Held mit Serienformat

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Held mit Serienformat
Held mit Serienformat
Zur Figurendisposition von Special Agent Gibbs
in Donald P. Bellisarios Navy CIS*
N IKOLAS I MMER
Kurt Davenport kicked off his shoes, and sat down on his couch to watch NCIS,
his favorite television show. In fact, other than the other three CSI dramas
currently airing, NCIS was the only show he ever watched with any regularity.
He idolized Gibbs, Ducky made him laugh, and he was secretly in love with
Abby.1
Der amerikanische Kriminalautor Charles Henry Foertmeyer eröffnet mit
dieser knappen Beschreibung der Figur Kurt Davenport das achte Kapitel
seines Thrillers The Threef Project (2005). Die zitierte Passage ist zum
einen als modernes Rezeptionszeugnis der in den USA ungemein beliebten
Serie Navy CIS zu werten, deren Titel auf die amerikanische Ermittlungsorganisation ›Naval Criminal Investigative Service‹ verweist. Zum anderen
wird hier das spezifische Rezeptionsverhältnis gegenüber den filmischen
Serienhelden anhand einer literarischen Figur exemplarisch ausgestellt. In
*
Bei der Einzelanalyse der Serie beschränke ich mich im Folgenden auf die erste
Staffel von Navy CIS. Zitate aus der deutschen Synchronfassung folgen der
CBS-Veröffentlichung: NCIS. Die erste Season. USA 2006. Die Zitate werden
unter Angabe der Seriennummer, des deutschen Episodentitels und des Timecodes (TC) nachgewiesen.
1
Charles Henry Foertmeyer: The Threef Project. Lincoln 2005, S. 60.
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interner Fokalisierung erfährt der Leser zunächst von Davenports serienspezifischer Vorliebe, die in Form eines qualitativen Vergleichs präsentiert
wird. Denn im Gegensatz zu den CSI-Kriminalserien – womit CSI: Den
Tätern auf der Spur (USA 2000 ff., Idee: Anthony E. Zuiker), CSI: Miami
(2002–2012) und CSI: New York (2004 ff.) gemeint sind – ist Navy CIS die
einzige Serie, die Davenport regelmäßig verfolgt. Die Ursache dafür scheint
in einer besonderen ästhetischen Präsentationsleistung der Erfolgsserie zu
liegen, die es dem Zuschauer ermöglicht, das vorgeführte Figurenensemble
als quasi-familiäres Kollektiv zu erleben. Dabei erfüllen die einzelnen, bei
Foertmeyer nur ausschnittweise aufgeführten Charaktere unterschiedliche
Funktionen: Während Davenport Special Agent Leroy Jethro Gibbs bewundert – und ihn auf diese Weise bereits implizit zu einem Helden stilisiert –, erheitert ihn die kauzige Art des Pathologen Dr. Donald ›Ducky‹
Mallard, wogegen er in die Forensikerin Abigail ›Abby‹ Sciuto sogar verliebt ist. Somit bietet die typisierte Figurenanlage der Serie ein breites
Spektrum rezeptionsästhetischer Bezugsmöglichkeiten, die sich bis zum
Modus der ästhetischen Identifikation steigern können.2
Doch Navy CIS präsentiert nicht nur eine Ermittlerfamilie mit ausgeprägten Einzelcharakteren, sondern auch mehr oder minder schwere Verbrechen, die sich im Milieu der United States Navy oder des United States
Marine Corps ereignet haben. Da wiederholt auch Mordfälle zu lösen sind,
müssen sich die Protagonisten immer wieder (lebens-)gefährlichen Situationen aussetzen und in diesen physische und psychische Stärke zeigen.
Zwar sind sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche nicht in
gleichem Maße körperlicher Bedrohung ausgesetzt, doch gibt die Serie im
Verlauf ihrer inzwischen mehr als 200 Folgen jedem der Mitspieler die
Möglichkeit, mehr als einmal als Held in Erscheinung zu treten. Dabei
verlieren die Figuren allerdings nie ihre menschliche Seite und bleiben trotz
ihrer spezifischen Einzelkompetenzen fehlbar. Der Erfolg der Serie dürfte
nicht zuletzt darauf zurückgehen, dass darin keine universal begabten und
moralisch lupenreinen Figuren, sondern ›menschenmögliche Helden‹ vorgeführt werden.
2
Vgl. Hans Robert Jauß: »Ästhetische Identifikation – Versuch über den literarischen Helden [1974]«, in: ders.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 21997, S. 244-292.
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Im Anschluss an eine knappe Gattungsdiskussion des Serienhelden (I)
soll im Folgenden ein Überblick über die Anlage der Krimiserie Navy CIS
gegeben werden (II). Mit Blick auf die Handlungsdominanz von Special
Agent Gibbs ist zu fragen, ob und inwieweit er trotz offenkundiger Ablehnung von ›Heldenallüren‹ als eine heroische Figur qualifiziert werden kann
(III). Dabei ist sein Verhalten in Berufs- und Privatleben zu unterscheiden,
da beide Bereiche bei ihm erheblich kontrastieren. Schließlich werden in
einem Resümee (IV) zentrale Charakteristika dieser seriellen Heldenkonfiguration gebündelt.
I. W IEDERHOLUNGSZWANG –
S ERIALITÄT UND S ERIENHELD
Die anfänglich geschilderte Beziehung Davenports zu den Lieblingsfiguren
seiner bevorzugten Kriminalserie kann in unkritischer Perspektive zweifellos positiv gewertet werden. Eine solche Einschätzung verdeckt allerdings
die durchaus problematische Seite dieses Rezeptionsverhaltens, das Theodor W. Adorno bereits in seinem Aufsatz How to Look at Television (1954)
mit einer Kritik am seriellen TV-Format verbunden hatte. Darin wendet er
sich ausdrücklich gegen die Vermittlung trivialer Inhalte, gegen die schablonenhafte Präsentation serieller Figuren sowie gegen die stereotypen
Darstellungskonventionen.3 Auch wenn die medialen Produkte der Kulturindustrie, wie es in der Dialektik der Aufklärung (1944) heißt, bestimmte
»Serienqualitäten« aufweisen, um konkrete Adressatenschichten zielgenau
erreichen zu können, sei es ihnen prinzipiell eingeschrieben, phantasievernichtend auf den Rezipienten zu wirken.4 In der Radikalform folge aus
dieser Entmündigung durch Amusement »eine Art von Fernsehsüchtigkeit
[…], bei der schließlich das Fernsehen […] durch seine bloße Existenz zum
3
Vgl. Theodor W. Adorno: »How to Look at Television«, in: The Quarterly of
Film, Radio and Television 3 (1954), S. 23-25.
4
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1997, S. 131. Weiter heißt es: »Indem er [der
Tonfilm] […] der Phantasie und dem Gedanken der Zuschauer keine Dimension
mehr übrigläßt, […] schult er den ihm Ausgelieferten, ihn unmittelbar mit der
Wirklichkeit zu identifizieren.« (Ebd., S. 134).
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einzigen Bewußtseinsinhalt wird und durch die Fülle des Angebots die
Menschen ablenkt von dem, was eigentlich ihre Sache wäre und was sie
eigentlich angeht.«5 Auch bei Davenport scheint zumindest ein erstes Stadium der »Fernsehsüchtigkeit« erreicht: Er ist von einigen Figuren seiner
favorisierten Serie Navy CIS derart fasziniert, dass eine regelmäßige ›Begegnung‹ mit ihnen erforderlich wird.
Gegenüber dieser radikalen fernsehtheoretischen Position der Kritischen Theorie mutet es erstaunlich an, dass sich ein Begriff wie ›Qualitätsserien‹ (Quality Television Series) hat durchsetzen können.6 Wird jedoch
Adornos ideologische Perspektivierung dieser Problemstellung zurückgewiesen, lässt sich anstelle einer pauschalen Abwertung des seriellen TVFormats ihr ästhetischer Eigenwert anerkennen. Insbesondere angesichts
der Ende des 20. Jahrhunderts sprunghaften Zunahme von Serienproduktionen wird die Reduktion des Genres auf stereotype Darstellungskonzepte
der Vielfalt, Komplexität und Originalität gegenwärtiger Serienformate
nicht mehr gerecht. Um eine angemessene Bestimmung von Qualitätsserien
leisten zu können, hat Robert J. Thompson in seiner einschlägigen Studie
Television’s Second Golden Age (1996) zwölf Kriterien formuliert, die auch
heute noch – wie Robert Blanchet gezeigt hat – weitgehende Gültigkeit beanspruchen dürfen.7
Prinzipiell ist die Theoriegeschichte des Seriellen im 20. Jahrhundert,
wie Kristina Köhler zusammenfassend dargelegt hat, von einem antagonistischen Spannungsverhältnis gekennzeichnet: Auf der einen Seite vergegenwärtige das serielle Format die »redundante ›Wiederkehr des Immergleichen‹«, auf der anderen Seite das »Innovationspotenzial von Variation
5
Theodor W. Adorno: »Fernsehen und Bildung«, in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Hg. von Gerd
Kadelbach. Frankfurt a. M. 1971, S. 50-69, hier S. 55.
6
Zum ›Qualitätsfernsehen‹ generell vgl. Janet McCabe und Kim Akass (Hg.):
7
Vgl. Robert J. Thompson: Television’s Second Golden Age. From Hill Street
Quality TV. Contemporary American Television and Beyond. London 2007.
Blues to ER. New York 1996, S. 13-16; Robert Blanchet: »Quality-TV. Eine
kurze Einführung in die Geschichte und Ästhetik neuer amerikanischer Fernsehserien«, in: Robert Blanchet u. a. (Hg.): Serielle Formen. Von den frühen FilmSerials zu aktuellen Quality-TV- und Online-Serien. Marburg 2011, S. 37-70,
hier S. 44-68.
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und Wiederholung«.8 Festzuhalten bleibt in beiden Fällen das Erfordernis,
eine einmal etablierte Grundkonstellation wiederholen zu müssen, um
sichtbar zu machen, dass unterschiedliche Episoden trotz ihrer Diversität zu
einer Serie gehören. Diese Identität innerhalb des seriellen Formats lässt
sich vermittels unterschiedlicher Elemente herstellen: über die Statik der
situativen Anlage, über die Entwicklungsähnlichkeit einzelner Episoden sowie über die Verwendung typisierter Figuren als Handlungsträger.9 In der
Gegenwendung ließe sich auch sagen, dass die genannten Elemente bereits
ein »klassisches ›Serial‹« konstituieren, wie dies Georg Mannsperger exemplarisch für die James-Bond-Reihe hervorgehoben hat.10 Muss demnach
Adorno mit seinem Vorwurf der Stereotypie doch recht gegeben werden?
Die Antwort lautet: Ja und Nein. Selbstverständlich kommt eine Serie
nicht ohne den Umstand aus, vertraute Muster zu schaffen, da ansonsten die
Einzelepisode nicht als Teil einer identischen Serie erkannt werden kann.
Und je mehr diese Muster reproduziert werden, desto mehr besteht die
›Gefahr‹, in der Narration auf stereotype Konstruktionen zu verfallen.
Gleichwohl kann eine Serie so angelegt sein, dass nur der Schauplatz oder
eine einzelne Figur als konstantes Serienmoment fungiert. Im Hintergrund
dieser skizzierten Opposition steht die gängige Unterscheidung von Episoden- und Fortsetzungsserien,11 die bei Blanchet qualitativ differenziert
werden. Auf der einen Seite sind die Episodenserien mit ihren geschlossenen Handlungssträngen zu situieren wie etwa CSI und seine »diversen
›Klone‹«,12 die allein aus strukturellen Gründen viel stärker auf die Normierung ihrer Charaktere, Konfliktlagen und Kontextbindungen verpflichtet
sind. Auf der anderen Seite finden sich die Fortsetzungsserien mit ihren
8
Kristina Köhler: »›You people are not watching enough television!‹ NachDenken über Serien und serielle Formen«, in: Blanchet u. a.: Serielle Formen
(Anm. 7), S. 11-36, hier S. 19.
9
Vgl. Umberto Eco: »Die Innovation im Seriellen«, in: ders.: Über Spiegel und
andere Phänomene. München, Wien 1990, S. 155-180, hier S. 159-161.
10 Vgl. Georg Mannsperger: »James Bond will return«. Der serielle Charakter der
James-Bond-Filme. Wiederkehrende Elemente in 40 Jahren Action-Kino. Diss.
masch. Mainz 2003, S. 8.
11 Vgl. Tanja Weber, Christian Junklewitz: »Das Gesetz der Serie. Ansätze zur
Definition und Analyse«, in: Medienwissenschaft 1 (2008), S. 13-31.
12 Blanchet: Quality-TV (Anm. 7), S. 40.
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komplex ausgreifenden Handlungssträngen wie etwa The Wire (USA 2002–
2008, Idee: David Simon), die nicht zuletzt aufgrund ihrer avancierten
Erzähltechniken als »Qualitäts-TV« bezeichnet werden.13 Dass sich die Kriminalserie Navy CIS nicht ohne weiteres in dieses binäre Schema einordnen
lässt, soll im folgenden Abschnitt diskutiert werden.
Gunther Eschke und Rudolf Bohne haben außerdem herausgestellt, dass
sich eine Serie unabhängig von ihrer Zuordnung zum Bereich der episodischen oder zyklischen Narration durch ein spezifisches ›Alleinstellungsmerkmal‹ (Unique Selling Proposition) auszeichnen müsse, um eine erfolgreiche Wirkung zu entfalten.14 Dabei nennen sie drei Kategorien, die den
»USP einer Serie« zur Geltung bringen können: der »Serien-Grundeinfall«,
die »Figurenkonstellation und / oder Besetzung« sowie die »Erzählweise«.15 Ohne im Weiteren auf die erste und dritte Kategorie einzugehen, soll
mit Blick auf die zweite Kategorie die Figur des Serienhelden gesonderte
Beachtung finden.
Um das Interesse für die Disposition des Serienhelden zu wecken, muss
er einen oder mehrere Grundkonflikte austragen, wobei Eschke und Bohne
zwischen dem globalen, lokalen und inneren Konflikt unterscheiden.16
Während sich im ersten Fall die Spannung aus dem Gegensatz zwischen
»der Figur und ihrer Welt« ergibt, wobei ›Welt‹ als Synonym für »Institutionen, die Natur« oder »übermenschliche Kräfte« zu verstehen ist,17 zielt der
zweite Fall auf eine Opposition von Gleichrangigen, auf das traditionelle
Widerspiel von Protagonist und Antagonist. Im dritten Fall geht es um
einen der Hauptfigur inhärenten Konflikt, der zumeist mit ihrer backstory
verbunden ist und nach wie vor ihr Denken und Handeln beeinflusst. Erst
die Konfrontation mit inneren und äußeren Widerständen macht beim Zuschauer das Bedürfnis rege, wissen zu wollen, ob sich der Serienheld in der
aktuellen Situation zu bewähren vermag oder ob er den neuen Anforderungen nicht gewachsen ist und scheitert. Dabei ist die Anteilnahme an seinem
Schicksal umso größer, je mehr er zu verlieren hat. Eschke und Bohne re-
13 Ebd., S. 43.
14 Vgl. Gunther Eschke, Rudolf Bohne: Bleiben Sie dran! Dramaturgie von TVSerien. Konstanz 2010, S. 29.
15 Ebd.
16 Vgl. ebd., S. 46 f.
17 Ebd., S. 46.
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kurrieren in diesem Zusammenhang auf den dramaturgischen Begriff der
›Fallhöhe‹ und verbinden damit die Forderung: »Eine Figur muss im Drama
bis an ihren persönlichen Abgrund gebracht werden, um uns durch ihre
Handlungen zu zeigen, wer sie wirklich ist – ein […] Grundsatz, der natürlich auch für eine dramatisch wirkungsvolle Serie gilt.«18 Mit der Bezugnahme auf die Dramatik wird ersichtlich, dass die Serie, sofern sie einen
Serienhelden nach dem genannten Muster präsentiert, strukturelle Verfahren der klassischen Tragödientheorie adaptiert. Schon Friedrich Schiller hat
in seiner Schrift Vom Erhabenen (1793) die »zwei Fundamentalgesetze
aller tragischen Kunst« formuliert, die in der Darstellung sowohl des Leidens als auch des Widerstands gegen dieses Leiden bestehen.19 Soll nun die
heroische Dimension des seriellen Protagonisten ausgestellt werden, muss
folglich nicht nur gezeigt werden, wie er an den ›Abgrund gebracht wird‹,
sondern auch, wie er diesen liminalen Zustand erträgt.
Wie Christopher Vogler in The Writer’s Journey (1992) dargelegt hat,
sichert dieser Moment der Extremerfahrung – den Vogler allerdings auf die
Todesnähe reduziert – die emotionale Anteilnahme des Rezipienten:
Das bisherige Geschehen hat uns – das Publikum – dazu gebracht, uns mit dem
Helden und seinem Schicksal zu identifizieren. Was dem Helden geschieht, geschieht auch uns. Wir sind bereit, mit ihm gemeinsam den Augenblick der Todesnähe zu erleben. Angesichts der gefährlichen Situation ist unsere Stimmung
niedergedrückt – um wieder aufzuleben, wenn der totgesagte Held zurückkehrt.
Und diese Wiedergeburt erfüllt uns mit Freude und Hochgefühl.20
18 Ebd., S. 49.
19 Friedrich Schiller: »Vom Erhabenen«, in: ders.: Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno
von Wiese, hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des SchillerNationalmuseums Marbach von Norbert Oellers. Weimar 1943 ff., Bd. 20,
S. 171-195, hier S. 195. Vgl. Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schillers
dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008, S. 183.
20 Christopher Vogler: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos. Aktualisierte und erweiterte Aufl. Frankfurt a. M. 62010, S. 68.
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Doch bevor der Held an diesen polaren Erlebnispunkt gebracht wird, liegt
zumeist ein ereignisreicher Lebenslauf hinter ihm, den Vogler mit »Die
Reise des Helden« überschreibt.21 In seiner Schematisierung lehnt sich
Vogler an das von Joseph Campbell entwickelte Grundmodell von ›Aufbruch – Initiation – Rückkehr‹ an, das dieser in seiner einflussreichen Studie The Hero with a Thousand Faces (1949) entwickelt hat.22 Zwar wird die
›Heldenreise‹ bei Vogler weitaus differenzierter beschrieben,23 jedoch weist
er auf die Verzichtbarkeit einzelner Ereignisstationen hin. Weit bedeutsamer ist der zugrunde liegende Handlungsverlauf selbst, da die Folge wechselnder Herausforderungen für den Protagonisten prinzipiell auf jede gesellschaftliche Konfiguration übertragbar sei und daher »universale Lebenserfahrungen« repräsentiere.24 Insofern verwundert es nicht, dass dieses
Modell wiederholt als Grundschema des modernen Films zu erkennen ist,25
der sich bisweilen – wie in The Matrix (USA 1999, Regie: Andy und Lana
21 Ebd., S. 55.
22 Vgl. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt a. M. 1953,
S. 202, wo er die ›Heldenreise‹ zusammenfassend beschreibt: »Der Held wagt
sich aus der vertrauten Landschaft hinaus in die Finsternis, besteht dort sein
Abenteuer oder geht uns einfach verloren, wird festgehalten oder gerät in Gefahr, und seine Rückkehr wird als ein Wiederkommen aus dieser jenseitigen Zone beschrieben.« Vogler hebt überdies hervor, dass sich große Filmemacher wie
George Lucas und George Miller nachweislich auf Campbells Modell beziehen.
Vgl. Vogler: Die Odyssee (Anm. 20), S. 49.
23 Zur Kritik an Voglers Modell vgl. Jens Eder: Dramaturgie des populären Films.
Drehbuchpraxis und Filmtheorie. Hamburg 32007, S. 28, Anm. 33. Zur Parallelisierung unterschiedlicher Entwürfe von ›Heldenreisen‹ vgl. Nina Trobisch,
Karin Denisow: »Von Schatzsuchern und Pfadfindern. Campbell – Rebillot –
Vogler«, in: Thomas Schildhauer, Nina Trobisch und Carsten Busch (Hg.): Realität und Magie vom Heldenprinzip heute. Ein Arbeitsbuch für Wissenschaft,
Wirtschaft und Weiterbildung. Münster 2011, S. 15-33.
24 Vogler: Die Odyssee (Anm. 20), S. 76.
25 Greg Garrett: Holy Superheroes! Exploring Faith and Spirituality in Comic
Books. Revised and expanded edition. Louisville 2008, S. 13: »From The Wizard of Oz to The Lion King to The Matrix, movie heroes have followed the
same journey as Homer’s Odysseus, and comic heroes too walk in these footsteps.«
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Wachowski) – nahtlos am zwölfteiligen Phasenaufbau der ›Heldenreise‹
orientiert.26
In Anlehnung an den Archetypen-Begriff des Schweizer Psychologen
Carl G. Jung beschreibt Vogler mehrere Archetypen, die er als narrative
Rollenmuster präsentiert.27 In Übertragung auf das serielle Format wird
Voglers Spektrum bei Eschke und Bohne auf ein viergliedriges Modell
reduziert, das aus dem (Super-)Helden, dem Durchschnittstyp, dem Underdog und dem Antihelden besteht.28 Während die Autoren auf der einen
Seite die Begrenztheit des (Super-)Helden deutlich machen, der als überlegene Figur beim Zuschauer zwar Bewunderung auslöst, in seiner Anlage
aber vergleichsweise eindimensional bleibt, heben sie die bisweilen komplexe Konfiguration des Durchschnittstyps hervor, der »auf gleicher Stufe
mit dem Zuschauer« steht.29 Der Underdog verkörpert daneben die Figur
des permanent Unterlegenen, wogegen sich der prinzipiell faszinierende
Antiheld zumeist moralisch fragwürdig verhält.
Über die charaktertypologische Anlage des Serienhelden wird schließlich das Verhältnis von Figur und Zuschauer maßgeblich bestimmt. Während heroisches Verhalten zumeist Faszination und Bewunderung generiert,
ruft ein geheimnisvolles Agieren vielfach Neugierde hervor. Wie Eschke
und Bohne betont haben, ist jedoch die Empathie als der stärkste Faktor in
der Relation von Serienheld und Rezipient zu werten.30 Sobald der Protagonist in eine universal menschliche – und damit in eine grundsätzlich
nachvollziehbare – Konfliktsituation gerät, partizipiert der Zuschauer über
26 Christof Wolf: Zwischen Illusion und Wirklichkeit. Wachowskis Matrix als filmische Auseinandersetzung mit der digitalen Welt. Münster 2002, S. 57 f.
27 Vgl. Vogler: Die Odyssee (Anm. 20), S. 87-155.
28 Vgl. Eschke/Bohne: Bleiben Sie dran (Anm. 14), S. 87.
29 Ebd. Diese Gegenüberstellung scheint abermals auf die Tragödientheorie des 18.
Jahrhunderts zurückzuverweisen, in deren Rahmen Gotthold Ephraim Lessing
den ›vollkommenen‹ Helden‹ als »schöne[s] Ungeheuer« verspottet und dagegen fordert, Held und Zuschauer müssten von »gleichem Schrot und Korne«
sein (Immer: Der inszenierte Held [Anm. 19], S. 100, 106).
30 Vgl. Eschke/Bohne: Bleiben Sie dran (Anm. 14), S. 82 f., im Anschluss an Karl
Iglesias: Writing for Emotional Impact. Advanced Techniques to Attract, Engage and Fascinate the Reader from the Beginning to End. Livermore (CA)
2005, S. 50 f.
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sein Mitgefühl an der Leiderfahrung des Handelnden. Verstärkt sich dieser
Modus der Anteilnahme, kann sich das an Bindungsintensität gewinnende
Verhältnis bis zur Identifikation mit dem Serienhelden steigern. Voraussetzung für eine solche ›Einfühlung‹ in das mediale Vorbild ist seine Unverwechselbarkeit: Die Figur muss derart individuell angelegt und mit möglichst solitären Kompetenzen ausgestattet sein, dass ein Wiedererkennen
ohne weiteres möglich ist. Um den jeweiligen Eindruck zu verstärken, werden in seriellen Formaten bestimmte Eigenarten, bisweilen sogar Marotten
etabliert, die gewissermaßen als ›Markenzeichen‹ des Serienhelden dienen.
Die Wiederholung solcher Attitüden generiert eine quasi-familiäre Vertrautheit, die sich bis zu parasozialen Beziehungen steigern kann.31 Wie es
das Eingangszitat deutlich macht, hat auch das Figurenensemble von Navy
CIS das Potential, als mögliche Ersatzfamilie zu taugen.
II. NAVY CIS – GATTUNGSFORM UND SERIENMERKMALE
Der geistige Schöpfer der Serie, die ursprünglich den Namen Navy NCIS
trug,32 ist Donald P. Bellisario. Er hat sie 2003 gemeinsam mit Don McGill
als Spin-off der Militärserie JAG – Im Auftrag der Ehre (USA 1995–2005)
geschaffen. Zwar verließ Bellisario nach Unstimmigkeiten mit dem Schauspieler Mark Harmon, der die Hauptfigur des Special Agent Gibbs verkörpert, im Mai 2007 das Produktionsteam. Dennoch wird die Serie bis heute
erfolgreich fortgesetzt, deren zehnte Staffel der US-Sender CBS im März
2012 in Auftrag gegeben hat.33 Dieser Erfolg dürfte nicht zuletzt darauf
beruhen, dass Navy CIS nicht als gewöhnliche Kriminalserie einzustufen
ist.
31 Vgl. Uli Gleich: Parasoziale Interaktionen und Beziehungen von Fernsehzuschauern mit Personen auf dem Bildschirm. Landau 1997.
32 Ab der zweiten Staffel wurde die Serie in NCIS umbenannt. Im Gegensatz zum
amerikanischen Titel Naval CIS ist der in Deutschland etablierte Titel Navy CIS
demnach inkorrekt.
33 Bernd Michael Krannich: »NCIS: CBS bestellt erwartungsgemäß Staffel 10 der
US-Serie«, in: Serienjunkies.de (14. März 2012) [http://www.serienjunkies.de/
news/ncis-cbs-bestellt-staffel10-38739.html; Zugriff: 20. August 2012].
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Zwar hat der Journalist Jon Caramanica die Serie dem Genre der procedurals und damit einer Seriengattung zugewiesen, in der in einer Episode
ein Fall vorgestellt, untersucht und abgeschlossen wird, jedoch spezifiziert
er seine Zuordnung, wenn er für Navy CIS das Subgenre des »procedural
with slapstick heart« erfindet.34 In diese Richtung geht auch die Nachfrage
von Tobias Moorstedt, der im Interview mit Mark Harmon Bezug auf einen
Artikel der New York Times nimmt und unterstreicht, dass man die Serie
dort als »forensic screwball comedy« bezeichnet habe.35 Damit rekurriert
Moorstedt auf einen Artikel des Journalisten Mike Hale, der – allerdings
mit etwas anderem Wortlaut – betont hat, dass Navy CIS in besonderer
Weise gestaltet sei: »the police show as screwball comedy«.36 Mit der
screwball comedy ist ein Subgenre der Filmkomödie angesprochen, das seinen Höhepunkt zwar in den Hollywood-Beziehungskomödien der 1930er
bis 1940er Jahre hatte, deren Merkmale aber zunehmend auch in moderne
Serien einfließen. Im Mittelpunkt steht zumeist ein exzentrischer Protagonist mit merkwürdigen und ungewöhnlichen Angewohnheiten,37 um den
sich ein von Wortwitz, schneller Wechselrede und überraschenden Wendungen geprägter Handlungsverlauf entspinnt. Auch wenn es bei Navy CIS
nahezu in jeder Episode um die Aufklärung eines Verbrechens geht, zeitigt
der humorvolle Umgang, den die Teammitglieder untereinander pflegen,
den thematisierten screwball-Effekt. Zum einen versammelt das Figurenensemble unterschiedlichste und bisweilen ›schräge‹ Charaktere – wie beispielsweise die Forensikerin Abby, die als ausgeprägtes Gothic Girl in Er-
34 Jon Caramanica: »NCIS charms as it ages«, in: Los Angeles Times online (3.
Oktober 2010). [http://articles.latimes.com/2010/oct/03/entertainment/la-ca-monitor-20101003; Zugriff: 20. August 2012].
35 »›Man muss auch danebenschießen können‹. Mark Harmon im Interview mit
Tobias Moorstedt«, in: Sueddeutsche.de (29. Mai 2010) [http://www.sueddeutsche.de/medien/navy-cis-star-harmon-man-muss-auch-danebenschiessen-koennen-1.951650; Zugriff: 20. August 2012].
36 Mike Hale: »Working Under Cover in the California Sun«, in: The New York
Times online (21. September 2009) [http://www.nytimes.com/2009/09/22/arts/
television/22ncis.html; Zugriff: 20. August 2012].
37 Zum Begriff screwball und der daraus folgenden Disposition des Protagonisten
vgl. Karola Richter: Screwball-Comedies als Produkt ihrer Zeit. »Don’t make
them sexual – make them crazy instead«. Hamburg 2009, S. 1.
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scheinung tritt –, zum anderen bietet fast jede Folge Wortgefechte zwischen
Special Agent Anthony ›Tony‹ DiNozzo und der einstigen Secret-ServiceAgentin Caitlin ›Kate‹ Todd, an deren Stelle ab der dritten Staffel die ehemalige Mossad-Agentin Ziva David tritt. Trotz dieses auffälligen Merkmals
wehrt Harmon im Gespräch mit Moorstedt den Vergleich mit Qualitätsserien wie etwa The Wire ab, indem er den eher spielerischen Charakter der
Serie akzentuiert: »Die Serie lebt doch auch von ihrem Humor. Wir nehmen uns nicht so ernst.«38 Vor allem dieser Verzicht auf übertriebene Ernsthaftigkeit ist es, der Navy CIS von pathosgeladenen und vehement unironischen Serien wie CSI, Law & Order (USA 1990–2010, Idee: Dick Wolf),
Law & Oder: Special Victims Unit (USA 1999 ff.) oder Criminal Intent
(USA 2001–2011, Idee: Dick Wolf) unterscheidet. Ist aber die Serie um
Special Agent Gibbs und sein Team deswegen schon eine Qualitätsserie?
Werden die von Thompson aufgestellten und von Blanchet aktualisierten Kriterien für eine Beantwortung dieser Frage herangezogen,39 scheint es
zunächst, als müsse sie verneint werden. Denn Navy CIS richtet sich nicht
an Zuschauer mit gehobenen Ansprüchen, sondern an ein Massenpublikum.
Auch sind die Einschaltquoten keineswegs niedrig, sondern belegen vielmehr, dass Navy CIS 2011 die meistgesehene Serie in den USA gewesen
38 Harmon/Moorstedt: Interview (Anm. 35). Gleichzeitig müssen auch die unterschiedlichen Zielbereiche berücksichtigt werden, für die The Wire und Navy CIS
produziert werden, wie Harmon ausführt: »Shows wie The Wire wurden oder
werden für das exklusivere Kabelfernsehen produziert. Navy CIS läuft im
Hauptprogramm von CBS, wird von mehr als 20 Millionen Menschen gesehen
und muss deshalb schneller zu verstehen sein.« (Ebd.) Auch gegenüber Nina
Rehfeld unterstreicht Harmon die primär humorvolle Ausrichtung der Serie:
»›Hier geht es um fünf Leute an ihrem Arbeitsplatz, ihre Beziehungen und den
Humor zwischen ihnen.‹ Zwar drehe sich jede Episode um einen Kriminalfall,
›wir fangen den Bösewicht aber nicht zwangsläufig. Es geht immer in erster Linie um die Figuren und den Witz.‹« (Nina Rehfeld: »Navy CIS: Bei uns werden
keine Stellen frei«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung online (1. Dezember
2009) [http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/2.1756/navy-cis-bei-unswerden-keine-stellen-frei-1593692.html; Zugriff: 20. August 2012]).
39 Siehe Anm. 7.
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ist.40 Das Format bietet kein großes Figurenensemble wie The Wire mit ca.
80 Akteuren, sondern eine übersichtliche Zahl typisierter und bisweilen
exotischer Charaktere. Folglich erhebt die Serie nicht den Anspruch, realistisch zu sein, sondern bietet allenfalls hinsichtlich der Ausstattung und der
ermittlungstechnischen Verfahrensweisen authentische Einblicke.41 Schließlich dürfte kaum zu behaupten sein, dass Navy CIS in der Hauptsache kontroverse Themen aufgreift, auch wenn die Fahndungsspuren mitunter bis
nach Guantanamo und von dort aus zu al-Qaida führen (z. B. Staffel I, Episode 8: Schlimmer als der Tod) oder bestimmte Figurenkonzepte sogar mit
der Tagespolitik korrespondieren.42
Trotz der aufgezählten Einwände ist die Serie nicht als typische Episodenserie einzustufen. Bereits die angedeutete genreübergreifende Verquickung von procedural und screwball comedy verdeutlicht die Generierung
neuer Gattungsmuster, die für Qualitätsserien repräsentativ ist. Darüber hinaus bietet Navy CIS trotz vielfach solitärer Fallgeschichten nicht nur episodisch abgeschlossene Handlungen, sondern weitet diese zuweilen auf mehrere Folgen aus. Vor allem die backstory der Hauptfigur Gibbs wird staffelübergreifend ausgebaut, so dass die Serie auf diese Weise ein ›Gedächtnis‹
erhält.43 Zwar erweitert dieser Umstand die in ihrer Disposition stark typi-
40 Vgl. René Block: »Die Erfolgsserie unserer Zeit«, in: Serienfans.tv (3. April
2011) [http://serienfans.tv/index.php?section=news&id=4522; Zugriff: 20. August 2012].
41 Vgl. »›Es ist ein schmaler Grat‹. Mark Harmon im Interview mit Michael Hanfeld«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung online (30. Mai 2010) [http://www.
faz.net/aktuell/feuilleton/medien/im-gespraech-schauspieler-mark-harmon-esist-ein-schmaler-grat-1985276.html; Zugriff: 20. August 2012], worin Harmon
hervorhebt: »[…] wir spielen einen richtigen, echten Geheimdienst. Wir haben
einen technischen Berater, einen echten Veteranen der Agency und ehemaligen
Marines-Ausbilder. Wir achten auf jedes Detail. Wir tragen bei der Arbeit am
Tatort zum Beispiel Schutzkappen. […] Soweit ich weiß, sind wir die einzige
Serie, die so vorgeht, das sehen Sie nicht bei CSI und auch nicht bei NCIS Los
Angeles. Oder die Handschuhe, das ist wirklich eine Plage.«
42 Steven L. Spiegel: »What NCIS tells us about Obama and Netanyahu«, in: Huffingtonpost.com (15. Mai 2009) [http://www.huffingtonpost.com/steven-l-spiegel/what-ncis-tells-us-about_b_204073.html; Zugriff: 20. August 2012].
43 Vgl. Blanchet: Quality-TV (Anm. 7), S. 56.
362
| N IKOLAS I MMER
sierte Figur nur um Nuancen, jedoch gewinnt sie durch die vielfachen
Rückblenden an individualhistorischer Tiefe. Während zu Beginn der Serie
noch erhebliche Unklarheiten über die Vergangenheit von Gibbs bestehen,
tragen etwa die Hinweise auf die Ermordung seiner ersten Frau und seiner
Tochter dazu bei, spätere Verhaltensweisen psychologisch plausibel zu machen. Darüber hinaus enthält Navy CIS eine Vielzahl intermedialer Referenzen, die vor allem in der Bezugnahme auf Filmklassiker und das populäre
Mainstream-Kino bestehen.44 Diese implizite Thematisierung der eigenen
Medialität, die die Serie leistet, lässt sich als Moment der Selbstreflexivität
werten, das für Qualitätsserien konstitutiv ist.45 Navy CIS ist damit zwar
noch immer keine Qualitätsserie im engeren Sinn, dennoch lässt sich das
Format als Hybridform aus Episoden- und Fortsetzungsserie bestimmen.
Im Hinblick auf die narrative und visuelle Präsentation ist schließlich
festzuhalten, dass in der Serie kaum innovative darstellerische Mittel zum
Einsatz kommen. Vielmehr wird der Zuschauer wiederholt mit einem normierten Ablauf konfrontiert: Zunächst findet sich das Ermittlerteam im
Großraumbüro des NCIS zusammen, danach folgt die knappe und zumeist
rüde Anweisung von Gibbs, zum Tatort zu fahren, wo zuerst die Spurensicherung erfolgt. Um diese konventionalisierte Grundstruktur mit Spannungsmomenten zu durchsetzen, wird ab der vierten Episode der zweiten
Staffel das Verfahren angewendet, im Vorgriff auf kommende Ereignisse
kurze Schwarz-Weiß-Sequenzen einzublenden, die einige Szenen später im
normalen Fortgang der Serienfolge farbig wiederholt werden. Doch im
Gegensatz zu einer Kriminalserie wie CSI wird ansonsten nahezu vollständig auf visuelle Spezialeffekte verzichtet. Während bei CSI beispielsweise
die Kamera vermittels aufwendiger Simulationen in die Körper der getöteten Personen eindringt,46 werden die Opfer bei Navy CIS selbst in der Pathologie noch zurückhaltend präsentiert. Bis auf Abby verfügen die Ermittler auch nicht über hochtechnisierte Labore, sondern müssen ihren Arbeits-
44 In den späteren Staffeln ist es vor allem Special Agent DiNozzo, der mindestens
einmal pro Episode ein Filmzitat anbringt.
45 Vgl. Blanchet: Quality-TV (Anm. 7), S. 61, der zwar nicht von einer intermedialen, jedoch »intertextuellen Variante von Selbstreflexivität« spricht.
46 Vgl. dazu Jens Eder: »Todesbilder in neueren Fernsehserien: CSI und Six Feet
Under«, in: Blanchet u. a.: Serielle Formen (Anm. 7), S. 277-298, hier S. 282 f.
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VON
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| 363
alltag vorwiegend in einer gewöhnlichen Büroumgebung verbringen.47 Ist
das tatsächlich der geeignete Ort, um Helden entstehen zu lassen?
III. L EROY J ETHRO G IBBS –
V ERWEIGERTES H ELDENTUM ?
Auch wenn Special Agent Leroy Jethro Gibbs das Aktionszentrum seines
NCIS-Teams bildet und für die möglichst erfolgreiche Bearbeitung der aktuellen Fälle garantieren muss, ist er nicht ohne weiteres als ein Held einzustufen. Mark Harmon hebt hervor, dass Gibbs als durchaus fehlbare Figur
angelegt sei: »Leroy Gibbs ist kein Supermann, der jeden Fall löst und
jedes Mal, wenn er die Pistole zieht, ins Schwarze trifft. […] Man muss
glaubhaft bleiben. Man muss manchmal versagen.«48 Nach Harmons Einschätzung ist Gibbs gemäß dem Modell von Eschke und Bohne nicht dem
Typus des (Super-)Helden, sondern dem des Durchschnittstyps zuzuordnen.
Verschärfend stellt Harmon sogar heraus, dass in Navy CIS »die Ermittler
nicht als Helden […], sondern als eine dysfunktionale Familie« gezeigt
werden.49 Im Interview mit Nina Rehfeld bekräftigt er diesen Standpunkt
nochmals: »Am besten gefällt […] [mir] an Gibbs, dass er sich nicht als
Helden begreift.«50 Allerdings, ließe sich hier einwenden, kann der, der sich
nicht als Held begreift, vielleicht umso profilierter als Held in Erscheinung
treten. In einem späteren Interview wird die Frage nach dem Heldenstatus
von Gibbs noch einmal explizit aufgegriffen, wobei Harmon zunächst mit
einer Gegenfrage reagiert: »[…] wenn Sie nach ›Helden‹ fragen, würde ich
gern wissen: Was ist das überhaupt?«51 Sein Interviewpartner Michael
47 Mark Harmon über die Einrichtung der Ermittlerzentrale: »Unsere Büros sind
realistisch gestaltet, mit Computern und Büromöbeln, die die Zuschauer aus ihrem eigenen Arbeitsalltag kennen.« (Harmon/Moorstedt: Interview [Anm. 35]).
48 Ebd.
49 Ebd.
50 Nina Rehfeld: »Am Set von Navy CIS: Bei denen muss man höllisch aufpassen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung online (30. August 2008) [http://www.
faz.net/aktuell/feuilleton/medien/am-set-von-navy-cis-bei-denen-muss-manhoellisch-aufpassen-1682345.html; 20. August 2012].
51 Harmon/Hanfeld (Anm. 41).
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Hanfeld erläutert: »Jemand, der in einer Situation, in der moralisches Handeln, in der Hilfe gefragt ist, nicht an seinen Vorteil, sondern an andere
denkt und so handelt, wie man es sich zum Vorbild nehmen könnte.«52
Trotz der prinzipiellen Übertragbarkeit dieser Disposition auf sein ›alter
ego‹ Gibbs stimmt Harmon dieser Zuschreibung keineswegs uneingeschränkt zu. Nach einigen autobiographischen Ausführungen charakterisiert
er Gibbs mit den Worten: »Er hat eine ganz eigene Denkart. Er fordert von
sich selbst mehr als von anderen und er erwartet von anderen nichts, was er
nicht selbst täte, er geht seinen Weg.«53 Mit dieser Schilderung deutet Harmon jedoch eine heroische Grundkonstellation bei Gibbs an, ohne sie explizit auszusprechen.
Weil Gibbs an sich selbst höhere Anforderungen als an andere stellt,
behauptet er für seine Person eine exzeptionelle Stellung. Zwar bezieht er
auf diese Weise eine Stellvertreterposition für die handlungsschwächere
Gemeinschaft, jedoch macht das Vertrauen in die eigenen herausragenden
Fähigkeiten zugleich ein Misstrauen in das Leistungsvermögen anderer
sichtbar. Mit dem Hinweis auf den individuellen Weg, den Gibbs verfolgt,
betont Harmon einen ausgeprägten Nonkonformismus, der Gibbs wiederholt mit den Hierarchiesystemen anderer Institutionen in Konflikt geraten
lässt. Dennoch erweist sich die Einschätzung des Schauspielers nur bedingt
als Antwort auf die Frage nach dem Heldenstatus des Serienprotagonisten.
Denn ungeklärt bleibt einerseits, ob und inwiefern Gibbs tatsächlich dem
von Hanfeld formulierten Heldenkonzept entspricht, und andererseits, ob
die handlungstragende Figur nicht noch weitere Aspekte einer heroischen
Disposition aufweist.
III.1 Bewährungsprobe – An Bord der ›Air Force One‹
Das traditionelle Heldenmodell, das Hanfeld beschreibt, wird bereits in der
ersten Serienfolge aufgerufen, deren Titel Air Force One lautet.54 Voraus-
52 Ebd.
53 Ebd.
54 Der ersten Serienfolge liegen allerdings zwei Backdoor-Pilotfolgen voraus, die
Teil der Serie JAG – Im Auftrag der Ehre sind (Staffel 8, Episode 178: Eisige
Zeiten I und Episode 179: Eisige Zeiten II). Darin löst das NCIS-Ermittlerteam,
zu dem bereits Gibbs, Tony, Abby und Ducky gehören, einen Mordfall, in den
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setzung für das Inkrafttreten dieser heroischen Konfiguration ist eine außeralltägliche Notsituation, in der ein Einzelner sein Leben in den Dienst
einer bedrohten Gemeinschaft oder eines höheren Ideals stellen kann. Dabei
geht es nicht schlechthin um die Opferung der individuellen Existenz, sondern vielmehr um die unbedingte Anerkennung und die entschiedene Befolgung eines übergeordneten moralischen Prinzips. Dass diese Konfliktebene erreicht wird, ist zu Beginn von Air Force One noch nicht zu erkennen, zumal Gibbs noch nicht einmal zugegen ist. Stattdessen kommt es an
Bord der ›Air Force One‹ zu einem folgenschweren Zwischenfall: Commander Ray Trapp erleidet, kurz nachdem er mit dem Präsidenten das
Abendessen eingenommen hat, einen krampfartigen Zusammenbruch, an
dem er kurz darauf stirbt. Sein Tod fordert die amerikanischen Sicherheitsdienste gewissermaßen zu einem Wettstreit heraus:55 Der Secret Service
fühlt sich zuständig, weil er glaubt, das Leben des Präsidenten sei in Gefahr; das FBI fühlt sich zuständig, weil es meint, die Sicherheit Amerikas
würde bedroht; und der NCIS fühlt sich zuständig, weil es ein Commander
der Marine ist, der einen nicht eindeutig erklärbaren Tod gefunden hat. Mit
der JAG-Commander Harmon Rabb verwickelt ist. NCIS Field Special Agent
Vivian Blackadder agiert in dieser Doppelfolge noch anstelle von Kate, die erst
in der ersten regulären Serienfolge von Gibbs angeworben wird. Ungewöhnlich
ist überdies, dass sich zu dieser Zeit noch alle Mitglieder des Teams siezen,
während später fast alle wie selbstverständlich das kollegiale ›Du‹ verwenden.
Im Hinblick auf den vergleichsweise handlungsdominant auftretenden Gibbs ist
zu vermerken, dass bereits hier seine überdurchschnittlichen Fähigkeiten akzentuiert werden: Erstens schätzt ihn JAG-Admiral Albert Chegwidden als überaus
scharfsinnig ein; zweitens gelangt er in einem Schnellverhör dank seines psychologischen Sachverstands an eine dringend benötigte Information; und drittens ist es Gibbs selbst, der schließlich den gesuchten Terroristen mit einem gezielten Schuss tötet. Da es seinem Gegner noch gelingt, vor der Tötung eine
Handgranate zu entsichern, wird Gibbs von der nachfolgenden Detonation eine
Treppe hinabgeschleudert. Dass er diesen Zweikampf überlebt hat, wird am Ende der Doppelfolge dezidiert heroisch inszeniert: Noch bevor sich der Explosionsrauch verzogen hat, kommt Gibbs zunächst schattenhaft, dann in tatsächlicher Gestalt als Sieger aus dem Kampfgeschehen zurück.
55 Vgl. Navy CIS I/1: Air Force One, TC: 0:23:19.
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einer List gelingt es Gibbs und seinem Team, die Leiche in die Pathologie
des NCIS zu überführen.
Da die Untersuchung allerdings keine ungewöhnlichen Resultate zeitigt
und Gibbs noch unsicher ist, wie er den Vorfall bewerten soll,56 entscheidet
er sich, am Rückflug des Präsidenten teilzunehmen. Zeitgleich kommt es zu
einem zweiten Zwischenfall: Kates Freund, Major Tim Kerry, stirbt auf die
gleiche unnatürliche Weise wie Commander Trapp. Als Abby herausfindet,
dass beide Opfer mit einem seltenen hochtoxischen Schlangengift umgebracht wurden, ist Gibbs klar, dass die präzise geplanten Attentate auf einen
größeren Anschlag hindeuten. Dabei erweist sich seine frühzeitige Anspielung auf den Action-Thriller Air Force One (USA 1997, R: Wolfgang Petersen),57 in dem Harrison Ford in der Rolle des US-amerikanischen Präsidenten James Marshall in heroischem Einsatz gegen die Entführer der ›Air
Force One‹ kämpft, bereits als intuitive Antizipation der gegnerischen Pläne. Diese Anspielung wird – in Form einer selbstreferentiellen Gattungsreflexion – an späterer Stelle nochmals bekräftigt:
Drei Jahre vor dem 11. September hat Tom Clancy ein Buch geschrieben, in
dem ein Terrorist ein Flugzeug entführt und ins Kapitol stürzen lässt. In dem
Harrison-Ford-Film waren die Terroristen Reporter. […] In dem Film erhielten
die Terroristen ihre Empfehlungen von einem Überläufer des Secret Service.58
Die intermediale Assoziation enthält in der Tat die Lösung des Rätsels: Die
Attentate sollten einen Flugzeugtausch erzwingen, damit einer der Terroristen, der sich tatsächlich als ein Pressereporter ausgibt, in dem vorher präparierten Ersatzflugzeug Zugriff auf die dort versteckten Waffen bekommt
und einen Anschlag auf den Präsidenten verüben kann.
Kurz bevor der Terrorist, der sich bereits bewaffnet hat, zum Präsidenten durchdringen kann, gelingt es Gibbs, ihn zu stellen. Diese Konfronta-
56 Vgl. ebd., TC 0:29:54.
57 Vgl. ebd., TC 0:12:43.
58 Ebd., TC 0:32:01. Gibbs bezieht sich hier auf Tom Clancys Polit-Thriller Debt
of Honor (1994), der allerdings sieben Jahre vor den Terroranschlägen des 11.
Septembers 2001 erschienen ist. Gleichzeitig wird an dieser Stelle die Ironie der
Serie deutlich, denn der Name des Überläufers, von dem hier die Rede ist, lautet
in dem Action-Thriller von 1997: Gibbs.
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tion bildet den Spannungshöhepunkt und wird als one-on-one fight inszeniert: Während der Terrorist und Gibbs zunächst kurz gemeinsam im Bild
gezeigt werden, wechselt die Kameraeinstellung daraufhin zwischen den
Widersachern hin und her und akzentuiert auf diese Weise ihre unmittelbare Entgegensetzung. Gleichzeitig ist eine Differenz in der Visualisierung
der antagonistischen Charaktere festzustellen. Während der Terrorist zunächst über ein close-up präsentiert und später in der ›heroisierenden‹ Untersicht gezeigt wird (Abb. 1), erscheint Gibbs überwiegend im ›westerntypischen‹ american shot. (Abb. 2).59 Der NCIS-Ermittler wird folglich nicht,
wie schon Harmon betont hat, als ›Supermann‹ dargestellt, sondern durch
die Normalsicht mit dem Zuschauer gewissermaßen ›auf Augenhöhe‹ gebracht.
Abb. 1: Navy CIS I/1: Air Force One,
Abb. 2: Navy CIS I/1: Air Force One,
TC 0:39:53.
TC 0:39:58.
Dennoch erweist sich Gibbs in dieser Situation zweifellos als ein Held: Erstens ist er dem Terroristen waffentechnisch unterlegen, zögert aber nicht,
die Auseinandersetzung mit ihm einzugehen. Zweitens läuft er Gefahr,
durch einen gegnerischen Treffer verwundet oder getötet zu werden, beweist aber angesichts des unmittelbar drohenden Todes außergewöhnliche
Standhaftigkeit. Auf dem finalen Höhepunkt der ersten Serienepisode wird
Gibbs folglich als eine Figur inszeniert, die die klassischen Heldentugenden
fortitudo und constantia in sich vereint. Damit entspricht er dem von Hanfeld formulierten Heldenkonzept, da er »in einer Situation, in der moralisches Handeln, in der Hilfe gefragt ist, nicht an seinen Vorteil, sondern an
59 Im Gegensatz zum medium shot, bei dem die Figur bis zur Hüfte gezeigt wird,
ist sie beim american shot ungefähr bis zum Knie im Bild. Vgl. Helmut Korte:
Einführung in die Systematische Filmanalyse. Ein Arbeitsbuch. 3., überarb. und
erweiterte Aufl. Berlin 2004, S. 27.
368
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andere denkt«.60 Darüber hinaus verkörpert Gibbs schließlich den Typus
des unsung hero: Während in den eingeblendeten Nachrichten verschwiegen wird, wer den Präsidenten tatsächlich gerettet hat,61 steht Gibbs in
seinem Hobbykeller und arbeitet – in bewusster Abgeschiedenheit von der
Außenwelt – an den Holzrippen seines Bootes.
III.2 Leistungsethik – Tätersuche mit Ausdauer
Als leitender Ermittler seines NCIS-Teams zeichnet sich Gibbs durch eine
Reihe hervorstechender Vorbildqualitäten aus. Zunächst lässt er bei der
Bearbeitung aktueller Fälle eine außergewöhnliche Beharrlichkeit erkennen, die aus seinem ausgeprägten und dabei patriotisch grundierten Verständnis von Recht und Ordnung resultiert. Aus dieser Mentalität, für ein
Opfer oder für sein Vaterland einzutreten, entspringen seine unbedingte
Leistungsethik und sein integres Verhalten. Daher besteht die Dienstpflicht
für Gibbs nicht nur in der Aufklärung eines einzelnen Verbrechens, sondern
immer auch in der Verteidigung einer prinzipiellen Form von Gerechtigkeit.62 Die aktuellen Aufgaben werden folglich mit großem Engagement
und hoher Zielbewusstheit in Angriff genommen,63 wobei Gibbs versucht,
60 Siehe Anm. 52.
61 Der FBI Senior Special Agent Tobias Fornell verkehrt in seiner Stellungnahme
sogar die realen Ereignisse, wenn er mitteilt: »FBI-Agenten und Leute vom
Secret Service haben einen Mordanschlag auf den Präsidenten an Bord der ›Air
Force One‹ mit vereinten Kräften vereitelt.« (Navy CIS I/1: Air Force One, TC
0:41:17).
62 Das geht so weit, dass bisweilen Gesetze sogar umgangen oder gebeugt werden,
um zum Ermittlungsziel zu gelangen. Beispielsweise fordert Gibbs von Abby in
Episode 17 eine präzise Handyortung unter bewusster Missachtung gesetzlicher
Vorgaben: »GIBBS. Gibt’s dabei gesetzliche Hindernisse? ABBY. Oh, das ist
schon so was wie ne Grauzone. GIBBS (lacht). Wie grau? ABBY. Holzkohle.«
(Navy CIS I/17: Fünf Musketiere, TC 0:25:49).
63 In Episode 15: Der Colonel wird Gibbs mit dem gesuchten Colonel Will Ryan
verglichen: »KATE. Ducky, kannten Sie eigentlich Colonel Ryan? DUCKY. Ich
weiß nur, was für einen Ruf er hatte. KATE. Beschreiben Sie ihn. DUCKY. Professionell, zielbewusst, seine Arbeit war sein Leben. TONY. Also ist er wohl in
etwa so wie Gibbs.« (Navy CIS I/15: Der Colonel, TC 0:12:23).
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seine Teammitglieder bestmöglich zu koordinieren. Im Ergebnis gelingt es
ihm wiederholt, selbst bei undurchsichtigen Zusammenhängen den Überblick zu behalten. Ein wichtiges Hilfsmittel zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen sind seine Regeln, die er von seiner ersten Frau
Shannon gelernt hat und die sowohl im beruflichen als auch privaten Bereich zur Anwendung kommen.64
Gleichzeitig verfügt Gibbs über ein hohes Maß an psychologischem Urteilsvermögen, von dem er maßgeblich profitiert, wenn es darum geht, die
Verhaltensmuster potentieller Täter zu deuten. Auf Kates Frage, ob er jemals einen Profiler-Lehrgang mitgemacht habe, antwortet er: »Ich habe
etwa 1.000 Befragungen durchgeführt, nach einer Weile kennt man alle
Tricks.«65 Charakteristisch sind außerdem seine ›sprechenden Blicke‹:
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, blickt er seinem Gegenüber durchdringend in die Augen, bis dieses verwirrt innehält oder die Unzulänglichkeit
der eigenen Antwort einsieht. Dank seines Scharfsinns und seiner Kombinationsgabe vermag Gibbs die gewonnenen Erkenntnisse rasch miteinander
zu verbinden und daraus ein Tatmotiv zu konstruieren. Gleichwohl bleibt er
auf die tätige Mitwirkung seiner Teammitglieder angewiesen, zumal er nur
bedingt gewillt ist, sich mit moderner Computertechnik zu beschäftigen.66
Gegenüber seinen Mitarbeitern verhält sich Gibbs zwar stets kollegial,
verdeutlicht aber in einem mitunter rüden Ton, welches Hierarchiegefälle
zwischen ihnen herrscht. Dieser durchaus fragwürdige Umgang hat für
Gibbs einen rein pragmatischen Zweck: Er versucht auf diese Weise, sein
Team zu verstärkter Arbeit anzutreiben, weswegen er seine Arbeitsaufträge
oft in Form von befehlsartigen Anweisungen mitteilt. So verlangt er in Episode 12: Ein Bein in West Virginia mit einer Handbewegung und dem
Befehl: »Schlüssel« von Tony den Autoschlüssel, während er ihn in Episode 20: Willkommen in der Hölle anherrscht: »DiNozzo, hey, trab gefälligst
64 Die dritte Regel lautet beispielsweise: »Glaube nie was man dir erzählt, überprüfe es.« (Navy CIS I/1: Air Force One, TC 0:14:52) – Fans der Serie haben im Internet eine Sammlung dieser Regeln angelegt. Vgl. http://www.ncisfanwiki.
com/page/NCIS-Regeln+in+Deutsch; Zugriff: 20. August 2012.
65 Navy CIS I/7: Unter Wasser, TC: 0:16:10.
66 In vorlauter Weise stellt Tony fest: »Du bist eben eher ein Gipskopf [bzw.
Gibbs-Kopf] als ein Computerfreak« (Navy CIS I/16: Alptraum im Keller, TC:
0:06:12).
370
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an.«67 Auch gegenüber Kate verzichtet er in gleicher Weise auf die in seinen Augen überflüssigen, weil zeitraubenden Höflichkeitsfloskeln. In Episode 14: Der gute Samariter stellt Kate die offene Frage: »Mich wollten Sie
sicher bitten, vom Sheriff des anderen Countys das Beweismaterial anzufordern?«, woraufhin Gibbs entgegnet: »Bitten wollte ich Sie nicht.«68 In
Episode 19: Wenn Tote sprechen macht Kate sogar explizit auf die mangelnden Umgangsformen von Gibbs aufmerksam. Als dieser Ducky knapp
anweist, einen bestimmten Autopsie-Bericht zu lesen, ergänzt sie: »Bitte.
Das sollte er lernen. Dass man ›bitte‹ sagt.«69 Trotz dieser mitunter rauen
Kommunikationsatmosphäre hat Gibbs nicht nur »vorbehaltloses Vertrauen
in seine Mitarbeiter«,70 sondern versucht sie auch, soweit es ihm möglich
ist, vor Gefahren zu bewahren. In besonderer Weise wird diese Einstellung
in Episode 15: Der Colonel sichtbar, als Gibbs vom FBI verdächtigt wird,
mit dem gesuchten Colonel Will Ryan zu konspirieren. Bewusst hält Gibbs
Informationen zurück und unternimmt Alleingänge, um seine Mitarbeiter
nicht zu gefährden. Diese Situation wird von Tony zunächst missinterpretiert:
TONY. Gibbs vertraut uns anscheinend nicht genug, um uns zu sagen, was da los
ist.
DUCKY. Das glaubt ihr zwei [Kate und Tony] doch wohl nicht im Ernst, oder?
Begreift ihr denn nicht? Gibbs tut alles, was er kann, um euch beide zu
schützen!
TONY. Wovor?
67 Navy CIS I/12: Ein Bein in West Virginia, TC: 0:19:56; Navy CIS I/20: Willkommen in der Hölle, TC: 0:05:42. In Episode 20 verstärkt sich Gibbs’ gereizte
Stimmung noch, als er gemeinsam mit Tony und Kate unterwegs ist, Tony aber
nicht aufhören kann, die Situation zu kommentieren. Gibbs reagiert darauf mit
der Drohung: »Halt den Mund und lass mich in Ruhe, sonst erschieß ich dich!«
(Ebd., TC: 0:14:32).
68 Navy CIS I/14: Der gute Samariter, TC 0:12:45.
69 Navy CIS I/19: Wenn Tote sprechen, TC 0:13:48. Schon an einer frühen Stelle
bemerkt Abby, wie außergewöhnlich es ist, dass Gibbs ›bitte‹ gesagt hat. Vgl.
Navy CIS I/1: Air Force One, TC 0:27:41.
70 Harmon/Hanfeld (Anm. 41).
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DUCKY. Davor, dass ihr euch der Beihilfe schuldig macht. Er ist bereit, für einen
Freund seinen Ruf und sein Leben aufs Spiel zu setzen, aber er riskiert
nicht, dass euch was geschieht.71
Da es nicht dem Charakter von Gibbs entspricht, seine Verhaltensweisen zu
erklären, muss diese Begründung von einer anderen Figur gegeben werden,
sofern der Zuschauer die Handlungsmotivation von Gibbs verstehen soll.
Die Haltung, die Ducky dabei konturiert, ist in zwei Hinsichten bedeutsam:
Auf der einen Seite wird das hohe Verantwortungsbewusstsein deutlich, das
Gibbs seinen Mitarbeitern entgegenbringt, die für ihn eine quasi-familiäre
Gemeinschaft repräsentieren. Auf der anderen Seite wird die heroische Beschützerrolle sichtbar, die Gibbs ausfüllt. Er nimmt die Gefahr – die als
berufliche (Verlust des Rufs) und existentielle (Verlust des Lebens) doppelt
markiert ist – ohne zu zögern auf sich, um damit die Sicherheit seines
Teams zu gewährleisten.
Dieser selbstlose Einsatz gründet auf einer Maxime, die Gibbs in Episode 11: Wintersonne offen ausspricht: »Wir tun, was immer nötig ist, um
unsere Arbeit zu erledigen.«72 Das erfordert nicht nur ein oftmals mutiges
und selbstbestimmtes Auftreten, um beispielsweise die eigenen Ermittlungsmethoden gegen die Bestimmungen anderer Institutionen durchzusetzen.73 Vielmehr verlangt dieses Prinzip auch, in Notsituationen selbst unter
Lebensgefahr aktiv zu werden. Exemplarisch zeigt das Episode 9: Anruf
von einem Toten, in der Gibbs und sein Team den ehemaligen CIA-Agenten
Jack Canton verfolgen. Als es Canton gelingt, den Ermittlern ein zweites
Mal zu entkommen, beginnt Gibbs, die Verfolgung als persönliche Fehde
auszulegen: »Zweimal. Das nächste Mal gehörst du mir.«74 Doch die Ergreifung des nach Kolumbien geflüchteten Canton gestaltet sich schwieriger, als zunächst vermutet. Als das Team das Haus stürmt, in dem er sich
71 Navy CIS I/15: Der Colonel, TC 0:25:05.
72 Navy CIS I/11: Wintersonne, TC 0:14:20.
73 Beispielsweise setzt Gibbs gegenüber dem unverhohlen frauenfeindlich argumentierenden Captain Veitch durch, dass Kate mit an Bord eines bedrohten UBootes kommen darf. Ausdrücklich betont Gibbs gegenüber Veitch: »Erzählen
Sie mir nicht, wie ich eine Ermittlung zu führen habe!« (Navy CIS I/7: Unter
Wasser, TC 0:09:24).
74 Navy CIS I/9: Anruf von einem Toten, TC 0:25:09.
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verbarrikadiert hat, zündet er eine Handgranate, durch deren Explosion
Gibbs an der Schulter verletzt wird. In der filmischen Inszenierung sind die
Lichtverhältnisse bewusst so arrangiert, dass ein Lichtstreifen auf diese
Wunde fällt und sie deutlich hervorhebt (Abb. 3). Über die körperliche
Versehrung wird das heroische Verhalten von Gibbs akzentuiert: Trotz der
sichtbaren Verletzung beansprucht er keine Schonung für sich, sondern ist
vielmehr derjenige, der dem Feind zuerst entgegentritt. Schließlich wird die
Spannung nochmals gesteigert, als Canton, der Major Peary als Geisel genommen hat, von Gibbs fordert, er solle unbewaffnet vor ihm erscheinen.
Als Gibbs kurz zögert, verschärft Canton den Druck: »So wie ich das sehe,
haben Sie kaum eine Wahl. Wenn Sie den Marine wollen, verhandeln Sie
mit mir.«75 Ohne sich selbst als Held zu sehen, handelt Gibbs dezidiert heroisch: Er setzt sein Leben ein, um das Leben von Major Peary zu retten.
Abb. 3: Navy CIS I/9: Anruf von einem
Abb. 4: Navy CIS I/19: Wenn Tote spre-
Toten, TC 0:37:46.
chen, TC 0:40:01.
Zu berücksichtigen ist aber auch, dass Gibbs’ vehemente Verteidigung
persönlicher Gerechtigkeitsvorstellungen bisweilen in Selbstgerechtigkeit
umschlagen kann. Diese abgründige Seite wird erstmals offenbar, als NCIS
Special Agent Christopher Pacci, ein Freund und Kollege von Gibbs, auf
grausame Weise ermordet worden ist. Am Ende von Episode 19: Wenn
Tote sprechen findet das Ermittlerteam heraus, dass Lieutenant Commander
Hamilton Voss, der die Schuld an dem Verbrechen trägt, schon seit mehreren Jahren die Identität von Amanda Reed angenommen hat. Als Reed
schließlich von Gibbs in einer Bar gestellt wird, hält er ihr seine Waffe unmittelbar vor das Gesicht (Abb. 4), während er in langsamen und deutlich
akzentuierten Worten sagt: »Sein Name war Special Agent Chris Pacci.
75 Ebd., TC 0:38:26.
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(Pause) Und er war ein Freund.«76 Mit der Betonung der Tatsache, dass
Pacci ein Freund gewesen ist, verlagert Gibbs die implizite Anklage bewusst auf die persönliche Ebene. Auch wenn Reed durch die Bewegung mit
ihrer Waffe den Todesschuss von Gibbs provoziert, verschwimmt in seiner
Reaktion die ›bloße‹ Ausübung der Dienstpflicht mit der privaten Rache für
seinen Freund.
Gesteigert wird dieses Verhalten am Ende der ersten Staffel, als es in
Episode 23: Der Terrorist zur Wiederbegegnung mit dem vermeintlichen
Terroristen Ari Haswari kommt. Haswari hat seinen ersten Auftritt bereits
in Episode 16: Alptraum im Keller, in der er Ducky, dessen Assistenten
Gerald Jackson und Kate als Geiseln nimmt. Während der Geiselnahme
schießt er Gerald in die Schulter, und im finalen shootout mit Gibbs wird
auch dieser durch einen Schuss an der Schulter verletzt. Da Gibbs die Identität des Angreifers noch nicht kennt, ist in den folgenden Episoden immer
wieder zu sehen, wie Gibbs Haswaris Bild mit den gespeicherten Aufnahmen aus der Terroristen-Datenbank abgleichen lässt.77 In der Schlussepisode nimmt sich Gibbs den Fall abermals vor, da er den Täter endlich ausfindig zu machen hofft. Für diese ruhelose Jagd findet Tony ein eigenwilliges
Bild,78 trifft damit aber nicht die Hartnäckigkeit, mit der sich Gibbs in die
Verfolgung hineinsteigert. Auf dem Höhepunkt seiner Angespanntheit
kommt es zu mehrfachen Wutausbrüchen gegenüber seinen Mitarbeitern,
die für den ansonsten sehr kontrollierten Gibbs völlig untypisch sind. An
seinem drastischen Ausfall gegenüber Tony wird das Ausmaß seiner Verbissenheit sichtbar:79
76 Navy CIS I/19: Wenn Tote sprechen, TC 0:39:54.
77 Vgl. Navy CIS I/17: Fünf Musketiere, TC 0:20:45.
78 »TONY. Gibbs ist wie ein Hund. Er knabbert an einem alten Knochen rum, bis er
mal ein Steak kriegt. Und wenn er das verschlungen hat, knabbert er wieder an
dem Knochen rum.« (Navy CIS I/23: Der Terrorist, TC: 0:13:13).
79 Kate beschreibt das Verhalten von Gibbs als »Besessenheit« (ebd., TC 0:13:01),
während es Tony anhand mehrerer Filmzitate als Zielbewusstheit auszulegen
versucht. Späterhin macht Ducky mit Verweis auf einen früheren Fall darauf
aufmerksam, dass sich Gibbs schon einmal in diesem Zustand permanenter Anspannung befunden habe. Vgl. ebd., TC 0:17:57.
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Der Krieg ist nicht fair, und wir stehen jetzt im Krieg. Und bis ich dich rausschmeiße […], kämpfst du in diesem Krieg sieben Tage die Woche rund um die
Uhr! Einschließlich schlafen, essen und aufs Klo gehen! Verstanden?80
Damit wird klar, dass Gibbs den Angriff auf seine Mitarbeiter als persönliche Kriegserklärung wertet. Als am Ende der Episode deutlich wird, dass
Haswari kein Terrorist, sondern ein Geheimagent des Mossad ist, der die
Hamas und al-Qaida unterwandern soll, tritt FBI-Agent Fornell an Gibbs
mit der Bitte heran, Haswaris Tarnung nicht auffliegen zu lassen und ihn zu
vergessen. Gibbs fordert jedoch, Haswari noch einmal treffen zu dürfen. In
der kaum beleuchteten NCIS-Pathologie kommt es zum showdown am
Staffelende, wobei das akustische Geräusch eines klopfenden Herzens die
finale Konfrontation mit zusätzlicher Spannung auflädt. Während Haswari
versucht, die eigentliche Motivation von Gibbs zu ergründen, lehnt dieser
es ab, sich mit einem Agenten gemeinzumachen, der aus purem Eigennutz
über Leichen geht.81 Stattdessen markiert Gibbs die größtmögliche Differenz, indem er Haswari am Ende des Gesprächs in die Schulter schießt. Da
Gibbs die Rache stellvertretend für den zuvor verwundeten Gerald ausübt,
bleibt sie aufgrund ihres selbstgerechten Charakters moralisch höchst fragwürdig. In diesem Moment erscheint Gibbs als ein Antiheld.
III.3 Scheidungsgeschichten – Ein Held mit Kratzern
Im Gespräch mit Tobias Moorstedt macht Harmon auch auf die abgründige
Seite von Gibbs aufmerksam, die in der ersten Staffel nur andeutungsweise
sichtbar wird: »In Gibbs steckt eine Menge Dunkelheit und Schmerz.«82
Dieser Schmerz resultiert aus dem persönlichen Trauma, seine erste Frau
Shannon und seine Tochter Kelly bei einem Anschlag durch einen Drogenhändler verloren zu haben, was erst gegen Ende der dritten Staffel thematisiert wird. Der einstige Verlust beeinflusst nach wie vor das Privatleben
von Gibbs, das zu seinem Berufsleben »den denkbar größten Kontrast«
80 Ebd., TC 0:25:01.
81 Im zuvor geführten Gespräch mit Fornell brüllt Gibbs: »Das Schwein hat die
Grenze überschritten: sich einzuschmeicheln, indem man auf Freunde schießt.«
(Ebd., TC 0:36:56).
82 Harmon/Moorstedt: Interview (Anm. 35).
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bildet: »da ist alles aus der Spur«.83 Zentraler Indikator dieser ›Unordnung‹
sind seine drei gescheiterten Ehen, von denen jedoch nur anspielungsweise
und in distanzierter bis ironischer Form berichtet wird.84 Zu den wenigen
Details, die der Zuschauer davon erfährt, gehört ein Hinweis auf eine handgreifliche Auseinandersetzung mit seiner dritten Ehefrau. Darüber berichtet
Ducky: »Vor vier Jahren hat dir deine dritte Frau mit dem Baseball-Schläger eins übergezogen.«85 Trotz dieser einprägsamen Erfahrung hat Gibbs
keine Bindungsscheu entwickelt. Zwar behauptet er, nur mit wenigen Frauen auszugehen,86 dafür taucht aber in der ersten Staffel wiederholt eine geheimnisvolle Rothaarige auf, mit der er offenkundig liiert ist. Darüber
hinaus wird an seinem Umgang mit Kindern vielleicht auch sichtbar, wie
sehr ihn der Verlust von Kelly noch zu beschäftigen scheint. Am Ende von
Episode 2: Sprung in den Tod hilft er dem Jungen, der seinen Vater verloren hat, sein Baumhaus fertigzustellen, und in Episode 18: Falsche Fährten
nimmt er den minderjährigen Sohn des gesuchten Petty Officers Jack Curtin tröstend in die Arme.87 Ebenso wie gegenüber seinen Mitarbeitern versucht Gibbs auch hier, die schützende Vaterrolle einzunehmen.
Um Abstand von den aktuellen Fällen zu gewinnen, hat sich Gibbs im
Keller seines Hauses einen Hobby-Raum geschaffen, in dem er in ausdauernder Handarbeit am Holzrumpf seines Bootes arbeitet. »Dabei trinkt er
Whiskey aus der Tasse. Gästen serviert er den goldbraunen Saft in einem
ausgeleerten Nagelglas. […] Das Basteln am Schiff mit Handhobel und
Holzgriffbohrern passt in seiner altmodischen Langsamkeit gut zum jahrzehntelang gereiften Südstaatengesöff.«88 Neben der Funktion, den mitunter
hektisch verlaufenden Ermittlungen eine entschleunigte und gleichsam kontemplative Beschäftigung entgegenzusetzen, gewinnt die sorgfältige Arbeit
83 Harmon/Hanfeld (Anm. 41).
84 Beispielsweise lässt Gibbs verlauten: »Ich hab drei Exfrauen, da kann ich mir
keinen Fetisch leisten.« (Navy CIS I/17: Fünf Musketiere, TC 0:15:32).
85 Navy CIS I/5: Der Fluch der Mumie, TC 0:10:04.
86 »GIBBS. Frauen, mit denen ich ausgehe, stehen auf den Duft von Sägespänen.
Deswegen gehe ich nur mit wenigen aus.« (Navy CIS I/8: Schlimmer als der
Tod, TC 0:04:31).
87 Vgl. Navy CIS I/18: Falsche Fährten, TC 0:19:30.
88 Oliver Uschmann: »Whiskey«, in: ders.: Überleben auf Festivals. Expeditionen
ins Rockreich. München 2012, S. 304-306, hier S. 304 f.
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am Boot insofern symbolischen Charakter, als sie die Solidität und Bedachtheit von Gibbs’ Handlungen unterstreicht. Schon in der ersten Serienepisode wird Gibbs nicht nur gezeigt, wie er eingangs einen Querspanten
seines Bootsskeletts abschleift,89 sondern auch, wie er diese Beschäftigung
am Ende der Episode konzentriert fortsetzt. Während sich die Vertreter der
anderen Sicherheitsdienste als siegreiche Helden inszenieren (siehe III.1),
verweigert Gibbs diese Rolle, indem er die Prioritäten verschiebt: Eine bleibende Arbeit ist ihm wichtiger als der vergängliche Ruhm.
IV. R ESÜMEE – Z WISCHEN P HÄNO - UND S TEREOTYPIE
Im Gegensatz zur Fortsetzungsserie verlangt die traditionelle Episodenserie
stereotype Konstellationen. Diese Anforderung wird insbesondere von der
modernen US-amerikanischen Kriminalserie eingelöst, in der pro Episode
üblicherweise ein Fall von eindimensional gezeichneten Figuren bearbeitet
wird, die auf ein starres Charakterprofil festgelegt sind. Auch in Navy CIS
sind zweifellos wiederkehrende Muster zu beobachten: Während die einzelnen Teammitglieder ihre typisierenden Eigenheiten ausstellen, lässt auch
die Disposition des Teamleiters Gibbs kennzeichnende Wesensmerkmale
erkennen, die seriell reproduziert werden. Doch trotz mancher Stereotypie
ist Gibbs als eine Figur mit erkennbaren Ambivalenzen angelegt.
Obwohl er den Habitus, ein Held zu sein, prinzipiell ablehnt, erwächst
aus seinen Handlungen sowie aus den filmischen Inszenierungen seiner
Person das Bild eines durchaus heldenhaften Ermittlers. Im Einsatz beweist
er im Extremfall klassische Heldenqualitäten wie Mut, Tapferkeit und
Standhaftigkeit. Gleichzeitig versucht Gibbs in der Rolle des ›sorgenden
Ersatzvaters‹ potentielle Gefahren von seinen Mitarbeitern abzuwenden.
Allerdings kann aufgrund der Unbeirrbarkeit, mit der er die Verbrecher
verfolgt, die Grenze zwischen seinem persönlichen Rechtsverständnis und
den allgemeinen Rechtsnormen mitunter verschwimmen. In diesen Momenten verändert sich das positive Heldenbild zum Bild eines Antihelden, der
nach eigenen Gesetzen lebt und in hybrider Auslegung seines Amtes Selbstjustiz übt. Diese Abgründigkeit hängt aber auch mit seiner Vergangenheit
zusammen, die in der ersten Staffel nur punktuell thematisiert wird. Vor
89 Vgl. Navy CIS I/1: Air Force One, TC 0:03:27.
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allem wegen seines persönlichen Traumas, die eigene Familie verloren zu
haben, trägt Gibbs nicht zuletzt Kennzeichen eines tragischen Helden.
Die Figurenanlage zeigt, dass Gibbs trotz seiner herausragenden Kompetenzen bewusst nicht als ein »Supermann« konzipiert worden ist, wie
Harmon betont hat. Doch trotz seiner Phänotypie wird mit der Zentralfigur
von Navy CIS ein Gestaltungskonzept reaktiviert, das Lessing bereits Mitte
des 18. Jahrhunderts verteidigt hat: das des ›Mittelcharakters‹.90 Auch bei
Gibbs wird eine gewisse ›Mischungsqualität‹ sichtbar: Dem funktionierenden Berufsleben steht ein aus der Bahn geratenes Privatleben gegenüber.
Weiterhin lässt sich die bereits von Aristoteles geforderte Fehlerhaftigkeit
(hamartia) des Protagonisten beobachten:91 Indem er sich mit hoher emotionaler Hingabe der Aufklärung seiner Fälle widmet, überschreitet er zuweilen die Grenzen geltenden Rechts und erweist sich somit als fehlbar.
Das aber hebt ihn wiederum von der Vielzahl an US-amerikanischen Serienermittlern ab, die als ungetrübt moralische Vorbilder das Idealbild des
guten und aufrechten Amerikaners verkörpern. Gleichzeitig nimmt Gibbs
aufgrund seines souveränen Umgangs mit den eigenen Fehlern und Ängsten eine Vorbildrolle ein, da er eine Heldenfigur von ausgeprägter Charakterstärke repräsentiert. Daher erstaunt es nicht, dass der eingangs erwähnte
Kurt Davenport ihn bewundert. Und noch weniger erstaunt es, dass Gibbs
inzwischen zum Vorbild vieler Serienzuschauer geworden ist:
Gibbs […] has garnered huge attention as a fictional character, and has inspired
many people to channel their fear, and become better leaders. There are T-Shirts
on sale, that read: »What Would Gibbs Do?«, and rightfully so. A role model in
many senses.92
90 Vgl. Immer: Der inszenierte Held (Anm. 19), S. 101 f.
91 Vgl. ebd.
92 Josh Lipovetsky: »NCIS Character Analysis – Agent Leroy Jethro Gibbs«, in:
Filmsight.net (10. November 2009) [http://filminsight.net/2009/11/10/ncis-character-analysis-agent-leroy-jethro-gibbs/; Zugriff: 20. August 2012].