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ThG 58 (3/2015), 171–181
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PAUL DESELAERS
Spiegelblicke für Prediger
Die Predigt als „Antwort auf seine Liebe“1 (Papst Franziskus) –
Erwägungen zu „Evangelii Gaudium“
Was in der derzeitigen kirchlichen Umbruchsituation nachhaltig ein Prüfstein im
Verhältnis von Gemeindediensten und Gemeinde wird, ist die Predigt. Papst Franziskus hat sie in die Mitte seines Apostolischen Schreibens Evangelii gaudium gestellt. Die Freude des Glaubens sieht er nicht im noch so erfolgreichen Leistungschristentum, sondern im frohen Glauben, der von Gottes Zuwendungsinitiative
herausgerufen ist und sich als Dank äußert – auch in einer neuen Sicht Gottes, der
eigenen Person und der anderen Menschen. In diesen Koordinaten findet die Predigt ihren „Stoff“. – Dr. theol. Paul Deselaers, geb. 1947, Priesterweihe 1972, von 1984–
2012 Spiritual am Bischöflichen Priesterseminar, zusätzlich von 2002–2015 Gemeindepfarrer, von 1982–1989 und 2002–2012 Lehrbeauftragter für Homiletik an der
Kath.-Theol. Fakultät der WWU Münster, seit 2012 Spiritual im Bistum Münster.
Veröffentlichungen u. a.: Biblisch predigen – ein Risiko, in: BiLi 68 (1995), Heft 3–4,
204–208; Psalmen predigen. Ermutigung aus der neuen Psalmenforschung, in: FrankLothar Hossfeld / Ludger Schwienhorst-Schönberger (Hg.), Das Manna fällt auch
heute noch. FS für Erich Zenger (HBS 44), Freiburg/Br. u. a. 2004, 158–173.
1. Die Predigt mit festem Platz in der liturgischen Feier
Heute ist es keine Frage mehr, dass die Sonntagspredigt integraler Bestandteil der Liturgie ist. Sichtbar ist es daran zu erkennen, dass der Priester
nicht mehr wie vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil das Gewand ablegt,
es auf den Altar bringt und dann in der Albe mit Stola die Kanzel zur Predigt betritt, wie ich es als Kind und Ministrant in den 1950er Jahren bis in
die Zeit des Konzils erlebt habe. Die Predigt erschien wie ein Einschub, fast
wie ein Fremdkörper. Entsprechend waren die „stillen Messen“ am frühen
Sonntagmorgen durchaus beliebt. Das ist vielfach anders geworden. Wie
weit ist jedoch die innere, ja innerliche Wandlung von der damals üblichen
Predigt zur Homilie vollzogen, zur Wortverkündigung als festem Bestandteil innerhalb der Eucharistiefeier, die versucht, das Leben im Licht der Hoffnung zu deuten, die wir mit dem Namen Jesus Christus, dem Mann aus
Nazaret verbinden? Schon Papst Paul VI. und später etwa das Dokument
der Päpstlichen Bibelkommission Die Interpretation der Bibel in der Kirche2
1
2
Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium Nr. 161 (im Folgenden: EG). Dieses Schreiben wird im Folgenden zitiert nach: Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium des Heiligen Vaters Papst Franziskus
vom 24. November 2013 (VApS 194), Bonn 2013.
Päpstliche Bibelkommission (Hg.), Die Interpretation der Bibel in der Kirche (VApS 115), Bonn 1993, IV
C 3, 110.
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heben darauf ab, dass die „Hauptelemente“ der Heiligen Schrift in der
Predigt hervorzuheben seien, die „zu aktualisieren und zu inkulturieren“
seien.
Unbestritten hat die Predigt nach dem Eröffnungsteil ihren nicht aufgebbaren Ort im zweiten Teil der Eucharistiefeier, im Wortgottesdienst. Die
biblischen Texte, die als Lesungen zu Gehör kommen, sollen für das Leben
der mitfeiernden Christen aufgeschlossen werden. Die Herausforderung
liegt darin, einen Überstieg aus dem sorgenden, organisierenden Umgang
mit der Welt zu einer Haltung des Horchens auf den verborgenen Grund
und den Sinn des Lebens anzustoßen, die Augen für etwas zu öffnen, was
in der Beanspruchung durch die Alltagsaufgaben leicht in Vergessenheit
gerät. Im Anschluss an den Sprachgebrauch der Alten Kirche wird die Predigt im Gottesdienst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wieder „Homilie“3 genannt. Dieser Name bedeutet vom Wortursprung her: familiär,
geschwisterlich, freundschaftlich, diskret, vertraut miteinander umgehen.
Homilie ist also vom Ursprung her eine vertraute Weise des Umgangs mit
dem Wort Gottes und zugleich mit den Menschen, also miteinander. Das
hatte und hat weitreichende Folgen. Ambo und Lautsprecheranlage unterlaufen das frühere Getöse rund um das autoritäre Gehabe der Prediger, das
tiefreichende geschichtliche Wurzeln hat. Die gemeinsame Feier der zum
Gottesdienst Versammelten lässt den gemeinsamen Auftrag bewusst werden, Sauerteig (Mt 13,33) und Salz der Erde (Mt 5,13) zu sein.
In der Orientierung an Jesus Christus selbst besteht die Kunst der Predigt
nicht in der machtvollen Durchsetzungsfähigkeit der Prediger oder der Faszination von rhetorischen Kaskaden, sondern in der schlichten, eindringlichen, liebevollen und auch konfrontierenden Sprache seiner Gleichnisse,
Weisheitsworte und kritischen Anstöße, die auf die Situation der Zuhörer
bezogen sind, um sie für die Frohe Botschaft zu öffnen und so ein Umdenken und Umkehren zu ermöglichen (vgl. Mk 1,15). Das alles wächst immer
neu heraus aus dem Hören auf das „Wort des lebendigen Gottes“.4 Deswegen schreibt der Papst:
„Es gibt eine besondere Wertschätzung für die Homilie, die aus ihrem eucharistischen Zusammenhang herrührt und sie jede Katechese überragen lässt, da sie
den Höhepunkt des Gesprächs zwischen Gott und seinem Volk vor der sakramentalen Kommunion darstellt.“ (EG 137).
3
4
Vgl. dazu die Konstitution über die heilige Liturgie: Sacrosanctum Concilium 52.
Vgl. dazu den eindringlichen Beitrag von Egbert Ballhorn, „Wort des lebendigen Gottes?“ – Gottes lebendiges Wort, Teil 1 – Verständnis und Überraschung, Teil 2 – Die Lesung in der Liturgie und die Rolle
der Lektoren, in: Gottesdienst 49 (1/2015), 1–3; (2/2015), 9–11.
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2. Das Herzensanliegen: Evangelisierung
Offenbar sieht Papst Franziskus eine labil gewordene Balance zwischen
dem Hören auf Gottes Wort und dem Hören auf Gottes Volk in der kirchlichen Praxis. Das wird in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium
überdeutlich.5 Sein Ziel ist, für eine neue „Etappe der Evangelisierung […]
Mut und Orientierung“ zu verleihen (EG 17). Dieses Unterfangen setzt eine
genaue Analyse der Gegebenheiten voraus. In diesem Zusammenhang sind
manche Aussagen des päpstlichen Schreibens schnell zu geflügelten Worten geworden wie das Bildwort von der bevorzugten „verbeulten Kirche“
(EG 49) oder Aspekte wirtschaftlichen Handelns: „Diese Wirtschaft [der Ausschließung und der Disparität der Einkommen] tötet.“ (EG 53) Was jedoch
bedeutet es, wenn das 3. Kapitel des Apostolischen Schreibens als strukturelle Mitte sich der „Verkündigung des Evangeliums“ widmet und dabei
ausdrücklich die Homilie (II.) und die Vorbereitung auf die Predigt (III.) in
den Blick nimmt?6 Offenbar liegt für Papst Franziskus hier der Wurzelgrund aller anderen Themen, die sich wie konzentrische Kreise um den
Kern legen, wie „Die missionarische Umgestaltung der Kirche“ (1. Kapitel),
„In der Krise des gemeinschaftlichen Engagements (2. Kapitel) und eben
auch „Die soziale Dimension der Evangelisierung“ (4. Kapitel) und schließlich „Evangelisierende mit Geist“ (5. Kapitel). Es wäre reizvoll, die Bezüge
zwischen dem 2. und 4. wie auch dem 1. und 5. Kapitel und in ihrer Verankerung im 3. Kapitel herauszuarbeiten. Das ist jedoch ein anderes Thema.
3. Spiegelblicke für einen Prediger
Die Verkündigung des Evangeliums der zweieinen Bibel des Alten und
Neuen Testaments so in den Mittelpunkt gestellt zu finden, hat mich überrascht und – erfreut! In einem Rückblick versuche ich, die Schwerpunkte
zu bündeln, die sich im Laufe meiner Praxis als Prediger, als Spiritual und
als Lehrbeauftragter für Homiletik herausgeschält haben, und sie mit dem
zu verbinden, was Papst Franziskus nachdenklich und herausfordernd ins
Wort bringt. Es geht im Folgenden nicht um primär inhaltliche Kernpunkte,
sondern um Spiegelblicke in Bezug auf den Prediger.
3.1 Grundton „Freude“
Schon der Titel des Schreibens „Die Freude des Evangeliums“ verheißt,
dass mit Nachdruck und Kraft von der Freude gesprochen werden wird.
Sie ist kein Nebenthema der Heiligen Schrift, sondern ihre Grundmelodie.
5
6
Vgl. z. B. EG 142.
Vgl. dazu den Aufmerksamkeitsruf zu diesem Kern von EG von Ludger Schwienhorst-Schönberger,
Predigt, Schriftlesung und Geistliche Begleitung. Zur Mitte des apostolischen Schreibens „Evangelii
gaudium“ von Papst Franziskus, in: IKaZ 43 (1/2014), 100–104.
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Sie ist auch keine Gedankenübung, kein Analyseprodukt der Erforschung
der Heiligen Schrift, sondern kommt aus der Zone menschlichen Lebens,
wo der Kopf sich vom Herzen leiten lässt. Das Herz ist das Empfangsorgan
für die Frohe Botschaft. Die Freude folgt dem Glauben unmittelbar. Die
Frohe Botschaft ist der Quell der Freude, die „aus der persönlichen Gewissheit hervorgeht, jenseits von allem grenzenlos geliebt zu sein“ (EG 6).
Viele Begegnungssituationen der Heiligen Schrift beginnen damit, dass ein
Wort einen Menschen unerwartet erreicht und sein Leben auf den Kopf
stellt. Bei Maria heißt es gleich zu Beginn: „Freue dich, du Begnadete, der
Herr ist mit dir!“ (Lk 1,28). Dieses Wort gibt Gottes Wort Raum in ihrem
Herzen. Wer die biblische Botschaft vernimmt, kann ver-rückt werden in
die Tiefe des Lebens, in das Echte, er kann ent-setzt werden aus dem vermeintlich geheimnisleeren Getriebe des Alltags in das Geheimnis des Lebens.7 Kristallisationspunkt dafür ist das überraschende Wort (s. Lk 1,28)
oder das kontinuierliche Schriftforschen (s. Apg 26,24). Darin verbirgt sich
der unerschöpfliche Quell des Lebens.8 Freude, der eine ansteckende Kraft
innewohnt, ist bei Papst Franziskus der Stand unter offenem (heiterem)
Himmel. Diese Entdeckung wünscht er den Christen, zumal den Predigenden. Hier schließt sich die persönliche Frage an, ob in diesem Motiv der
Grundzug meines Lebens und meines Dienstes liegt.
3.2 „… mit dem Blick des guten Hirten“
Der Apostel Barnabas wird in der Apg eindringlich gekennzeichnet: mit
seiner durch und durch positiven Sicht auf den Menschen. Sie ermöglicht,
auch die Schattenseiten wahrzunehmen. Als Petrus in der Apg seine Erfahrungen mit dem Heiden Kornelius gemacht hat (Apg 10,1–11,18) und Jerusalem davon Rechenschaft gegeben hat, kommt dort zu Ohren, dass in der
Weltstadt Antiochia ganz Ähnliches geschieht: Juden und Heiden werden
Christen. Barnabas wird zu einer Art Visitation dorthin geschickt. „Als er
ankam und die Gnade Gottes sah, freute er sich“ (Apg 11,23). Die neue
Entwicklung der Kirche beurteilt er positiv. Die Gnade in anderen erkennen, sich von dieser Gnade anstecken lassen und sich zu freuen, das ist für
Barnabas eins. So zeigt es auch das Wortspiel von (Ȥ੺ȡȚȢ = Gnade) und
(ȤĮȡ੺ = Freude). Er bestärkt die Christen vor Ort, indem er sie ermuntert,
nach dem Vorsatz ihres Herzens beim Herrn zu bleiben. Von ihm heißt es,
dass er ein Mensch „voll heiligen Geistes“ war (Apg 11,24). Barnabas hat
den wohlwollenden Blick auf die Menschen behalten. Er sieht das Positive
7
8
Vgl. zum Motiv des „Wer glaubt, wird ver-rückt“: Paul Deselaers, „Prüft die Geister, ob sie aus Gott
sind“ (1 Joh 4,1). Spiritualität als Bemühung zur Unterscheidung der Geister, in: JBTh 24 (2011), 341–
368, hier 342–345.
Vgl. dazu Ps 119, nach dem der Mensch ein gelingendes Leben findet, wenn er JHWH als Lehrer wahrund annimmt und zugleich ein Lernender bleibt. Siehe auch die schöne Darlegung von Eduard Lohse,
Freude des Glaubens. Die Freude im Neuen Testament, Göttingen 2007.
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und bestärkt es, er ist nicht fixiert auf die Defizite, er hat das „Ohr beim
Volk“ (EG 154). Als Folge seiner Ermunterung und ihres wohl sichtbaren
Lebenszeugnisses werden die Jünger des Herrn zum ersten Mal „Christen“
genannt (Apg 11,16).
Die Sichtweise von Barnabas scheint mir eine entscheidende Voraussetzung
für die Predigt zu sein. Balthasar Fischer merkt einmal an:
„Von dem niederländischen Maler Vincent van Gogh (1853–1890), der selber
einmal kurze Zeit reformierter Evangelist gewesen war, ist ein bezeichnendes
Wort überliefert. Was es von den Zeichnungen sagt, gilt entsprechend von den
Predigten […]. ,Man muss für die Menschen ein warmes Gefühl der Sympathie
haben und bewahren – eigentlich für alle –, sonst bleiben die Zeichnungen kalt
und leer.‘ Von einem der erfolgreichsten Clowns Amerikas wurde mir berichtet,
dass er gestanden habe, jedesmal, wenn sich der Vorhang öffne, und er sich mit
Tausenden fremder Gesichter konfrontiert sehe, sage er leise zu sich selbst: ,Ich
liebe euch alle‘; er habe immer wieder erfahren, dass er schon in diesem Augenblick die Herzen aller gewonnen habe.“9
In anderer Weise spricht Papst Franziskus davon, wenn er betont, man
müsse sich der Wirklichkeit und den Menschen „mit dem Blick des Guten
Hirten“ (EG 125) nähern, so predigen „wie eine Mutter“ (EG 139) und die
Menschen die „Freude des Herrn erfahren […] lassen“ (EG 141).10 Eine
geschwisterlich-väterlich-mütterliche Liebe entbindet von Angst, von Isolation, von Schuld und kann zu einem befreiten Leben verhelfen.11 Was ist
die Voraussetzung dafür bei einem Prediger? Vielleicht das, was Jesus den
Jüngern mit auf den Weg gibt:
„Kommt ihr in ein Haus, und ihr sagt dort: Friede diesem Haus: wenn dort ein
Kind des Friedens ist, so wird euer Friede auf ihm ruhen, wenn nicht, wird er zu
euch zurückkehren.“ (Lk 10,5–6, Hervorhebung P. D.)
Leider unterschlägt (bisher) die Einheitsübersetzung die Wendung „euer
Friede“. Da heißt es: „so wird der Friede, den ihr ihm wünscht, auf ihm ruhen.“ Eine Formel genügt nicht, dass der Friede sich mitteilt. Jesus gibt den
Jüngern die Gabe Gottes mit, den Geist, und damit die Vollmacht zur Weitergabe einer Wirklichkeit, die sie selbst erfüllt. Wenn sie nicht mehr in ihnen lebt und sie nicht in ihr leben, richten sie nichts aus. Wer den Frieden
entbietet, entscheidet also, nicht die Vokabel. Und entsprechend: Wie einer
die Menschen ansieht, entscheidet mit, ob der Geist Gottes die Chance hat,
sich zu verleiblichen.
9
10
11
Balthasar Fischer, „Nicht wie die Gelehrten reden: eher wie die Ungelehrten“. Eine Mahnung Augustins an den christlichen Prediger (De doctr. Chr. 4.65), in: IKaZ 11 (2/1982), 123–129, hier Anm. 20.
Vgl. EG 125; 139; 141 u. ö.
Vgl. dazu im Anschluss an Augustinus über die Gemütsbewegung eines teilnehmenden Herzens: Felix
Genn, Trinität und Amt nach Augustinus, Einsiedeln 1986, 261–276, hier 266f.
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3.3 Genauigkeit
„Die Vorbereitung auf die Predigt ist eine so wichtige Aufgabe, dass es nötig ist,
ihr eine längere Zeit des Studiums, des Gebetes, der Reflexion und der pastoralen Kreativität zu widmen“ (EG 145).
Der Papst stellt neben die ausreichend lange Zeit zur Vorbereitung auch
die Genauigkeit der Erarbeitung.
„Der Gerer Rabbi erzählte: ,In meiner Kindheit wollte ich mich nicht ins Studium
der Grammatik vertiefen, denn ich wähnte, das sei eben eine Wissenschaft wie
alle anderen. Später aber habe ich mich ihr ergeben, denn ich sah, die Geheimnisse der Lehre hangen daran.‘“12
Es gibt bewährte Methoden, die Lesungstexte zu erarbeiten.13 Es gibt viele
Hilfsmittel. Das Wahrnehmen dessen, was in welcher Weise im Text steht,
und die Sensibilität für unterschiedliche Standorte, Situationen, Stimmen,
Intentionen, Aussageformen usw. bedingen einander. Von da aus kann die
theologische Interpretation einer Perikope im Blick auf den theologischen
Gesamthorizont der Bibel sogar ungewöhnlich reizvoll werden. Denn Entdeckungen in den Kleintexten sind nicht ohne Auswirkung auf den Gesamtrahmen. Dieses Risiko birgt die geduldige Arbeit. Zur Vorbereitung
gehört auch, neue Fragestellungen in den Bibelwissenschaften wahrzunehmen und sie sich anzueignen. Wie vieles hat sich inzwischen erhellen
lassen, was der Kirche aus der langen Kirchengeschichte mit Recht als
„Todsünden“ vorgehalten wird! Etwa, dass der Schöpfungsauftrag „Unterwerft euch die Erde“ (Gen 1,28) in dem Sinne zu verstehen ist, sie als
Lebenshaus für alle Lebewesen zu schützen. Oder die kanonische Schriftauslegung, die zu ergründen versucht, wie die vielen Texte des einen Buches der Bibel zusammenklingen.14 Oder wie der Wechsel von der Psalmenexegese zur Psalterexegese auf unerwartete Weise Anteil an der leidenschaftlichen Gott-Suche der Bibel gibt.15 Auf jeden Fall: Man soll „die ganze
Aufmerksamkeit dem biblischen Text […] widmen, der die Grundlage der
Predigt sein muss“ (EG 146). Dazu kommt natürlich die Genauigkeit in der
Wahrnehmung des Zeitgeschehens.
3.4 Vorbereitung und Gebet
Die Vorbereitung der Vorbereitung ist noch etwas anderes: „Die Arbeit an
der Predigt beginnt vor dem aufgeschlagenen Text mit dem Gebet […]. Dieses Gebet gehört zur sachlichen Ordnung der Predigtarbeit, nicht auf die
12
13
14
15
Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, 821.
Vgl. die bewährte Predigtlehre: Rolf Zerfaß, Grundkurs Predigt. I und II, Düsseldorf 1987 und 1992.
Vgl. z. B. Christoph Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung (Beck´sche Reihe Wissen 2099), München
1998.
Vgl. Frank-Lothar Hossfeld / Erich Zenger, Neigt euer Ohr den Worten meines Mundes. Studien zu
Psalmen und Psalter, hg. von Christoph Dohmen und Thomas Hieke, Stuttgart 2015.
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erbauliche Seite.“16 Papst Franziskus empfiehlt vor allem die „lectio divina“,
die Geistliche Schriftlesung. Ihr geht es um das evangeliumsgemäße Leben
auf dem Fundament des Wortes Gottes. Nach Blütezeiten bis zum 13. Jh.
wurde sie erst im Vaticanum II (DV 21, 24 u. 25) rehabilitiert und bedarf
der unentwegten Vertiefung. Lesung, Meditation, Gebet und Kontemplation
sind die vier geistlichen Stufen, die in Wechselwirkung zueinander stehen.17
Sie sind notwendig und hilfreich, um das Studium der Bibeltexte beleben
und vertiefen zu können. Daraus erwächst die beseelte, zu Herzen gehende
Predigt, die den Hörer erreichen kann. Letztlich kann nur ein Mensch des
Gebetes zur Feier des Lebens inmitten aller Bedrängnis führen. Dieses Beten ist eine gefährliche Erfahrung, die beunruhigt, in Bewegung bringt, die
unerwartete Wege öffnen kann, was durchaus nicht immer erwünscht ist.
Auf der anderen Seite bedürfen wir unbedingt des Gebetes, damit uns
nicht Hören und Sehen vergeht. Ein Wort von Karl Rahner lässt in diesem
Zusammenhang aufhorchen: „Ich glaube, weil ich bete.“18 Beten ist Antwortgeben auf das Jawort Gottes, auf seine unserem Glauben, Lieben und
Hoffen zuvorkommende und unser Gebet tragende Liebe. Sie erweckt jene
Bewegung des Herzens, die man schlicht und zugleich umfassend mit
„Gebet“ bezeichnen kann.
4. Verstehen und verständlich machen
„Erneuern wir unser Vertrauen in die Verkündigung, das sich auf die Überzeugung gründet, dass Gott es ist, der die anderen durch den Prediger erreichen
möchte, und dass er seine Macht durch das menschliche Wort entfaltet.“ (EG 136)
Aufgabe des Predigers ist es immer, Gott zum Zuge kommen zu lassen, das
Gespräch der Menschen mit Gott in Gang zu setzen. Er selbst soll zurücktreten. „Die Homilie nimmt den Dialog auf, der zwischen dem Herrn und
seinem Volk bereits eröffnet wurde.“ (EG 137) Es gehört also zur Aufgabe
der Verkündigung, die hintergründige Dimension des Lebens aufzudecken
und den Menschen in den unterschiedlichen Situationen ihres Lebens Gotteserfahrungen vorbereiten zu helfen. Einen verlässlicheren Bezugspunkt
dafür als die verdichteten Erfahrungen der Bibel gibt es nicht. Die Schrifttexte sind letztlich in ihrer vielfältigen Form darauf angelegt, dass die lesenden/hörenden Menschen „dahinterkommen“. In der Regel, zumal wo
erzählt wird, geht es um eine offene, vielschichtige Wahrheit, die nicht an
16
17
18
Dietrich Bonhoeffer, Schriften IV, München 1968, 258; zitiert nach Franz Kamphaus, Schwerpunkte der
Predigtausbildung, in: IKaZ „Communio“ 11 (2/1982), 113–122, hier 115.
Zur Vertiefung: Enzo Bianchi, DICH finden in deinem Wort. Die geistliche Schriftlesung. Mit einem
Vorwort von Michael Schneider SJ, Freiburg/Br. 1988; Garcia M. Colombás OSB, Lectio Divina. Das
Herz Gottes im Wort Gottes entdecken, Köln 2003; Michael Casey OSCO, Lectio divina. Die Kunst der
geistlichen Lesung, St. Ottilien 2010.
Vgl. dazu: Karl-Heinz Weger, „Ich glaube, weil ich bete“. Für Karl Rahner zum 80. Geburtstag, in: Geist
und Leben 57 (1/1984), 48–52.
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der Oberfläche liegt, sondern etwas von der inneren Wirklichkeit der Welt
jenseits und hinter allem äußeren Funktionieren ans Licht bringen will.
Wer nach ihr sucht, wird immer nur Aspekte eines Bildes erfassen, die
nicht isoliert werden dürfen, soll das Gesamtbild nicht verzerrt werden.
Deshalb birgt die Predigt immer Chance und Risiko, Dolmetscher der inneren Wirklichkeit zu sein, die hinter dem „Medium“ Bibel liegt. Das schließt
ein, dass die Bibel nicht als Vehikel und „Seelsorge-Instrument“ gebraucht
werden kann, das man als Reservoir für religiöse Lehren, Zitate und Aktionsprogramme heranzieht. Wer sich an die Heilige Schrift heranwagt, an
Gottes Wort, lässt sich vielmehr in einen mehrdimensionalen Dialog ein. In
ihm gibt es keine Übernahme von Resultaten, bei der der lebendige Mensch
in seinem Fragen und Suchen aus dem Spiel bleiben könnte. Es gibt auch
keine rasch zu lernenden und zu handhabenden Praktiken, die die lebendige Beziehung außen vor lassen könnten.
Dieser Dialog gewinnt an Tiefe, wo es möglich wird, die Profile der unterschiedlichen Stimmen in der Bibel wahrzunehmen. So werden alle vorschnellen „Gottsysteme“ aufgebrochen, die in sich dazu verleiten, aus der
Wirklichkeit in die Welt der Innerlichkeit auszuwandern. Wo immer die
Konkretheit der Bibel, zumal des Alten Testaments, abgewertet wird, droht
der Rückzug aus der Welt, in der nun gerade Gottes Wille, erkennbar in
seinem Wort, sichtbar und praktiziert werden soll. Der vielschichtige Dialog – mit dem Wort der Heiligen Schrift und der hinter ihm liegenden
Wahrheit, mit den Bewegungen und Begegnungen dieser Zeit – bindet an
die Realität, in der übersetzt und gelebt werden will, wie der lebendige
Gott sich in Erfahrung bringt und bringen will. Daraus resultieren unteilbare Lebensvollzüge. Letztlich geht es für einen Prediger darum, Stimme
für das Wort zu werden, auch wenn er an die Grenze der Sprache gerät angesichts dessen, was zu sagen ist, auch wenn dieses Stimme-Sein zur Ohnmacht führt, wo andere Sicherheiten und Rezepte fordern. Die Bibel könnte
so Heimatsprache des Lebens für alle Hörenden werden, wenn solches
Verstehen und Verständlich-Machen gewagt wird und gelingt. Damit sich
jemand zu diesem Wagnis entschließt, „muß es, als Stoff, irgendwo einen
Punkt haben, bei dessen Berührung einem regelmäßig das Herz aufgeht.
Dies ist der produktive Punkt“ (Thomas Mann).
5. Aufbruch ins Existentielle
Wer im Sinne der Bibel predigt, gerät immer wieder vor ein Bündel von
Fragen: Was lasse ich mir selbst gesagt sein? Was löst das regelmäßige Predigen in mir aus? Wie stehen Beruf und Glaubensexistenz zueinander? Solche Fragen führen in Überlegungen zur Kompetenz des Predigers ein – in
die institutionelle und personale, in die fachliche und methodische Dimension der Kompetenz, hinter der schlicht als Kernfrage steht: Inwieweit ver-
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wirkliche ich selbst den Inhalt meiner Verkündigung in meinem Leben?
Inwieweit bin ich wahrhaftig, so dass die Verkündigung als glaubwürdig
erlebt werden kann? Diese Frage trifft auf eine Sinnlinie, die vom Alten bis
zum Neuen Testament, von den Propheten bis zu Jesus von Nazaret reicht,
nämlich die nicht zu trennende Korrespondenz von Verkündigung und
Verhalten, von Botschaft und Person. Die Propheten und Jesus werden in
dieser Einheit selbst zu „Zeichen Gottes“.
Hier liegt wohl das am meisten schneidende Risiko des Predigens – als
Aufbruch ins Existentielle. Der beginnt mit der Bereitschaft, mit der Bibel
und von ihr zu leben. Wer meint, sie zu kennen und mit ihr „fertig“ zu sein,
ist am Ende und macht eher andere „fertig“. Erst die Bereitschaft, immer
neu anzufangen, auch wenn sich etwa die Zyklen der Lesejahre wiederholen, öffnet auch neu die Augen und das Herz. Wer am Sonntag von Gottes
Leben, von seinem Reich sprechen will, muss mit den versammelten Menschen die Bedrängnis der persönlichen und beruflichen Belastungen im
Alltag, der gesellschaftlichen und auch der kirchlichen Spannungen geteilt
haben. Nur so wird es möglich, Auge und Ohr aufzuschließen für eine der
letzten Zusagen Gottes: „Seht, ich mache alles neu!“ (Offb 21,5). Seit jeher
ist die Aufmerksamkeit eine Art Sprungbrett in den Neuanfang. Hier wird
die prophetische Seite der Predigerexistenz angefragt, die am deutlichsten
an Jesus als dem „Zeichen Gottes“ (vgl. Lk 12,56) hervortritt. Der existentielle Glaube ist die Grundlage der beruflichen Existenz. Papst Franziskus
sagt es unmissverständlich:
„Wer predigen will, der muss zuerst bereit sein, sich vom Wort ergreifen zu lassen und es in seinem konkreten Leben Gestalt werden zu lassen. […] [Er] muss
[…] akzeptieren, zuerst von jenem Wort getroffen zu werden, das die anderen
treffen soll. […] Auch in dieser Zeit ziehen die Menschen vor, die Zeugen zu hören: Man ,verlangt geradezu nach Echtheit‘“ (EG 150).
Der Zeuge verweist über sich hinaus und lässt sich von dem Bezeugten
ganz in Anspruch nehmen.
6. Niemand predigt allein
Ein weiterer Schwerpunkt liegt in dem, was die kommunikative Möglichkeit und Verantwortlichkeit des Predigers betrifft. „Die Homilie nimmt den
Dialog auf, der zwischen dem Herrn und seinem Volk bereits eröffnet
wurde.“ (EG 137) Dieser Dialog kennt viele Dimensionen. Er beginnt schon
da, wo ich mich selbst frage, ob ich mich auf die Predigt freue, ob ich Angst
vor der versammelten Gemeinde habe, wie ich zu den Menschen stehe.
Wie sollte jemand „das Herz seiner Gemeinde kennen“ (EG 137), wenn er
nicht Zugang zu den Menschen findet, wenn er nicht von den Menschen
selbst erfährt, welche Fragen sie umtreiben, welche Zweifel sie bedrücken,
welche Sehnsucht in ihnen wohnt, wenn er nicht mit ihnen spricht und In-
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teresse an ihnen hat. Solche „kommunikative Kompetenz“19 in ihren mehrfachen Dimensionen lebt letztlich von der eigenen geistlichen Begleitung,
der der Papst im Zusammenhang der Verkündigung des Evangeliums den
letzten Teil widmet:
„Die eigene Erfahrung, uns begleiten und heilen zu lassen, indem es uns gelingt,
unser Leben mit vollkommener Aufrichtigkeit vor unserem Begleiter auszubreiten, lehrt uns, mit den anderen Geduld zu haben und verständnisvoll zu sein,
und ermöglicht uns, die Wege zu finden, um ihr Vertrauen zu wecken, so dass
sie sich öffnen und bereit sind zu wachsen.“ (EG 172)
Wenn Paulus in unübertroffener Klarheit beschreibt, dass der Glaube vom
Hören kommt (s. Röm 10,17), dann kommt auch das Verstehen der Menschen vom Hören. Dann ist einer nie allein. Sonst gibt es kein Hören und
keinen Glauben. Die Heilige Schrift kennt nicht nur die markanten Begleitungsgeschichten wie die Emmauserzählung (Lk 24,13–35), die Erzählung
von Eli und Samuel (1 Sam 3,1–21) oder die Tobiterzählung, sie weiß auch
um die kleinen kostbaren Begleitgestalten wie bei dem Aramäer Naaman
(2 Kön 5,1–19). Was wäre mit Naaman, wenn nicht die Sklavin, eine Randfigur, den entscheidenden Hinweis auf die „andere Dimension“ gegeben
hätte (V. 3)! Was wäre mit ihm, der nur in den Kategorien von Macht und
Geld denken kann, wenn nicht seine Diener ihm gezeigt hätten, das Naheliegende als kleinen Schritt zur Heilung zu tun! Durch sie, die unverfälscht
das Leben sehen, findet Naaman dahin: „Siehe, ich habe jetzt erfahren, dass
es auf der ganzen Erde keinen Gott gibt außer in Israel“ (V. 15). Die Begleiter
kommen weiter nicht vor in der Bibel, wohl Naaman mit seinem Leben, mit
seinem Gespräch mit dem einzigen Gott und mit seiner neuen Lebenspraxis. Das wäre die belebende Folge einer gestaltreichen Begleitung, die auch
eine Art Predigt ist.
7. Ausblick
„Die Vorbereitung auf die Predigt ist eine so wichtige Aufgabe, dass es nötig ist,
ihr eine längere Zeit des Studiums, des Gebetes, der Reflexion und der pastoralen Kreativität zu widmen.“ (EG 145)
Was Papst Franziskus so eindringlich von der Vorbereitung sagt, zeigt an,
wie sehr er die Predigt im Ganzen gewichtet. Ihre Aufwertung ist jedoch
nur angemessen, wenn sie in der skizzierten Intensität vorbereitet wird.
Eine alte Erfahrung besagt, dass ein stimmiges Ergebnis ohne gute Vorbereitung nicht entstehen kann. Manche Prediger erzählen freimütig, wie sie
mit Hilfe der Angebote aus dem Internet weniger als eine Stunde auf die
Vorarbeit für den gesamten Gottesdienst verwenden. Die Erfahrung aus
ungezählten Gesprächen zeigt umgekehrt, dass viele Menschen die Über-
19
Vgl. dazu: Kamphaus, Schwerpunkte der Predigtausbildung (s. Anm. 16), 119–122.
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nahme fremder Vorlagen spüren und als mangelnde Authentizität ihres
Predigers wahrnehmen. Ihnen ist zudem die Predigt, aus der sie etwas
Substantielles mitnehmen können, zumeist wichtiger als der oft rituell erlebte Eucharistieteil.
Wenn wir unsere passiven Stärken verlieren, also die Fähigkeit zur Stille,
zur Ruhe, zur Gelassenheit, die Fähigkeit zu warten, zu lassen, zu hören
und vorzubereiten, dann wird auch die Aktivität leer. Wenn wir nicht selber wahrnehmen und spüren, dass wir im Hören und Feiern mehr werden,
als wir von uns selbst aus sein können, dann können wir auch keinen tragfähigen Glauben erwecken oder vermitteln. Dann wird die Predigt auch
nicht im ursprünglichen Wortsinn ein Pro-test sein – nämlich in der Öffentlichkeit offen heraus für Gott und Jesus Christus Zeugnis abzulegen und
deswegen auch Widerstand zu leisten gegen lebensfeindliche Entwicklungen und Ziele.