Das Labyrinth der Stadt - Fraktale Bewegung und Identität

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Das Labyrinth der Stadt - Fraktale Bewegung und Identität
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Der folgende Text erscheint gekürzt in: Die Kunst zu wandeln – das Labyrinth. Hrsg.
Ilse M. Seifried. Innsbruck: Haymon 2002
Das Labyrinth der Stadt Fraktale Bewegung und Identität
Henning Eichberg
Inhalt
Kulturzusammenstoss als Ressource
Bilder des Urbanen
Das Labyrinth als historisch-poetisches Bild
Stadtbewegung und labyrinthisches Wandern
Polis, Thing und Labyrinth
Labyrinthisches Bewegungsspiel und Trelleborg
Umgang und Irrgang – Das Doppelte der Labyrinth-Bewegung
Antilabyrinthische Geometrie der Macht
Die fraktale Dimension
Graffiti und Zapping
Widersprüche denken...
... und das Dritte
Wir betreten das Labyrinth durch seinen Eingang. Es gibt nämlich nur einen Eingang. Wir
folgen dem Pfad dem Mittelpunkt entgegen und schwingen links herum, rechts herum, in
rhythmischem Wechsel. Es gibt auch nur einen Weg.
Vielleicht haben wir etwas anderes erwartet, Situationen der Wahl, wo wir uns
zwischen rechts und links entscheiden müssen. Aber es gibt keine Wahl. Es gibt keine
Verzweigungen und keine Sackgassen.
Dennoch werden wir verwirrt. Während wir ins Innere streben, scheint der Weg uns
wieder nach draussen zu führen. Wir haben die Situation nicht unter Kontrolle, es gibt keinen
Überblick – wo bin ich? Wegen des Mangels an visueller Kontrolle mag der Weg uns als eng
erscheinen. Ein Anflug von Klaustrophobie stellt sich ein. Wir sind dazwischen – wir sind
nicht frei.
Schliesslich haben wir das Zentrum doch erreicht, beinahe. Aber der Weg führt daran
vorbei und wieder in eine andere Richtung. Haben wir etwa einen Fehler gemacht? Aber es
gibt doch keine Gelegenheit, hier falsch zu wählen...
Und dann, plötzlich, finden wir uns dennoch im Mittelpunkt wieder. Was nun? In der
Mitte des Labyrinths ist nichts. Das einzige, was uns bleibt – wenn wir nicht auf ewig hier
verharren wollen – ist sich umzuwenden und das Labyrinth wieder zu verlassen.
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Nun wissen wir jedenfalls aus unserer eigenen körperlichen Erfahrung, dass der Weg
möglich ist. Wir haben es selbst probiert. Und doch haben wir den Raum nicht „erobert“. Es
fehlt etwas zu unserer Gewissheit. Wir ermangeln weiterhin des Überblicks. Vom Zentrum
her ist das Labyrinth ebenso unüberschaubar wie von aussen.
Schliesslich sind wir den ganzen Weg zum Eingang zurückgekehrt und blicken auf
die Windungen des Labyrinths zurück. Sind wir froh, wieder draussen zu sein? Glücklich
über die neue Freiheit? Oder haben wir den Wunsch, zurückzukehren und uns erneut auf die
Suche nach dem Geheimnis zu machen?
Im Labyrinth ist etwas geschehen, zweifellos. Was aber haben wir gefunden?
Vielleicht sollten wir es doch noch einmal versuchen... und wieder... und abermals...
Abb.1: Das alte Labyrinth von Visby auf Gotland (Kern 1982, 405).
Das Labyrinth verwirrt den Labyrinthgänger ebenso wie den analytischen Betrachter.
Wo ist sein Geheimnis? In der Forschungsliteratur hat sich die Suche zumeist übersetzt
in die Frage nach der symbolischen Bedeutung des labyrinthischen Musters. Weltweit
wächst die Literatur zu Fragen der Labyrinthsymbolik, ausgespannt zwischen dem
Eifer der Sammler (Caerdroia 1981 ff), tiefergehenden Forschungen archäologischer,
kunstgeschichtlicher und anthropologischer Art (Kern 1993, Schuster/Carpenter 1996,
291-313) und hochspekulativen Studien mit weltanschaulichen und spirituellen
Untertönen (Lonegren 1991, Attali 1996, Wolff 2001). Die symbolische Bedeutung des
Labyrinths und seine antiken Ursprünge sollen hier im folgenden jedoch am Rande
bleiben. Das Labyrinth ist gerade auch ein Phänomen der modernen, städtischen Welt,
und in diesem Zusammenhang erheben sich Fragen aktueller gesellschaftlicher Praxis –
Fragen von Bewegung und Identität, Geschlecht und Angst.
Kulturzusammenstoss als Ressource
Wenn wir uns analytisch der Bewegungskultur in der modernen Stadt nähern, stossen
wir auf ein Paradox. Städtische Bewegung, das ist der Sport – so mag der unmittelbar
naheliegende Schluss lauten. In der Tat, Sport ist eine spezifisch moderne
Bewegungsform und entstand in der Stadt der industriellen Epoche. Aber über die
eigentliche Urbanität des Sports wissen wir nur wenig, und erst in den letzten Jahren
hat man überhaupt begonnen danach zu fragen (Bale 1993, Eichberg 1999, Funke
2001). Sport entfaltet sich nicht in einem abstrakten, homogenen Raum, sondern in
sozial-körperlichen Landschaften, die ihre eigenen Bewegungsmuster hervorbringen.
Und dort kommt es auch zu Zusammenstössen. So stösst in Dänemark der “folkelige”
Sport, der vom Lande kam und historisch aus der bäuerlichen Gymnastikbewegung
hervorging, auf den Wettkampfsport der Fachverbände, der sich von bürgerlichstädtischen Voraussetzungen her entwickelte. Spiel, Fest und Vereinsleben auf dem
Lande stehen der olympischen Konkurrenz und Resultatproduktion in der Stadt
gegenüber. Aber damit geht die Rechnung noch nicht ganz auf.
Ist die Aufmerksamkeit für die Stadt-Land-Frage erst einmal geweckt, so stellt sich ein
Methodenproblem. Wie erfassen wir das strukturell Urbane von Sport und Bewegung?
Dazu bieten sich zunächst klassisch szientistische Verfahren an. Wir können z.B. die
Sporträume durch die Karte erfassen, also stadtgeographisch. Von der kartierbaren
räumlichen Plazierung des Sports in der Stadt her sieht es zunächst so aus, als sei die
Urbanität des Sports nicht so schwer zu verstehen. Hier liegen Wohnviertel, dort die
Fabriken, dort die Geschäftsbereiche, zwischen diesen funktionalen Zonen verlaufen
die Verkehrskorridore, und dann sind da die Flächen für Sport und Freizeit. Aber bei
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näherer Betrachtung fügt sich das Sporttreiben als Bewegung in übergreifende urbane
Rahmenbedingungen. Die Stadt ist insgesamt eine Bewegungslandschaft. Deren
Bewegungsleben ist nicht so einfach zu verkarten und macht einen umfassenderen
Blick notwendig.
Eine andere klassische Methode ist die Befragung der Bevölkerung. Treiben Sie Sport
– ja/nein – wenn ja, welchen? Das führt auf der organisatorischen Ebene in der Tat zu
charakteristischen Ungleichgewichten zwischen Stadt und Land. In Dänemark zeigt sich eine
deutliche kulturgeographische Differenzierung. Auf dem Lande und in den Provinzstädten
hat der Vereinssport ohne Wettkampforientierung seinen Schwerpunkt. In den Vorstädten
dominiert der Wettkampfsport. Und im Inneren der Grossstädte ist der unorganisierte Sport
besonders verbreitet (Larsen 2000). Damit wird fraglich, ob das Stadt-Land-Gefälle
tatsächlich, wie bisweilen angenommen, einem Prozess der Nivellierung unterliege, obwohl
doch die Medienentwicklung die Stadt-Land-Differenzierung im praktischen Alltag obsolet
macht. In mancher Beziehung driften die Bereiche jedoch eher auseinander. Skepsis ist
angebracht gegenüber dem Dualismus, wie er im Begriff “Stadt-Land-Gefälle” enthalten ist;
stattdessen haben wir mit einer grösseren Vielfalt von Lebensstilen zu rechnen.
Was die Bewegungsweisen selbst betrifft, so treten diese bei den Methoden des
statistischen Befragens zunächst in Gestalt der Sportarten hervor. Die Besonderheiten des
Urbanen zeigen sich also als Gewichtung innerhalb eines relativ abstrakten Schemas, wie es
durch die organisierten oder sonstwie standardisierten Sportarten vorgegeben ist: Fussball,
Schwim-men, Badminton... Über die strukturelle Urbanität der Bewegung ist damit noch
wenig gesagt.
Hier mögen unklassische Formen der Wissensproduktion weiterführen. Introspektion
im Sinne der Psychologie heisst, dass der Forscher sich selbst als Wissensressource nutzt,
durch narrative Erlebnisanalyse und szenische Beschreibung. Um die Subjektivität und damit
Inselhaftigkeit des introspektiven szenischen Beschreibens zu überwinden, sind jedoch
intersubjektive, dialogische Forschungsverfahren angebracht – Forscher können nicht nur
sich selbst, sondern auch einander als Ressource nutzen (Eichberg/Hansen 1996).
Insbesondere dann, wenn solcher Austausch über Kultur- und Sprachgrenzen
hinwegschreitet, sind die Prozesse der Bildentstehung aufschlussreich. Sprachliche
Kategorien beziehen sich auf Bilder – ein unmetaphorisches Sprechen gibt es nicht. “Die
Stadt” ist mit mythischen Bildern besetzt ebenso wie “der Sport” und “die Bewegung”.
Sprache tritt als aktiver Teilnehmer im Spiel der Wissensproduktion hervor. Wissen ist
poetische Konstruktion.
Nicht zuletzt ist der Kulturzusammenstoss aufschlussreich. Über Konflikt und
Kontrastbildung tritt das Besondere hervor. Wenn der Bauer oder der Nomade in die Stadt
kommt, ist die Chance, der urbanen Bewegung nahezukommen, grösser, als wenn
Stadtbewohner ihrer Selbstverständlichkeit nachgehen.
Bilder des Urbanen
Wenn man sich mit solchem Werkzeug in die Stadt begibt, stösst man zum Beispiel auf
die Geschwindigkeit des Stadtlebens. An der Stadt Paris brachte man solche
Kontrasteindrücke bereits in der frühen Neuzeit zum Ausdruck. Die Beobachtung des
Tempos urbaner Bewegung verwies zurück auf die Langsamkeit des Landlebens.
Jedenfalls liess sich in den schweren Holzschuhen des Bauern schwerlich ein Wettlauf
veranstalten.
Auch wurde dem linearen Rhythmus der Stadt bisweilen der zyklische Rhythmus
ländlicher Kultur gegenübergestellt (Thomsen 1999). Damit ergibt sich allerdings die
epistemologische Problematik einer dualen Bild- und Begriffskonstruktion – vielleicht ist sie
allzu dual.
Komplexer wird das Bild, wenn man die Aufmerksamkeit auf die im 19. Jahrhundert
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sogenannte Nervosität des Stadtlebens richtet (Radkau 1998, Zerlang 1999). Hundert Jahre
später zieht sie als Stress neue Aufmerksamkeit auf sich. Sport kann einerseits als eine
Reaktion auf das “nervöse” oder stressende urbane Muster, andererseits als dessen Ausdruck
verstanden werden.
Von den Zeitmustern zu eher räumlichen Konfigurationen führt es, wenn die Stadt als
Parzellierung erlebt wird, als eine Verinselung. Das kann als Aufteilungsstrategie im Sinne
des stadtplanerischen Funktionalismus verstanden werden. Stadt sei, so heisst es, eine
“Standortgemeinschaft von Funktionen”, und jede “Funktion” – was immer das sei – bringe
ihre Parzelle hervor, die mit anderen durch Mobilitätsprozesse verbunden sei (Jütting/Lichtenauer 1994 S.6).
Mit eher kritischen Augen gesehen, erscheint die Bewegungskultur der Stadt
hingegen als eine Vielfalt bewegungskultureller Szenen (Dietrich 1999). Die Metropole zeigt
sich bei solcher Betrachtung als ein unzusammenhängendes Archipel von Netzwerken und
Treffpunkten für Bewegungsaktivitäten. Kinder erschliessen sich dieses Archipel auf oft
subversive Weise (Muchow 1935).
Wie auch immer die Bewegungslandschaft der Stadt beschrieben wird, die
Annäherungen machen auf eine markante Begrenzung bisheriger Stadtforschung
aufmerksam. Das Phänomen Stadt wurde bislang entweder als eine Siedlungsform
angegangen oder aber – und das ist eine eher neue Betrachtungsweise – als eine soziale
Struktur. Zwischen den beiden Perspektiven mögen sich bisweilen Spannungsverhältnisse
ergeben, aber beide beschreiben Zutreffen-des. Dennoch sind sie nicht zureichend. Die Stadt
als Bewegungslandschaft ist ein Drittes. In welchen Kategorien lässt sie sich erfassen?
Das Labyrinth als historisch-poetisches Bild
Die Stadt, so sagt man oft, sei ein “Dschungel”, eine “Steinwüste”, ein “Labyrinth”.
Die sprachlichen Metaphern verweisen auf Bewegungsmuster. Durch die Strassen der
Stadt sucht man seinen Weg wie durch die unübersichtlichen Gänge des Labyrinths.
Wo bin ich? Wohin wende ich mich als nächstes? Wo kam ich her? Man treibt
orientierungslos umher wie in der Wü-ste. Der Blick ist uns versperrt – aber Bewegung
ist möglich.
Das Bild von der Stadt als Labyrinth, dem wir im folgen-den nachgehen wollen, hat
sich seit mindestens 200 Jahren in der Literatur verbreitet. Es ist mehr als ein luftiges
Sprachsymbol. Als historisch-poetisches Bild hat es seine Wurzeln in der Bewegungskultur
(Kern 1993, Eichberg 1989, 2000).
Der klassische Mythos erzählt von König Minos auf Kreta, der seinen genialen
Ingenieur Daidalos in Knossos das Labyrinth als ein Gefängnis bauen liess (Ranke-Graves
1960, 1:264-316; Castleden 1990, 7-17). Als Daidalos später in Ungnade fiel und selbst im
Labyrinth eingesperrt wurde, stellte er für sich und seinen Sohn Ikaros künstliche Flügel her
und flog damit ins Freie. Ikaros aber stürzte ab und starb.
Minos nutzte das Labyrinth-Gefängnis in erster Linie dazu, seinen Sohn Minotauros
eingesperrt zu halten, ein stierhäuptiges Ungeheuer. Alle neun Jahre lieferte man dem
Minotauros eine Anzahl junger Männer und Jungfrauen zum Frasse. Aber der Held Theseus
mischte sich unter die vorgesehenen Opfer, um sie zu befreien. Er drang ins Innere des
Labyrinths vor, kämpfte dort gegen das Ungeheuer und tötete es. Mit der Hilfe eines
Wollknäuels, den er von Minos’ Tochter Ariadne erhalten hatte, gelangte er aus dem
Labyrinth wieder ins Freie. Er reiste davon, liess Ariadne jedoch auf der Insel Naxos zurück
und betrog sie so um die versprochene Liebe. Ariadne heiratete später den Dionysos.
Theseus reiste von Naxos aus weiter nach Delos, wo er zu Ehren des Apollon ein
athletisches Fest veranstaltete. Theseus brachte den labyrinthischen Tanz geranos mit, den
Kranichtanz, der mit Harfenmusik begleitet wurde. Er hatte ihn in Knossos von Ariadne
gelernt, die einen Tanzboden aus weissem Marmormosaik besass, auch dieser von Daidalos
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konstruiert. In Delos tanzte Theseus nun zusammen mit seinen Gefährten den Kranichtanz
um den Altar des Apollon (oder der Aphrodite) herum, und das war das erste Mal, dass
Männer und Frauen zusammen tanzten. Die Leute von Delos übernahmen den Brauch des
Kranichtanzes, der sich von dort aus in vielen Städten Griechenlands und Kleinasiens
verbreitete.
Auch Homer erwähnte diesen Tanz in seiner Ilias (19. Gesang, Vers 590-605). Der
chorus diente dabei als Illustration eines labyrinthischen Ornaments auf dem Schild, den der
Gott Hephaistos für Achilles geschmiedet hatte. Homer verglich den Tanz mit der Hin-undHer-Bewegung einer Töpferscheibe.
Direkt überliefert ist die Abbildung des antiken Labyrinths auf der etruskischen
Weinkanne von Tragliatella (Kern 1982, 101-107). Auf diesem Tongefäss aus der Zeit um
620 v.u.Zr. sieht man zwei Reiter und eine Reihe von bewaffneten Männern aus einem
Labyrinth heraustreten. Das Labyrinth besteht aus sieben Umgängen und trägt die Aufschrift
„truia“. Die Männer marschieren oder tanzen auf zwei Frauen zu, die runde Gegenstände in
der Hand halten, vielleicht Knäuel oder Bälle. Auf der Rückseite des Labyrinths liegen zwei
Paare im Geschlechtsverkehr beieinander. Das etruskische Wort truia kann man philologisch
verbinden mit dem lateinischen Verb antruare oder amptruare, springen oder tanzen.
In dieser Tradition steht das römische Trojaspiel ludus troiae. Es wurde zuerst unter
Sulla (81 v.u.Zr.) und dann unter den Kaisern Cae-sar, Augustus, Tiberius und Caligula bis
zu Claudius im Jahre 47 veranstaltet. Vergil beschrieb es in seiner Æneis ausführlich als ein
labyrinthisches Reiterspiel junger Männer. Dass er es mit der mythischen Herkunft der
Römer aus Troja in Verbindung brachte, war ein Stück kaiserlicher Propaganda (Pfister
1977).
Der antike Labyrinthmythos existiert also in verschiedenen Varianten. Immer erzählt
er von menschlicher Bewegung, doch von unterschiedlicher Art. Er handelt von Tanz,
Kampf, Reiten und Springen, von Such- und Drehbewegung.
Ausserdem enthält der Labyrinthmythos eine Geschlechterproblematik. Der
Gefängnismythos erzählt von Minos, Minotauros, Daidalos und Theseus, der Tanzmythos
hingegen von Ariadne. Der König, der Stier-Sohn, der Ingenieur und der Held stehen dem
Mädchen gegenüber. Die Macht, der Schrecken, die Technik und der Kampf – dem Tanz.
Das Ungleichgewicht ist nicht zu übersehen (auch Duerr 1990, 147-174).
Stadtbewegung und labyrinthisches Wandern
Wie die labyrinthische Bewegung selbst ist der Mythos offen für zahlreiche, auch
widersprüchliche Deutungen. Einige dieser Deutungen beziehen sich auf die Stadt.
Seitens der Stadtarchitektur hat man die Auf-merk-sam-keit auf “das Labyrinthische”
als eine Grundform menschlicher Bauformen gerichtet (Pieper 1987). Das Labyrinth, von
dem der klassische Mythos erzählt, hatte dieser Hypothese zufolge seinen Ursprung um 1400
v.u.Zr., als stadtlose, agrarische und nomadisierende Stämme der griechischen Halbinsel auf
die kretisch-minoische Kultur stiessen, die sich um die steinerne Stadt Knossos herum
herausgebildet hatte. Der Kulturzusammenstoss löste bei den Nomaden gleichzeitig
Schrecken und Faszination aus. Aber es ging bei alledem nicht nur um einen neuen Anblick,
nicht nur um die “Stadt im Auge”. Es war eine neue Bewegungsweise, die die Stadt den
Menschen aufnötigte – oder aus der sie hervorwuchs.
Die Stadt ist eine bestimmte Bewegungsform, sie unterscheidet sich von der
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Bewegung auf dem Lande. Das Labyrinth liefert ein Bild für dieses körperliche Verhältnis.
Labyrinthische Bewegung beschreibt die Weise, in der Stadtbewohner sich ihre Umwelt
aneignen.
Architekturhistorisch kann man das Labyrinthische und die Stadtstruktur auf
bestimmte Prozessionsformen beziehen. Prozessionen spielten für die historische
Herausbildung der Stadt und ihre Bau- und Bewegungsgeschichte eine wichtige Rolle. Das
mittelalterliche Leben war von Prozessionen durchzogen, und ganze Städte wurden als
Abfolge von Pilgerstationen strukturiert. Aus Indien sind spezielle Prozessionsstädte bekannt,
die ganz auf die Bewegungsmuster des rituellen Umgangs ausgerichtet sind (Pieper 1987, 2.
T., Kap. 2-4).
Der Zusammenhang von Stadt und Prozession ist jedoch nicht nur vorzeitlich. Als
man zu Beginn der 1980er Jahre daran ging, mittels des Stadtkarneval das Innere der Stadt
Kopenhagen zu besetzen, bildeten die Tanzgruppen und ihre Umzüge, die in alle möglichen
Richtungen hin und durcheinander wimmelten, unüberschaubare labyrinthische Muster.
Damit unter-schieden sie sich von den Paraden, zu denen der etablierte Karneval anderenorts
geworden ist – dort ahmt er persi-flie-rend Formen militärischer Machtdemonstration nach
oder wird zur übersichtlichen Show von Reklamepräsentationen.
Prozession und Karneval bilden jedoch nur Höhepunkte im Stadtleben, das auch in
seiner Alltäglichkeit aus zirkulierenden und labyrinthischen Formen des Umherziehens
besteht. Der Flaneur lässt sich treiben, der Tourist sucht seinen Weg, Einkaufende bummeln,
und Jugendliche trödeln in Gruppen herum, der Stadtstreicher vagabundiert, und der Jogger
zieht seine Kreise.
Die nomadische Bewegung des Menschen kann man auch anthropologisch sehen: Der
Mensch ist ein Wanderer (Chatwin 1988). Das ist eine sinnvolle Kontrasthypothese zum
üblichen Stereotyp, wonach die „natürliche“ Entwicklung notwendig hin zum sesshaften
Leben führe, zu Stadt und Staat. So eindimensional verläuft die Geschichte nicht. Allerdings
erwachsen aus der Hypothese vom basalen Nomadentum zugleich auch neue
Verständnisprobleme. In diesem Rahmen erscheint das Labyrinth nämlich als eine
Konfiguration nomadischer Wanderbewegung und beschreibt z.B. die Songlines, die
gesungenen Wege, der australischen Aborigines – im Kontrast zur Pyramide, zur
versteinerten sesshafter Macht. Das widerspricht der genannten architektonischen Deutung
des Labyrinths als Ausdruck von Steinstadt und Königsmacht in Knossos.
Polis, Thing und Labyrinth
Auch aus nordeuropäischer Sicht ist die Beziehung zwischen Labyrinth und Stadt nicht
so einfach, wie die Architekturtheorie es annimmt. Zunächst erinnert die Begegnung
der stadtlosen Griechen mit dem Steinmeer Knossos in der Tat an das Bild Roms in
den Imaginationen der dänischen Nationalromantik. Gegen das imperiale Rom
entwickelte der Kulturphilosoph N.F.S. Grundtvig im 19. Jahrhundert eine sogenannte
“folkelige” Kultur-kritik, in der sich Abwehr und Faszination misch-ten. Daran knüpfte
die anarchistische Kulturkritik des 20. Jahrhunderts an. Der Maler Asger Jorn (1964)
setzte in seinem Buch “Thing und Polis” zwei Konfigurationen scharf gegeneinander,
als historische Erfahrungen und zugleich als Ausgangspunkte zweier unterschiedlicher
Auffassungen von Demokratie. Die Polis stand für das Modell der Bürgerpolitik; sie
entstand historisch aus der Kombination von Burg bzw. Befestigung, stadtbürgerlicher
Klassengesellschaft und Sklavenökonomie. Der Thing stand für die Selbstverwaltung
ländlicher Sippen, für die Dorfdemokratie, und der Bauer erschien als Joker zwischen
urbaner Bourgeoisie und Proletariat.
Insofern gibt es den Widerspruch zwischen Land (Thing) und Stadt (Polis), aber er
fällt in Nordeuropa gerade nicht zusammen mit dem Gegensatz zwischen stadtloser
Agrargesellschaft und Labyrinthkultur. Das Labyrinth liegt hier nämlich keineswegs
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ausserhalb der eigenen Kultur, wie Rom für Skandinavien und Knossos für die griechischen
Stämme. Der städtelose alte Norden ist vielmehr selbst eine der klassischen
Labyrinthkulturen der Welt.
In Skandinavien ist das Labyrinth seit wenigstens einem Jahrtausend als Zirkulationsund Tanzform belegt und ein Teil volkstümlicher Bewegungskultur. Das Labyrinth des
Nordens bildet ein schnecken- oder spiralähnliches Muster und besteht aus einem einzigen
Weg, der in verschlungenen Formen vom Eingang zum Mittelpunkt führt. Die Form kann
variieren, besteht jedoch zumeist aus sieben oder elf Umgängen, die zusammen eine
nierenähnliche Gestalt ergeben. Normalerweise ist das Labyrinth auf dem Boden markiert, in
der Regel als Steinsetzung.
Mehr als 500 solcher Steinlabyrinthe lagen und liegen zum Teil noch heute –
insbesondere an den Küsten – in den nördlichen Ländern, von Nordrussland und den
baltischen Ländern über Skandinavien bis hin zu den britischen Inseln (Knudsen 1948; Kern
1982, 391-415, Karten 396-398). Die labyrinthischen Steinsetzungen sind unter den Namen
Trøjborg (Tro-jaburg), Trelleborg (Dreh-, Drill- oder Treidelburg), Vølundshus (Wielands
Haus), Dansesten (Tanzstein) und Jungfrudans (Jungfrauentanz) bekannt. Sie werden
teilweise bis in die frühe Eisenzeit oder gar bis in die Bronzezeit zurückdatiert.
Der Labyrinthname Trelleborg ist der älteste. Er ist im Jahr 1016 zuerst im
normannischen Frankreich belegt (Tralicburc, später Taillebourg), führt aber vielleicht
bereits auf die dänischen Trelleburgen des 10. Jahrhunderts zurück. Linguistisch ist Trellemit englisch trail verbunden – Pfad, Spur, Fährte, ziehen – und im Deutschen mit treilen oder
treideln – schleppen, ziehen. Das frühneuhochdeutsche trödeln ist möglicherweise eine
gerundete Nebenform und betont eine gewisse Langsamkeit der Bewegung. Es gibt auch eine
sprachliche Verwandtschaft mit englisch to throw und to drill, mit deutsch drehen, drillen
und Drall, sowie mit dänisch dreje (drehen) und drille (foppen). Alle sind von einer
indogermanischen Wurzel ter* abgeleitet. Trelle- beschreibt damit eine drehende, ziehende
Bewegung, sei es beim Zeichnen (to draw – auf dem Erdboden) oder als Gangbewegung
durch die labyrinthische Choreographie hindurch. In jedem Fall handelt es sich um eine
Körperbewegung, und das gilt ebenfalls für den im Norden ebenso verbreiteten
Labyrinthnamen Trøjborg oder Trojaborg. Dieser Name ist seit 1307 zuerst in Schweden
belegt (Troyobodhe, heute Tröjeborg) und verbunden mit dem etruskisch-römischen truia,
springen oder tanzen.
Andere nordeuropäische Labyrinthnamen wie der finnische „Jungfrauentanz“ haben
eher geschlechtsbezogene Konnotationen. Labyrinthe wurden mit Königin Christina, mit
Frau Trolleborg oder Jungfrau Maria verbunden oder auch als Nonnenwall bezeichnet. Der
älteste solcher Bezüge ist wohl der Disensaal, den Snorri Sturlusson in seiner Heimskringla,
dem norwegischen Königsbuch erwähnte. Der mythische König Adils wollte, so heisst es
dort, den Disen opfern, den Göttinnen der Vorwikingerzeit. Er ritt dazu auf einem seiner
schnellen Pferde in den Disensaal, aber dort zwischen den Steinen stolperte sein Ross. So
stürzte Adils sich zu Tode. Ein Skaldenlied des 9. Jahrhunderts beschrieb diese Szene (Snorri
1922, 1:58-59). Als „Jungfrauentanz“ erinnert das nordische Labyrinth also an die
geschlechtspolitischen Spannungsverhältnisse des kretischen Mythos.
Labyrinthisches Bewegungsspiel und Trelleborg
Labyrinthe der gleichen Form wie in Nordeuropa gab es in den Mittelmeerkulturen seit
dem Neolithikum, in Indien bis hin nach Afghanistan, Sri Lanka und Indonesien, sowie
bei einigen Indianervölkern, bei den Hopi und Pima im Südwesten der USA und bei
den Caduveo in Brasilien. Überall war das Labyrinth mit Bewegungsspielen
verbunden. In den verschlungenen Wegen der Steinsetzung und auf dem Mosaik des
Fussbodenlabyrinths konnte man – den überlieferten Quellen zufolge – reiten, Ball
spielen, um die Wette laufen oder hinken. Labyrinthmythen verweisen aus-serdem auf
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Ringkampf und andere Arten von Zweikampf. Insbesondere aber war das Labyrinth
eine Choreographie des Tanzes, sei es von Einzeltänzern oder in Ketten.
Labyrinthische Kettentänze haben sich bis ins 20. Jahrhundert im baskischen
Schneckentanz, in den Tänzen des bretonischen Nachtfests, Fest noz, und in den
Kettentänzen der Färöer erhalten. Wo Jugendliche wie in England und Schweden das
Labyrinth zu Flirtspielen nutzten, war ein erotisches Abenteuer mit im Spiel. Für
Kinder war das Labyrinth eine Zeichenübung und – wahrscheinlich – ein
Ausgangspunkt für Hinkespiele des Frühjahrs wie “Hinkeschnecke” und “Himmel und
Hölle” (Vries 1957, Schuster/Carpenter 1996, 294-97).
In den städtelosen oder stadtarmen Landstrichen Nordeuropas waren die Labyrinthe
also keineswegs an die steinerne Stadt gebunden. Wohl aber gibt es einen gegenläufigen
Zusammenhang, nämlich eine historische Linie vom Labyrinth hin zu bestimmten Typen von
Burgen. Der Labyrinthname Trelleborg bezeichnet nämlich in Dänemark die eigentümlichen
ringförmigen Burgen der Wikingerzeit – Trelleborg bei Slagelse, Fyrkat bei Hobro,
Aggersborg am Limfjord und Nonnebakken in Odense. Die Burgen des Trelleborg-Typs
bestanden aus einem exakt kreisrunden Wall mit vier Toren und einer kreuzförmigen
Weganlage im Inneren. Die Viertel innerhalb der Wälle waren in strikt geometrischer Weise
mit Langhäusern für mehrere hundert Menschen bebaut. Die Trelleburgen hatten, wie ihr
Name sagt (Knudsen 1948), wahrscheinlich ihren Ursprung in Labyrinth-Tanzplätzen und
wurden später, in den Jahren 980-1000, als Sakralburgen ausgebaut, als Stätten ritueller Feste.
Abb.2: Die vier dänischen Trelleburgen. Aus: Poul Nørlund: Trelleborg. Kopenhagen:
Nationalmusset 1968.
Zwar haben moderne Archäologen diese Wallanlagen zunächst militärisch gedeutet,
und – spekulativ – von Kasernen, Invasionsarmeen für die Eroberung Englands und
Zentren königlicher Heeresmacht gesprochen (Nørlund 1948, Olsen/Schmidt 1977,
Roesdahl 1977 und 1994, Andersen 1990). Aber bei näherer Betrachtung der
archäologischen Fundlage, der schriftlichen Quellenlage, und der zeitgenössischen
Kriegstechnik lässt sich die Zuschreibung militärischer Funktionen nicht halten.
Insbesondere hätte es im Falle königlich-militärischer Anlagen keinen Sinn gegeben,
die mit grossem Aufwand und ingenieurmässig sorgfältig konstruierten Bauten so bald
wieder aufzugeben. Wahrscheinlicher ist, dass die Burgen des Trelleborg-Typs als
Kultstätten genutzt wurden, in denen sich das Volk zu rituellen Festen versammelte
(Cohen 1965, Christensen 1988, Nancke-Krogh 1992, 120-123).
Das bestätigen neuere Ausgrabungen in Trælbanken und anderen vergleichbaren
Rundburgen Nordfrieslands, die aber älter sind und bereits aus dem 1. Jahrhundert stammen
(Harck 1987). Auch im niederländischen Oost-Souburg fand man eine streng aus Zirkel und
Kreuz konstruierte, viertorige Wallanlage aus dem 9./10. Jahrhundert, die den dänischen
Trelleburgen auffällig glich. Sie war zunächst ebenfalls nicht permanent besiedelt, wurde
aber im 11./12. Jahrhundert vorübergehend zur festen Siedlung (Trimpe Burger 1973). Da in
Dänemark die Christianisierung den Trelleburgen um die Jahrtausendwende die Grundlage
entzog, wurden die Anlagen dort nie zu steinernen Städten. Im Zuge des Religionswechsels
brannte man sie um das Jahr 1000 nieder, und erst im 20. Jahrhundert wurden sie
wiederentdeckt.
Das Labyrinth entzieht sich also bei genauerer – und vergleichender – Betrachtung
den dualen Klassifizierungen wie Stadt vs. Land, Polis vs. Thing, Steingefängnis vs.
Nomadisie-ren. Die simple Hypothese vom Labyrinth als Abbild der steinernen Stadt lässt
sich nicht halten – das Labyrinth ist zunächst Bewegung. Dennoch oder gerade darum,
nämlich aufgrund seiner Verbin-dung von Bildhaftigkeit und Bewegungsbezug, ist das
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Labyrinth hilfreich und erhellend für eine nuanciertere Theoriebildung über Stadt und
Bewegung.
Umgang und Irrgang – Das Doppelte der Labyrinth-Bewegung
Die Komplexität des Labyrinths kann auf eine Mehrdeutigkeit der Labyrinthbewegung
zurückgeführt werden. Bei genauerer Betrachtung bezeichnet das umgangssprachliche
Wort Labyrinth nämlich zwei grundverschiedene Bewegungsbilder.
Das Einweg- oder Umgangslabyrinth ist die ursprüngliche Form, wie sie sich auf
neolithischen Felsenzeichnungen findet und in den Steinsetzungen der nordeuropäischen
Tanzlabyrinthe und Trojaburgen erscheint. Dieses Labyrinth erlaubt keine alternativen
Bewegungen nach rechts oder links, und man kann sich darin nicht verirren. Es gibt nur einen
einzigen Weg vom Ein-gang in verschlungenen Bögen hin zum Mittelpunkt, wo man
umkehren und denselben Weg zurückgehen muss.
Die andere Form des “Labyrinths” ist der Irrgarten, auf englisch “maze”. Als Bild
findet es sich zuerst als „Gefängnis“ bei Giovanni Fontana um 1420 und dann ab 1520/30 als
Gartenanlage der Renaissance (Kern 1982, 199-204, 283). Es ist also erheblich jünger. Der
Irrgarten sieht so unüberschaubar aus wie das ursprüngliche Labyrinth, aber er verwirrt durch
eine Folge von Wahlsituationen. Man kann den neuzeitlichen Irrgarten insofern ein
Pseudolabyrinth nennen, aber faktisch beherrscht und überlagert er die moderne Vorstellung
vom Labyrinth weitgehend.
Nicht erst die Moderne hat die beiden Grundformen verwechselt. Schon der
klassische Knossos-Mythos handelte eigentlich von einem Irrgarten, den Theseus nur mit
Hilfe von Ariadnes Faden bewältigen konnte. Aber kretische Münzen und andere Bildquellen
von 650 v.u.Zr. an zeigten ausnahmslos das klassische Einweglabyrinth, für das ein Faden
unnötig wäre. Bild und Erzählung widersprachen also einander. Seitdem tauchte das
Missverständnis immer wieder auf bis in unsere Tage, da Umberto Ecos Mittelalterkrimi
“Der Name der Rose” (1980) ein Pseudo-labyrinth voller Sackgassen beschrieb, aber mit dem
Einweglabyrinth aus einer mittelalterlichen Kathedrale illustriert wurde.
Es ist besonders das Bewegungsmuster, das den Kontrast zwischen den beiden
Formen deutlich macht. Die Labyrinthbewegung schwingt rhythmisch, sucht den Umweg, die
Wende und die körperlich-sinnliche Herausforderung, ohne “richtige” oder “verkehrte”
Lösungen anzubieten. Genau das ist hingegen die Pointe des Irrgartens, dessen Bewegung
unregel-mässig von Kreuzung zu Kreuzung, von Entscheidungssituation zu
Entscheidungssituation springt. Hier ist der Fluss stets gehemmt von Wahl und Zweifel: Habe
ich mich nun für den richtigen oder den falschen Weg entschieden?
Den unterschiedlichen Bewegungsweisen entsprechen zwei unterschiedliche
Psychologien. Der Irrgarten ist eine Landschaft der Angst. Sie fand ihren literarischen
Ausdruck in Franz Kafkas Kurzgeschichte „Der Bau“, 1923/24. Gaston Bachelard (1948,
210-260) entwickelte auf dieser Grundlage eine „materialistische Psychoanalyse“ der
labyrinthischen Vorstellungen – eine Welt aus unterirdischen Anlagen und Tunneln, Grotten
und Höhlen tat sich auf, Verlorensein, Klaustrophobie und Alptraum. Enge und Angst
verweisen nicht nur sprachlich aufeinander. Ausserdem verzeichnet die MainstreamPsychologie unter dem Stichwort Labyrinth die Skinnerschen Irrgartenkonstruktionen für
Rattenexperimente (Dorsch 1982, 396). Auch das ist eine Landschaft des Stress. Das
Umgangslabyrinth hingegen handelt von Erfahrung, Vertrauen und Rhythmus, vom
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Schwingen und Fliessen.
Das Eigentümliche der urbanen Situation ist, dass in der städtischen
Bewegungslandschaft die beiden ansonsten widersprüchlichen Bilder zusammenhängen. Die
Strassen der Stadt bilden einen verwirrenden Irrgarten für den Fremden, der von aussen bzw.
auf der Strasse der Macht daherkommt – für den Touristen, den Eroberer, den
Kolonialherren. Für den Einwohner hingegen ist die Stadt ein vertrautes Labyrinth.
Der Städter hat es “im Körper”, woher und wohin der Weg geht. Man bewegt sich
automatisch, ohne ständiges Nachdenken, ohne sich an jeder Strassenecke neu zu
entscheiden. Man folgt den Schwingungen und dem Fluss des Umgangslabyrinths.
Der Fremde hingegen geht den Weg des Pseudolabyrinths, des “maze”. Man geht
suchend, tastend und unsicher, fragt zur Sicherheit andere und sich selbst, immer orientiert an
einem Ziel, das man sich gesetzt hat. Man zweifelt und kann Angst verspüren, fehlzugehen
und sich zu verirren. Hier erkennt man die Gefängnis- und Angstgeschichte des alten Kreta
wieder. Besonders herausfordernd ist die Situation für die Männer der Macht, denen hier die
Kontrolle zu entgleiten droht. Der urbane Irrgarten bietet ein Bild der Bewegung in die
Fremde, der Entfremdung.
Das Besondere an der Stadt als Bewegungslandschaft ist, dass sie beides gleichzeitig
enthält, das Labyrinthische und das Pseudolabyrinthische, den Umgang von innen gesehen
und den Irrgang von aussen gesehen (Erste Andeutungen dazu finden sich bei Walter
Benjamin, siehe Paetzold 2001). Die Stadt ist Bewegung in der Heimat und in der Fremde
zugleich. Labyrinth und Irrgarten haben dabei ein Gemeinsames – die krumme Linie, das
Unüberschaubare.
Antilabyrinthische Geometrie der Macht
Die beiden Aspekte des Labyrinthischen befinden sich nicht im Gleichgewicht. Ihr
Verhältnis ist Teil einer Machtgeschichte. Die Bewegungs- und Baustruktur einer Stadt
gibt Auskunft darüber, wo die Macht sitzt. Die Macht, die von oben oder aussen
kommt, wird durch die Unübersichtlichkeit beängstigt und versucht, sich die Stadt neu
zu schaffen – mit geraden Linien und rechten Winkeln, mit axialem Überblick und
geometrischer Ordnung. So entsteht die panoptische Stadt, wie man sie mit Michel
Foucault (1977) nennen könnte. Die Strategie der Angst triumphiert über die
anheimelnde Unübersichtlichkeit.
Die übersichtliche, antilabyrinthische Stadt erhielt ihre klassische Form in den
Idealstädten der Renaissance. Das Projekt des Absolutismus, das die soziale Welt vom “Auge
des Königs” her konstruierte, wurde in den Stadtplan übersetzt mit dem bastionären
Festungsring nach aussen und der Zitadelle als Drohung nach innen (Eimer 1961, Eichberg
1976, 1989 a). Die Zentralperspektive herrschte, und der Blick folgte den Schusslinien der
Kanonen, die nach aussen den Wall flankierten und nach innen die schachbrettartig oder
radial angelegten Strassen bestreichen konnten. Reinlichkeit verband sich mit
Aufruhrkontrolle.
Abb.3: Barocke Idealstadt und –festung. Aus Johann Rudolph Fäsch: KriegsIngenieur- Artillerie- und See-Lexikon. Dresden, Leipzig 1735.
Die panoptische Stadtplanung setzte sich im 19. Jahr-hundert mit den grossen
Boulevards fort, wie sie Baron Haussmann durch den “Dschungel” von Paris schlug.
Was damals “riot control” war, wurde im 20. Jahrhundert zum Inbegriff des
Funktionalismus, der im Sinne von Le Corbusier die Autobahn und das rechtwinkelige
Strassennetz zur Norm erhob. Überschaubarkeit und Geschwindigkeit machten die
modernistische Konfiguration aus, wie die Futuristen sie poetisierten (Virilio 1977).
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Faschismus und Nazismus knüpften daran an mit ihrem axialen Neuba-rock, mit
Autobahnen und monotonem Monumentalismus.
Abb.4: Moderne Stadtplanung – Albertslund in Dänemark.
Die antilabyrinthischen Strategien gegenüber dem Stadtleben fielen oft zusammen mit
direkter Kolonisation. Der Zusammenstoss ist in der Dritten Welt besonders sichtbar.
Für die spanischen Kolonialstädte in Amerika legte man das Schachbrettmuster
zugrunde, um einen beherrschenden Zentralplatz herum. In den arabischen Ländern
sind labyrinthische Städte nun oft konfrontiert mit oder werden eingeebnet zugunsten
von westlichen Konstruktionen entlang gerader Linien (Westman 1979). In Sansibar
stossen die arabische Altstadt und die ebenso unübersichtlichen Vorstädte aus SuahiliDörfern brüsk zusammen mit kilometerlangen monotonen Blockbauten, die aus der
deutscher Entwicklungshilfe – hier der DDR – stammen (Malisius 1985). Der
Kulturzusammenstoss ist ein Bewegungskonflikt. Es gibt einen Zusammenhang
zwischen kolonialer Herrschaft und geradlinigem Weg, zwischen Machtgeschichte und
der Geometrie körperlicher Raumeroberung.
Abb.5: Pueblo San Fernando de Bexar in Texas, 1730 – die koloniale Stadt (Westman
1979).
Abb.6: Tunis – Altstadt und Neustadt (Westman 1979).
Damit ist nicht gesagt, dass die Kolonisierung des Stadtlebens sich auf die Dauer
durchsetzen wird, so wie es neomoderne Prognosen von der Globalisierung nahelegen.
Es gibt entgegengesetzte Erfahrungen, die zeigen, wie Bevölkerungen sich
machtbegründete Geometrien subversiv aneignen und neulabyrinthisch umformen
(Muchow 1935).
Die Widersprüchlichkeit zeigt sich auch am Sport. Sportstadien waren ein wichtiger
Bestandteil des machtgeleiteten Strebens nach Übersichtlichkeit, von den napoleonischen
Amphitheatern über die faschistischen Stadien bis zu den Multistadien des gegenwärtigen
Maktes, von den Laufbahnen pädagogischer Disziplinierung bis zum futuristischen Projekt
der totalen Autobahnisierung (Bale 1993, 1995). Insofern war der Sport nicht nur eine
Hervorbringung der Stadt, sondern auch eine Kolonisierung.
Aber die Geometrie der Macht bezog ihre überzeugende Kraft auch aus einem
elementaren Orientierungssuchen des Menschen: Wo bin ich – und wer bin ich eigentlich?
Die Unsicherheit der menschlichen Existenz drängt auf eine neue Übersichtlichkeit,
zumindest auf begrenztem Raum – wie dem Stadion – und in einer begrenzten Zeit, solange
das Spiel vor sich geht. Und doch ist der Blick nur ein Teil der Körperlichkeit, auf die sich
die menschliche Identität bezieht. Dem Auge gegenüber ist nicht zuletzt die Sinnlichkeit der
Hand für das “Begreifen” der Welt grundlegend (Grundtvig 1817).
Die fraktale Dimension
Die Stadt – als Architektur, Stadtbewegung und Stadtleben – ist charakterisiert durch
eine Komplexität, die jenseits von Chaos und panoptischer Geometrie eine dritte
Position einnimmt (auch Maaløe 1976). Diese dritte Dimension hat man von
mathematischen Überlegungen und Computersimulationen her als die fraktale
Dimension gekennzeichnet. Fraktale sind geometrische Formen, die im Kontrast stehen
zur klassischen “glatten” Geometrie der Dreiecke, Kreise, Parallelen und Kugeln, wie
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die abendländische Wissenschaft sie seit Jahrhunderten kultiviert hat. Die Formen des
Lebens lassen sich durch diese glatte Geometrie aber nicht beschreiben. Baum- und
Blattformen, Wolken, Wasserströmungen und Küstenlinien, Körperzellen und
Blutadern, Fisch- und Vogelschwärme, Menschengesichter und Menschenmassen
bilden Muster, die man früher „mathematische Monstren“ oder „Launen der Natur“
nannte und umschrieb als faltig, gewunden, knotig, krumm, polypenförmig,
schlängelnd, seltsam, sprudelnd, tangartig, unüberschaubar, verwickelt, verzweigt,
wild, wirbelartig, wirr, wunderlich, zufällig – oder eben als labyrinthisch. Und in der
Tat, in Benoît Mandelbrots bahnbrechendem Werk über die fraktale Geometrie der
Natur findet sich auch das Labyrinth als eine charakteristische fraktale Figur (1987,
Taf.158, vgl. Nørretranders 1995, 440-469). Es leuchtet ein, dass Stadtplaner begonnen
haben, die fraktale Geometrie zu einem tieferen Verständnis der “organischen”
Veränderungen von Stadtstrukturen zu nutzen (Frankhauser 1990/91).
A..7: Labyrinth in der fraktalen Geometrie von Mandelbrot (1987, Taf.158).
Die Entdeckung des Labyrinths als einer fraktalen Konfiguration wurde von Künstlern der
modernen und “postmodernen” Avantgarde vorweggenommen. Friedensreich Hundertwasser
(1983) experimentierte seit den fünfziger Jahren mit der “unendlichen Linie” als einem
Gegenbild zur Herrschaft der geraden Linie und des rechten Winkels. Asger Jorn (1963)
entdeckte die Labyrinthe in der Volkskultur des alten Nordens wieder und führte sie in die
Provokationskunst des internationalen Situationismus ein. Jorge Luis Borges liess sein
literarisches Werk um das Labyrinthische kreisen, und Umberto Eco (1980) setzte ihn daher
im “Namen der Rose” ins Zentrum seines kriminologischen Irrgartens, polemisch zwar, aber
nicht ohne seine eigene Faszination zu verhehlen. Gemeinsam war all dem die
Thematisierung von Unüberschaubarkeit. Die neuen Labyrinthe lassen sich lesen als ein
ironischer Kommentar zu den Klagen des alten Rationalismus über die – so Jürgen Habermas
(1985) – “Neue Unübersichtlichkeit”.
Graffiti und Zapping
Bald schon wurden die Vorstösse der Avantgarde und der Intellektuellen von
populärkulturellen Innovationen begleitet. Labyrinthe verbreiteten sich als esoterisches
Symbol und als Kindersuchspiel in Zeitschriften, als Psycho-Logos und feministische
Tanzkreise. In der neuen Jugendkultur findet sich das Labyrinthische insbesondere als
Computerspiel und Graffito wieder.
Irrgärten sind eine Grundform der Video- und Computerspiele (Seesslen 1984). In der
elektronischen Spielkultur verflicht sich der Irrgarten mit Sportsimulation (“Pong”),
Automobilfahrt (“Crash”) und Kriegsspiel (“Tank”). Sie trainieren die Reaktionsleistungen
in den Grundarten: Fortbewegung in verschiedene Richtungen und mit unterschiedlichem
Tempo, Schlagen und Schlagabwehr, Fressen und Entkommen, Schiessen und Ausweichen.
Rechts herum, links herum oder geradeaus – wohin soll der Pac Man laufen?
Permanent steht man vor der Wahl, das Scoring am Schluss zeigt das Leistungsresultat
in Punkten, und so entfaltet der Irrgarten seine sortierende, selektierende Wirkung.
Man kann das Video- und Computerspiel sogar nach dem Muster des Sports in
Hierarchien organisieren, mit Turnieren und Punktesystemen, mit Bundesliga und
Weltmeisterschaft.
Das (Pseudo-)Labyrinthische wurde damit zurückgebogen ins Sportive. Was auf dem
Bildschirm visualisiert wird, ist Multiple Choice, das Verfahren der Gesellschaft zum Test
von Leistung und zur intellektuellen und sozialen Selektion. Hier gilt es, “seines eigenen
Glückes Schmied” zu sein.
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Unterirdisch gegenläufig jedoch verläuft eine andere Geschichte. Innerhalb der
Irrgartenlogik verschieben sich die Kriterien und Antriebe, von der vernünftigen
Entscheidung zum Zapping. Der Zapper wählt nicht mehr zwischen richtig und verkehrt,
sondern zwischen Angeboten und Alternativen, wo alles mehr oder weniger richtig und
verkehrt, wo alles möglich, unterhaltend und vergnüglich ist. Das Zappen im Pseudolabyrinth
des Irrgartens ist ein lustbetonter Kanalwechsel. Seine Zickzackbewegung führt von der
wohlüberlegten Kalkulation zurück zur Wegfindung “aus dem Körper heraus”. Der Hacker
surft – wie der urbane Flaneur – durch den Irrgarten mit der traumartigen Sicherheit des
Labyrinthgewohnten – während er zugleich das System aushebelt. Damit verwischt sich wie
in der städtischen Bewegung die Grenze zwischen Labyrinth und Irrgarten, zwischen
Umgangs- und Pseudolabyrinth.
Hinzu kommt die neue Schrift an den Wänden, die Sprache der Graffiti. Eine Zeitlang
waren wir es gewohnt, von den Mauern herab aufgefordert zu werden: Es lebe...! Nieder
mit...! Unterstützt das kämpfende Volk von...! Weg mit...! Das entsprach der Irrgartenlogik:
Rechts herum! Nein, links herum! Nein, weiter auf dem Weg des...! Seit den 1980er Jahren
präsentieren sich die neuen Graffiti hingegen als “inhaltslose” Verschlin-gungen. Sinnlose,
unlesbare Namen überziehen den Beton. Ihre Botschaft liegt nicht im Appell, sondern in der
verschlungenen Form selbst: “Das bin ich”, “Hier ist mein Ort”, “Ich war hier”. Identitätsund Lokalitätsmarkierung kommen in einer neolabyrinthischen Zeichensprache zusammen.
Abb.8: Graffiti.
Die öffentlichen Autoritäten reagierten bestürzt auf die neue Form von
Territorialanspruch. Es fiel ihnen auf, dass bevorzugt oder ausschliesslich die
öffentlichen und überdimensionierten Wände, die geradlinigen und anonymen Bauten
den Graffito anzogen. Der urbane Kampf zwischen der geraden Linie und dem
Labyrinth trat auf überraschende Weise neu hervor.
Neben Graffiti und Zapping formen die Strassenfeste des Karneval, das Jogging, das
Skateboarding und das Inlineskating (Borden 2001) im urbanen Raum neue Hybridformen
von Labyrinth und Irrgarten. Sie bringen die Identitätssuche unter den Bedingungen
spätmoderner Gesellschaft zum Ausdruck. Neue Tribalitäten entstehen und schaffen neue
Öffentlichkeiten, aber auch neue Geheimnisse (Maffesoli 1996). Die moderne
Stadtsoziologie erwuchs nicht zufällig aus dem Genre der Reportage, die der labyrinthischen
Wirklichkeit näher kommt als die intellektuellen Abstraktionen des Systemfunktionalismus
(Lindner 1990).
Der Markt antwortet neuerdings auf die Labyrinthik der zivilgesellschaftlichen Praxis
durch die Disneyfizierung urbaner Landschaften als Simulationen des Labyrinths. Japanische
Kaufhäuser versehen sich mit den sogenannten Landsborough-Labyrinthen, benannt nach
ihrem Konstrukteur, dem neuseeländischen Architekten Stuart Landsborough. Mit
beweglichen Plastikwänden können die Kauflandschaften mit leichtem Handgriff umgestellt
und die Kunden zu immer neuen Kaufabenteuern animiert werden (Wolff 2001, 38).
Die fraktale Geometrie macht es möglich, diese neuen Phänomene und ihre
Widersprüche genauer zu beschreiben. Über die abendländische Kugelwelt hinaus (Sloterdijk
1998/99, Bd.2) zeigt sich ein drittes jenseits von glatter Abstraktion und Chaos – jenseits von
„Selbstidentiät“ (Ego, Ipseität, sameness) und Entfremdung.
Widersprüche denken...
Das Labyrinth hat also nicht nur eine historisch-empirische Seite: Was war das
Labyrinth früher, und was ist es heute? Es bietet sich auch nicht nur zu
metaphorischem Gebrauch an: Was symbolisiert das Labyrinth? Und was meinen wir,
wenn wir vom Labyrinthischen – z.B. der Stadt – sprechen? Sondern es hat auch eine
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methodologische, epistemologische Seite. Das Labyrinth bezieht sich als historischpoetisches Bild auf die körperlich-sinnliche Praxis des Menschen und auf die
Widersprüche des Lebens: Welche Bewegung beschreibt es, und worüber klärt es uns
damit auf?
Unter diesem Blickwinkel treten verschiedene dialektische Spannungsverhältnisse an
Labyrinth- und Stadtbewegung hervor.
Überschaubarkeit vs. Unübersichtlichkeit, Ordnung vs. Chaos. Der Blick der Macht
ist beunruhigt, man sucht nach panoptischen Strategien – gerade vs. krumme Linie.
Steinerne Stadt vs. Nomadisieren. Das kretische Gefängnislabyrinth und das
Tanzlabyrinth stehen gegeneinander. Der Widerspruch findet sich wieder in den
Auffassungen von “Standortgemeinschaft von Funktionen” vs. bewegte Lebenswelt.
Matriarchale vs. patriarchale Bewegung. Das Gefängnis des König Minos steht
neben dem Tanzboden der Ariadne. Rhythmus und Schwung sind konfrontiert mit Kampf
und Konstruktion. Das Labyrinth ist nicht geschlechtsneutral – die Stadt auch nicht.
Linearer vs. zyklischer Rhythmus. Das erzählt von der kulturellen Relativität des
“Fortschritts” auf der Laufbahn des Sports – und in der Stadt.
Raum vs. Ort. Das Labyrinth markiert einerseits Orte mit Namen. Es bietet
andererseits eine räumliche Form, die von Ort zu Ort übertragen werden kann. Es spricht
damit eine universale, allgemeinmenschliche Sprache. Die räumliche Verallgemeinerung des
Labyrinths hat jedoch einen anderen Charakter als die Globalität der geraden Linie.
Blick vs. Bewegung. Hier zeigt sich das Nebeneinander von Irrgarten und
Umgangslabyrinth, von Stadtbewegung von aussen gesehen und von innen erlebt. Urbane
Bewegung wird erkennbar als Herumtreiben und Pulsieren, als Flow und Swing, als
Rhythmus und Flanieren.
Freiheit vs. Gebundenheit. Im Irrgarten und beim Zappen durch die Stadt haben wir
„freie“ Wahl. Im Umgangslabyrinth hingegen gibt es nur einen Weg, und diese Enge mag
Angst erzeugen.
... und das Dritte
Die Dualismen gehen jedoch nicht in einer höheren Einheit auf. Nicht einmal das
Zapping ist so einfach – zwiefältig – wie man zunächst annehmen möchte. Da ist zwar
der Widerspruch zwischen dem Irrgartenzappen und dem labyrinthischen Umgang,
aber auch zwischen sinnlichem Zappen und rationaler Wahl. Die dialektische
Konstruktion der Widersprüche ist nicht auf der Höhe der Herausforderung, die in der
labyrinthischen Konfiguration liegt. Eher führt das Labyrinth zu einem trialektischen
Verständnis von Widersprüchen.
Panopticon, Irrgarten, Labyrinth. Da streben wir einerseits nach panoptischem
Überblick und panoptischer Gestaltung mit glatter Geometrie, Kontrolle, Funktionalismus
und der Zentralperspektive der Macht. Wir wollen den Überblick – und die Macht will den
Überblick über uns. Arenen und übersichtliche Laufbahnen markieren die Stadt – und bleiben
Fremdkörper, Orte fremder Bewegung.
Andererseits bewegt man sich zwischen Wahlsituationen, im Irrgarten. Verwirrung
stellt sich ein, Strategien des Durchkommens sind gefragt. Wir nehmen den Stadtplan zur
Hand. Wir fummeln uns durch den Supermarkt und durch den Markt der Sportszenen. Wir
stehen unter dem Stress der Wahl.
Aber was ist eigentlich bewusste Wahl, und was ist Zapping? Wählen wir unseren
Sport, oder wählt „unser“ Sport uns? Sinnlichkeit, Vernunft und Identitätssuche greifen
ineinander. Die duale Rechnung von Stadion und Supermarkt geht nicht auf, und als ein
drittes erscheint der labyrinthische Umgang im Bilde. Urbane Bewegung ist auch
Rumbummeln, Trödeln und Vagabundieren, der krumme Weg des Flaneurs – verschlungene
Umzüge des Karneval, Skateboarding an verbotenen Orten, Graffiti in der Form des
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Fragezeichens.
Streben, treiben, treideln. Die Bewegung auf der Laufbahn des Sports richtet sich auf
Ziel und Rekord, im Irrgarten auf die Lösung. Was diese Bewegungen verbindet, ist das
Streben. Das Subjekt strebt vorwärts und folgt dabei zielgerichteter Rationalität. Oder aber
man wird getrieben wie ein Objekt auf den Wellen des Meeres. Die „Irrationalität“ solchen
Triebs bearbeitet die Psychoanalyse (Goldschmidt 1988). Aber im Umgangslabyrinth streben
wir weder, noch werden wir getrieben. Die Trelleburg als Dreh-, Treidel- und Trödelburg legt
eine Rationalität jenseits von Objektivität und Subjektivität nahe.
Entfremdung, Selbst, Dazwischen. Im Irrgarten und in der fremden Stadt bin ich
entfremdet, im Labyrinth und in der eigenen Stadt zuhause. Aber das ist nicht alles. Im
Labyrinth bin ich nicht nur ich selbst, sondern auch dazwischen. Zwischen den Steinreihen
isoliert die Bewegung uns nicht als einzelne, sondern sie läuft auf Zusammenspiel und
Zugehörigkeit hinaus: Hinein und wieder hinaus und wieder hinein ... In dieser
Bewegungslandschaft ist der Mensch ein Mit und Auch, ebenso wie die Frage ein Gegenüber
voraussetzt, und die Identitätsfrage eine Alterität. Erst in der Relation bildet sich Identität
heraus: Dies hier ist meine Stadt, unsere Stadt – und wer bin ich...? Als fragender und als
Zwischen-Raum ist das Labyrinth interaktiv und zwischenkörperlich, und auf dieser
Grundlage konnte es sich im Laufe der Geschichte zur Stadt erweitern.
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