bestimmten Marktlücke bedienten. Die Bindung der Leserschaft, funktionierende Distributionssysteme und eine Sicherung von Anzeigenkunden sind dann die wirtschaftlichen
Voraussetzungen für das Gelingen der Medienprojekte.
Nach der Verortung der russischen Zeitungen in den Aufnahmegesellschaften und der
Darstellung ihrer ökonomischen Praktiken
kommt Darieva im letzten Schritt zur inhaltlichen Analyse der Identitätskonstruktionen,
die in der Presse angeboten werden. Anhand
der Devise der Zeitung Russkij Berlin „Un-
ser Vaterland (otetschestvo) ist die russische
Sprache“ greift die Autorin zunächst die beiden Identitätsmarker Vaterland und Sprache
heraus. Die mythisch überhöhte Vorstellung
vom Vaterland in russischer und sowjetischer
Tradition sei einer ent-territorialisierten und
ent-emotionalisierten „Gemeinschaftsvorstellung“ im Sinne Benedict Andersons gewichen. In ihr könnten sich auch Migranten wieder finden, die zwar russisch sprächen, aber
ethnisch gesehen keine Russen seien, wie zum
Beispiel die ehemals sowjetischen Armenier.
Die Sprache sei damit nicht nur „Instrument
in der Produktion der Zeitung“, sondern werde zum Ausgangspunkt für die Konstruktion einer neuen „imagined world“ (S. 213).
Auch für die Zukunft, so prognostiziert die
Autorin, werde die Sprache eine wichtige Rolle bei der Stiftung einer gemeinsamen, postsowjetischen Identität spielen (S. 218). Dies, so
muss man hinzufügen, würde allerdings voraussetzen, dass auch die folgenden Generationen dem Assimilationsdruck widerstehen
und weiterhin des Russischen mächtig bleiben.
Indem die Autorin die Zeitungen als imagined worlds konzipiert, durchschreitet sie jeweils eine Ausgabe der Russkij Berlin und des
Londonskij Kurier wie ein Dorf. Ausgehend
vom Zeitungskopf als Ortschild und den Leitmeldungen und Werbeanzeigen als „Orientierungstafeln“ beschreibt sie die verschiedenen Regionen und deren Verknüpfungen. Anders als andere Zeitungen seien die russischen Publikationen nicht nach inhaltlichen
Ressorts sondern nach „dem Ordnungsprinzip einer entterritorialisierten (entkoppelten)
Gruppe“ gegliedert. Die Aufteilung in drei
Zonen, nämlich Deutschland, Russland und
dem „Dazwischen“ stelle die zentrale Sinngebung der Migrantenzeitung dar (S. 228).
Die russische Presse in Deutschland sei eben
nicht, wie die traditionelle Forschung argumentiere, einseitig auf ihre Herkunftsländer
orientiert, sondern zeige großes Interesse für
die Belange der Aufnahmegesellschaft und
der jeweiligen eigenen Community vor Ort.
Die Zeitungen fungieren hier auch als ein
„Marktplatz“ für kommerzielle Aktivitäten,
soziale Verknüpfungen (Heiratsmarkt) und
den Austausch von Informationen.
Insgesamt gelingt es der Autorin zu zei-
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D. Tsypylma: Russkij Berlin
gen, dass die russische Presse in Berlin und
London nicht etwas Fremdes oder Importiertes ist, sondern ein genuines Produkt der ansässigen Bevölkerung. Die Identitäten und Interessen, die sich in den Publikationen widerspiegeln, sind dementsprechend vielfältig
und fluktuierend. Das Buch „Russkij Berlin“
ist deshalb unerlässlich für alle, die sich für
russische Migranten in Westeuropa interessieren und gewinnbringend für alle vergleichenden Studien über Medien im Kontext der Globalisierung.
HistLit 2005-4-138 / Christoph Schumann
über Tsypylma, Darieva: Russkij Berlin. Migranten und Medien in Berlin und London.
Münster 2004. In: H-Soz-u-Kult 02.12.2005.
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