- Wanderweb

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Ursula Bauer | Jürg Frischknecht
Auswanderungen
Wegleitung zum Verlassen der Schweiz
Rotpunktverlagunktverlag
6
7
Inhalt
Wandert aus der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Nützliches von A bis Z . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Mit Dursli nicht ganz bis Flandern
Unterwegs mit einem Solothurner Söldner
5
9
7
................
12
In 4 Tagen von Solothurn nach Mulhouse
Solothurn–Welschenrohr–Laufen–Ranspach–Mulhouse
2
In 6 Tagen von Bellinzona nach Mailand
Bellinzona–Vira–Maccagno–Sesto Calende–Turbigo–
Abbiategrasso–Mailand
»Was kostet das Büeble?«
Unterwegs mit Schwabenkindern
.........................
In 3 Tagen von St. Margrethen nach Ravensburg
St. Margrethen–Lindau–Neukirch–Ravensburg
3
Wer die Wahl hat, wählt den Waal
Unterwegs mit Bahnpionieren und Schmalzhändlern
......
42
8
Legal oder illegal – egal
Unterwegs mit allerlei Grenzgängern
66
......................
98
268
9
»Fliegen« mit Chavez
Unterwegs mit dem Roi du Simplon und
einem Überflieger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
We slipped down to Milan
Unterwegs mit einer Lady und Zuckerbäckern
.............
Von Bischof zu Bischof
Unterwegs mit einem Visionär und Seidenspinnern
In 9 Tagen von Chur nach Como
Chur–Fürstenau–Andeer–Monte Spluga–Gualdera–
Chiavenna–Dascio–Gravedona–Menaggio–Como
10 Schrecklich, aber bewundernswürdig
Unterwegs mit Kühen und Clubisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
In 4 Tagen von Martigny nach Aosta
Martigny–Le Châble–Mauvoisin–Ollomont–Aosta
118
In 9 Tagen von Maloja nach Mailand
Maloja–Promontogno–Chiavenna–Dascio–Dorio–Ortanella–
Mandello–Paderno–Gorgonzola–Mailand
6
.........
In 4 Tagen von Brig nach Domodossola
Brig–Simplonpass–Gondo–Bognanco–Domodossola
In 2 Tagen von Maloja nach Sondrio
Maloja–Chiareggio–Sondrio
5
Schlachtvieh und viel Käse
Unterwegs mit Säumern, Reisläufern und Rindern
In 4 Tagen von Guttannen nach Domodossola
Guttannen–Obergesteln–La Frua–Premia–Domodossola
In 6 Tagen von Müstair nach Meran
Müstair–Schleis–Ortlerblick–Schlanders–
Himmelreich–Partschins–Meran
4
Lago Maggiore, Naviglio Grande, Porta Ticinese
Unterwegs mit schwarzen Brüdern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
11
Das Einfallstor zur Schweiz
Unterwegs mit England und Engländern
...................
350
Ortsregister
.....................................................
Bildnachweis
....................................................
376
378
In 3 Tagen von Martigny nach Chamonix
Martigny–Finhaut–Le Buet–Chamonix
........
174
8
9
Themen von A–Z
Abegg, Zürcher Seidendynastie . . . . 217
Bischöfe von Chur und Como . . . . . . 183
Caminadas Schiffstraße über
den Splügen . . . . . . . . . . . . . . . . 196
Castiglioni, Antifaschist . . . . . . . . . . 106
Chavez, erster Alpenüberflieger . . . . 312
Debrunner, Thurgauer
Söldnerführer . . . . . . . . . . . . . . . 260
Dursli und Babeli . . . . . . . . . . . . . . 19,27
Engadin-Orientbahn . . . . . . . . . . . . . . 80
Engadiner Schmalzhändler . . . . . . . . . 90
England vor und hinter
der Kamera . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
Frizzoni, Spion aus Celerina . . . . . . . 150
Außerdem
Eidgenossen erobern das
befreundete Mülhausen . . . . . . . . 38
Peter Lenk, Provokateur . . . . . . . . . . . 62
Maloja–Sondrio–Maloja
in einem Tag . . . . . . . . . . . . . . . . 114
Einwanderungen
Klosterbrüder, zurück aus dem Exil . . 41
Der Lindauer Bote kommt . . . . . . . . . 65
Bischn Öschtricher? . . . . . . . . . . . . . . 97
Umberto Schena, bei der Heimkehr
interniert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Giovanni Segantini, von Mailand
nach Maloja aufgestiegen . . . . . . 173
Reise der Hoffnung . . . . . . . . . . . . . 229
Nützliches von A bis Z
Kühe und Kämpfe . . . . . . . . . . . . . . . 341
Kulturwege Schweiz . . . . . . . . . . . . 365
Maurizio, Zuckerbäcker auf Reisen . . 129
SAC-Clubisten gehen
an die Grenze . . . . . . . . . . . . . . . 334
Säumer zwischen Guttannen und
Domodossola . . . . . . . . . . . . . . . 277
Schlacht von Crevoladossola . . . . . . 290
Schwabenkinder . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Schwabengängerin Regina Lampert . . 57
»Schwarze Brüder« . . . . . . . . . . . . . 254
Seidenraupen und Cocons . . . . . . . . 138
Stockalper, Walliser Schlitzohr . . . . . 304
Tessiner Kaminfegerbuben . . . . . . . . 241
Alessandro Manzoni, »I promessi
sposi« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
Jules Röthlisberger, Brückenbauer . . 160
Leonardo da Vinci,
Wasserbauingenieur . . . . . . . . . . 166
Schweizer Kühe in London . . . . . . . 282
Ernest Hemingways Alter ego rudert
in die Schweiz . . . . . . . . . . . . . . 267
Die erste Britin reitet über den
Griespass ins Goms . . . . . . . . . . 297
Für den Tunnelbau nach Brig
gekommen – und geblieben . . . . 323
Steinböcke, geklaut und eingeschmuggelt . . . . . . . . . . . . . . 348
Ausrüstung
Feiertage in Italien
Je leichter das Gepäck, desto angenehmer das Wandern. Ein sorgfältig
gepackter Wanderrucksack wiegt
höchstens zehn Kilogramm. Bei allen
Bergwanderungen sind gute Wanderschuhe unerlässlich. Im Flachland
genügen leichte Wanderschuhe. Zu
denken ist auch an Sonne, Regen,
Wind.
Eine Ausrüstungsliste findet sich
unter www.wanderweb.ch/rucksack.
html
Die meisten unserer Auswanderungen führen nach Italien, wo es neben den üblichen ein paar zusätzliche Feiertage gibt: 25. April (Liberazione), 15. August (Ferragosto),
1. November (Allerheiligen, Ognisanti). Keine Feiertage sind in Italien
Karfreitag, Auffahrt und Pfingstmontag.
Einwanderung
Als kleinen Kontrapunkt beschließen
wir unsere Auswanderungen meist
mit einer »Einwanderung«, ganz
nach dem Motto: Jede Auswanderung ist auch eine Einwanderung,
und umgekehrt.
Fahrpläne
www.sbb.ch: Bahn und Bus für die
Schweiz, Bahn auch für die angrenzenden Länder.
www.fahrplanfelder.ch: Kursbuch
online, auch mit Fahrplänen im
Grenzgebiet, zum Beispiel von der
Vinschgerbahn.
www.trasporti.regione.lombardia.it/
trl_index.htm: Bus, Bahn und Schiff
in der Lombardei (auch Fahrplanfelder).
www.vcoinbus.it: Busse im Hinterland von Domodossola.
Hotellisten
Heute findet man fast alle Hotels im
Netz, aber oft landet man bei Buchungsfirmen (eine wahre Landplage).
In Italien nach wie vor das zuverlässigste: Annuario degli alberghi, die
offiziellen, jährlich erscheinenden
Listen aller Hotels mit Kategorie und
zulässigen Preisen, in der Regel provinzweise und bei den Tourismusbüros erhältlich.
Wir nennen in den Serviceinfos zu
den elf Auswanderungen die wichtigsten Links zu Hotellisten.
Hotelpreise
Wir geben die Hotelkategorie und
die offiziellen Preise an: meist das
Minimum und das Maximum für ein
Doppelzimmer ohne oder mit Frühstück (DZ oder DZF).
Der untere Ansatz bezieht sich in der
Regel auf die Nebensaison beziehungsweise Zimmer mit Etagendu-
Unterwegs mit einem Visionär und Seidenspinnern
Von Bischof zu Bischof
Wir nächtigen beim Bischof von Chur, wandern
auf der Via Spluga und der Via Regina und fahren
beim Bischof von Como im Schiff vor.
In 9 Tagen von Chur nach Como
Como mit Dom, aus einem britischen Reiseführer von 1830.
176
177
Chur
6A
5 + 4 Tage
Wir beginnen die Fußreise über den Splügen mit dem Wandertag Chur–Fürstenau, gehen dann je
zwei Tage auf der Via Spluga und auf einem Höhenweg bis Chiavenna. (Wer nach Monte Spluga
auf der Via Spluga bleibt, spart einen Tag.)
Von Chiavenna bis Lenno halten wir uns an den Sentiero Regina (auch Strada Regina) und fahren
mit dem Schiff ins Ziel. (Wer bis Cernobbio/Como auf der Regina bleibt, braucht ein bis zwei Tage
mehr.)
Fürstenau
CH
6B
Andeer
6C
Charakter
Mittlere bis längere Wanderungen auf markierten Saum- und Bergwegen, bis Splügen ab und zu in
Hördistanz zur A13.
Die Wanderung 6E von Gualdera nach Chiavenna ist ein Bergweg.
Von Chiavenna bis Lenno dominieren gut erhaltene Saumwege, am Comersee auch Nebenstraßen.
Splügenpass
Monte Spluga
6D
Gualdera
Jahreszeit
Für den Splügenpass kommen die Monate Juni bis Oktober infrage.
Von Chiavenna bis Menaggio kann man das ganze Jahr gehen. Danach steigt der Weg auf 848 m
an, eignet sich also weniger für die Wintermonate.
6F
Gravedona
6G
Menaggio
6H
Lenno
Lago di Com
o
Chiavenna
6E
Dascio
6I
An- und Rückreise
Mit der Bahn nach Chur.
Von Como San Giovanni auf der Gotthardlinie zurück. Oder gemütlicher, entlang der durchwanderten Route: mit dem Schiff bis Colico, mit der Bahn nach Chiavennaund mit dem Bus über den
Splügenpass zurück (bis 12. Oktober).
I
Karten
Unsere Wegbeschreibung bezieht sich auf die Landeskarte 1:50 000, Blätter247T Sardona, 257T
Safiental, 267T San Bernardino, 277T Roveredo und 287 Menaggio. Wer bis Como zu Fuß geht,
braucht auch das Blatt 297 Como.
Für die zwei Tage von Chur bis Andeer kommt alternativ die Wanderkarte 1:25 000 Thusis–
Heinzenberg–Domleschg infrage.
10 Km
Lecco
Como
In 9 Tagen von Chur nach Como
serviceteil
6A Chur–Fürstenau 6 h
6B Fürstenau–Andeer 6 h 15
6C Andeer–Monte Spluga 7 h
6D Monte Spluga–Gualdera 5 h
6E Gualdera–Chiavenna 6 h 45
6F Chiavenna–Dascio 6h 45
6G Dascio–Gravedona 4 h 30
6H Gravedona–Menaggio 6 h 30
6J Menaggio–Lenno/Como 4 h 15
Thema I
Die Bischöfe von Chur und Como: mehr Rücken an Rücken denn Bauch an Bauch
Thema II
Vision eines Vriners in der Fremde: Im Schiff über den Splügen
Thema III
Am Comersee spinnen auch Zürcher
ÖV
Der Bus C10 Colico–Como bedient das rechte Seeufer mit einem dichten Fahrplan, siehe
www.trasporti.regione.lombardia.it/trl_index.htm
Das Schweizer Postauto St. Moritz–Lugano hält, sofern eine Reservation vorliegt, in Sorico, Gera
Lario, Domaso, Gravedona, Dongo, Menaggio.
Links zu Herbergen
Fürstenau bis Splügen: www.viamalaferien.ch > Unterkunft
Monte Spluga bis Chiavenna: turismo.provincia.so.it > Annuario degli alberghi > Ort wählen
Dascio–Como: www.lakecomo.org > ospitalità
Die Provinzen Como und Lecco geben jährlich einen Guida all’ospitalità »Lake Como« heraus, der
sowohl das West- wie das Ostufer abdeckt. Vor Ort in den Tourismusbüros erhältlich.
Links zu Wegen
www.viaspluga.com und www.viaspluga.ch
Rucksackbücher
Zu dieser Auswanderung liefern zwei Taschenführer ausführliche kulturhistorische Informationen:
Kurt Wanner, Via Spluga. Durch Kulturen wandern. Thusis–Splügenpass–Chiavenna, Terra
Grischuna, 3. Auflage, Chur 2007. ISBN 978-3-7298-1139-3.
Albano Marcarini, Wandern auf der historischen Strada Regina. Zehn Wandervorschläge am Ufer
des Comer Sees, Lyasis, Sondrio 2005. 88-86711-49-2(mit 30 Kartenaquarellen). Bezugsquelle in
der Schweiz siehe Auswanderung 5.
212 In 9 Tagen von Chur nach Como
6H Gravedona–Menaggio 213
6H Gravedona–Menaggio 6 h 30
Magnolien, Menaggio, Meneghet
Gravedona
Dongo
Rezzonico
Menaggio
*202 m
208 m
225 m
202 m
Höhendifferenz
Aufstieg 500 m, Abstieg 500 m
Unterwegs
Dongo
Vignola
Rezzonico
*Dongo, Tel. 0344 81344
Bar
Trattoria
Menaggio
Tisch und Bett
ÖV
Taxi
1 h 00
4 h 00
6 h 30
***Bellavista, DZF 90–140 Euro, Tel. 0344 32136, www.hotel-bellavista.org;
**Meneghet, DZ 70 Euro, Tel. 0344 32081, [email protected];
**Corona, DZF 70–95 Euro, Tel. 0344 32006, www.hotelgarnicorona.com;
weitere Hotels
Buslinien C20 (Westufer) und C12 (nach Lugano); Comersee-Schiffe;
Fähre nach Varenna
Tel. 0344 31244
Die erste Stunde halten wir uns nicht an die Regina, die, historisch korrekt,
dem Bergfuß entlang zieht. Weit attraktiver ist der Uferweg am See. Wir verlassen Gravedona auf der Seepromenade, einer uritalienischen Heldenmeile,
von der Piazza Mazzini über die Piazza Cavour und dito Garibaldi in die Via
Roma. Das Ristorante Cardinello weckt Interesse, aber halt noch keinen
Hunger. Wir halten uns an die Heiligen. An den Kirchen Santa Maria und
San Vincenzo – ein schönes Ensemble in der kleinen Schwemmebene am
Rande von Gravedona – und am Friedhof vorbei gelangen wir zur untersten
Liro-Brücke und zum neuen Uferweg nach Dongo.
Jogger, Hunde und Kinderwagen in Begleitung – viel eifriges Fußvolk ist
auf der neuen Freizeitstrecke unterwegs. Beim Bach vor Dongo hat die Idylle
ein Ende. Wir queren den Albano auf der Hauptstraße und erreichen durch
ein paar Gassen den Hauptplatz am See. Ein schönes Geviert mit allem, was
man so braucht: mit Tourismusinformation, einer interessanten Buchhandlung, mit der Bar Gottardo und dem Museo della Resistenza. Wäre das Albergo Dongo etwas attraktiver und die verkehrsreiche Straße etwas ferner –
man könnte sich in diese Ecke verlieben.
Im obersten Stock des Palazzo comunale wurde Benito Mussolini am
27. April 1945 arretiert, nachdem Partisanen den flüchtenden Duce bei
Musso erkannt und festgenommen hatten. Am nächsten Tag erschossen sie
ihn und seine Geliebte Claretta Petacci in Mezzegra (da kommen wir morgen vorbei).
Den »kleinen« Rest des heutigen Wandertags sind wir in den breit auslaufenden Hängen des Bregagno unterwegs. Er ist zwar »nur« ein Zweitausender, aber ein Monte mit der stolzen relativen Höhe von 1900 Metern –
das wäre eine saftige Tagestour. Vom Hauptplatz in Dongo gehen wir nach
Barbignano hinauf, dem alten Dorfteil hinter der weitläufigen ehemaligen
Falck-Fabrik. Hier beginnt der Fußweg zur Kirche Santa Eufemia. Sie sitzt,
natürlich wieder in schönster Lage und im Gegensatz zur höher gelegenen
ehemaligen Burg unversehrt, auf dem Sasso di Musso.
Musso. Das Wort war den Bündnern vor einem halben Jahrtausend ein
Stachel im Fleisch. Über den Burgherrn von Musso, Gian Giacomo Medici,
berühmt und berüchtigt als Il Medeghino, lesen wir im Historischen Lexikon der Schweiz: »Dieser Abenteurer besaß im Solde des mailändischen
Herzogs die Burgvogtei Musso, von der aus er Angriffe auf Chiavenna und
das Veltlin unternahm«, unverschämterweise auf Gebiete, die sich die Bündner gerade untertan gemacht hatten. Eine Zeitlang besetzte »dieser Abenteurer« (andere Quellen reden vom »Piraten, König, Räuber, Verräter,
Rebell, Mörder, Helden«) sogar Chiavenna und später Morbegno. »Zusammen mit den eidgenössischen Truppen vertrieben die Bündner die Müsser
aus dem Veltlin und erreichten endlich die Schleifung der Raubritterfestung
am Comersee.« Womit die Welt über und hinter uns endlich wieder in Ordnung war.
Für die nächsten zwei Stunden gerät die Beschreibung etwas ausführlicher, wir durchwandern immer wieder Weiler und besiedeltes Gebiet. Wer
Albano Marcarinis Regina-Führer bei sich hat, sollte ihn spätestens jetzt
aufklappen; seine Kartenaquarelle sind hilfreich.
Für alle andern: Von der Kirche Santa Eufemia steigen wir auf dem alten
Weg nach Genico ab, wo es am untern Dorfrand auf Nebenstraßen weitergeht: leicht sinkend auf der Via al Castello, auf der Via Falco della Rupe aufwärts und weiter auf der Via della Filanda, dem Spinnereiweg. Unten in
Campagnano rückt die rosa Kirche San Rocco (auch »D. Rocho«, Punkt
261) ins Blickfeld; zu dieser steigen wir ab. Sie blickt über den See zu einer
Namensschwester, zum San-Rocco-Kirchlein am Sentiero del Viandante.
Bei San Rocco gehen wir nicht weiter abwärts, sondern nach rechts, verlassen Campagnano auf der gepflästerten Dorfgasse und queren den kleinen
Seitenbach. Etwas ansteigend kommt man in einen Waldweg und quert
dann einen weiteren Seitenbach. Die Holzschilder des Giubileo-Wegs, »ge-
214 In 9 Tagen von Chur nach Como
pflanzt« im Heiligen Jahr 2000, bestätigen uns, dass wir noch immer auf
dem Weg nach Rom (via Como) sind.
Fürs Erste wollen wir weiter nach Maggiana, was nicht ohne Querung
des Val Grande geht, und dies nicht ohne Anstieg auf 150 Meter über See:
Man nimmt vor der Kirche Madonna della Neve die Treppe und später die
Quartierstraße bis zu den obersten Häusern. Auf der Höhe der Hochspannungsleitung wechselt man über eine alte Brücke auf die andere Bachseite,
steigt noch ein wenig an und erst dann nach Maggiana ab, bis zum Parkplatz am untern Dorfrand.
Einen Kilometer folgen wir Nebenstraßen (die zwei Abzweigungen Richtung Sant’Anna usw. nicht berücksichtigen) und erreichen eine Häusergruppe. Nach einer Bachrinne kommen wir zu einer Doppelgarage. Hier gelangen wir über den Betonaufgang auf den Weg, der einem Zaun entlang zu
einem Bildstock und dann durch ein lauschiges Waldtälchen Richtung Vignola ansteigt. Am Dorfrand (wo man auf die Straße stößt) kann man rechts
versetzt eine Hintergasse nehmen. Unter der ehemaligen Seidenspinnerei
queren wir einen kleinen Bach, kommen ins Dorf und steigen zum Municipio der weitläufigen Gemeinde Cremia ab.
Am Sportplatz vorbei verlassen wir die Hauptfraktion Vignola, umrunden auf einer Quartierstraße einen Häuserhügel bis zum Parkplatz und wandern auf einer neu gepflästerten Gasse und dann auf einer Nebenstraße weiter. Schafe blöken, Hühner gackern, ein Mann und ein Frau tragen geschickt
geschultertes Leseholz nach Hause. Via die Häuser von Cheis gelangt man,
nach Parkplatz und Bach, zum Flecken Vezzedo.
Nach ein paar Schritten halten wir – noch vor einem Torbogen – links abwärts und steigen zwischen alten Reben und neuen Olivenbäumen zehn Minuten ab, bis zu einer Nebenstraße, die bald in einen bequemen Waldweg
übergeht – die historische Strada Regina. Ein großer Stein mit den Jahreszahlen 1660 und 1764 markiert die Grenze zwischen Cremia und Rezzonico.
Der Waldweg entlässt uns gegenüber der Bushaltestelle von Rezzonico
und vor einem Straßentunnel. Über dem Tunnelportal quert man ins Dorf.
Das Häusernest mit Turm könnte auch irgendwo am Mittelmeer sitzen. Eine
Bar/Trattoria mit Terrasse und Pizza und Blick auf den See verstärkt das Feriengefühl noch.
Nach dem Dorf achten wir auf die Verbotstafel für Motorräder (und das
ewige Giubileo-Schild). Nun können wir auf gepflästerten Fußwegen längere Zeit geradeaus gehen – außer bei der Villa Camilla, deren Besitzer keine
Wanderer in ihrem Park wünschen (kleine Umgehung zur stark befahrenen
6H Gravedona–Menaggio 215
Straße hinunter und gleich wieder hinauf). Wir halten weiter geradeaus,
durch Sant’Abbondio. Wir verlassen das lang gezogene Dorf ansteigend und
gehen nach der Bachquerung noch zu einem Bildstock hinauf.
Nun folgen wir dem schönen Waldweg und steigen dann, wie die Stromleitung, zum See ab. Hier treffen sich drei Generationen Straßen: die heutige, auf der wir nur wenige Meter gehen, die rund hundertjährige, der wir
am See bis zum nächsten Wanderwegweiser folgen, und schließlich der alte
Saumweg, auf dem wir erneut ansteigen (mehr als man denkt). Eine neuere
Ferienhaussiedlung lassen wir links unter uns liegen und erreichen auf einem
oberen Weg, der sehr schön durch die Felsen des Sasso Rancio führt, Nobiallo. »Via Regina«, verraten die Hausnummern. Wir bleiben auf der Königlichen, bis sie uns am südlichen Dorfende von Nobiallo bei den Carabinieri auf die Seestraße entlässt.
Für fünf Minuten halten wir uns ans Trottoir, dann an das alte, seenahe
Trassee – und bald schlendern wir zwischen Friedhofzypressen zur Parkpromenade von Menaggio.
Als die Schweizer Alpenpost in den 1930er Jahren die Linie St. Moritz–
Menaggio–Lugano einrichtete und Promotionsfilme für die Frühlingsfahrt
Von Elizabeth Main fotografiert: Die Kulisse von Menaggio.
216 In 9 Tagen von Chur nach Como
217
ins südliche Ausland drehen ließen, zeigten diese in Menaggio jeweils blühende Magnolien, waschende Frauen am See und Eisverkäufer mit einem
fahrbaren Stand. Die Frauen waschen nicht mehr am See, aber die Magnolien blühen wie im Film, und Gelatistände sprießen allenthalben.
Wenn uns der Sinn nach Gründerzeit-Feeling und verblichener Seeromantik steht, steigen wir im Bellavista ab, zusammen mit Dutzenden comerseeseligen Briten. Im Gegensatz zu den beiden durchrenovierten Grand Hotels in ähnlicher Lage ist das Bellavista noch bezahlbar, und der See
plätschert hier unter den Fenstern genau so schön. Günstiger logiert man an
der Piazza im Corona garni oder in der Du-Lac-Dependance. Den Liebhabern von Vielleicht-ist-es-das-letzte-Mal-Herbergen empfehlen wir das Meneghet, ein einfaches Hotel mit einem verwunschenen Garten in einem alten
Patrizierhaus (fünf Minuten am Weg von morgen hochgehen).
Ein Fotogeschäft hat sein Schaufenster mit Aufnahmen vom letzten großen Schnee vollgestellt, an den oberitalienischen Seen kein alltägliches Ereignis und beliebtes Sujet für Neujahrskarten. Wir stöbern, natürlich auch
dieses Mal vergeblich, nach den Postkarten, die, um 1900 in den Handel gekommen, Aufnahmen vom Comersees zeigen. Geknipst wurden sie von der
englischen Winteralpinistin und St. Moritzianerin Elizabeth Main, die in jenen Jahren als eine der ersten Velofahrerinnen überhaupt bis nach Rom radelte. Der Prosecco von heute geht an die sportliche Britin.
Am Comersee spinnen auch Zürcher
Am Lario kann man das ganze Jahr wandern, Ausnahmen vorbehalten (Menaggio, Januar 2007).
Die Villa Balbiano zwischen Lenno und Osuccio, vom Schiff aus gesehen.
Ein schöner Maiensonntag im Jahre 1852. Die Gärten der Comersee-Villen blühen
in ihrer ganzen Pracht, bestaunt von den vorbeigleitenden Reisenden auf dem
Dampfschiff nach Como. An Bord ist auch Carl Abegg, Sohn des Küsnachter Seidenhändlers, Weinbauern und Gemeindeammanns Abegg. Der Sechzehnjährige
ist auf dem Weg zu seiner Mailänder Lehrstelle in der Seidenspinnerei Fierz, ebenfalls eine Zürcher Familie.
Ob der junge Abegg kurz nach Lenno zur Villa Balbiano hinüberschaute, diesem
herrschaftlichen Bau am Ufer zwischen der Halbinsel Lavedo und der kleinen Insel
Comacina, wissen wir nicht. Vielleicht machte ihn ein zeitgenössischer Reiseführer
auf die »schöne Villa Balbiano an der Mündung der aus wilder Schlucht mündenden Perlana« aufmerksam.
Sicher ist, dass Carl Abegg nicht ahnt, dass er in ein paar Jahrzehnten Mitbesitzer dieser Villa sein und mit seiner Frau, einer geborenen Arter, im Zimmer des ver-
218 In 9 Tagen von Chur nach Como
storbenen Kardinals Angelo Maria Durini logieren wird, dass sein Sohn in der Filanda hinter der Villa das Spinnen der Seide erlernen wird – wie er selber jetzt, im
Sommer 1852, in der Umgebung von Mailand.
Carl Abegg hat seine dreitägige Reise vom Zürichsee nach Mailand am Freitagmorgen mit dem Dampfschiff angetreten, von Küsnacht bis Schmerikon noch begleitet von Mutter und Schwester und ein paar Freunden. Dann reist er allein weiter, mit der Postkutsche nach Weesen und mit dem nächsten Dampfschiff nach
Walenstadt. Die »Schiffstafel«, das Mittagessen, sei »nichts weniger als gut« gewesen, wird er aus Chur, wo er abends um halb neun Uhr mit der Pferdepost ankommt, nach Hause schreiben.
Am Samstag ruft des Posthorn die Reisenden nach Chiavenna schon morgens
um fünf Uhr zusammen. Unterwegs besichtigt man die Viamala. Eines der schönsten Naturschauspiele, findet Carl. Pünktlich zum Mittagessen fährt der Postwagen
in Splügen vor. Danach geht es hinauf zum Splügenpass, doch ist die Reisepost
dem Sechzehnjährigen zu langsam. »Ich ging mit dem Conducteur meistens zu
Fuß, um die unzähligen Zickzack abzuschneiden. Dann kamen wir zur Douane, wo
es dem Frischankommenden im Anfang nicht gar heimelig ist wegen dem zur
Hälfte unverständlichen Geschnäder.« Es sollte noch schlimmer kommen, unten
im südlichen Alpenstädtchen Chiavenna. Auch heute erreicht die Reisegesellschaft ihr Ziel abends um
halb Neun. »Ein nichts weniger als
schönes Nest«, bringt Carl zu Papier. Aber: »Ich logierte im Conradi
(Primo Albergo), wo man gar nicht
gut isst, sodass ich mit der Nachtpost verreist wäre, wenn es die
Umstände erlaubt hätten.«
Nun, am dritten Reisetag, geht
es mit dem Omnibus nach Colico,
»wo es schon recht italienerlet«,
schreibt der Jüngling nach Küsnacht. »Auf dem Weg trifft man
sehr viele Pflanzungen; die schöneren sind mit Mauern umgeben, da
man hier an Steinen reicher ist als
an Geld. In Colico besteigt er zum
Abegg-Arter, der spätere SKA-Präsident:
Das Spinnen von der Pike auf gelernt …
dritten Mal das Dampfschiff. Dem
219
Zürichseebuben gefällt auch der Comersee, den er noch oft sehen wird. Mit dem
Pferdeomnibus gelangt er von Como nach Camerlate und von dort mit dem Zug
nach Mailand. Mit dem Hotelomnibus des Albergo Marino fährt der angehende
Lehrling zum Domplatz, wo an diesem Sonntagabend alles zusammenströmt. Hier
erwartet ihn sein Küsnachter Jugendfreund Eduard Fierz.
Schon bald besorgt Carl Abegg in einer Fierzschen Filanda bei Monza die Lohnbuchhaltung der 250 Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen, darunter auch achtjährige Kinder. Um »die Spinnerinnen besser zu beurteilen«, lernt er selbst Haspeln
und Spinnen. Ein Muster der ersten selbstgesponnenen Seide schickt er stolz seiner Mutter. Aus dem eifrigen Lehrling wird dereinst der erfolgreiche Seidenindustrielle und, als Nachfolger von Alfred Escher, der langjährige Präsident der Schweizerischen Kreditanstalt Carl Abegg-Arter werden. Nennen wir ihn Abegg I.
25 Jahre später wiederholt sich die Geschichte. Die Lehr- und Wanderjahre führen auch den siebzehnjährigen Carl Abegg junior nach Oberitalien, in die Filanda
von Campo bei Lenno, an der sein Vater seit kurzem beteiligt ist. Am 31. Mai 1878
schreibt er nach Zürich, wo die Abegg nun wohnen: »Gestern haben die Seidenwürmer den vierten Schlaf vollendet, und heute hat man ihnen zum ersten Mal wieder
zu Fressen gegeben«; es habe viel Laub an den Maulbeerbäumen. »Das war ein Gesurr, als ich sie heute morgen besuchte. In fünf bis zehn
Tagen werden sie sich verpuppen. Die Proben haben
wunderschöne Cocons gegeben. In 14 Tagen wird die Filanda laufen.« Dann, im Juli und August, spinnt der Sohn
wie einst der Vater, jeden Tag eine halbe Stunde. »Es geht
schon ordentlich, obschon mir das Hinwerfen der Fäden
anfangs etwas schwer fiel.«
Von den Spinnversuchen erholt er sich beim Baden,
schwimmt mit Kameraden zur kleinen Insel Comacina,
steigt mit ihnen am Sonntag auf den nahen Monte Generoso und zum Tessiner Dörfchen Melano ab. Oder er
sammelt Schmetterlinge und »erfreut sich der Pfirsiche
und Pflaumen«, lesen wir in der Familiengeschichte der
Abegg. Oder er besucht die Seenachtsfeste, die Fürst
Melzi im nahen Bellagio gibt. Jeunesse dorée, die zweite
Generation.
Gelegentlich wollen Vater und Mutter den Sohn bei
der Arbeit sehen; das Ehepaar Abegg-Arter nächtigt im
… wie später Sohn
großen Bett im Kardinalszimmer der Villa Balbiano, die
Abegg-Stockar und
Enkel Carl Julius.
zur Filanda gehört. Nach vier Jahren in der Lombardei
220 In 9 Tagen von Chur nach Como
lernt der junge Carl Abegg New York und den Fernen Osten kennen. Bereits mit 24
Jahren übernimmt er 1885 die Führung der Familienfirma Abegg & Co. In Kolomna
bei Moskau baut Abegg II beziehungsweise Abegg-Stockar, wie er nun heißt, eine
Seidenzwirnerei auf, die mit der Revolution von 1917 ein jähes Ende findet. Wie seinen Vater wird es auch Abegg II früh ins Banken- und Versicherungsgeschäft ziehen. Wer Seide in die Finger nimmt, hat bald auch Geld in den Händen.
In der Stadt Zürich ist die Seidenindustrie seit Jahrhunderten heimisch. Nicht
zuletzt die Glaubensflüchtlinge aus den norditalienischen Produktionsgebieten der
Seide, darunter Familien aus Chiavenna, haben Know-how an die Limmat gebracht. Dank den politischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts steigen nach
1830 viele Zürcher Landfamilien neu ins Seidengeschäft ein, darunter die Abegg in
Küsnacht. Die Mechanisierung lässt die Seidenindustrie in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts boomen (wenn auch mit einer Krise in den 1880er Jahren). Keine
andere Industrie beschäftigt in der Schweiz von 1900 so viele Leute. Die Zürcher
Firmen kaufen von den norditalienischen Bauern die Seidencocons und lassen
diese vor Ort in eigenen Fabriken zu Rohseide spinnen und zwirnen. In der Schweiz
veredelt man die Rohseide zu Stoffen und wickelt den Handel ab.
Der Baumeister des größten Seidenkonzerns der Welt, Robert SchwarzenbachZeuner, umreißt 1883 die Standortvorteile in Italien so: »In Italien arbeitet man solange es den Fabrikanten beliebt, Winderlöhne sind etwas, Zettlerlöhne erheblich
billiger als in Zürich. Weberinnen für mechanische Stühle findet man ohne Zweifel
genug zu 1.50 Fr. bis 2 Fr. per Tag. Dagegen ist dort die Erstellung eines Etablissements, dank dem unsinnigen Schutzzollsystem, teurer als bei uns; ebenso sind
Kohlen noch teurer als bei uns; aber dafür erspart man den (ebenfalls lächerlichen)
Ausgangszoll auf Rohseide, Fracht und Eingangszoll in die Schweiz und hat den
Vorteil, die Seide aus erster Hand zu kaufen. Summa Summarum bleibt ein bedeutender Überschuss zu Gunsten Italiens.«
Das sehen auch die Abegg so. 1919 steht in ihrem Familienunternehmen, das in
Italien weiterhin Seidenspinnereien betreibt und von Zürich weltweit mit Rohseide
handelt, der nächste Generationenwechsel an. Abegg-Stockar übergibt die Abegg
& Co. seinem 28 Jahre alten Sohn Carl Julius. Auch Abegg III haben die Lehr- und
Wanderjahre zuerst nach Italien geführt, noch vor dem Weltkrieg. Er hat gehaspelt
und gesponnen wie einst Großvater und Vater. Drei Jahrzehnte führt Abegg III die
Firma. Dann, 1949, übergibt er sie seinem Sohn Carl A. Abegg.
Das Italiengeschäft der Abegg & Co. wird von 1917 bis 1951, also während der
ganzen Ära von Abegg III, von Mailand aus von Carlo Job dirigiert. Wie viele Betriebe
es genau waren, konnte selbst Hans Rudolf Schmid, der Verfasser der Familiengeschichte, angesichts der vielen Wechsel nicht genau eruieren. Die Filanda in
221
Von der Straße her präsentiert sich die Villa Balbiano in ihrer ganzen Pracht.
Campo bei Lenno hatten die Abegg schon im 19. Jahrhundert ihrem früheren Angestellten H. Gessner aus Zürich übergeben. Noch heute erinnert ein Schild »Filandone Gessner« an das große Fabrikgebäude, das vor Jahrzehnten abgerissen
wurde.
Als Carlo Job Chef der Abegg-Fabriken in Italien wird, unterstehen ihm zehn Betriebe in Barzano, Brancilione, Ciserano, Garlate, Lurano, Olginate, Ponte, Sant’Omobono, Valmolina und Villa. Dazu kommen weitere Fabriken, an denen die
Firma maßgeblich beteiligt ist. Die Zahl der Abegg-Beschäftigten in Italien steigt
von 450 nach dem Ersten Weltkrieg auf 1700 im Crashjahr 1929. Dann sinkt sie
bis 1951 auf 415; Betrieb um Betrieb wird geschlossen. 1956 geht die Abegg & Co.
in der Abegg Holding AG auf, die vor allem Vermögen verwaltet.
Hans Rudolf Schmid, Die Familie Abegg von Zürich und ihre Unternehmungen, Zürich 1972.
Robert Schwarzenbach-Zeuner, Schweizerische Landesausstellung Zürich 1883. Bericht über
Gruppe 1. Seidenindustrie, Zürich 1884.
6J Menaggio–Lenno oder Como 223
222 In 9 Tagen von Chur nach Como
6J Menaggio–Lenno oder Como 4 h 15
Zu Fuß über Nava – e la nave va
Menaggio
Bocchetta di Nava
Lenno Schifflände
Como
Höhendifferenz
Lenno
Tisch und Bett
Essen
ÖV
Como
Übernachten
Info
202 m
848 m
*202 m
*202 m
2 h 00
4 h 15
mit dem Schiff
Aufstieg 700 m, Abstieg 700 m
San Giorgio (Gemeinde Tremezzo, offen ab 11. April) , DZF 100–145 Euro,
Tel. 0344 40415, www.sangiorgiolenno.com; **Plinio (ganzes Jahr offen),
DZF 75 Euro, Tel. 0344 55158; ****Lenno, DZF 130–180 Euro,
Tel. 0344 57051, www.albergolenno.com
Trattoria San Stefano
Schiff und Bus nach Como
**Posta, DZ 52–78 Euro, Tel. 031 266012, www.hotelposta.net;
*Piazzolo, DZ 70 Euro, Tel. 031 272186; B & B In riva, DZF 63 Euro,
Tel. 031 302333, www.inriva.info; weitere Hotels
www.comoeilsuolago.it
Wie die Bischöfe von Menaggio nach Como (oder umgekehrt) reisten, wenn
sie es denn je taten, können wir nur vermuten: im Boot. Das haben auch wir
vor, später. Doch zuerst wandern wir über die Bocchetta di Nava. Tönt doch
schon fast wie Nave. Nava là, e la nave va. (Dass Wandern in erster Linie
den Geist auf Trab hält … hier der Beweis.)
Der stolzeste und, besonders in Wintermonaten, sonnigste Aufgang
kommt nur noch für haselnussstock- oder gartenscherenbewehrte kratzfeste
Kreuzritter der À-la-recherche-du-chemin-perdu-Bewegung infrage: an
Schifflände und Youth Hostel vorbei Richtung Pastura, beim Hof vor der
vergitterten Villa direttissima zwischen Brombeeren zu einem Leitungsmast
hoch und dann (leicht rechts haltend und etwas bequemer) zwischen Birken
und Schützengräben bis zur Lichtung bei Punkt 496, einer kleinen abgelegenen Schafweide (unweit der nachts beleuchteten Alpini-Kapelle), dann via
Quai zum Pässchen neben Sasso San Martino.
Vielleicht aufersteht ja dieser Aufgang dereinst. Für die Zwischenzeit
empfehlen wir die Variante via Croce und Madonna di Paullo. Die Fraktion
Croce erreicht man von Menaggio in einer guten halben Stunde: links der
Kirche einfädeln und auf folgenden Straßen hochgehen (auch auf die Hausnummern achten): Caronti, Leoni, Castello, Rezia, Grappa. Ein gerades
Stück lang folgt man der stark befahrenen Porlezza-Lugano-Straße und
dann dem Wegweiser Ospedale bis vor den Eingang des Spitalkomplexes.
Beim Bildstock der glücklichen Vergine di Caravaggio steigt man auf dem
gepflästerten Weg weiter an. In Croce empfangen uns das Albergo Adler
und danach die Bar Stella Alpina.
Gegenüber der Bar ist der Wanderweg Nr. 2 Monti Lariani ausgeschildert. Wir folgen ihm ein paar Schritte, am Waschbrunnen vorbei bis zum
Haus mit den Palmen. Gleich danach steigen wir auf der Betonpiste hoch
und dann rechts haltend zur Straße. Hier geht es (zwischen zwei Ferienvillen) auf einem alten Fußweg gleich weiter aufwärts. Auf der kleinen Ebene
halten wir eher rechts und erreichen die Straße, der wir bis fast zur Madonna di Paullo (Kapelle, Trattoria) folgen. Der Giubileo-Weg und die Via
Monti Lariani ziehen von hier direkt, aber leider betonbetont zur Bocchetta
di Nava an.
Ungleich attraktiver und nur eine halbe Stunde länger ist folgende Route:
Hundert Meter vor der Paullo-Kapelle nehmen wir den Fahrweg zwischen
zwei Steinsäulen, dem wir bis zum Pässchen neben Sasso San Martino folgen (im Schlusshang bei einer Abzweigung nicht geradeaus, sondern weiter
im Zickzack auf dem inzwischen schmaleren Weg hoch). Ein kurzer Abstecher würde einen zum aussichtsreichen Sasso bringen.
Wir gehen ein paar Meter abwärts, hinunter zu den traumhaft gelegenen
Alphütten von Pilone beziehungsweise Nonu Gelest. Danach steigen wir auf
dem alten Militärweg wieder an – eine großartige Passage mit einer spektakulären Sicht auf den See und in die Grigne. Nach der Geländekante zieht der
Weg leicht sinkend durch halboffenes Gelände zur Bocchetta di Nava hinunter. Die Idylle wird untermalt von fernen Geräuschen eifrigen Handwerkens.
Wir steigen ab, dem mehrstimmigen Chor von Hammerschlägen und
Motorsägengebrumm entgegen. Die Häuserhäufchen von Nava liegen, unter kahlen Kalkkuppen, in einem Wiesenhang. Es geht aufs Wochenende zu,
man gibt sich rundherum geschäftig. Gerne würden wir auf dem ansteigenden Fahrweg weitergehen (die Nr. 2 Monti Lariani) in die weiten sonnigen
Hänge hinein. Stattdessen wechseln wir auf die gepflästerte Mulattiera, die
im Wald abwärts zieht, rechts der Bachrinne und mitunter recht steil. Wo
unser Abstieg den Crociano-Aufstieg trifft, gehen wir möglichst direkt weiter abwärts, auf dem Weg mit der markanten Mittelstreifenpflästerung und
gewaltigen Trockenmauern.
Viano verlassen wir am Waschbrunnen vorbei, gehen kurz danach zur
Brücke hinunter und dann hinüber nach Bonzanigo. Einladend sanft liegt
die Ebene von Tremezzo und Lenno unter uns, die Sonne glitzert auf dem
224 In 9 Tagen von Chur nach Como
Wäre er doch in Bern geblieben: Polizeifoto von »Benedetto« Mussolini, 19. Juni 1903,
Untersuchungsgefängnis Bern.
See. Gut gekleidete Kleingruppen streben dem blumengeschmückten Friedhof von Sant’Ambroggio zu – und wir dem nahe liegenden Mezzegra. (Weiter unten, vor einem Villentor an der Via XXIV maggio 14, wurden am
28. April 1945 Mussolini und seine Geliebte Claretta Petacci von Partisanen
erschossen. »Fatto storico, site of historical event«, steht auf einer Tafel.)
Wir gehen durch Mezzegra weiter bis zum Wegweiser »Pola« und hier
links abwärts. So stoßen wir auf die Via Pola (zuerst eine Mulattiera, dann
eine Nebenstraße). Nun wandern wir die Höhe haltend weiter. Beim Wegweiser »Lenno« wird der Weg wieder schmaler und führt hinunter zur
schattigen Brücke über den Pola-Bach. Ein lauschiger, moosiger Winkel.
Nach der Brücke kann man in einer guten Viertelstunde direkt nach Lenno
absteigen, hinunter auf die Straße und zur Schifflände.
Lenno ist ein wahrer Traum für müde Wanderer. Man kann aus drei ruhig gelegenen Hotels auswählen, die das ganze Spektrum abdecken. Aus den
Korbsesseln vor dem durchrenovierten teuren Viersternhaus Lenno hat man
die Schifflände direkt vor der Nase und damit die Kontrolle über alles, was
über den See kommt und geht. Das ganze Jahr offen ist das günstige, ebenfalls am See gelegene Zweisternhaus Plinio (drei Minuten seeabwärts).
Ein paar Schritte seeaufwärts landet man im Park des San Giorgio, unserem Liebling am Lario: eine sehr gut erhaltene Fast-Neunzigerin von gelassener, ungelifteter Schönheit, dezent umweht vom Duft der Kletterrosen und
6J Menaggio–Lenno oder Como 225
vom Jasmin im Park. »Relax assoluto« heißt hier das Motto, kein Fernseher
und kein Radio, kein Fitnessraum, dafür wahnsinnig bequeme alte Sessel
und Sofas, in denen man sich in anderen Zeiten verlieren kann, »un po’
fuori del mondo«.
Im Nebenhaus, einer ehemaligen Seidenspinnerei und späteren Ölmühle aus
dem 18. Jahrhundert, erzählte uns die grauhaarige, sportlich elegante Hotelière
Margherita Cappelletti Redaelli vor Jahren die Geschichte des Hauses. Großvater Giulio führte das Hotel Lenno, das damals noch Roma hieß. England hatte
den Comersee entdeckt, das Geschäft lief gut. Als eine Krankheit die Olivenhaine zerstörte und die Ölpressen stillstanden, erwarb der Nonno das Land neben dem Roma und baute sein eigenes Hotel. 1920 hatte das San Giorgio seine
erste Saison. Es sah Ruhe suchende Feriengäste und auch italienische Faschisten,
deutsche Besatzer, amerikanische
Befreier. Ein halbes Jahrhundert
lang prägte Luigi Cappelletti,
Giulios Sohn, das San Giorgio.
Seine Tochter Margherita, Mutter
von vier Kindern, übernahm um
1980 – jetzt sind Tochter und
Sohn am Ruder.
Wer in Lenno übernachtet,
kann dem See entlang und dann
auf der Hauptstraße nach Ossucio hinüber wandern. Direkt am
Belvedro-Bach liegt unübersehbar die Villa Balbiano, in deren
schönem Park seit den 1960er
Jahren nur noch ein Schild an
die Filanda Gessner, ehemals
Abegg erinnert.
Heute nehmen wir das Nachmittagsschiff nach Como, lassen
bescheidene Dörfer und traumhafte Villen an uns vorbeiziehen, ein Bilderbuchland für
Halbgötter wie George Clooney
und Co. Das war schon 1849
Heute noch eine lauschige Ecke am See:
das Hotel Plinio in Lenno.
so, wie wir in Johann Georg
226 In 9 Tagen von Chur nach Como
Kohls »Alpenreisen« lesen: »Im Paradiese darf der Comersee nicht fehlen,
denn es ist unmöglich, dass ihn irgendein anderer See an Naturschönheiten
übertreffe. Er ist daher auch so zu sagen der Lieblingssee der ganzen gebildeten Welt geworden, und eine Villa am Comersee zu haben, gehört eben so zu
den Träumen geschmackvoller Europäer wie der Wunsch, ein Zimmer im
Grosvenor-Square zu besitzen, zu den Lieblinswünschen eines Londoner
Fashionable. Sehr viele haben jenen Traum zu verwirklichen gewusst, und es
gibt jetzt nicht nur lombardische Nobili, sondern auch russische Fürsten,
deutsche Prinzen und Prinzessinnen, Pariser Tänzerinnen oder Banquiers,
die sowohl ein Winterhaus in Berlin oder Petersburg, in Mailand oder Venedig, in London oder Paris, als zugleich auch ein Sommerhaus am Comersee
besitzen. Es gibt zwar auch Villen genug am Lago di Garda, am Luganer See,
so wie am Lago Maggiore, allein diese gehören meistens nur einheimischen
Besitzern. Ein so großes Gemisch von allerlei Besitzern Europas, ein solches
Rendezvous für die die Natur bewundernde Welt aller Länder findet man
nur an den Ufern des Comersees.«
Das Kursschiff hält in elegantem Bogen auf die Hafenmole von Como zu.
Die Kuppel des Domes fällt uns zuerst auf, noch vor dem Hotel Marco’s
(links) oder dem Metropole & Suisse (rechts), dem Heldendenkmal aus den
heroischen 1920er Jahren (noch mehr rechts), noch vor den Boulevardcafés
an der Piazza Cavour (in der Mitte des Bildes). Der Dom liegt absolut zentral, ein Kunstwerk von hellem Marmor, eine Pracht. Bescheiden waren sie
nicht, die Kollegen in Como. Die Kathedrale von Chur hätte (so überschlagen wir) wohl im Schiff des Domes von Como Platz. Dafür wirkt der Sitz der
Diözese an der Piazza Grimoldi bescheidener als der Churer Schlosshügel.
Gleich hinter dem Dom (oder auch neben, wie man will) lag bis 2007 das
einfache Albergo Sociale mit einer guten Trattoria. Sommers saß man unter
den Bögen, die Türme und Türmchen der Kathedrale vor der Nase, nachts
fast fluoreszierend weiß im Scheinwerferlicht. 2008 war das Haus im Umbau;
ob das Sociale neu eröffnet wird, wusste niemand so genau. Günstig und
weiterhin offen ist das Piazzolo an einem kleinen, ruhigen Platz zwischen
Dom und Bahnhof. Architekturinteressierte logieren vielleicht im Posta, das
der berühmte Comeser Architekt Giuseppe Terragni (1904–1943) fertigbaute.
Versteckt in Seitengassen des Dreiecks Piazza Cavour, Dom und westlicher Stadtmauer finden sich kleine Trattorien, die gut sind und günstig,
etwa in der Via Vitani die Osteria und Enoteca del Gallo oder das Nostrad’Amos oder das Rino. Um die hungrigen Mägen der Touristen buhlen in
Como viele. Im Sommer ist die attraktive Ecke beim Hotel San Marco ein
6J Menaggio–Lenno oder Como 227
Mit vollen Segeln über den Comersee – das war einmal.
Rummelplatz, freie Tische in den Restaurants sind rar. Wer im Herbst oder
Winter herkommt, kann das kaum glauben, dann ist sogar im gediegenen
i Tigli ohne Reservation ein Tisch zu haben.
Für den ganz großen Überblick ist gleich nebenan gesorgt. Eine Standseilbahn führt in spektakulärer Steigung nach Brunate hoch, ob Sommer oder
Winter. So manche Jugendstilvilla dämmert schön herausgeputzt in den
schattigen Gärten des ehemaligen Luftkurortes vor sich hin – im Gegensatz
zum alten Hotel Milano, einst Flagschiff der gehobenen Hotellerie an stolzester Aussichtslage. Abheben wird der Kasten sicher nicht mehr, auch wenn
er heute den Yogis gehört.
Das Ristorante Bellavista (Dienstag geschlossen) ist ein kleiner tröstlicher
Kontrapunkt, bietet nicht nur eine großartige Sicht und im Sommer lauschige Apero-Winkel, auch die Karte animiert zum Wiederkommen, von
den Vorspeisen Assortito al pesce di lago oder Affetato di salumi del territorio bis zum Käse aus den umliegenden Tälern Valsassina, Valchiavenna, Val-
228 In 9 Tagen von Chur nach Como
tellina und Val d’Intelvi. Noch mehr Aussicht gibt es ein »Stockwerk« weiter oben, bei San Maurizio.
Und am nächsten Tag? Der alte Bischofssitz Como, die Stadt der Banken
und der Modeboutiquen, ist auch eine Seidenmetropole. Und zeigt dies anschaulich im Museo didattico della Seta (Via Castelnuovo), das vom Maulbeerbaum und den Seidencocons der gefräßigen Raupen bis zu den kunstvollsten Plisseestoffen die ganze Fabrikationskette vorführt. Die riesigen
hölzernen Spindelanlagen, die Webmaschinen, die reiche Farbpalette der
Seidenzwirne wird man nicht so schnell vergessen. Und zwischen allem
hängt eine Aufnahme der Fabrik der Fratelli Schwarzenbach, der Zürcher
Seidendynastie, die es zum Global player brachte und in San Pietro Seveso
von 1884 bis 1909 eine ihrer Fabriken betrieb.
Und die Heimreise? Zum Bahnhof ist es eine Viertelstunde. Sollte gerade
ein Sciopero angesagt sein, nimmt man unten an der Nordseite der Piazza
Cavour den Bus Nr. 1
nach Ponte Chiasso.
Oder man bleibt in
Como. Langweilig wird
es einem auch am nächsten Tag nicht werden.
229
Reise der Hoffnung
Ali Enhas, Bauer aus Südanatolien, verkauft 1988 sein Haus, um
mit seiner Frau Zeynep und seinem Sohn Seyhit in die Schweiz
einreisen zu können. Über Izmir
gelangt die Familie per Frachtschiff nach Italien. Schlepper bringen die Familie und neun weitere
Flüchtlinge von Mailand aus zum
Splügenpass, wo man sie im
Schneesturm und bei eisiger Kälte
aussetzt. Auf dem Weg in die
Schweiz stirbt der kleine Junge an
Erschöpfung und Unterkühlung.
Die Schweizer Behörden setzen
Ali Enhas in Untersuchungshaft;
Standfoto zum Film »Reise der Hoffnung«.
man beschuldigt ihn der fahrlässigen Tötung. Die Untersuchung
wird bald eingestellt und die
Flüchtlingsgruppe in die Türkei ausgeschafft. Dort wird Ali bei der Ankunft verhaftet und mehrere Tage verhört. Erst danach dürfen die Eltern
ihr Kind beerdigen. Die Tragödie am Splügen führt zur Verhaftung von elf
professionellen Schleppern, acht der Täter werden verurteilt.
1990 verfilmte der schweizerischen Regisseur Xavier Koller die tragische Einwanderung in seinen Film »Reise der Hoffnung«. Er erhielt dafür
1991 einen Oscar. Ein Dokumentarband zum Film liefert wichtige
Hintergrundinformationen.
Nachtrag, Januar 2008: Eine sechsköpfige ukrainische Familie wird
am Monte Lema im Tessin aus Bergnot gerettet. Die Asylsuchenden haben sich leicht bekleidet und teilweise barfuß auf dem verschneiten Berg
verirrt. Sie werden gerettet, weil sie ein Funkgerät dabeihaben. Ein italienischer Funkamateur fängt englische Hilferufe auf, Stunden später ist der
Standort der Familie klar. Ein Helikopter birgt die Mutter und ihre fünf
Kinder; drei davon werden mit Erfrierungen ins Spital eingeliefert.
Xavier Koller, Reise der Hoffnung 1990, DVD bei www.artfilm.ch.
Christina Sieg (Hg.), Reise der Hoffnung. Flucht, Schleppertum und schweizerische Asylpolitik,
Zürich 1990.