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Ursula Bauer | Jürg Frischknecht Auswanderungen Wegleitung zum Verlassen der Schweiz Rotpunktverlagunktverlag 6 7 Inhalt Wandert aus der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nützliches von A bis Z . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Mit Dursli nicht ganz bis Flandern Unterwegs mit einem Solothurner Söldner 5 9 7 ................ 12 In 4 Tagen von Solothurn nach Mulhouse Solothurn–Welschenrohr–Laufen–Ranspach–Mulhouse 2 In 6 Tagen von Bellinzona nach Mailand Bellinzona–Vira–Maccagno–Sesto Calende–Turbigo– Abbiategrasso–Mailand »Was kostet das Büeble?« Unterwegs mit Schwabenkindern ......................... In 3 Tagen von St. Margrethen nach Ravensburg St. Margrethen–Lindau–Neukirch–Ravensburg 3 Wer die Wahl hat, wählt den Waal Unterwegs mit Bahnpionieren und Schmalzhändlern ...... 42 8 Legal oder illegal – egal Unterwegs mit allerlei Grenzgängern 66 ...................... 98 268 9 »Fliegen« mit Chavez Unterwegs mit dem Roi du Simplon und einem Überflieger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 We slipped down to Milan Unterwegs mit einer Lady und Zuckerbäckern ............. Von Bischof zu Bischof Unterwegs mit einem Visionär und Seidenspinnern In 9 Tagen von Chur nach Como Chur–Fürstenau–Andeer–Monte Spluga–Gualdera– Chiavenna–Dascio–Gravedona–Menaggio–Como 10 Schrecklich, aber bewundernswürdig Unterwegs mit Kühen und Clubisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 In 4 Tagen von Martigny nach Aosta Martigny–Le Châble–Mauvoisin–Ollomont–Aosta 118 In 9 Tagen von Maloja nach Mailand Maloja–Promontogno–Chiavenna–Dascio–Dorio–Ortanella– Mandello–Paderno–Gorgonzola–Mailand 6 ......... In 4 Tagen von Brig nach Domodossola Brig–Simplonpass–Gondo–Bognanco–Domodossola In 2 Tagen von Maloja nach Sondrio Maloja–Chiareggio–Sondrio 5 Schlachtvieh und viel Käse Unterwegs mit Säumern, Reisläufern und Rindern In 4 Tagen von Guttannen nach Domodossola Guttannen–Obergesteln–La Frua–Premia–Domodossola In 6 Tagen von Müstair nach Meran Müstair–Schleis–Ortlerblick–Schlanders– Himmelreich–Partschins–Meran 4 Lago Maggiore, Naviglio Grande, Porta Ticinese Unterwegs mit schwarzen Brüdern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 11 Das Einfallstor zur Schweiz Unterwegs mit England und Engländern ................... 350 Ortsregister ..................................................... Bildnachweis .................................................... 376 378 In 3 Tagen von Martigny nach Chamonix Martigny–Finhaut–Le Buet–Chamonix ........ 174 8 9 Themen von A–Z Abegg, Zürcher Seidendynastie . . . . 217 Bischöfe von Chur und Como . . . . . . 183 Caminadas Schiffstraße über den Splügen . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Castiglioni, Antifaschist . . . . . . . . . . 106 Chavez, erster Alpenüberflieger . . . . 312 Debrunner, Thurgauer Söldnerführer . . . . . . . . . . . . . . . 260 Dursli und Babeli . . . . . . . . . . . . . . 19,27 Engadin-Orientbahn . . . . . . . . . . . . . . 80 Engadiner Schmalzhändler . . . . . . . . . 90 England vor und hinter der Kamera . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Frizzoni, Spion aus Celerina . . . . . . . 150 Außerdem Eidgenossen erobern das befreundete Mülhausen . . . . . . . . 38 Peter Lenk, Provokateur . . . . . . . . . . . 62 Maloja–Sondrio–Maloja in einem Tag . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Einwanderungen Klosterbrüder, zurück aus dem Exil . . 41 Der Lindauer Bote kommt . . . . . . . . . 65 Bischn Öschtricher? . . . . . . . . . . . . . . 97 Umberto Schena, bei der Heimkehr interniert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Giovanni Segantini, von Mailand nach Maloja aufgestiegen . . . . . . 173 Reise der Hoffnung . . . . . . . . . . . . . 229 Nützliches von A bis Z Kühe und Kämpfe . . . . . . . . . . . . . . . 341 Kulturwege Schweiz . . . . . . . . . . . . 365 Maurizio, Zuckerbäcker auf Reisen . . 129 SAC-Clubisten gehen an die Grenze . . . . . . . . . . . . . . . 334 Säumer zwischen Guttannen und Domodossola . . . . . . . . . . . . . . . 277 Schlacht von Crevoladossola . . . . . . 290 Schwabenkinder . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Schwabengängerin Regina Lampert . . 57 »Schwarze Brüder« . . . . . . . . . . . . . 254 Seidenraupen und Cocons . . . . . . . . 138 Stockalper, Walliser Schlitzohr . . . . . 304 Tessiner Kaminfegerbuben . . . . . . . . 241 Alessandro Manzoni, »I promessi sposi« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Jules Röthlisberger, Brückenbauer . . 160 Leonardo da Vinci, Wasserbauingenieur . . . . . . . . . . 166 Schweizer Kühe in London . . . . . . . 282 Ernest Hemingways Alter ego rudert in die Schweiz . . . . . . . . . . . . . . 267 Die erste Britin reitet über den Griespass ins Goms . . . . . . . . . . 297 Für den Tunnelbau nach Brig gekommen – und geblieben . . . . 323 Steinböcke, geklaut und eingeschmuggelt . . . . . . . . . . . . . . 348 Ausrüstung Feiertage in Italien Je leichter das Gepäck, desto angenehmer das Wandern. Ein sorgfältig gepackter Wanderrucksack wiegt höchstens zehn Kilogramm. Bei allen Bergwanderungen sind gute Wanderschuhe unerlässlich. Im Flachland genügen leichte Wanderschuhe. Zu denken ist auch an Sonne, Regen, Wind. Eine Ausrüstungsliste findet sich unter www.wanderweb.ch/rucksack. html Die meisten unserer Auswanderungen führen nach Italien, wo es neben den üblichen ein paar zusätzliche Feiertage gibt: 25. April (Liberazione), 15. August (Ferragosto), 1. November (Allerheiligen, Ognisanti). Keine Feiertage sind in Italien Karfreitag, Auffahrt und Pfingstmontag. Einwanderung Als kleinen Kontrapunkt beschließen wir unsere Auswanderungen meist mit einer »Einwanderung«, ganz nach dem Motto: Jede Auswanderung ist auch eine Einwanderung, und umgekehrt. Fahrpläne www.sbb.ch: Bahn und Bus für die Schweiz, Bahn auch für die angrenzenden Länder. www.fahrplanfelder.ch: Kursbuch online, auch mit Fahrplänen im Grenzgebiet, zum Beispiel von der Vinschgerbahn. www.trasporti.regione.lombardia.it/ trl_index.htm: Bus, Bahn und Schiff in der Lombardei (auch Fahrplanfelder). www.vcoinbus.it: Busse im Hinterland von Domodossola. Hotellisten Heute findet man fast alle Hotels im Netz, aber oft landet man bei Buchungsfirmen (eine wahre Landplage). In Italien nach wie vor das zuverlässigste: Annuario degli alberghi, die offiziellen, jährlich erscheinenden Listen aller Hotels mit Kategorie und zulässigen Preisen, in der Regel provinzweise und bei den Tourismusbüros erhältlich. Wir nennen in den Serviceinfos zu den elf Auswanderungen die wichtigsten Links zu Hotellisten. Hotelpreise Wir geben die Hotelkategorie und die offiziellen Preise an: meist das Minimum und das Maximum für ein Doppelzimmer ohne oder mit Frühstück (DZ oder DZF). Der untere Ansatz bezieht sich in der Regel auf die Nebensaison beziehungsweise Zimmer mit Etagendu- Unterwegs mit einem Visionär und Seidenspinnern Von Bischof zu Bischof Wir nächtigen beim Bischof von Chur, wandern auf der Via Spluga und der Via Regina und fahren beim Bischof von Como im Schiff vor. In 9 Tagen von Chur nach Como Como mit Dom, aus einem britischen Reiseführer von 1830. 176 177 Chur 6A 5 + 4 Tage Wir beginnen die Fußreise über den Splügen mit dem Wandertag Chur–Fürstenau, gehen dann je zwei Tage auf der Via Spluga und auf einem Höhenweg bis Chiavenna. (Wer nach Monte Spluga auf der Via Spluga bleibt, spart einen Tag.) Von Chiavenna bis Lenno halten wir uns an den Sentiero Regina (auch Strada Regina) und fahren mit dem Schiff ins Ziel. (Wer bis Cernobbio/Como auf der Regina bleibt, braucht ein bis zwei Tage mehr.) Fürstenau CH 6B Andeer 6C Charakter Mittlere bis längere Wanderungen auf markierten Saum- und Bergwegen, bis Splügen ab und zu in Hördistanz zur A13. Die Wanderung 6E von Gualdera nach Chiavenna ist ein Bergweg. Von Chiavenna bis Lenno dominieren gut erhaltene Saumwege, am Comersee auch Nebenstraßen. Splügenpass Monte Spluga 6D Gualdera Jahreszeit Für den Splügenpass kommen die Monate Juni bis Oktober infrage. Von Chiavenna bis Menaggio kann man das ganze Jahr gehen. Danach steigt der Weg auf 848 m an, eignet sich also weniger für die Wintermonate. 6F Gravedona 6G Menaggio 6H Lenno Lago di Com o Chiavenna 6E Dascio 6I An- und Rückreise Mit der Bahn nach Chur. Von Como San Giovanni auf der Gotthardlinie zurück. Oder gemütlicher, entlang der durchwanderten Route: mit dem Schiff bis Colico, mit der Bahn nach Chiavennaund mit dem Bus über den Splügenpass zurück (bis 12. Oktober). I Karten Unsere Wegbeschreibung bezieht sich auf die Landeskarte 1:50 000, Blätter247T Sardona, 257T Safiental, 267T San Bernardino, 277T Roveredo und 287 Menaggio. Wer bis Como zu Fuß geht, braucht auch das Blatt 297 Como. Für die zwei Tage von Chur bis Andeer kommt alternativ die Wanderkarte 1:25 000 Thusis– Heinzenberg–Domleschg infrage. 10 Km Lecco Como In 9 Tagen von Chur nach Como serviceteil 6A Chur–Fürstenau 6 h 6B Fürstenau–Andeer 6 h 15 6C Andeer–Monte Spluga 7 h 6D Monte Spluga–Gualdera 5 h 6E Gualdera–Chiavenna 6 h 45 6F Chiavenna–Dascio 6h 45 6G Dascio–Gravedona 4 h 30 6H Gravedona–Menaggio 6 h 30 6J Menaggio–Lenno/Como 4 h 15 Thema I Die Bischöfe von Chur und Como: mehr Rücken an Rücken denn Bauch an Bauch Thema II Vision eines Vriners in der Fremde: Im Schiff über den Splügen Thema III Am Comersee spinnen auch Zürcher ÖV Der Bus C10 Colico–Como bedient das rechte Seeufer mit einem dichten Fahrplan, siehe www.trasporti.regione.lombardia.it/trl_index.htm Das Schweizer Postauto St. Moritz–Lugano hält, sofern eine Reservation vorliegt, in Sorico, Gera Lario, Domaso, Gravedona, Dongo, Menaggio. Links zu Herbergen Fürstenau bis Splügen: www.viamalaferien.ch > Unterkunft Monte Spluga bis Chiavenna: turismo.provincia.so.it > Annuario degli alberghi > Ort wählen Dascio–Como: www.lakecomo.org > ospitalità Die Provinzen Como und Lecco geben jährlich einen Guida all’ospitalità »Lake Como« heraus, der sowohl das West- wie das Ostufer abdeckt. Vor Ort in den Tourismusbüros erhältlich. Links zu Wegen www.viaspluga.com und www.viaspluga.ch Rucksackbücher Zu dieser Auswanderung liefern zwei Taschenführer ausführliche kulturhistorische Informationen: Kurt Wanner, Via Spluga. Durch Kulturen wandern. Thusis–Splügenpass–Chiavenna, Terra Grischuna, 3. Auflage, Chur 2007. ISBN 978-3-7298-1139-3. Albano Marcarini, Wandern auf der historischen Strada Regina. Zehn Wandervorschläge am Ufer des Comer Sees, Lyasis, Sondrio 2005. 88-86711-49-2(mit 30 Kartenaquarellen). Bezugsquelle in der Schweiz siehe Auswanderung 5. 212 In 9 Tagen von Chur nach Como 6H Gravedona–Menaggio 213 6H Gravedona–Menaggio 6 h 30 Magnolien, Menaggio, Meneghet Gravedona Dongo Rezzonico Menaggio *202 m 208 m 225 m 202 m Höhendifferenz Aufstieg 500 m, Abstieg 500 m Unterwegs Dongo Vignola Rezzonico *Dongo, Tel. 0344 81344 Bar Trattoria Menaggio Tisch und Bett ÖV Taxi 1 h 00 4 h 00 6 h 30 ***Bellavista, DZF 90–140 Euro, Tel. 0344 32136, www.hotel-bellavista.org; **Meneghet, DZ 70 Euro, Tel. 0344 32081, [email protected]; **Corona, DZF 70–95 Euro, Tel. 0344 32006, www.hotelgarnicorona.com; weitere Hotels Buslinien C20 (Westufer) und C12 (nach Lugano); Comersee-Schiffe; Fähre nach Varenna Tel. 0344 31244 Die erste Stunde halten wir uns nicht an die Regina, die, historisch korrekt, dem Bergfuß entlang zieht. Weit attraktiver ist der Uferweg am See. Wir verlassen Gravedona auf der Seepromenade, einer uritalienischen Heldenmeile, von der Piazza Mazzini über die Piazza Cavour und dito Garibaldi in die Via Roma. Das Ristorante Cardinello weckt Interesse, aber halt noch keinen Hunger. Wir halten uns an die Heiligen. An den Kirchen Santa Maria und San Vincenzo – ein schönes Ensemble in der kleinen Schwemmebene am Rande von Gravedona – und am Friedhof vorbei gelangen wir zur untersten Liro-Brücke und zum neuen Uferweg nach Dongo. Jogger, Hunde und Kinderwagen in Begleitung – viel eifriges Fußvolk ist auf der neuen Freizeitstrecke unterwegs. Beim Bach vor Dongo hat die Idylle ein Ende. Wir queren den Albano auf der Hauptstraße und erreichen durch ein paar Gassen den Hauptplatz am See. Ein schönes Geviert mit allem, was man so braucht: mit Tourismusinformation, einer interessanten Buchhandlung, mit der Bar Gottardo und dem Museo della Resistenza. Wäre das Albergo Dongo etwas attraktiver und die verkehrsreiche Straße etwas ferner – man könnte sich in diese Ecke verlieben. Im obersten Stock des Palazzo comunale wurde Benito Mussolini am 27. April 1945 arretiert, nachdem Partisanen den flüchtenden Duce bei Musso erkannt und festgenommen hatten. Am nächsten Tag erschossen sie ihn und seine Geliebte Claretta Petacci in Mezzegra (da kommen wir morgen vorbei). Den »kleinen« Rest des heutigen Wandertags sind wir in den breit auslaufenden Hängen des Bregagno unterwegs. Er ist zwar »nur« ein Zweitausender, aber ein Monte mit der stolzen relativen Höhe von 1900 Metern – das wäre eine saftige Tagestour. Vom Hauptplatz in Dongo gehen wir nach Barbignano hinauf, dem alten Dorfteil hinter der weitläufigen ehemaligen Falck-Fabrik. Hier beginnt der Fußweg zur Kirche Santa Eufemia. Sie sitzt, natürlich wieder in schönster Lage und im Gegensatz zur höher gelegenen ehemaligen Burg unversehrt, auf dem Sasso di Musso. Musso. Das Wort war den Bündnern vor einem halben Jahrtausend ein Stachel im Fleisch. Über den Burgherrn von Musso, Gian Giacomo Medici, berühmt und berüchtigt als Il Medeghino, lesen wir im Historischen Lexikon der Schweiz: »Dieser Abenteurer besaß im Solde des mailändischen Herzogs die Burgvogtei Musso, von der aus er Angriffe auf Chiavenna und das Veltlin unternahm«, unverschämterweise auf Gebiete, die sich die Bündner gerade untertan gemacht hatten. Eine Zeitlang besetzte »dieser Abenteurer« (andere Quellen reden vom »Piraten, König, Räuber, Verräter, Rebell, Mörder, Helden«) sogar Chiavenna und später Morbegno. »Zusammen mit den eidgenössischen Truppen vertrieben die Bündner die Müsser aus dem Veltlin und erreichten endlich die Schleifung der Raubritterfestung am Comersee.« Womit die Welt über und hinter uns endlich wieder in Ordnung war. Für die nächsten zwei Stunden gerät die Beschreibung etwas ausführlicher, wir durchwandern immer wieder Weiler und besiedeltes Gebiet. Wer Albano Marcarinis Regina-Führer bei sich hat, sollte ihn spätestens jetzt aufklappen; seine Kartenaquarelle sind hilfreich. Für alle andern: Von der Kirche Santa Eufemia steigen wir auf dem alten Weg nach Genico ab, wo es am untern Dorfrand auf Nebenstraßen weitergeht: leicht sinkend auf der Via al Castello, auf der Via Falco della Rupe aufwärts und weiter auf der Via della Filanda, dem Spinnereiweg. Unten in Campagnano rückt die rosa Kirche San Rocco (auch »D. Rocho«, Punkt 261) ins Blickfeld; zu dieser steigen wir ab. Sie blickt über den See zu einer Namensschwester, zum San-Rocco-Kirchlein am Sentiero del Viandante. Bei San Rocco gehen wir nicht weiter abwärts, sondern nach rechts, verlassen Campagnano auf der gepflästerten Dorfgasse und queren den kleinen Seitenbach. Etwas ansteigend kommt man in einen Waldweg und quert dann einen weiteren Seitenbach. Die Holzschilder des Giubileo-Wegs, »ge- 214 In 9 Tagen von Chur nach Como pflanzt« im Heiligen Jahr 2000, bestätigen uns, dass wir noch immer auf dem Weg nach Rom (via Como) sind. Fürs Erste wollen wir weiter nach Maggiana, was nicht ohne Querung des Val Grande geht, und dies nicht ohne Anstieg auf 150 Meter über See: Man nimmt vor der Kirche Madonna della Neve die Treppe und später die Quartierstraße bis zu den obersten Häusern. Auf der Höhe der Hochspannungsleitung wechselt man über eine alte Brücke auf die andere Bachseite, steigt noch ein wenig an und erst dann nach Maggiana ab, bis zum Parkplatz am untern Dorfrand. Einen Kilometer folgen wir Nebenstraßen (die zwei Abzweigungen Richtung Sant’Anna usw. nicht berücksichtigen) und erreichen eine Häusergruppe. Nach einer Bachrinne kommen wir zu einer Doppelgarage. Hier gelangen wir über den Betonaufgang auf den Weg, der einem Zaun entlang zu einem Bildstock und dann durch ein lauschiges Waldtälchen Richtung Vignola ansteigt. Am Dorfrand (wo man auf die Straße stößt) kann man rechts versetzt eine Hintergasse nehmen. Unter der ehemaligen Seidenspinnerei queren wir einen kleinen Bach, kommen ins Dorf und steigen zum Municipio der weitläufigen Gemeinde Cremia ab. Am Sportplatz vorbei verlassen wir die Hauptfraktion Vignola, umrunden auf einer Quartierstraße einen Häuserhügel bis zum Parkplatz und wandern auf einer neu gepflästerten Gasse und dann auf einer Nebenstraße weiter. Schafe blöken, Hühner gackern, ein Mann und ein Frau tragen geschickt geschultertes Leseholz nach Hause. Via die Häuser von Cheis gelangt man, nach Parkplatz und Bach, zum Flecken Vezzedo. Nach ein paar Schritten halten wir – noch vor einem Torbogen – links abwärts und steigen zwischen alten Reben und neuen Olivenbäumen zehn Minuten ab, bis zu einer Nebenstraße, die bald in einen bequemen Waldweg übergeht – die historische Strada Regina. Ein großer Stein mit den Jahreszahlen 1660 und 1764 markiert die Grenze zwischen Cremia und Rezzonico. Der Waldweg entlässt uns gegenüber der Bushaltestelle von Rezzonico und vor einem Straßentunnel. Über dem Tunnelportal quert man ins Dorf. Das Häusernest mit Turm könnte auch irgendwo am Mittelmeer sitzen. Eine Bar/Trattoria mit Terrasse und Pizza und Blick auf den See verstärkt das Feriengefühl noch. Nach dem Dorf achten wir auf die Verbotstafel für Motorräder (und das ewige Giubileo-Schild). Nun können wir auf gepflästerten Fußwegen längere Zeit geradeaus gehen – außer bei der Villa Camilla, deren Besitzer keine Wanderer in ihrem Park wünschen (kleine Umgehung zur stark befahrenen 6H Gravedona–Menaggio 215 Straße hinunter und gleich wieder hinauf). Wir halten weiter geradeaus, durch Sant’Abbondio. Wir verlassen das lang gezogene Dorf ansteigend und gehen nach der Bachquerung noch zu einem Bildstock hinauf. Nun folgen wir dem schönen Waldweg und steigen dann, wie die Stromleitung, zum See ab. Hier treffen sich drei Generationen Straßen: die heutige, auf der wir nur wenige Meter gehen, die rund hundertjährige, der wir am See bis zum nächsten Wanderwegweiser folgen, und schließlich der alte Saumweg, auf dem wir erneut ansteigen (mehr als man denkt). Eine neuere Ferienhaussiedlung lassen wir links unter uns liegen und erreichen auf einem oberen Weg, der sehr schön durch die Felsen des Sasso Rancio führt, Nobiallo. »Via Regina«, verraten die Hausnummern. Wir bleiben auf der Königlichen, bis sie uns am südlichen Dorfende von Nobiallo bei den Carabinieri auf die Seestraße entlässt. Für fünf Minuten halten wir uns ans Trottoir, dann an das alte, seenahe Trassee – und bald schlendern wir zwischen Friedhofzypressen zur Parkpromenade von Menaggio. Als die Schweizer Alpenpost in den 1930er Jahren die Linie St. Moritz– Menaggio–Lugano einrichtete und Promotionsfilme für die Frühlingsfahrt Von Elizabeth Main fotografiert: Die Kulisse von Menaggio. 216 In 9 Tagen von Chur nach Como 217 ins südliche Ausland drehen ließen, zeigten diese in Menaggio jeweils blühende Magnolien, waschende Frauen am See und Eisverkäufer mit einem fahrbaren Stand. Die Frauen waschen nicht mehr am See, aber die Magnolien blühen wie im Film, und Gelatistände sprießen allenthalben. Wenn uns der Sinn nach Gründerzeit-Feeling und verblichener Seeromantik steht, steigen wir im Bellavista ab, zusammen mit Dutzenden comerseeseligen Briten. Im Gegensatz zu den beiden durchrenovierten Grand Hotels in ähnlicher Lage ist das Bellavista noch bezahlbar, und der See plätschert hier unter den Fenstern genau so schön. Günstiger logiert man an der Piazza im Corona garni oder in der Du-Lac-Dependance. Den Liebhabern von Vielleicht-ist-es-das-letzte-Mal-Herbergen empfehlen wir das Meneghet, ein einfaches Hotel mit einem verwunschenen Garten in einem alten Patrizierhaus (fünf Minuten am Weg von morgen hochgehen). Ein Fotogeschäft hat sein Schaufenster mit Aufnahmen vom letzten großen Schnee vollgestellt, an den oberitalienischen Seen kein alltägliches Ereignis und beliebtes Sujet für Neujahrskarten. Wir stöbern, natürlich auch dieses Mal vergeblich, nach den Postkarten, die, um 1900 in den Handel gekommen, Aufnahmen vom Comersees zeigen. Geknipst wurden sie von der englischen Winteralpinistin und St. Moritzianerin Elizabeth Main, die in jenen Jahren als eine der ersten Velofahrerinnen überhaupt bis nach Rom radelte. Der Prosecco von heute geht an die sportliche Britin. Am Comersee spinnen auch Zürcher Am Lario kann man das ganze Jahr wandern, Ausnahmen vorbehalten (Menaggio, Januar 2007). Die Villa Balbiano zwischen Lenno und Osuccio, vom Schiff aus gesehen. Ein schöner Maiensonntag im Jahre 1852. Die Gärten der Comersee-Villen blühen in ihrer ganzen Pracht, bestaunt von den vorbeigleitenden Reisenden auf dem Dampfschiff nach Como. An Bord ist auch Carl Abegg, Sohn des Küsnachter Seidenhändlers, Weinbauern und Gemeindeammanns Abegg. Der Sechzehnjährige ist auf dem Weg zu seiner Mailänder Lehrstelle in der Seidenspinnerei Fierz, ebenfalls eine Zürcher Familie. Ob der junge Abegg kurz nach Lenno zur Villa Balbiano hinüberschaute, diesem herrschaftlichen Bau am Ufer zwischen der Halbinsel Lavedo und der kleinen Insel Comacina, wissen wir nicht. Vielleicht machte ihn ein zeitgenössischer Reiseführer auf die »schöne Villa Balbiano an der Mündung der aus wilder Schlucht mündenden Perlana« aufmerksam. Sicher ist, dass Carl Abegg nicht ahnt, dass er in ein paar Jahrzehnten Mitbesitzer dieser Villa sein und mit seiner Frau, einer geborenen Arter, im Zimmer des ver- 218 In 9 Tagen von Chur nach Como storbenen Kardinals Angelo Maria Durini logieren wird, dass sein Sohn in der Filanda hinter der Villa das Spinnen der Seide erlernen wird – wie er selber jetzt, im Sommer 1852, in der Umgebung von Mailand. Carl Abegg hat seine dreitägige Reise vom Zürichsee nach Mailand am Freitagmorgen mit dem Dampfschiff angetreten, von Küsnacht bis Schmerikon noch begleitet von Mutter und Schwester und ein paar Freunden. Dann reist er allein weiter, mit der Postkutsche nach Weesen und mit dem nächsten Dampfschiff nach Walenstadt. Die »Schiffstafel«, das Mittagessen, sei »nichts weniger als gut« gewesen, wird er aus Chur, wo er abends um halb neun Uhr mit der Pferdepost ankommt, nach Hause schreiben. Am Samstag ruft des Posthorn die Reisenden nach Chiavenna schon morgens um fünf Uhr zusammen. Unterwegs besichtigt man die Viamala. Eines der schönsten Naturschauspiele, findet Carl. Pünktlich zum Mittagessen fährt der Postwagen in Splügen vor. Danach geht es hinauf zum Splügenpass, doch ist die Reisepost dem Sechzehnjährigen zu langsam. »Ich ging mit dem Conducteur meistens zu Fuß, um die unzähligen Zickzack abzuschneiden. Dann kamen wir zur Douane, wo es dem Frischankommenden im Anfang nicht gar heimelig ist wegen dem zur Hälfte unverständlichen Geschnäder.« Es sollte noch schlimmer kommen, unten im südlichen Alpenstädtchen Chiavenna. Auch heute erreicht die Reisegesellschaft ihr Ziel abends um halb Neun. »Ein nichts weniger als schönes Nest«, bringt Carl zu Papier. Aber: »Ich logierte im Conradi (Primo Albergo), wo man gar nicht gut isst, sodass ich mit der Nachtpost verreist wäre, wenn es die Umstände erlaubt hätten.« Nun, am dritten Reisetag, geht es mit dem Omnibus nach Colico, »wo es schon recht italienerlet«, schreibt der Jüngling nach Küsnacht. »Auf dem Weg trifft man sehr viele Pflanzungen; die schöneren sind mit Mauern umgeben, da man hier an Steinen reicher ist als an Geld. In Colico besteigt er zum Abegg-Arter, der spätere SKA-Präsident: Das Spinnen von der Pike auf gelernt … dritten Mal das Dampfschiff. Dem 219 Zürichseebuben gefällt auch der Comersee, den er noch oft sehen wird. Mit dem Pferdeomnibus gelangt er von Como nach Camerlate und von dort mit dem Zug nach Mailand. Mit dem Hotelomnibus des Albergo Marino fährt der angehende Lehrling zum Domplatz, wo an diesem Sonntagabend alles zusammenströmt. Hier erwartet ihn sein Küsnachter Jugendfreund Eduard Fierz. Schon bald besorgt Carl Abegg in einer Fierzschen Filanda bei Monza die Lohnbuchhaltung der 250 Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen, darunter auch achtjährige Kinder. Um »die Spinnerinnen besser zu beurteilen«, lernt er selbst Haspeln und Spinnen. Ein Muster der ersten selbstgesponnenen Seide schickt er stolz seiner Mutter. Aus dem eifrigen Lehrling wird dereinst der erfolgreiche Seidenindustrielle und, als Nachfolger von Alfred Escher, der langjährige Präsident der Schweizerischen Kreditanstalt Carl Abegg-Arter werden. Nennen wir ihn Abegg I. 25 Jahre später wiederholt sich die Geschichte. Die Lehr- und Wanderjahre führen auch den siebzehnjährigen Carl Abegg junior nach Oberitalien, in die Filanda von Campo bei Lenno, an der sein Vater seit kurzem beteiligt ist. Am 31. Mai 1878 schreibt er nach Zürich, wo die Abegg nun wohnen: »Gestern haben die Seidenwürmer den vierten Schlaf vollendet, und heute hat man ihnen zum ersten Mal wieder zu Fressen gegeben«; es habe viel Laub an den Maulbeerbäumen. »Das war ein Gesurr, als ich sie heute morgen besuchte. In fünf bis zehn Tagen werden sie sich verpuppen. Die Proben haben wunderschöne Cocons gegeben. In 14 Tagen wird die Filanda laufen.« Dann, im Juli und August, spinnt der Sohn wie einst der Vater, jeden Tag eine halbe Stunde. »Es geht schon ordentlich, obschon mir das Hinwerfen der Fäden anfangs etwas schwer fiel.« Von den Spinnversuchen erholt er sich beim Baden, schwimmt mit Kameraden zur kleinen Insel Comacina, steigt mit ihnen am Sonntag auf den nahen Monte Generoso und zum Tessiner Dörfchen Melano ab. Oder er sammelt Schmetterlinge und »erfreut sich der Pfirsiche und Pflaumen«, lesen wir in der Familiengeschichte der Abegg. Oder er besucht die Seenachtsfeste, die Fürst Melzi im nahen Bellagio gibt. Jeunesse dorée, die zweite Generation. Gelegentlich wollen Vater und Mutter den Sohn bei der Arbeit sehen; das Ehepaar Abegg-Arter nächtigt im … wie später Sohn großen Bett im Kardinalszimmer der Villa Balbiano, die Abegg-Stockar und Enkel Carl Julius. zur Filanda gehört. Nach vier Jahren in der Lombardei 220 In 9 Tagen von Chur nach Como lernt der junge Carl Abegg New York und den Fernen Osten kennen. Bereits mit 24 Jahren übernimmt er 1885 die Führung der Familienfirma Abegg & Co. In Kolomna bei Moskau baut Abegg II beziehungsweise Abegg-Stockar, wie er nun heißt, eine Seidenzwirnerei auf, die mit der Revolution von 1917 ein jähes Ende findet. Wie seinen Vater wird es auch Abegg II früh ins Banken- und Versicherungsgeschäft ziehen. Wer Seide in die Finger nimmt, hat bald auch Geld in den Händen. In der Stadt Zürich ist die Seidenindustrie seit Jahrhunderten heimisch. Nicht zuletzt die Glaubensflüchtlinge aus den norditalienischen Produktionsgebieten der Seide, darunter Familien aus Chiavenna, haben Know-how an die Limmat gebracht. Dank den politischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts steigen nach 1830 viele Zürcher Landfamilien neu ins Seidengeschäft ein, darunter die Abegg in Küsnacht. Die Mechanisierung lässt die Seidenindustrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts boomen (wenn auch mit einer Krise in den 1880er Jahren). Keine andere Industrie beschäftigt in der Schweiz von 1900 so viele Leute. Die Zürcher Firmen kaufen von den norditalienischen Bauern die Seidencocons und lassen diese vor Ort in eigenen Fabriken zu Rohseide spinnen und zwirnen. In der Schweiz veredelt man die Rohseide zu Stoffen und wickelt den Handel ab. Der Baumeister des größten Seidenkonzerns der Welt, Robert SchwarzenbachZeuner, umreißt 1883 die Standortvorteile in Italien so: »In Italien arbeitet man solange es den Fabrikanten beliebt, Winderlöhne sind etwas, Zettlerlöhne erheblich billiger als in Zürich. Weberinnen für mechanische Stühle findet man ohne Zweifel genug zu 1.50 Fr. bis 2 Fr. per Tag. Dagegen ist dort die Erstellung eines Etablissements, dank dem unsinnigen Schutzzollsystem, teurer als bei uns; ebenso sind Kohlen noch teurer als bei uns; aber dafür erspart man den (ebenfalls lächerlichen) Ausgangszoll auf Rohseide, Fracht und Eingangszoll in die Schweiz und hat den Vorteil, die Seide aus erster Hand zu kaufen. Summa Summarum bleibt ein bedeutender Überschuss zu Gunsten Italiens.« Das sehen auch die Abegg so. 1919 steht in ihrem Familienunternehmen, das in Italien weiterhin Seidenspinnereien betreibt und von Zürich weltweit mit Rohseide handelt, der nächste Generationenwechsel an. Abegg-Stockar übergibt die Abegg & Co. seinem 28 Jahre alten Sohn Carl Julius. Auch Abegg III haben die Lehr- und Wanderjahre zuerst nach Italien geführt, noch vor dem Weltkrieg. Er hat gehaspelt und gesponnen wie einst Großvater und Vater. Drei Jahrzehnte führt Abegg III die Firma. Dann, 1949, übergibt er sie seinem Sohn Carl A. Abegg. Das Italiengeschäft der Abegg & Co. wird von 1917 bis 1951, also während der ganzen Ära von Abegg III, von Mailand aus von Carlo Job dirigiert. Wie viele Betriebe es genau waren, konnte selbst Hans Rudolf Schmid, der Verfasser der Familiengeschichte, angesichts der vielen Wechsel nicht genau eruieren. Die Filanda in 221 Von der Straße her präsentiert sich die Villa Balbiano in ihrer ganzen Pracht. Campo bei Lenno hatten die Abegg schon im 19. Jahrhundert ihrem früheren Angestellten H. Gessner aus Zürich übergeben. Noch heute erinnert ein Schild »Filandone Gessner« an das große Fabrikgebäude, das vor Jahrzehnten abgerissen wurde. Als Carlo Job Chef der Abegg-Fabriken in Italien wird, unterstehen ihm zehn Betriebe in Barzano, Brancilione, Ciserano, Garlate, Lurano, Olginate, Ponte, Sant’Omobono, Valmolina und Villa. Dazu kommen weitere Fabriken, an denen die Firma maßgeblich beteiligt ist. Die Zahl der Abegg-Beschäftigten in Italien steigt von 450 nach dem Ersten Weltkrieg auf 1700 im Crashjahr 1929. Dann sinkt sie bis 1951 auf 415; Betrieb um Betrieb wird geschlossen. 1956 geht die Abegg & Co. in der Abegg Holding AG auf, die vor allem Vermögen verwaltet. Hans Rudolf Schmid, Die Familie Abegg von Zürich und ihre Unternehmungen, Zürich 1972. Robert Schwarzenbach-Zeuner, Schweizerische Landesausstellung Zürich 1883. Bericht über Gruppe 1. Seidenindustrie, Zürich 1884. 6J Menaggio–Lenno oder Como 223 222 In 9 Tagen von Chur nach Como 6J Menaggio–Lenno oder Como 4 h 15 Zu Fuß über Nava – e la nave va Menaggio Bocchetta di Nava Lenno Schifflände Como Höhendifferenz Lenno Tisch und Bett Essen ÖV Como Übernachten Info 202 m 848 m *202 m *202 m 2 h 00 4 h 15 mit dem Schiff Aufstieg 700 m, Abstieg 700 m San Giorgio (Gemeinde Tremezzo, offen ab 11. April) , DZF 100–145 Euro, Tel. 0344 40415, www.sangiorgiolenno.com; **Plinio (ganzes Jahr offen), DZF 75 Euro, Tel. 0344 55158; ****Lenno, DZF 130–180 Euro, Tel. 0344 57051, www.albergolenno.com Trattoria San Stefano Schiff und Bus nach Como **Posta, DZ 52–78 Euro, Tel. 031 266012, www.hotelposta.net; *Piazzolo, DZ 70 Euro, Tel. 031 272186; B & B In riva, DZF 63 Euro, Tel. 031 302333, www.inriva.info; weitere Hotels www.comoeilsuolago.it Wie die Bischöfe von Menaggio nach Como (oder umgekehrt) reisten, wenn sie es denn je taten, können wir nur vermuten: im Boot. Das haben auch wir vor, später. Doch zuerst wandern wir über die Bocchetta di Nava. Tönt doch schon fast wie Nave. Nava là, e la nave va. (Dass Wandern in erster Linie den Geist auf Trab hält … hier der Beweis.) Der stolzeste und, besonders in Wintermonaten, sonnigste Aufgang kommt nur noch für haselnussstock- oder gartenscherenbewehrte kratzfeste Kreuzritter der À-la-recherche-du-chemin-perdu-Bewegung infrage: an Schifflände und Youth Hostel vorbei Richtung Pastura, beim Hof vor der vergitterten Villa direttissima zwischen Brombeeren zu einem Leitungsmast hoch und dann (leicht rechts haltend und etwas bequemer) zwischen Birken und Schützengräben bis zur Lichtung bei Punkt 496, einer kleinen abgelegenen Schafweide (unweit der nachts beleuchteten Alpini-Kapelle), dann via Quai zum Pässchen neben Sasso San Martino. Vielleicht aufersteht ja dieser Aufgang dereinst. Für die Zwischenzeit empfehlen wir die Variante via Croce und Madonna di Paullo. Die Fraktion Croce erreicht man von Menaggio in einer guten halben Stunde: links der Kirche einfädeln und auf folgenden Straßen hochgehen (auch auf die Hausnummern achten): Caronti, Leoni, Castello, Rezia, Grappa. Ein gerades Stück lang folgt man der stark befahrenen Porlezza-Lugano-Straße und dann dem Wegweiser Ospedale bis vor den Eingang des Spitalkomplexes. Beim Bildstock der glücklichen Vergine di Caravaggio steigt man auf dem gepflästerten Weg weiter an. In Croce empfangen uns das Albergo Adler und danach die Bar Stella Alpina. Gegenüber der Bar ist der Wanderweg Nr. 2 Monti Lariani ausgeschildert. Wir folgen ihm ein paar Schritte, am Waschbrunnen vorbei bis zum Haus mit den Palmen. Gleich danach steigen wir auf der Betonpiste hoch und dann rechts haltend zur Straße. Hier geht es (zwischen zwei Ferienvillen) auf einem alten Fußweg gleich weiter aufwärts. Auf der kleinen Ebene halten wir eher rechts und erreichen die Straße, der wir bis fast zur Madonna di Paullo (Kapelle, Trattoria) folgen. Der Giubileo-Weg und die Via Monti Lariani ziehen von hier direkt, aber leider betonbetont zur Bocchetta di Nava an. Ungleich attraktiver und nur eine halbe Stunde länger ist folgende Route: Hundert Meter vor der Paullo-Kapelle nehmen wir den Fahrweg zwischen zwei Steinsäulen, dem wir bis zum Pässchen neben Sasso San Martino folgen (im Schlusshang bei einer Abzweigung nicht geradeaus, sondern weiter im Zickzack auf dem inzwischen schmaleren Weg hoch). Ein kurzer Abstecher würde einen zum aussichtsreichen Sasso bringen. Wir gehen ein paar Meter abwärts, hinunter zu den traumhaft gelegenen Alphütten von Pilone beziehungsweise Nonu Gelest. Danach steigen wir auf dem alten Militärweg wieder an – eine großartige Passage mit einer spektakulären Sicht auf den See und in die Grigne. Nach der Geländekante zieht der Weg leicht sinkend durch halboffenes Gelände zur Bocchetta di Nava hinunter. Die Idylle wird untermalt von fernen Geräuschen eifrigen Handwerkens. Wir steigen ab, dem mehrstimmigen Chor von Hammerschlägen und Motorsägengebrumm entgegen. Die Häuserhäufchen von Nava liegen, unter kahlen Kalkkuppen, in einem Wiesenhang. Es geht aufs Wochenende zu, man gibt sich rundherum geschäftig. Gerne würden wir auf dem ansteigenden Fahrweg weitergehen (die Nr. 2 Monti Lariani) in die weiten sonnigen Hänge hinein. Stattdessen wechseln wir auf die gepflästerte Mulattiera, die im Wald abwärts zieht, rechts der Bachrinne und mitunter recht steil. Wo unser Abstieg den Crociano-Aufstieg trifft, gehen wir möglichst direkt weiter abwärts, auf dem Weg mit der markanten Mittelstreifenpflästerung und gewaltigen Trockenmauern. Viano verlassen wir am Waschbrunnen vorbei, gehen kurz danach zur Brücke hinunter und dann hinüber nach Bonzanigo. Einladend sanft liegt die Ebene von Tremezzo und Lenno unter uns, die Sonne glitzert auf dem 224 In 9 Tagen von Chur nach Como Wäre er doch in Bern geblieben: Polizeifoto von »Benedetto« Mussolini, 19. Juni 1903, Untersuchungsgefängnis Bern. See. Gut gekleidete Kleingruppen streben dem blumengeschmückten Friedhof von Sant’Ambroggio zu – und wir dem nahe liegenden Mezzegra. (Weiter unten, vor einem Villentor an der Via XXIV maggio 14, wurden am 28. April 1945 Mussolini und seine Geliebte Claretta Petacci von Partisanen erschossen. »Fatto storico, site of historical event«, steht auf einer Tafel.) Wir gehen durch Mezzegra weiter bis zum Wegweiser »Pola« und hier links abwärts. So stoßen wir auf die Via Pola (zuerst eine Mulattiera, dann eine Nebenstraße). Nun wandern wir die Höhe haltend weiter. Beim Wegweiser »Lenno« wird der Weg wieder schmaler und führt hinunter zur schattigen Brücke über den Pola-Bach. Ein lauschiger, moosiger Winkel. Nach der Brücke kann man in einer guten Viertelstunde direkt nach Lenno absteigen, hinunter auf die Straße und zur Schifflände. Lenno ist ein wahrer Traum für müde Wanderer. Man kann aus drei ruhig gelegenen Hotels auswählen, die das ganze Spektrum abdecken. Aus den Korbsesseln vor dem durchrenovierten teuren Viersternhaus Lenno hat man die Schifflände direkt vor der Nase und damit die Kontrolle über alles, was über den See kommt und geht. Das ganze Jahr offen ist das günstige, ebenfalls am See gelegene Zweisternhaus Plinio (drei Minuten seeabwärts). Ein paar Schritte seeaufwärts landet man im Park des San Giorgio, unserem Liebling am Lario: eine sehr gut erhaltene Fast-Neunzigerin von gelassener, ungelifteter Schönheit, dezent umweht vom Duft der Kletterrosen und 6J Menaggio–Lenno oder Como 225 vom Jasmin im Park. »Relax assoluto« heißt hier das Motto, kein Fernseher und kein Radio, kein Fitnessraum, dafür wahnsinnig bequeme alte Sessel und Sofas, in denen man sich in anderen Zeiten verlieren kann, »un po’ fuori del mondo«. Im Nebenhaus, einer ehemaligen Seidenspinnerei und späteren Ölmühle aus dem 18. Jahrhundert, erzählte uns die grauhaarige, sportlich elegante Hotelière Margherita Cappelletti Redaelli vor Jahren die Geschichte des Hauses. Großvater Giulio führte das Hotel Lenno, das damals noch Roma hieß. England hatte den Comersee entdeckt, das Geschäft lief gut. Als eine Krankheit die Olivenhaine zerstörte und die Ölpressen stillstanden, erwarb der Nonno das Land neben dem Roma und baute sein eigenes Hotel. 1920 hatte das San Giorgio seine erste Saison. Es sah Ruhe suchende Feriengäste und auch italienische Faschisten, deutsche Besatzer, amerikanische Befreier. Ein halbes Jahrhundert lang prägte Luigi Cappelletti, Giulios Sohn, das San Giorgio. Seine Tochter Margherita, Mutter von vier Kindern, übernahm um 1980 – jetzt sind Tochter und Sohn am Ruder. Wer in Lenno übernachtet, kann dem See entlang und dann auf der Hauptstraße nach Ossucio hinüber wandern. Direkt am Belvedro-Bach liegt unübersehbar die Villa Balbiano, in deren schönem Park seit den 1960er Jahren nur noch ein Schild an die Filanda Gessner, ehemals Abegg erinnert. Heute nehmen wir das Nachmittagsschiff nach Como, lassen bescheidene Dörfer und traumhafte Villen an uns vorbeiziehen, ein Bilderbuchland für Halbgötter wie George Clooney und Co. Das war schon 1849 Heute noch eine lauschige Ecke am See: das Hotel Plinio in Lenno. so, wie wir in Johann Georg 226 In 9 Tagen von Chur nach Como Kohls »Alpenreisen« lesen: »Im Paradiese darf der Comersee nicht fehlen, denn es ist unmöglich, dass ihn irgendein anderer See an Naturschönheiten übertreffe. Er ist daher auch so zu sagen der Lieblingssee der ganzen gebildeten Welt geworden, und eine Villa am Comersee zu haben, gehört eben so zu den Träumen geschmackvoller Europäer wie der Wunsch, ein Zimmer im Grosvenor-Square zu besitzen, zu den Lieblinswünschen eines Londoner Fashionable. Sehr viele haben jenen Traum zu verwirklichen gewusst, und es gibt jetzt nicht nur lombardische Nobili, sondern auch russische Fürsten, deutsche Prinzen und Prinzessinnen, Pariser Tänzerinnen oder Banquiers, die sowohl ein Winterhaus in Berlin oder Petersburg, in Mailand oder Venedig, in London oder Paris, als zugleich auch ein Sommerhaus am Comersee besitzen. Es gibt zwar auch Villen genug am Lago di Garda, am Luganer See, so wie am Lago Maggiore, allein diese gehören meistens nur einheimischen Besitzern. Ein so großes Gemisch von allerlei Besitzern Europas, ein solches Rendezvous für die die Natur bewundernde Welt aller Länder findet man nur an den Ufern des Comersees.« Das Kursschiff hält in elegantem Bogen auf die Hafenmole von Como zu. Die Kuppel des Domes fällt uns zuerst auf, noch vor dem Hotel Marco’s (links) oder dem Metropole & Suisse (rechts), dem Heldendenkmal aus den heroischen 1920er Jahren (noch mehr rechts), noch vor den Boulevardcafés an der Piazza Cavour (in der Mitte des Bildes). Der Dom liegt absolut zentral, ein Kunstwerk von hellem Marmor, eine Pracht. Bescheiden waren sie nicht, die Kollegen in Como. Die Kathedrale von Chur hätte (so überschlagen wir) wohl im Schiff des Domes von Como Platz. Dafür wirkt der Sitz der Diözese an der Piazza Grimoldi bescheidener als der Churer Schlosshügel. Gleich hinter dem Dom (oder auch neben, wie man will) lag bis 2007 das einfache Albergo Sociale mit einer guten Trattoria. Sommers saß man unter den Bögen, die Türme und Türmchen der Kathedrale vor der Nase, nachts fast fluoreszierend weiß im Scheinwerferlicht. 2008 war das Haus im Umbau; ob das Sociale neu eröffnet wird, wusste niemand so genau. Günstig und weiterhin offen ist das Piazzolo an einem kleinen, ruhigen Platz zwischen Dom und Bahnhof. Architekturinteressierte logieren vielleicht im Posta, das der berühmte Comeser Architekt Giuseppe Terragni (1904–1943) fertigbaute. Versteckt in Seitengassen des Dreiecks Piazza Cavour, Dom und westlicher Stadtmauer finden sich kleine Trattorien, die gut sind und günstig, etwa in der Via Vitani die Osteria und Enoteca del Gallo oder das Nostrad’Amos oder das Rino. Um die hungrigen Mägen der Touristen buhlen in Como viele. Im Sommer ist die attraktive Ecke beim Hotel San Marco ein 6J Menaggio–Lenno oder Como 227 Mit vollen Segeln über den Comersee – das war einmal. Rummelplatz, freie Tische in den Restaurants sind rar. Wer im Herbst oder Winter herkommt, kann das kaum glauben, dann ist sogar im gediegenen i Tigli ohne Reservation ein Tisch zu haben. Für den ganz großen Überblick ist gleich nebenan gesorgt. Eine Standseilbahn führt in spektakulärer Steigung nach Brunate hoch, ob Sommer oder Winter. So manche Jugendstilvilla dämmert schön herausgeputzt in den schattigen Gärten des ehemaligen Luftkurortes vor sich hin – im Gegensatz zum alten Hotel Milano, einst Flagschiff der gehobenen Hotellerie an stolzester Aussichtslage. Abheben wird der Kasten sicher nicht mehr, auch wenn er heute den Yogis gehört. Das Ristorante Bellavista (Dienstag geschlossen) ist ein kleiner tröstlicher Kontrapunkt, bietet nicht nur eine großartige Sicht und im Sommer lauschige Apero-Winkel, auch die Karte animiert zum Wiederkommen, von den Vorspeisen Assortito al pesce di lago oder Affetato di salumi del territorio bis zum Käse aus den umliegenden Tälern Valsassina, Valchiavenna, Val- 228 In 9 Tagen von Chur nach Como tellina und Val d’Intelvi. Noch mehr Aussicht gibt es ein »Stockwerk« weiter oben, bei San Maurizio. Und am nächsten Tag? Der alte Bischofssitz Como, die Stadt der Banken und der Modeboutiquen, ist auch eine Seidenmetropole. Und zeigt dies anschaulich im Museo didattico della Seta (Via Castelnuovo), das vom Maulbeerbaum und den Seidencocons der gefräßigen Raupen bis zu den kunstvollsten Plisseestoffen die ganze Fabrikationskette vorführt. Die riesigen hölzernen Spindelanlagen, die Webmaschinen, die reiche Farbpalette der Seidenzwirne wird man nicht so schnell vergessen. Und zwischen allem hängt eine Aufnahme der Fabrik der Fratelli Schwarzenbach, der Zürcher Seidendynastie, die es zum Global player brachte und in San Pietro Seveso von 1884 bis 1909 eine ihrer Fabriken betrieb. Und die Heimreise? Zum Bahnhof ist es eine Viertelstunde. Sollte gerade ein Sciopero angesagt sein, nimmt man unten an der Nordseite der Piazza Cavour den Bus Nr. 1 nach Ponte Chiasso. Oder man bleibt in Como. Langweilig wird es einem auch am nächsten Tag nicht werden. 229 Reise der Hoffnung Ali Enhas, Bauer aus Südanatolien, verkauft 1988 sein Haus, um mit seiner Frau Zeynep und seinem Sohn Seyhit in die Schweiz einreisen zu können. Über Izmir gelangt die Familie per Frachtschiff nach Italien. Schlepper bringen die Familie und neun weitere Flüchtlinge von Mailand aus zum Splügenpass, wo man sie im Schneesturm und bei eisiger Kälte aussetzt. Auf dem Weg in die Schweiz stirbt der kleine Junge an Erschöpfung und Unterkühlung. Die Schweizer Behörden setzen Ali Enhas in Untersuchungshaft; Standfoto zum Film »Reise der Hoffnung«. man beschuldigt ihn der fahrlässigen Tötung. Die Untersuchung wird bald eingestellt und die Flüchtlingsgruppe in die Türkei ausgeschafft. Dort wird Ali bei der Ankunft verhaftet und mehrere Tage verhört. Erst danach dürfen die Eltern ihr Kind beerdigen. Die Tragödie am Splügen führt zur Verhaftung von elf professionellen Schleppern, acht der Täter werden verurteilt. 1990 verfilmte der schweizerischen Regisseur Xavier Koller die tragische Einwanderung in seinen Film »Reise der Hoffnung«. Er erhielt dafür 1991 einen Oscar. Ein Dokumentarband zum Film liefert wichtige Hintergrundinformationen. Nachtrag, Januar 2008: Eine sechsköpfige ukrainische Familie wird am Monte Lema im Tessin aus Bergnot gerettet. Die Asylsuchenden haben sich leicht bekleidet und teilweise barfuß auf dem verschneiten Berg verirrt. Sie werden gerettet, weil sie ein Funkgerät dabeihaben. Ein italienischer Funkamateur fängt englische Hilferufe auf, Stunden später ist der Standort der Familie klar. Ein Helikopter birgt die Mutter und ihre fünf Kinder; drei davon werden mit Erfrierungen ins Spital eingeliefert. Xavier Koller, Reise der Hoffnung 1990, DVD bei www.artfilm.ch. Christina Sieg (Hg.), Reise der Hoffnung. Flucht, Schleppertum und schweizerische Asylpolitik, Zürich 1990.