Nationalsozialismus - Historisches Lexikon der Schweiz

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Nationalsozialismus - Historisches Lexikon der Schweiz
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07/09/2010 |
Nationalsozialismus
Die 1919 in München gegründete, ab 1921 von Adolf Hitler geführte
rechtsextremist. Bewegung (Rechtsradikalismus) kam 1933 als
Nationalsozialist. Dt. Arbeiterpartei (NSDAP) in Deutschland an die
Macht und herrschte nach Gleichschaltung aller übrigen Parteien und
Organisationen als totalitäres Regime bis 1945. Sie wurde von den
Siegermächten aufgelöst und ist seither in Deutschland verboten.
Der N. huldigte dem Rassismus, d.h. dem in Hitlers "Mein Kampf"
entfalteten Mythos einer Stufenleiter von der "minderwertigen Rasse"
der Juden bis zur "Herrenrasse" der "Arier". Die Rassenideologie führte
letztlich zu den Euthanasieprogrammen, zur Vernichtung der Juden
("Endlösung") und zur terrorist. Unterjochung und Ausbeutung v.a. der
slaw. Bevölkerung Osteuropas, die als "minderrassige" Sklavenvölker
betrachtet wurde. Der N. vertrat ferner die Fiktion einer
"Volksgemeinschaft" in einem unter Hitlers Führung geeinten
"Grossdeutschland", das sämtl. Gebiete mit deutschsprachiger
Bevölkerung - somit auch Teile der Schweiz - als "dt. Volksboden" für
sich reklamierte. Seine Ideen waren antisozialistisch, antidemokratisch,
antiparlamentarisch und z.T. antichristlich, während der anfängl.
Antimodernismus schon vor der Machtübernahme Vorstellungen einer
Modernisierungsdiktatur Platz machte, der Antikapitalismus zum Kampf
gegen das jüd. Kapital ("raffendes Kapital") umgedeutet wurde und der
Zusammenarbeit mit dem Grosskapital (Schwerindustrie) wich. Partei
und Staat waren nach dem Prinzip Führer und Gefolgschaft diktatorisch
geleitet.
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Autorin/Autor: Walter Wolf
1 - Nationalsozialistische Organisationen der Auslanddeutschen in der Schweiz
Noch vor der Machtübernahme der NSDAP sahen sich die Auslanddeutschen der Infiltration durch den N.
ausgesetzt. Bereits 1931 entstand in Zürich die erste Gruppierung der NSDAP. Bald folgten weitere Sektionen,
die 1932 zur Landesgruppe Schweiz der NSDAP zusammengefasst und der NSDAP-Auslandabteilung im Dt.
Reich unterstellt wurden. Auch kam es landesweit zur Bildung von nationalsozialist. Nebenorganisationen. Die
ehemals politisch neutralen dt. Kolonien wurden gleichgeschaltet. Publikationsorgane der nationalsozialist.
Vereine waren die 1933-35 in Horgen gedruckte Zeitung "Der Reichsdeutsche in der Schweiz", das 1936-38 in
Bern gedruckte "Nachrichtenblatt der dt. Kolonie in der Schweiz" und die 1938-45 in Essen erscheinende "Dt.
Zeitung in der Schweiz".
Die Vielfalt nationalsozialist. Organisationen sollte gemäss Reichsleitung der NSDAP dazu dienen, "dass das
Auslanddeutschtum über den Kreis der Parteigenossenschaft hinaus restlos erfasst wird und die Gedanken
des N. auch draussen auf allen Lebensgebieten wirksam werden". Die nationalsozialist. Funktionäre in der
Schweiz mussten einen Eid auf Adolf Hitler leisten. Auf ihre Landsleute und speziell auf Reichsbahnbeamte
übten sie Druck zum Beitritt in einen oder mehrere Vereine aus, was gegen die Richtlinien des Bundesrats
vom 29.9.1935 betreffend polit. Vereinigung von Ausländern in der Schweiz verstiess. Nach der Ermordung
des Landesgruppenführers Wilhelm Gustloff in Davos durch den jüd. Studenten David Frankfurter (GustloffAffäre) löste der Bundesrat am 18.2.1936 die zentralen Leitungsorgane der NSDAP in der Schweiz auf. Noch
im selben Jahr übernahm jedoch Gesandtschaftsrat Hans Sigismund von Bibra die Landesleitung. Fortan
agierte die nationalsozialist. Parteihierarchie unter dem Schutz der diplomat. Immunität, was vom Bundesrat
stillschweigend, ab 1940 sogar offiziell geduldet wurde. 1942, als das nationalsozialist. Deutschland
militärisch im Zenit stand und die Nationalsozialisten in der Schweiz aggressiver denn je auftraten, dürfte sich
knapp die Hälfte der rund 80'000 Deutschen in der Schweiz an wenigstens einer der nationalsozialist.
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Organisationen beteiligt haben. Vergeblich hatten parlamentar. Vorstösse und Pressestimmen nach einem
Verbot der NSDAP und ihrer Nebenorganisationen gerufen, die als trojan. Pferd empfunden wurden. Da aber
der Bundesrat Konflikte mit der dt. Reichsregierung vermeiden wollte, löste er die auslanddt. Vereine erst
nach Kriegsende auf. Die bei der Liquidation durchgeführten Hausdurchsuchungen erwiesen sich als wenig
ergiebig, war doch gemäss Instruktion der NSDAP-Landesleitung das belastende Material zum grössten Teil
vernichtet worden.
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2 - Abwehrmassnahmen der schweizerischen Behörden
Anstelle eines Verbots der Nazi-Organisationen griff der Bundesrat zu Abwehrmassnahmen von unterschiedl.
Effizienz: 1933 verbot er das Tragen von Parteiuniformen und 1935 die polit. Bespitzelung von Personen und
Verbänden, 1938 erliess er Massnahmen gegen staatsgefährl. Umtriebe und zum Schutze der Demokratie,
1940 solche zur Kontrolle von polit. Versammlungen. Die Entführung des dt. Journalisten Berthold Jacob aus
Basel durch die Gestapo (Jacob-Affäre) führte im Juni 1935 zum Aufbau der Bundespolizei, dem die Errichtung
einer Polit. Polizei in den Kantonen und Städten folgte. Beide Dienste versahen Funktionen des Staatsschutzes
wie Fahndung und Überwachung. Bei Kriegsausbruch wurden Listen verdächtiger Ausländer und Schweizer
(ca. 5'000 Personen) erstellt, die im Fall einer krieger. Verwicklung zu verhaften gewesen wären.
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3 - Der Nationalsozialismus und die schweizerische Bevölkerung
In der Schweiz wurde der N. mit seinem programmat. Anspruch auf Zusammenschluss aller
Deutschsprechenden zu einem grossgerm. Reich von der Mehrheit als existenzielle Bedrohung empfunden.
Am antinazist. Widerstand partizipierten zahlreiche Journalisten, Verleger, Historiker und Politiker sowie die
Theater-, Kabarett- und Filmproduktion mit Schweizern und dt. Emigranten als Schauspieler. Insbesondere die
Abwehrhaltung der Presse war Anlass zu ständigen Reibereien, weil das Dt. Reich die Schweiz auf
Gesinnungsneutralität verpflichten wollte. Auch aus den Landeskirchen erhoben sich Stimmen gegen
Rassismus, Totalitarismus und Inhumanität: am prononciertesten die des späteren Kardinals Charles Journet
und des Theologieprofessors Karl Barth. Letzteren bezeichnete das Reichssicherheitshauptamt als
"Exponenten der reichsfeindl. Schweiz", welcher "absolut bestimmend für die geistige Haltung des schweiz.
Protestantismus" sei. Die SP und die Gewerkschaften verbanden ihren Antinazismus mit einem
Burgfriedenskurs (Programmrevision der SP, Engagement in der Richtlinienbewegung, Friedensabkommen in
der Metallindustrie). Dem nationalen Schulterschluss diente auch die Geistige Landesverteidigung, die in der
Landesausstellung 1939 zu ihrem wirkungsvollsten Ausdruck fand. Daneben fand allerdings nazionalsozialist.
Gedankengut am rechten Rand der bürgerl. Parteien einen gewissen Widerhall. Für konservative Intellektuelle
war die nationalsozialist. Ablehnung von Liberalismus und Sozialismus durchaus attraktiv, korporatist.
Gesellschaftsvorstellungen wirkten sowohl auf die Freisinnigen und Konservativen wie auf die Fronten, wobei
allerdings der am ital. Faschismus orientierte Korporativismus der lat. Schweiz gegen die deutschschweiz.
Frontenbewegung eingestellt war. In freisinnigen, z.T. auch bäuerl. Kreisen spielten Germanophilie, die
Bewunderung für autoritäre Lösungen und der Antibolschewismus eine Rolle. Eine antimodernist. Haltung, die
aus dem völk. Fundus schöpfte und sich gegen Juden und Emigranten zugleich wandte, brachte dem N.
sowohl auf polit. wie kultureller Ebene ein gewisses Verständnis entgegen.
Die Blitzsiege der dt. Armee im Zweiten Weltkrieg führten im Sommer 1940 zu einer Verunsicherung breiter
Bevölkerungsschichten. Die Folgen waren Bestrebungen zur Umwandlung des polit. Systems im Sinne einer
"Anpassung" an Nazi-Deutschland, Vorstösse zur "Disziplinierung" der "widerspenstigen" Presse, Eingabe der
Zweihundert, Wiederbelebung des schweiz. Frontismus und Empfang einiger ihrer Exponenten durch den
Bundespräsidenten, oberflächl. Untersuchung gegen 124 frontist. Offiziere, Intrigen deutschfreundl. Offiziere
gegen die Armeespitze, Vorschlag des Generals zur Entsendung einer Sondermission nach Berlin sowie
defätist. Reden und Handeln der Bundesräte Ernst Wetter und Marcel Pilet-Golaz. Darauf reagierten im selben
Jahr der Offiziersbund gegen eine vermutete Kapitulationsbereitschaft des Bundesrats sowie General Henri
Guisan mit dem Rütli-Rapport, Manifestationen der militär. Abwehr, die im zivilen Bereich durch die Aktion
Nationaler Widerstand und in der Armee durch Heer und Haus sekundiert wurden.
Autorin/Autor: Walter Wolf
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4 - Spionage
Zwar benützten alle Kriegsparteien die Schweiz als Drehscheibe für ihre Geheimdienstaktivitäten
(Nachrichtendienste); dennoch hat einzig Deutschland eine systematisch organisierte Spionagetätigkeit
gegen die Eidgenossenschaft entfaltet. Diese wurde nicht nur von den staatl. Stellen wie den
Gesandtschaften, Konsulaten oder der Dt. Reichsbahn, sondern auch von den nationalsozialist.
Organisationen betrieben. Laut einer Aktennotiz der Auslandabteilung in Berlin arbeiteten 1942 sämtl. 36
NSDAP-Ortsgruppenleiter in der Schweiz für die dt. Abwehr. In die Spionage liessen sich auch reichsfreundl.
Schweizer einspannen. Als sich die Spionagefälle häuften, bewog dies den Bundesrat, die sonst nur für den
Kriegsfall vorgesehene Todesstrafe für Landesverrat bereits in der Aktivdienstzeit anzuwenden. Bis 1945
fällten die Gerichte 33 Todesurteile, davon 15 im Abwesenheitsverfahren. 17 wurden vollstreckt und eines in
lebenslängl. Zuchthausstrafe umgewandelt. Zudem wurden vom Mai 1943 bis zum Kriegsende 29 im Ausland
wohnende staatsfeindl. Schweizer ausgebürgert.
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5 - Abrechnung
Gegen Kriegsende erstellte die Bundesanwaltschaft Verzeichnisse von Ausländern, vornehmlich dt.
Nationalsozialisten, deren Aufenthalt in der Schweiz nicht länger geduldet werden könne. Neben parlamentar.
Interventionen kam es in der Bevölkerung zu Demonstrationen, vereinzelt auch zu Krawallen und
Sachbeschädigungen. Die Säuberungen, die nach rechtsstaatl. Verfahren abliefen, sollten einer späteren
Reaktivierung des N. aus der Schweiz vorbeugen und zudem die Schweiz als zuverlässigen Bundesgenossen
der Alliierten legitimieren. Die von Bund und Kantonen verfügten Ausweisungen betrafen insgesamt 1'504
Nationalsozialisten und 1'803 Angehörige. Davon konnte ein gutes Drittel u.a. wegen begründeter
Einsprachen und Internierungen in der Schweiz bleiben. Prominentester Ausgewiesener war Otto Köcher,
1937-45 dt. Gesandter in Bern, der Ende 1945 Suizid beging.
Quellen und Literatur
Literatur
– E. Ehrich, Die Auslands-Organisationen der NSDAP, 1937
– E. Morawietz, Die polit. und militär. Gefährdung der Schweiz durch das nationalsozialist. Deutschland,
Typoskript, [um 1969], (NB)
– W. Wolf, Faschismus in der Schweiz, 1969
– J. Fink, Die Schweiz aus der Sicht des Dritten Reichs, 1985
– R. Brassel-Moser, «Das Schweizerhaus muss sauber sein», 1999, (mit Bibl.)
– M. Wipf, N. und Faschismus in Schaffhausen, Seminararbeit Bern, 1999
– P. von Hahn, «"Sauberer" als Bern?», in SZG, 51, 2001, 46-58
Autorin/Autor: Walter Wolf
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