niedergestreckt und doch nicht vernichtet

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niedergestreckt und doch nicht vernichtet
Befreiungstheologie
40 Jahre Befreiendes Christentum in Lateinamerika
Niedergestreckt und
doch nicht vernichtet
Die Konfrontation mit dem Elend und die praktische Solidarität mit dem
Leiden der überwiegenden Mehrheit der Menschen haben Theologie und Realität der Kirche tiefgreifend verändert. Die überwiegend kolonial geprägte Kirche
wechselt ihren Standort – nicht ohne dabei in heftige Konflikte zu geraten. Ausgerechnet in Aparecida (port.: die Erscheinende) taucht die Befreiungstheologie
erneut wieder auf.
Text: Norbert Arntz
D
ie II. Generalversammlung der Bischöfe im kolumbianischen Medellín (1968) wird
zum „Damaskus“ der Kirche
in Lateinamerika. „Es erhebt
sich ein stummer Schrei von
Millionen von Menschen ...“
(Nr 14.2.) – die Kirche der Armen und ihre Theologie der
Befreiung sehen nicht nur das
Elend selbst, sondern verstehen zunehmend mehr dessen
Ursachen. Im Licht der befreienden Botschaft erkennen sie
zugleich, dass diese Ungerechtigkeit dem Willen Gottes widerspricht; es ist ein „Zustand
der Sünde“, unter dem die
Mehrheit des Volkes leidet.
Die Kirche der Armen und
ihre Theologie der Befreiung
bestätigen bei der Folgekonferenz im mexikanischen Puebla (1979) nicht nur, dass
zugunsten der Armen eine
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Grundentscheidung zu treffen
ist, aus der heraus sie zu reflektieren und zu handeln haben
(„Option für die Armen“); sie
gewinnen mehr und mehr die
Einsicht, dass die organisierten
Armen selbst den Befreiungsprozess voranbringen.
Götze des Todes
In den siebziger und achtziger Jahren werden Kirche und
Theologie der Verfolgung ausgesetzt und mit dem Martyrium konfrontiert: Am 24. März
1980 wird Erzbischof Romero
ermordet; am 16. November
1989 die Jesuitenkommunität
von San Salvador. Ihre Namen
stehen nur als Beispiele für die
ungezählten namenlosen Männer und Frauen, die im Laufe
der achtziger Jahre verleumdet,
verfolgt, gefoltert, ins Exil getrieben oder ermordet worden
sind, und zwar von solchen
Machthabern, die sich als Verteidiger christlicher Kultur und
Gesellschaft ausgeben. Die
Götzen des Todes vom Gott des
Lebens zu unterscheiden, wird
zum Thema der Befreiungstheologie. Weitere tiefgreifende
Veränderungen kündigen sich
in diesem Jahrzehnt an. Der
Aufbruch der Frauen und der
Aufbruch der indigenen und
afroamerikani­schen
Völker
konfrontieren Theologie und
Kirche mit neuen Herausforderungen.
Die Theologie der Befreiung
hat nie überzeitlich gültige, abstrakte Lehrsätze formuliert;
ihre theologische Methode
„Sehen-Urteilen-Handeln“ hat
sie vielmehr fähig gemacht,
sensibel die Zeichen der Zeit
wahrzunehmen, sie im Licht
des Evangeliums zu deuten
und sich als Teil der kirchlichen Praxis im historischen
Prozess der Befreiung selber den: Von ihrer fundamentalizu verändern. Vor allem die rö- stischen Theologie abendlänmische „Kongregation für die discher Herkunft aus sucht
Glaubenslehre“ unter der Lei- sie die geschichtliche Mitvertung des Präfekten Joseph Rat- antwortung der Kirche für die
zinger stellte die Befreiungs- aktuelle Lage Lateinamerikas
theologie in Frage. Die beiden zu vertuschen und verfolgt
vatikanischen Instruktionen eine Neu-Evangelisierung, die
von 1984 und 1986 zum Streit
um die Theologie der Befreiung hatten darauf hoffen lassen, dass die Verdächtigungen
gegen die Theologie der Befreiung ein Ende hätten. Aber
mehr noch als diese beiden vatikanischen Dokumente schien
der Brief von Papst Johannes
Paul II. an die brasilianische
Bischofskonferenz (April 1986)
zu bestätigen, dass der Vatikan
die Theologie der Befreiung
als „angemessen, nützlich und
notwendig“ für die Kirche anerkannt hatte.
Die theologischen und pastoralen Gegensätze zwischen
der vatikanischen „Kommission für Lateinamerika“ (CAL)
und den Bischöfen der Kirche
der Armen bzw. ihren theologischen Beratern prallen 1992 immer noch nicht fähig ist,
im Verlauf der Konferenz in die Kulturen der indigenen
Santo Domingo,
und afroamerikani­
der Hauptstadt
schen Völker Lader
Dominiteinamerikas zu reAm 24. März
kanischen
Respektieren. Die CAL
1980 wird
publik,
heftig
versucht erneut mit
Erzbischof
a u f e i n a n d e r.
allen Mitteln, den
Romero
Aber Macht und
Kurs der lateinameermordet.
Mittel sind zwirikanischen Kirche
schen
beiden
nach den KonfeFraktionen nicht
renzen von Medellín
gleich verteilt. Auf eine ver- (1968) und Puebla (1979) zu
einfachende Formel gebracht, korrigieren. 18 Bischöfe aus 12
hält die vatikanische CAL alle lateinamerikanischen Ländern
Machtpositionen in ihren Hän- stellen am Ende der Versamm-
lung von Santo Domingo fest:
„Wir sind wirklich desillusioniert angesichts der Manipulation und der gezielten Absicht,
die Mitbestimmung der Teilnehmer zu verhindern. Eine
Kirche, die sich so verschließt,
verursacht große Schmerzen.“
Die Folge: Das Schlussdokument dieser Versammlung verschwindet nahezu wirkungslos
in den Archiven.
Ein Totenschein?
Kurz vor der Konferenz 2007
im brasilianischen Aparecida
behauptete der Erzbischof von
São Paulo, Kardinal Odilo Scherer, die Befreiungstheologie sei
bereits tot; bei der Bischofsversammlung in Aparecida würde
ihr nur noch der Totenschein
ausgestellt. Am Vorabend der
Versammlung bestärkte der
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Vatikan die von Kardinal Scherer vertretenen Kreise durch
die Verurteilung der christologischen Werke Jon Sobrinos.
Theologie
der Befreiung lebt
Was sich dann in Aparecida abspielte, war das genaue Gegenteil: Die Befreiungstheologie
wurde zum Dauerthema nicht
nur auf Pressekonferenzen. Im
Schlussdokument von Aparecida – selbstverständlich ein
Spiegelbild der widersprüchlichen Tendenzen in der Versammlung – findet sich die
Methode „Sehen – Urteilen –
Handeln“ wieder, werden die
Themen: „Option für die Armen und Ausgeschlossenen“,
„strukturelle Sünde“, „Utopie
vom Reich Gottes“ und „Basisgemeinden als lebendige
Kernzellen der Kirche“ behandelt – allesamt Themen, welche
die Befreiungstheologie auf
die Tagesordnung der Kirche
gebracht hatte. Kurzum: Aparecida – als Dokument und Ereignis – bestätigt, dass die Lateinamerikanische Kirche über
Santo Domingo hinweg an die
Tradition von Medellín (1968)
und Puebla (1979) wieder angeknüpft und sich voll Selbstbewusstsein positioniert.
Das haben denn auch die
Delegierten von tausenden von
Basisgemeinden
bekräftigt,
die sich vom 1. bis 5. Juli 2008
zum VIII. Gesamtkontinentalen Treffen im bolivianischen
Santa Cruz versammelten.
Alle fühlten sich beflügelt von
Aparecida und von den neu-
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en gesellschaftlichen Prozessen in verschiedenen Ländern
(wie Venezuela, Ecuador, Bolivien und zuletzt Paraguay
mit der Wahl des ehemaligen
Bischofs und BasisgemeindeMitglieds Fernando Lugo zum
Präsidenten). Weder die Gewalttätigkeit der neoliberalen
Globalisierung mit ihren mörderischen und Natur zerstörenden Wirkungen noch der
Rückfall der Gesamtkirche in
die von Rom beherrschte Zentralisierung mit den spürbaren
Auswirkungen in vielen lateinamerikanischen
Bistümern
vermögen das befreiende Christentum zu vernichten.
Im Gegenteil: Die Vertreterinnen und Vertreter der Basisgemeinden sind sich einig in
dem entschiedenen Willen, an
einer neuen gesellschaftlichpolitisch-ökologischen
Ordnung mitzuwirken, indem sie
die Solidarwirtschaft fördern
und durch Vernetzung politisch
aktiv auf die gesellschaftlichen
Prozesse Einfluss nehmen. Als
Basisgemeinden werden sie
auch die notwendige „pastorale
Umkehr“ der Kirche und ihre
„Erneuerung“ entschieden betreiben.
Norbert Arntz, geb. 1943, Pfarrer,
Priester der Diözese Münster, viele
Jahre in der Südandenkirche Perús
tätig, jetzt Mitarbeiter in der Missionszentrale der Franziskaner, Bad
Godesberg und Mitglied im Vorstand der CIR.
D
en vollständigen Artikel sowie
weitere Texte zum Thema 40
Jahre Befreiungstheologie finden Sie
unter www.ci-romero.de
Aparecida umsetzen
F
UNDAHMER, die Organisation der Basisgemeinden El Salvadors,
sieht in den Dokumenten
von Aparecida einen sehr
wichtigen Beitrag zur
Stärkung der Arbeit der
Basisgemeinden. Um die
Inhalte der Bischofskonferenz von Aparecida bekannt zu machen und ihre Umsetzung zu fördern, will
FUNDAHMER einen Leitfaden erarbeiten und publizieren.
Die CIR unterstützt FUNDAHMER dabei und bittet dafür um
Ihre Spende.
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»Aparecida«
Helfen Sie mit Ihrer Spende!
Fotos: Sandra Dusch Silva, CIR-Archiv
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