LE 10

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LE 10
10. Lehreinheit: Vertrag, Wirksamkeitshindernisse und Verbraucherverträge
1. Vertragsfreiheit (§ 311 Abs. 1) und Reservevertragsordnung
- dispositive Normen <-> zwingende Normen
- positive und negative Vertragsfreiheit
- erstere deutlich wichtiger, Abschluss- und Inhaltsfreiheit
- zweitere: Recht, keinen Vertrag zu schließen; wenige Grenzen: bei Monopol (GWB) und
vergleichbaren Situationen (§ 826)
- Mechanismus im Normalfall: Vertragsfreiheit erlaubt Übernahme / Abänderung des
dispositiven Vertragsrechts für den konkreten Vertrag
- "nackter" Kaufvertrag (keine inhaltliche Regelung außer essentialia negotii) also geregelt
in: §§ 104 ff., 241 ff., 433 ff.
- "nackter" Mietvertrag geregelt in: §§ 104 ff., 241 ff., 535 ff.
- Reservevertragsordnung
- wichtig für die große Mehrzahl der Fälle
- Vermeidung von Transaktionskosten (Coase)
- aber: Möglichkeit der Modifikation (meist punktuell); Rechtfertigung für diese Möglichkeit:
- überlegenes Wissen von konkreten Bedürfnissen bei Beteiligten / Zuschnitt auf
heterogene Bedürfnisse möglich
- Schmidt-Rimpler sprach insoweit von Richtigkeitsgewähr durch Übereinstimmung
- es entscheiden (durch Willensübereinstimmung) die, die die Konsequenzen tragen
- dennoch wirkt der "Schatten" des dispositiven Rechts auch beim "Wegverhandeln"
(Möslein, Dispositives Recht, 2011)
2. Zwingende Normen: Rechtfertigung
a) Externe Effekte zurückdrängen
- Grund: Richtigkeitsgewähr durch Übereinstimmung hier nicht mehr gegeben; da eben nicht
mehr die, die Konsequenzen tragen (das sind Dritte), entscheiden
- Beispiele: §§ 134, 138: Waffenhandel, Drogenhandel, auch -konsum
- nicht jeder externe Effekt führt bereits zur Einschränkung der Vertragsfreiheit; nur
ungewünschte externe Effekte (viele externe Effekte akzeptiert, etwa Verkauf an einen von
mehreren Bietern). Was unerwünschte externe Effekte, aus gesetzlichen Wertungen
herzuleiten.
b) Wettbewerbsbeschränkungen
- wichtigster Unterfall der externen Effekte
- gesondert geregelt (GWB, Art. 92 ff. AEUV), praktisch von größter Bedeutung für
Wirtschaftsverfassung, aber nicht Vertragsrecht im klassischen Sinn.
c) Informationsprobleme
- Phänomen: eine Partei hat nicht genügend Wissens- oder Willenskraft
- Grund also: wiederum Richtigkeitsgewähr nicht genügend gegeben, denn keine tragfähige
Zustimmung einer Seite
-
-
-
Beispiele:
- klassisches Zivilrecht: §§ 104 ff., 119, 123; von diesen nur § 119 international umstritten
und verschieden geregelt (daher in 15. Lehreinheit hier Rechtsvergleich), die anderen
beiden international allgemein akzeptiert; Idee jeweils: nicht genügend tragfähige
Zustimmung
- "Verbraucher" Recht (unten 4.)
Beispiele zeigen: nicht jeder Fall, in dem eine Partei etwas weniger Information hat, sondern
abgegrenzte Fälle von "besonderen" Informationsproblemen; vgl. unten auch für des
"Verbraucher" Recht
Literatur: Fritsch/Wein/Ewers, Marktversagen und Wirtschaftpolitik, 7. Aufl., 2007
3. §§ 134, 138
hauptsächlicher Anwendungsbereich: externe Effekte (2 a), teils aber auch Schutz der
schwächeren Vertragspartei (2 c).
a) § 134
- Gesetzliches Verbot und
- Sinn des Verbots macht Nichtigkeit des Vertrages notwendig
- Beispiele, in denen § 134 heranzuziehen bzw. nicht heranzuziehen ist: Waffenhandel, Verstoß
gegen Ladenschlussregelung, Schwarzarbeitsgesetz, Abgabenordnung
b) § 138 Abs. 2
- von den beiden Absätzen des § 138 zuerst zu prüfen; allgemeiner: spezifischere Ausprägung
zuerst prüfen, ebenso etwa §§ 309, 308, 307.
- Tatbestand:
- objektives Missverhältnis zwischen beiden Leistungen (also nur anwendbar bei zweiseitig
verpflichtenden Rechtsgeschäften)
- keine Suche nach iustum pretium wie in der christlichen Soziallehre, denn
marktwirtschaftlicher Hauptmechanismus geht dahin, Angebot und Nachfrage mittels
freier Preisbildung ins gewünschte Gleichgewicht zu bringen (beschrieben schon von
Adam Smith)
- vielmehr nur Eingriff in absoluten Ausnahmefällen
- daher auffälliges Missverhältnis für zwei auch nur wenig verschiedene Waren kaum
einmal allein aus unterschiedlicher Preisbildung - auch sehr unterschiedlicher - zu
schließen (etwa
- Noname-Parfum und Parfum von Niki de Saint Phalle, letzteres kann auch vielfach
teurer sein)
- daher praktisch wichtiger Anwendungsfall nur im Kreditrecht: exakt gleiche
Leistungen, daher Vergleichbarkeit: Überlassung von Geld auf Zeit.
- hier Faustregel in Rechtsprechung:
- Doppeltes vom Marktzins oder
- 12 % über Marktzins (wichtig in Hochzinsperioden
- mit einem Marktzins > 12 %).
- subjektiv: Abweichen von der normalen Vertragsschlusssituation: Zwangslage (nur bei
existenziell Wichtigem) oder ungewöhnliche Schwäche (Urteils- oder Willenskraft)
- "objektiv": Kriterium, das sich auf das Objekt, d.h. den Vertragsinhalt, bezieht;
"subjektiv": Kriterium, das sich auf die Subjekte, d.h. Vertragspartner, bezieht. Nicht:
subjektiv iSv subjektive, nicht objektivierbare Wahrnehmung.
c) § 138 Abs. 1
- Sittenmaßstab: Maßstab
- aller billig und gerecht Denkenden,
- also: zwar nicht verrohte Sitten als Maßstab, aber allgemeiner Konsens bei den Personen,
die akzeptable Sitten haben, nötig.
- gilt auch bei einseitig verpflichtenden Rechtsgeschäften (vor allem Bürgschaft)
- BVerfG NJW 1994, 36 (=E 89, 214); 1994, 2749; BGH NW 1994, 1278; 1994, 1341;
1994, 1726
- Wucherähnliches Rechtsgeschäft
- § 138 Abs. 1 neben § 138 Abs. 2 anwendbar
- auffälliges Missverhältnis wie in § 138 Abs. 2 zu verstehen
- subjektive Elemente ebenfalls gefordert; jedoch bei Verbraucherkredit vermutet
heute freilich Bedeutung ungleich geringer; alternatives Schutzinstrument hat sittenwidrige
Kredite weit zurückgedrängt: Pflicht zur Angabe des effektiven Jahreszinses (§ 491)
- Geänderte Hauptausrichtung
- Früher: Einfallstor für soziale Normen und Ideologie (Rüthers, Unbegrenzte Auslegung)
- Heute: Einfallstor für Grundrechte (Canaris: Schutzpflichttheorie), mittelbare
Drittwirkung
4. "Verbraucher"Vertragsrecht (Recht der strukturell bedingten
Informationsasymmetrien)
a) Grundidee
- im Gegensatz zu §§ 104 ff., 119, 123 nicht Regulierung von Einzelfällen, sondern
Regulierung von marktstrukturell bedingten, d.h. eine ganze Marktseite betreffenden
Problemen
- vom pacta sunt servanda zum pacta sunt incerta (Krejci)?
- jedoch wiederum: nicht jede Informationsasymmetrie darf zur Einschränkung der
Vertragsfreiheit führen: "schwere" Fälle isolieren und regeln
b) Grundregel
- Eingriff nur in Fällen besonders großer Informationsprobleme, in denen strukturell bedingt,
d.h. in allen typischen Fällen, eine Seite nicht die üblicherweise gegebenen Chancen hat, sich
die Information zu beschaffen, die für eine selbstverantwortliche Entscheidung notwendig
wäre
- hierbei:
- primär (1) Regulierung mit Informationsnormen, d.h. Regeln, die Aufklärung oder
äquivalente Instrumente vorschreiben und so das Informationsungleichgewicht
hinreichend einebnen;
- nur bei Unmöglichkeit solch einer Regulierung: (2) zwingende inhaltliche Normen, die
den Vertragsinhalt zwingend vorgeben.
c) Fälle (drei Hauptfallgruppen)
- Normen: §§ 305 ff., 312 ff., 491 ff., 651a ff.
- Fallgruppe 1: Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB)
- Grundidee: Eine Seite nutzt die Information (AGB-Klauselwerk) zigtausend Mal und
kann daher die Information - je Einsatz – entsprechend billig generieren (etwa bei
100.000-fachem Einsatz und 10.000 Euro Rechtsanwaltsgebühren: 10 Cent je Einsatz);
für einen vergleichbaren Preis kann der Kunde, der sich mit den AGB nur für eine
Transaktion konfrontiert sieht, die AGB auch nicht ansatzweise lesen, geschweige denn
Rechtsrat einholen. Das Informationsungleichgewicht ist daher strukturell bedingt.
- Gegenteil: allgemeine Erfahrung auch vom Kunden / Verbraucher zu erwarten (etwa:
Preisvergleich hilft bei Produktauswahl; jede Ware hat ihre Qualität, blumige Werbung ist
nicht wörtlich zu nehmen etc.)
- aus der gegebenen Begründung ergibt sich: AGB-Regulierung sinnvoller Weise nicht nur
auf Verbraucherkunden beschränkt, sondern allgemein Kundenschutz (anders freilich die
Europäische Vorgabe: AGB-Richtlinie, und die meisten ausländischen nationalen
Rechtsordnungen)
- AGB-Recht ist Hauptfall des Rechts der strukturell bedingten Informationsasymmetrien,
daher zwei einzelne Lehreinheiten: näher 11. Und 12. Lehreinheit
- Fallgruppe 2: Besondere Absatzformen, die normale Informationsmöglichkeiten signifikant
beschränken:
- Grundidee: beim klassischen Abschluss im Ladengeschäft hat der Kunde die Möglichkeit,
selbst die Abschlusszeit zu bestimmen und daher die Möglichkeit:
- Konditionen und Preise (vorher) zu vergleichen
- sich klar zu werden, ob er diese Art Transaktion überhaupt will.
- Nicht notwendig ist, dass er diese Möglichkeit auch genutzt hat. Voraussetzung für die
Richtigkeitsgewähr ist nur die Möglichkeit (insbesondere da sie von vielen tatsächlich
genutzt wird).
- demgegenüber gibt es Absatzformen, bei denen dies gerade nicht der Fall ist
- Fälle:
- §§ 312 ff.: Haustürgeschäfte, Fernabsatzgeschäfte, auch elektronischer
Geschäftsverkehr (vgl. die Umstände in den Normen im einzelnen)
- meist auch Timesharing-Verträge (§§ 481 ff.)
- Regelungsinstrument: Widerrufsrecht (auch "Reurecht" genannt), bes. § 355
(Gestaltungsrecht)
- Widerrufsgrund (hier nicht nötig, nur zu prüfen, ob beschriebene Situation
einschlägig)
- Widerrufserklärung (vor allem Frist [zwei Wochen], Zugang etc.)
- Fallgruppe 3: Existenzielle Verträge
- Verbraucherkredit (§§ 491 ff.)
- Lebensversicherungsvertrag
- letztlich schlechter zu erklären: Pauschalreisevertrag, der recht hoch reguliert ist (§§ 651a
ff.
- alles Einzelvertragstypen (besonderes Schuld- oder Vertragsrecht), nicht Regelung, die
für jeden Vertragstyp gilt (allgemeines Schuld- oder Vertragsrecht)
daher erst im Sommersemester (teils) wieder aufzugreifen.
d) Europäischer Hintergrund
- praktisch alle Normen beruhen auf Europäischen Richtlinien, so dass die hierzu behandelten
Auslegungsregeln (8. Lehreinheit) zur Anwendung kommen; Textsammlung:
Grundmann/Riesenhuber, Europäisches Privatrecht, 2009.
- Europäischen Hintergrund hat auch die Anweisung (an den nationalen Gesetzgeber),
Informationsregeln möglichst den Vorzug zu geben (EuGH 20.2.1979 Rs. 120/78 Cassis de
Dijon, Slg. 1979, 649; 9.3.1999 - Rs. C-212/97 Centros, Slg. 1999- I, 1459