Ausgabe 2/2014

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Ausgabe 2/2014
02/2014
Vernetzung — Der Clou der Cloud / Die Missachtung des
Unmöglichen / Eruptionen und Zeiten der Ruhe / Von
Makern und schnellen Brütern / Digitaler Ideenaustausch
by EY
„Die Kunst besteht
darin, einfache
Strukturen in einer
immer komplexeren
Welt zu wahren.“
Michael Marhofer,
CEO der ifm-Unternehmensgruppe
Magazin für unternehmerische Exzellenz
„In Sicherheit erfolgreich groß werden“ –
so das Motto der ifm-Unternehmensgruppe.
Vor allem dank seiner Innovationskraft
entwickelte sich das Essener Unternehmen
innerhalb weniger Jahrzehnte von einer
2-Mann-Firma zu einem Global Player.
3
Editorial
Die ganze Welt ein Dorf – in einem aufsehenerregenden Experiment wies der US-Psychologe Stanley Milgram nach, dass
praktisch jeder Mensch auf der Welt mit jedem anderen über
eine überraschend kurze Kette von Bekanntschaftsbeziehungen
verbunden ist. Nach durchschnittlich sechs Stationen treffen
zuvor völlig Fremde auf einen gemeinsamen Bekannten oder
Freund. Das war Ende der 60er-Jahre und stieß damals auf viel
Skepsis und Kritik. Inzwischen haben soziale Netzwerke, OnlinePlattformen und ganz allgemein der zunehmende Grad der
Vernetzung rund um den Globus Milgrams Small-World-Phänomen längst Alltag werden lassen.
Das Internet und die damit einhergehende Vernetzung haben
unsere Welt in den vergangenen 20 Jahren so stark verändert
wie nie zuvor. Und es wird sie in immer höherem Tempo weiter
verändern. Das wird nicht nur unsere sozialen und politischen
Beziehungen beeinflussen, sondern auch und vor allem die Bedingungen, unter denen Unternehmen künftig arbeiten werden.
Bisher erfolgreiche Geschäftsmodelle werden obsolet, neue
Märkte werden die bestehenden ablösen oder haben dies bereits
getan, die Beziehungen zwischen Unternehmen, ihren Lieferanten und Kunden werden neu definiert. Und in den Fabriken
geht es um nichts weniger als die vierte industrielle Revolution.
Für Michael Marhofer, CEO des Sensorik-Spezialisten ifm, kommt
es dabei darauf an, Balance zu halten zwischen Chancen und
Risiken der Vernetzung. Zwar produziert sein Unternehmen
genau jene Sinnesorgane, mit denen Maschinen sich künftig
selbst steuern können, und ist damit einer der Wegbereiter der
Industrie 4.0. Aber selbst revolutionäre Umwälzungen, ist Marhofer überzeugt, brauchen ihre Zeit. Nerio Alessandri, Gründer
und Chef des italienischen Sportgeräteherstellers Technogym,
setzt dagegen offensiv auf Vernetzung und hat sein traditionelles
Geschäft um eine Wellness Cloud erweitert, in der alle Daten jedes Technogym-Nutzers gespeichert und weltweit abrufbar sind.
Tatsächlich bietet die ungeheure Menge an Daten, die durch
die Vernetzung generiert werden, den Unternehmen bei kluger
Nutzung große Vorteile bei Effizienz, Wachstum und Ertrag,
wie eine EY-Studie ergeben hat, die wir Ihnen in dieser Ausgabe
des „Entrepreneur“ vorstellen. Dieses immense Potenzial
nutzen etwa die Entrepreneure Saskia und Dirk Biskup. Ihrer
Biotech-Schmiede CeGaT ist es 2010 als erstem Unternehmen
weltweit gelungen, alle für eine Krankheit relevanten Gene gleichzeitig zu untersuchen und zu analysieren.
Am spannendsten aber wird Vernetzung immer dann, wenn
ungewöhnliche Menschen mit ungewöhnlichen Ideen und unterschiedlichen Hintergründen zusammentreffen. Plattformen
wie edge.org oder Digital-Life-Design bringen die Vordenker
der Welt von morgen sowohl virtuell als auch persönlich zusammen. Dabei können sich diese Foren durchaus an historische Vorläufer anlehnen: die Salons des 17. und 18. Jahrhunderts, damals Brutstätten neuer Ideen und revolutionärer
Gedanken. Denn „ohne menschliche Beziehungen werden wir
trotz aller Digitalisierung nicht existieren können“. Davon ist der
renommierte Netzwerkforscher Albert-László Barabási überzeugt, der unsere zehn Fragen zur Vernetzung beantwortete.
Übrigens: Barabási gelang auch der entscheidende wissenschaftliche Beleg für die Existenz des Small-World-Phänomens.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.
Georg Graf Waldersee
Vorsitzender der Geschäftsführung
der Ernst & Young GmbH
02/2014 Entrepreneur
4 In dieser
Ausgabe
Entrepreneur 02/2014
Saskia Biskup / Dirk Biskup
Hamdi Ulukaya
—
—
Sie ist promovierte Medizinerin, er Betriebswirt – zusammen mit rund 65 Mitarbeitern
sind Saskia und Dirk Biskup
die CeGaT GmbH. Ein kleines
Start-up von der schwäbischen
Alb, dem es im Jahr 2010 jedoch als weltweit erstem Unternehmen gelang, alle für eine
Krankheit relevanten Gene
gleichzeitig zu untersuchen.
Eine Revolution in der humangenetischen Diagnostik,
der sich bis heute weitere
spektakuläre Erfolge anschlossen – auch weil das Ehepaar
Biskup Wissenschaft und
Wirtschaftlichkeit klug miteinander in Einklang zu bringen versteht. Über die Tücken
des Erbguts und die Vorteile
einer klaren Rollenverteilung
lesen Sie ab Seite 30.
Dass er den richtigen Riecher
auch fürs Geschäftliche hat,
bewies Hamdi Ulukaya bereits
im Jahr 2002, als der Sohn
eines türkischen Milchbauern
in den USA mit der Produk­tion
von Fetakäse begann. Den
Durchbruch aber schaffte er
mit griechischem Joghurt. Vor
neun Jahren kaufte der heute
42-Jährige eine aufgegebene
Fabrik, begann mit fünf Mitarbeitern – und mach­te aus dem
vormali­gen Nischenprodukt
unter dem Namen „Chobani“
die mit einem Jahresumsatz
von knapp 1 Milliarde Dollar
jetzt meistverkaufte Joghurt-­
Marke der USA. Welche Rolle
dabei tra­d itionelle Werte und
digitale Medien spielen, berichtet er auf Seite 36.
5
Nicholas Serota / Lance Uggla
Stephanie Czerny
Robert Fischer
—
—
—
Kunst und Wirtschaft – auf
den ersten Blick sind das
sehr verschiedene Welten.
Für Sir Nicholas Serota, den
Direktor der weltberühmten
Tate Gallery in London, und
Lance Uggla, Gründer und
CEO des FinanzinformationsDienstleisters Markit, gibt es
allerdings viele Gründe, sie
zusammenzuführen. Beim
Roundtable mit Martin Cook,
bei EY UK verantwortlich
für das Sponsorship der Tate,
sprachen sie über ihr Projekt
„Art for All“, das vor allem
Jugendlichen und Familien
Zugang zur Tate ermöglicht,
über die Risiken bei der
För­­derung zeitgenössischer
Kunst und die Frage, was
Kün­stler für andere Men­­schen
leisten, indem sie ihnen die
Augen für die Welt öffnen.
Ab Seite 14.
Digitaler Fortschritt braucht
Vernetzung, auch in der realen
Welt. Und die entscheidenden
Vordenker der digi­talen Branche zusammenzuführen – das
gelingt der 59-jäh­r igen Bayerin Stephanie Czerny ganz hervorragend. Seit 2005 veranstaltet die Geschäftsführerin
von Hubert Burda Media Zukunftsforen für die InternetWirtschaft, darunter die alljährliche „Digital Life Design“
(DLD) in München. Warum
die weltweit beachtete Konferenz mit ihren rund 1 000 Teilneh­mern zwischen NetscapeErfinder Marc Andreessen
und Facebook-Gründer Mark
Zuckerberg längst mehr ist
als ein reiner Technologiekongress und wie auch bay-­
rische Blasmusik den digitalen Wandel beflügelt, erklärt
Stephanie Czerny auf den
Seiten 54 bis 57.
Robert Fischer (46) studierte
an der Staatlichen Fachakademie für Fotodesign in München. Seit 1996 arbeitet der
Porträt- und Reportagefotograf im In- und Ausland für
renommierte Adressen wie die
„Vogue“, den „Stern“ oder das
„Zeit-Magazin“, immer mit
dem Ziel, seinen Protagonisten so tief wie nur möglich
„in die Seele zu schauen“ – was
gerade bei Menschen aus der
Wirtschaft nicht immer ganz
leicht ist. Für dieses Heft
mach­te er sich für die Reportage über die beiden CeGaTGründer Saskia und Dirk
Biskup auf den Weg nach Tübingen. Ab Seite 30.
02/2014 Entrepreneur
Maps for the 21st century
Wie lässt sich das 21. Jahrhundert visualisieren? Beim Serpentine
Map Marathon präsentierten über 50 Künstler, Dichter, Philosophen,
Musiker, Architekten, Wissenschaftler und Designer ihre „Landkarten des 21. Jahrhunderts“. Dazu aufgerufen hatte die renommierte Londoner Serpentine Gallery 2010 gemeinsam mit dem
intellektuellen Online-Salon edge.org. Eine kleine Auswahl der präsentierten Arbeiten zeigen wir in der vorliegenden Ausgabe auf
dieser und den Seiten 39 und 41. Oben: die Weltformel E8, eine
mathematisch-geometrische Darstellung der Beziehungen der
unterschiedlichen Elementarteilchen untereinander, die unser
Universum im Innersten zusammenhalten.
7
Thema Vernetzung
02/2014
Vernetzung — Der Clou der Cloud / Die Missachtung des
Unmöglichen / Eruptionen und Zeiten der Ruhe / Von
Makern und schnellen Brütern / Digitaler Ideenaustausch
by EY
30 Die Kunst der Entschlüsselung Das Tübinger
Biotech-Unternehmen CeGaT revolutioniert
die humangenetische Diagnostik.
36 Traditionelle Werte und moderne Medien Der Unternehmer Hamdi Ulukaya lancier­te
die meistverkaufte Joghurt-Marke der USA.
Magazin für unternehmerische Exzellenz
Expertise
„Die Kunst besteht
darin, einfache
Strukturen in einer
immer komplexeren
Welt zu wahren.“
Michael Marhofer,
CEO der ifm-Unternehmensgruppe
03 Editorial
04 In dieser Ausgabe
Entrepreneure
08 Ein starker Organismus Wie das Essener
Sensorik-Unternehmen ifm zu einem führenden
Global Player wurde.
14 „Die Welt mit anderen Augen sehen.“ Nicholas
Serota, Direktor der Tate Britain, und Lance Uggla,
CEO des Finanzunternehmens Markit, über neue
Formen der Zusammenarbeit, die für Kunst und
Wirtschaft gleichermaßen befruchtend sind.
37 Ökosysteme der Innovation Die Fähigkeit,
funktionierende Netzwerke zu bilden, wird
entscheidend für den Unternehmenserfolg.
42 „Wenn wir die Daten der Welt vorenthalten,
nützen sie uns nichts.“ Prof. Peter Gruss, MaxPlanck-Gesellschaft, im Gespräch mit Georg
Graf Waldersee, EY, über die Vernetzung von
Wissenschaft und Wirtschaft.
48 Keine Angst vorm großen Sprung Durch den
intelligenten Umgang mit großen Datenmengen können Unternehmen neue Geschäftsfelder
erschließen.
Impulse
53 Das Chamäleon Das Hamburger Unternehmen novomind ent­wickelt innovative Lösungen
für den E-Commerce.
54 Gekonnter Mix Mit ihren Digital-Life-DesignKonferenzen vernetzt Stephanie Czerny nicht
nur die Internetbranche.
20 „Vertrauen entsteht nicht zwischen Firmen,
sondern zwischen Menschen.“ Richard Cullen,
Chef der irischen Jelly Bean Factory, über den Wert
guter Beziehungen und erprobter Netzwerke.
58 Innovative Störer Wie junge High Potentials
in Unternehmen für kreative Unruhe sorgen.
22 „Gesunde Missachtung des Unmöglichen“ lautet die Devise von Victor Allis. Für den Chef
62 Salonkultur Im Zeitalter des Internets erdes weltweiten Logistik-Dienstleisters Quintiq
wacht eine neue Sehnsucht nach den geselligen,
hört die Suche nach der besten Lösung nie auf.
ideenstiftenden Treffen der Aufklärung.
26 Wellness als Lebensprinzip Mit nur 22 Jahren
gründete Nerio Alessandri den Fitness-Equipment-Hersteller Technogym. 35 Millionen
Menschen trainieren heute auf seinen Geräten.
70 Zehn Fragen an Albert-László Barabási Der
renommierte Physiker erforscht das World
Wide Web, soziale Beziehungen und besonders
ausfallsichere Netzwerke.
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8 Entrepreneure  Report
Vernetzung – für Michael Marhofer
ist sie Alltagsgeschäft. Und damit
auch tägliche Herausforderung.
Komplexität bedeutet für den Chef
des Sensorik-Spezialisten ifm
aber nicht nur anspruchsvolle Technik, sondern auch die Führung
eines diversifizierten Unternehmens,
das sich selbst immer stärker nach
innen wie außen verbinden muss, um
eben diese Technik zu liefern. Wie
ihm das gelingt? „Die Kunst besteht
darin, einfache Strukturen in einer
immer komplexeren Welt zu wahren.“
Fotos Albrecht Fuchs
Ein starker
Organismus
G
lückaufhaus, Essen, Ruhrgebiet. Unten im
Foyer der ifm-Unternehmensgruppe hängt
eine Weltkarte, und die Welt ist orange,
mit wenigen dunklen Flecken im Innern
Afrikas und in Zentralasien. Deutschland
ist kaum zu erkennen, umso klarer aber
die fast lückenlose Präsenz, die sich das
mittelständische Unternehmen mit seinen über den Globus verteilten Standorten erarbeitet hat.
Und mit seinen Produkten, die vor allem einem dienen –
verlässliche Verbindungen zu schaffen zwischen Maschinen,
zwischen Maschinen und Materialien, zwischen Maschinen
und Menschen. Die damit eine dynamische Komplexität erzeugen, die große Potenziale, aber auch große Komplika­
tionen birgt. Was nicht wenigen Unternehmern Sorgenfalten
auf die Stirn treibt. Oben in seinem Büro aber bleibt Michael
Marhofer ganz ruhig. Hochgradig verwobene Technik, gespiegelt in einer ebenso feingliedrigen Organisation – wie
findet er seinen Weg durch das Dickicht? „Bei ifm gibt es
so etwas wie eine Zentrale eigentlich nicht mehr“, sagt der
45-jährige Vorsitzende der Geschäftsführung. „Gut, Orange
ist unsere Firmenfarbe, die ist vorgegeben. Auch haben wir
ein klares Sortiment. Aber darüber hinaus? Wir ent­wickeln
und produzieren in Deutschland und Übersee, wir haben
weltweit 43 Niederlassungstöchter – Entscheidungen fallen
dezentral. Vernetzung zieht komplexe Beziehungen nach
sich, das darf aber nicht bedeuten, dass man auch noch komplexe Strukturen aufbaut.“
Es ist eine Welt, in der sich das Unternehmen ifm seit Jahrzehnten sehr erfolgreich bewegt. Seit der Gründung 1969
hat sich die „Ingenieurgesellschaft für Messtechnik“ mit ihren heute über 5 000 Mitarbeitern und einem Umsatz von
zuletzt 630 Millionen Euro zu einem weltweit führenden
Anbieter in der Automatisierungstechnik gemausert. Das
inhabergeführte Unternehmen entwickelt und produziert
Sensoren und Steuerungen für die Automatisierung der industriellen Produktion, für die Überwachung und Selbststeuerung von Maschinen, Anlagen und Fahrzeugen. ifmSensoren fühlen Gase, Flüssigkeiten, feste Formen; messen
Druck, Füllstände und Positionen. Sie werten Daten aus und
leiten sie weiter an Steuerungs- und Kontrollsysteme. „Sensoren sind wie Augen, Nasen und Finger“, sagt Marhofer.
„Ohne sie kann ein Produktionssystem nicht funktionieren.
Und Sensoren müssen umso intelligenter werden, je mehr
sich diese Systeme miteinander vernetzen.“
Mehr Intelligenz für immer enger vertaktete Anlagen. Für
Michael Marhofer gehört das seit vielen Jahren zum Alltag,
denn seit 2001 steht der Betriebswirt dem Unternehmen
vor, ist verantwortlich für Finanzen und den Vertrieb. Ursprünglich konnte sich ifm auf die Messelektronik allein
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10 Entrepreneure  Report
konzentrieren, dann folgte die Verzahnung mit komplizierter
Mechanik, schließlich die Integration der Sensoren in softwaregetriebene Steuerungssysteme. Nun deutet sich mit der
Industrie 4.0 eine Produktionswelt an, in der Maschinen
autark agieren, indem sie mit anderen Maschinen kommunizieren, mit Bauteilen und fertigen Werkstücken. Maschinen,
die die Schritt-für-Schritt-Produktion verändern zu einer sich
selbst organisierenden, globalen Maschinen-Cloud.
Industrie 4.0 – für Michael Marhofer ist dies noch eine kühne Vision. Auf die er sich trotzdem einstellt: „Bis es so weit
ist, vergehen bestimmt noch zehn Jahre. Aber man muss
sich jetzt gezielt damit auseinandersetzen. Was bedeutet,
dass man diese große Diskussion ein Stückchen kleiner macht,
also seinen Kunden im Kleinen immer wieder konkreten Nutzen bietet, sodass ein Element dem nächsten folgt und sich
die Industrie 4.0 irgendwann von selbst ergibt.“
Auch revolutionäre Umwälzungen brauchen ihre Zeit. Es ist
dieser Gedanke, der Michael Marhofer die notwendige Ruhe
für die richtigen Schritte gibt. Und entscheidend sind für ihn
vor allem: „Innovationen, denn ohne sie ist ein Technologieunternehmen verloren.“ ifm hält rund 600 eigene Patente, auf
der diesjährigen Hannover Messe präsentierte das Unternehmen knapp 150 Neuheiten. Darunter auch Vibrationssensoren für Maschinen, die den Verschleiß etwa an Kugellagern
messen und gegebenenfalls Alarm schlagen. „Vorausschauende Wartung und die Vermeidung von Stillstandszeiten“,
sagt Michael Marhofer, „für uns ist das ganz klar Industrie
4.0. Und es ist ein Nutzen, den je­der Kunde wirklich begreifen kann.“
Erfolg in Farbe: Sensoren und Verbindungstechnik – die Produkte
von ifm sind mitunter nur so groß
wie ein Finger. Doch mit feinster
Elektronik sorgen sie für reibungslose Ab­läufe in der industriellen
Produktion. Deshalb wurde aus
der 2-Mann-Firma schnell ein glo­
bales Unternehmen – ifm ist heute
in 70 Ländern weltweit vertreten.
Entrepreneur 02/2014
Entrepreneure  Report 11
Komplexität beginnt eben immer im eigenen Kopf. Und Innovationen sind für Marhofer das Werkzeug, um sie zu be­
wältigen. Weshalb er sich bei ihrer Gewinnung nicht unter
Druck setzen lässt – die ersten Arbeiten am Vibrations­
sensor etwa begannen bereits im Jahr 2001. Zudem setzt
Marhofer weniger auf individuelle Genialität als auf eine
gemeinsame Perspektive – schon bei der Entscheidung,
was eine gute Idee ist. „Die klassische Vorstellung ist ja“,
sagt Marhofer, „dass ein Einzelner eine Idee hat und dann
daraus ein tolles Produkt wird. Aber genau anders­rum ist
es richtig. Die meisten Produkte entstehen ganz simpel aus
Kundenproblemen. Und wenn sich etwas in einer bestimmten
Branche wiederholt – dann sollten wir dieses Problem lösen.
Denn dann wird das relativ schnell auch relativ erfolgreich.“
Um diese Kundenprobleme zu erkennen, nutzt ifm eine starke Mannschaft aus rund 1 000 Vertriebsberatern, deren
Erkenntnisse täglich in Datenbanken eingespeist werden.
Ein gehöriger Aufwand, für Marhofer aber schlicht­weg
zwingend: „Wissen im Kopf des einzelnen Mitarbeiters nützt
wenig, man muss das Wissen für alle verfügbar machen.
Deshalb werden jeder Kundenbesuch und jede Anforderung
ausgewertet und das Ergebnis wird in die Entwicklungsabteilungen weiter­geleitet. Und zunehmend auch an alle anderen Berater.“
Damit folgt ifm einem formellen Prozess, der einerseits Sicherheit gibt, zugleich aber auch die Gefahr birgt, in einer
Flut von Informationen die Übersicht zu verlieren. Zielgenaues Arbeiten würde dadurch erschwert, weshalb Marhofer
andernorts wenig Vorgaben macht – beim Innovationsprozess selbst: „Wer glaubt, Innovationen standardisieren zu
können, hat schon verloren. Auch wir hatten hier alles in
enge Prozesse gegossen, aber das haben wir wieder abgewickelt. Was kann ich versuchen, um von einer Idee zu einem innovativen Produkt zu kommen – diese Frage hat mit
Freiheit zu tun.“
Entwicklung bei ifm gründet sich deshalb weniger auf Proporz und fest umrissene Strukturen. Was zählt, ist die
Kooperation eindeutig zu identifizierender Fachleute aus
bewusst unterschiedlichen Bereichen, bei jeder der rund
20 Produktlinien. „Jede Linie hat ganz oben einen Produktmanager und einen Technikmanager“, erklärt Marhofer.
„Gemeinsam filtern sie Ideen aus, beide sind beim Kunden
und in der Entwicklungsabteilung. Sie bekommen ein Budget, können ihre Ressourcen planen. Das Wichtigste aber ist:
Sie setzen eigenständig ihre Schwerpunkte. Sie entscheiden,
welche Produkte sie tatsächlich bringen und welche nicht.“
Ein so simples wie wirkmächtiges Prinzip: Entscheidungen
fallen nicht an der höchsten Position, sondern dort, wo sich
die meiste Expertise sammelt. „Es wird mitunter sehr emo­
tional diskutiert“, sagt Michael Marhofer. Aber diese Regel
verhindert, dass aus einem oft zwangsläufig unübersicht­
lichen Firmengeflecht eine Hängematte wird. Und spornt an,
weil zugleich niemand bestraft wird, wenn er sich mal zu
weit nach vorn gewagt hat. „Aus Fehlern lernt man“, sagt
Michael Marhofer. „Auch ich mache Fehler. Wegen eines Feh­
lers ist hier noch nie jemand entlassen worden.“
ifm-Unternehmensgruppe
Die ifm-Unternehmensgruppe mit Hauptsitz in Essen wurde 1969
von dem Elektroingenieur Robert Buck und dem Vertriebsmanager
Gerd Marhofer in einer 80-Quadratmeter-Wohnung gegründet.
Heute gehört das Unternehmen mit einem Jahresumsatz von zuletzt
630 Millionen Euro und weltweit über 5 000 Mitarbeitern zu den
führenden Anbietern in der Automatisierungstechnik. Im Kern konzentriert sich ifm von jeher auf die Entwicklung und Produktion
elektronischer Sensoren für jedwede Anwendung in der industriellen
Produktion, die rund 115 000 Kunden stammen aus so verschiedenen Branchen wie dem Maschinen- und Anlagenbau, der Lebensmittel-,
der Automobil- und der Entsorgungsindustrie. Rund 70 Prozent
der Produkte werden exportiert, rund 90 Prozent der Produktion wird
jedoch in Deutschland erbracht (Tettnang am Bodensee). Von Beginn an verzeichnete ifm stete Wachstumsraten, die positive Entwicklung beruht vor allem auf eigenen Innovationen – ifm gehört zu den
50 patentstärksten Unternehmen Deutschlands. Getreu dem Motto
„In Sicherheit erfolgreich groß werden“ setzt das Unternehmen
auch an der Spitze auf Kontinuität: Im Januar 2001 übernahmen mit
Michael Marhofer (Vertrieb / Finanzen) und Martin Buck (Einkauf / Entwicklung) die Söhne beider Firmengründer die Geschäftsführung.
Verantwortung, Freiheit, Augenhöhe – diese Firmenkultur
ermöglicht Marhofers Unternehmen auch fruchtbare Kooperationen mit externen Partnern. „Wir arbeiten mit For-
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12 Entrepreneure  Report
Eine Innovation aus
dem Hause ifm:
der flexible Leiterfilm.
„Vernetzung zieht komplexe Beziehungen nach sich, das darf aber
nicht bedeuten, dass man auch noch
komplexe Strukturen aufbaut.“
Michael Marhofer
schungsinstituten, Universitäten, anderen Firmen“, sagt er.
„Wir vergeben konkrete Entwicklungsaufträge, arbeiten
aber auch an Schlüsseltechnologien. Für uns ist diese Vernetzung notwendig, denn wir brauchen in unserem komplexen Geschäft Spezialisten, um die nötige Bandbreite zu entwickeln. Das selbst leisten? Dafür sind wir viel zu klein. Und
mitunter sind die anderen schlichtweg besser als wir.“
So führt Michael Marhofer sein Unternehmen mit Verve,
aber immer auch mit einer gewissen Demut. Zwar hat ifm
mit den Technologie- und Softwaretöchtern PMD-Techno­
logies und Datalink zwei kleine Kooperationspartner vollständig integriert, doch bis heute scheut das Unternehmen
den Zukauf größerer Firmen. Denn deren Integration, so
ist Marhofer überzeugt, würde die bestehende Organisation
zu stark unter Spannung setzen: „Ich glaube, wenn ich das
Geld lieber in die eigene Entwicklung, in das eigene Geschäft
packe, dann brauche ich vielleicht etwas länger, um groß
zu werden, aber ich bin wesentlich sicherer auf dem Weg dorthin. Und am Ende bin ich auch wirklich vernetzt mit meinen
Mitarbeitern und Kunden.“
Es spricht eine gewisse Vorsicht aus Michael Marhofer angesichts der Verknüpfung der einzelnen ifm-Teile zu einem
starken Organismus. Trotzdem hat der Unternehmer tradierte „Denkbarrieren“ durchbrochen – seit 2010 eröffnete
ifm in Polen, Singapur und den USA erstmals ausländische
Produktions- und Entwicklungsstandorte. Für Marhofer ein
großer Schritt: „Denn auch wir haben immer geglaubt, die
Deutschen könnten alles besser. Und in unseren Köpfen hatte
sich der irrige Gedanke eingebrannt, dass ein neuer Standort im Ausland immer Arbeitsplatzabbau im Inland bedeuten
muss. Was mit unserer Firmenphilosophie unvereinbar gewesen wäre. Doch diese Annahme war einfach falsch. Niemand hat seinen Arbeitsplatz verloren.“ Weil Marhofer diese
Schritte in einer starken Wachstumsphase ging und vor allem, weil er sein Versprechen wirklich halten wollte.
Führung durch Vertrauen. Gerade in Zeiten des Wandels
ist das für Michael Marhofer essentiell. Innere Bindung
schaffen? „Ich glaube, Strukturen und Prozesse sollten
nicht überbewertet werden“, sagt er. „Vielmehr müssen Sie
die Menschen persönlich begeistern für das, was geschieht.
Sie müssen sie einbinden.“ Und so sieht Marhofer seine
Aufgabe auch darin, ganz bewusst Gelegenheiten für Kommunikation zu schaffen. Etwa in Essen, wo ifm im Jahr
2009 vier in der Stadt verstreute Standorte nicht in irgendeinem kalten Zweckbau auf der grünen Wiese, sondern
im denkmalgeschützten Glückaufhaus zusammenzog, einem
lichten Backsteinbau aus den 20er-Jahren, im Herzen der
Stadt. Dort, wo schräg gegenüber das Museum Folkwang
inspirierende Wellen schlägt mit seinen exklusiven Sammlungen der Malerei und Skulptur, präsentiert in minimalistisch-klaren Quadern des britischen Stararchitekten David
Chipperfield. Wo der nahe Stadtgarten Ruhe spendet und
die Essener Philharmonie einen Schnittpunkt urbaner Kultur bildet.
Darüber hinaus ist Marhofer rund 130 Tage im Jahr unterwegs, reist quer über den Globus von Standort zu Standort.
Alle zwei Jahre will er mit allen Mitarbeitern mindestens
einmal gesprochen haben. Dafür organisiert er offene Runden in allen Abteilungen, lässt sich bis zu drei Stunden belagern von seinen Mitarbeitern: „Und jeder kann sagen,
was er will. Weil jeder weiß, dass er mich auf alles ansprechen kann “
So zeigt der Unternehmens-Chef Michael Marhofer immer
wieder, was andernorts oft schmerzlich vermisst wird:
Präsenz, die sich nicht in bloßer Kontrolle erschöpft, und
die gerade deshalb erhebliche Bindungswirkung erzielt:
„Schließlich habe ich mich nie als Patriarch gefühlt, sondern immer nur als erster Vertriebsmitarbeiter, der die
Leute so weit motivieren will, dass das Unternehmen auch
ohne ihn funktioniert. Denn wenn Sie ein Unternehmen
mit 5 000 Mitarbeitern haben, werden Sie doch nicht alles
besser können als all diese Menschen. Was wäre das für
ein Irrglaube?“
Warum ausgerechnet er ihm nicht erliegt? Wohl auch, weil
sich der Unternehmer sogar im Privatleben eher im Hintergrund hält: „Ich will auch mal runterkommen als Führungskraft. Es hört sich vielleicht befremdlich an, aber wenn man
die Spülmaschine einräumen oder mit dem Hund rausgehen
muss, wenn man morgens zum Brötchenholen geschickt
wird – dann sind Sie auf einmal nicht mehr der große Meister. Bei mir ist das so, und ganz ehrlich: Ich bin sehr glücklich darüber.“
02/2014 Entrepreneur
„Mit Wirtschaft und Kunst
treffen zwei völlig unterschiedliche Lebenswelten aufeinander. Eine solche Begegnung
kann eigentlich nur fruchtbar
sein – für beide Seiten.“
Lance Uggla
„Es fällt auf, dass Unternehmen im Bereich des Sponsorings
heute wesentlich fokussierter
und – wenn man so will –
professioneller vorgehen als
noch vor zehn Jahren.“
Fotos Michael Hudler
Sir Nicholas Serota
Entrepreneure  Perspektivwechsel 15
„Künstler
ermutigen
uns, die
Welt mit
anderen
Augen
zu sehen.“
Die Kooperation mit namhaften Kulturinstitutionen zählt
für viele Unternehmen mittlerweile unverzichtbar zur
Geschäftsstrategie. Von einer Liaison mit der Kunst erhoffen
sie sich nicht nur einen positiven Imageeffekt, sondern
auch wichtige kreative Impulse. Der bewusste, durch die
Beschäftigung mit Künstler und Werk initiierte Perspektivwechsel soll helfen, eingefahrene Denkmuster zu hinterfragen und neue Ideen zu befördern. Tate-Direktor Sir
Nicholas Serota und Lance Uggla, CEO des englischen Finanzinformations-Dienstleisters Markit, loten gemeinsam mit
EY-Managing-Partner Martin Cook neue Wege in der Zusammenarbeit von Museen und Unternehmen aus. Und
sie gelangen zu der Erkenntnis, dass eine nachhaltige
Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen Museen und
Sponsoren eines intensiven, mitunter anstrengenden Dialogs bedarf – von dem beide Seiten profitieren.
02/2014 Entrepreneur
16 Entrepreneure  Perspektivwechsel
L
ance Uggla: Während wir
hier beisammensitzen
und über Kunstförderung
durch Unternehmen diskutieren, strömen Tausende von Menschen in die
Tate-Museen. Sie schauen
sich die Matisse-Ausstellung in der Tate Modern an oder erleben
gleich hier nebenan in der Tate Britain, wie
Ruinen über Jahrhunderte hinweg das Wirken von Künstlern inspiriert haben. Was
meinen Sie – ob der eine oder andere Besucher, dessen Eintrittskarte beispielsweise
durch unsere Initiative „Art for All“ gesponsert wurde, sich die Frage stellt: Warum
machen diese Markit-Leute das eigentlich?
Welchen Nutzen haben sie davon, dass sie
mein Ticket bezahlen?
Sir Nicholas Serota
Der 68-jährige britische Kunsthistoriker ist Direktor
der weltberühmten Tate Gallery, eines Netzwerks
von vier Kunstgalerien im Vereinigten Königreich,
bestehend aus Tate Britain, Tate Liverpool, Tate
St. Ives und Tate Modern. Nach einem Studium der
Kunstgeschichte arbeitete Serota zunächst als
Abteilungsleiter beim Arts Council of Great Britain,
bevor er 1973 die Leitung des Museum of Modern
Art in Oxford übernahm. Von 1976 an war er zwölf
Jahre lang Direktor der Whitechapel Art Gallery
in London. Nicht zuletzt aufgrund seiner dortigen
großen Erfolge wurde er 1988 zum Direktor der
Tate Gallery ernannt. Unter seiner Ägide wurde das
frühere Elektrizitätswerk Bankside Power Station
zur Tate Modern umgebaut, heute ein Mekka zeitgenössischer Kunst. 1989 wurde Serota zum
Ritter geschlagen.
Entrepreneur 02/2014
Sir Nicholas Serota: Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass die Besucher allzu viel Zeit
auf solche Gedanken verwenden. Das ist
ja auch nicht der Sinn von Kultursponsoring!
Aber es bleibt natürlich trotzdem eine interessante Frage, warum eine Firma wie EY oder
Markit sich ausgerechnet in der Kunstförderung engagiert. Schließlich gibt es genug
andere CSR-Engagements, mit denen man
in der Öffentlichkeit glänzen kann.
Lance Uggla: Kunst ist etwas Stimulierendes,
etwas Verbindendes; sie schafft Netzwerke
zwischen Menschen, mit denen die Unternehmenswelt sonst nicht täglich in Berührung
kommt. Wir haben im vergangenen Jahr gemeinsam „Art for All“ ins Leben gerufen –
eine Initiative, die insbesondere junge Menschen und Familien, die sich normalerweise
keinen Museumsbesuch leisten können, an
die Ausstellungen in den Tate-Museen heranführen will. Schon heute, wenige Monate
nach Start der Initiative, kann ich sagen,
dass die Entscheidung, diesen Weg zu beschreiten, absolut richtig war. Für mich ist
das eine beeindruckende Erfahrung.
Allerdings ist die Kunstförderung für ein Unternehmen wie Markit auch eine erhebliche
Herausforderung, denn sobald bekannt ist,
dass man sich engagieren möchte, wachsen
die Begehrlichkeiten. Das ist sicher ein Spiegelbild der zunehmenden Erwartung der
Öffentlichkeit: dass Unternehmen gesellschaftliche Verantwortung übernehmen.
Wenn wir allen Bitten um finanzielle Hilfe nachkämen, würden wir uns verzetteln und letztlich nicht viel bewirken. Also haben wir uns
entschieden, unser Sponsoring systematisch
anzulegen, und es in unsere CSR-Strategie
eingebettet. Da findet sich dann „Art for All“
neben Wohltätigkeitsprojekten für Kinder
und der Förderung von Theaterprojekten.
Durch ein sorgsames Ausbalancieren all dieser Engagements kann ein Unternehmen
ein echtes Profil entwickeln, eine Form, sich
als Bestandteil des Gemeinwesens auszudrücken. Untätigkeit als Alternative scheidet
aus. Ein Unternehmen, das im heutigen War
for talent herausragende Mitarbeiter auf sich
aufmerksam machen, an sich binden und
motivieren will, muss Initiative entwickeln.
Und dazu gehört eindeutig auch die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung.
Martin Cook: Seien wir doch mal ehrlich: Natürlich gibt es sogenannte Soft factors, die
für ein Engagement von Unternehmen in der
Kunstförderung sprechen. Menschen erweitern dadurch ihr Wissen, ihre Perspektive, sie
werden in Projekte mit einbezogen. Das ist
alles schön und gut, aber wir sollten nicht vergessen, dass Unternehmen sich davon auch
einen geschäftlichen Nutzen versprechen.
Mich würde interessieren, wie Sie das einschätzen, Lance. Zieht Ihr Unternehmen aus
dem Engagement für die Kunst einen Nutzen,
den andere CSR-Aktivitäten nicht bieten?
Uggla: Kunst löst ganz andere kreative,
aber auch emotionale Impulse aus als etwa
eine Spendensammlung. Wenn man lediglich einen Scheck unterschreibt – was wichtig ist und was wir manchmal auch tun –,
stellt man einfach nicht die gleiche emotionale Verbindung her. Mit Wirtschaft und
Kunst treffen zwei völlig unterschiedliche
Lebenswelten aufeinander. Eine solche
Begegnung kann eigentlich nur fruchtbar
sein – für beide Seiten. Die Auseinandersetzung mit Kunst fördert eine Dialogkultur
im Unternehmen; sie erleichtert den Perspektivwechsel und kann helfen, tradierte
Denkweisen aufzubrechen, die Dinge mit
anderen Augen zu sehen. Als Sponsor der
Tate ermuntern wir natürlich auch unsere
Mitarbeiter, die Ausstellungen zu besuchen. Für manche ist das ein kleines Wagnis; bei Markit arbeiten ja durchaus nicht
nur Kunstexperten. Der eine oder andere
steht vielleicht vor einem Gemälde und
denkt sich: Nun gut, das könnte auch mein
sechsjähriger Sohn gemalt haben. Aber
dann nimmt er sich Zeit, lässt das Bild auf
sich wirken, nimmt die Eindrücke mit nach
Hause und am nächsten Tag mit ins Büro.
Die Leute sprechen mich darauf an und
ich merke, dass sie etwas tun, wozu sie sonst
vielleicht eher zu selten angehalten werden: Sie interpretieren, schaffen sich Freiräume im Denken, lösen ihre Gedanken
von ihrem Tagewerk. Es ist auch meine persönliche Erfahrung. Ich liebe Museen. Ich
kann stundenlang dasitzen und eine kunstvolle Ritterrüstung aus dem Mittelalter
bewundern – und mit der gleichen Begeisterung gehe ich durch eine Skulpturenausstellung oder durch eine Retrospektive
eines Vertreters der modernen Malerei.
Entrepreneure  Perspektivwechsel 17
Serota: Künstler ermutigen uns, die Welt mit
anderen Augen zu sehen, aus einem anderen Blickwinkel. Sie ermöglichen uns, dass
wir Dinge in unserer Welt bemerken, die uns
zuvor gar nicht aufgefallen sind. Letztlich
wollen sie uns dabei helfen, unsere eigene
Identität besser zu verstehen. Vor diesem
Hintergrund gibt Kunst jedem Unternehmen
die Möglichkeit, neuartige Beziehungen einzugehen – zwischen dem Unternehmen und
der Welt da draußen, zwischen dem Unternehmen und seinen Mitarbeitern sowie innerhalb der Belegschaft.
Cook: Wir haben einen Arts Club mit mittlerweile über 2 000 Mitgliedern, von denen
sich die meisten in den Ausstellungen bestens
auskennen. Wenn wir also unsere Kunden
durch eine Ausstellung führen, sind stets
Mitarbeiter von EY vor Ort, die den Kunstexperten der Tate bei der Betreuung der
Besucher zur Seite stehen. Für die Mitarbeiter ist das ein echter Gewinn, das ist wirkliches Engagement. Wenn Sie solche Mitarbeiter haben, ändert sich über kurz oder
lang auch die Atmosphäre im Büro, am Arbeitsplatz. Es macht wirklich einen Unterschied.
Serota: Meiner Wahrnehmung nach hat es in
den vergangenen zehn Jahren eine deutliche Veränderung im Sponsoring durch Unternehmen gegeben – weg vom sicheren Pfad,
man könnte auch sagen von den konservativen Kunstformen, hin zum 20. Jahrhundert,
zum Zeitgenössischen, zu einer Kunst, die viele
Menschen gemeinhin wohl für recht anstrengend und unzugänglich halten.
„Wir bedienen uns
einer sehr einfachen
Methode: Wir arbeiten
das Programm aus
und suchen dann
nach Sponsoren.“
Sir Nicholas Serota
Auf der Suche nach neuen
Wegen in der Zusammenarbeit
von Unternehmen und Kunst:
Firmenchef Lance Uggla und TateDirektor Sir Nicholas Serota.
Cook: Es sind ja gerade diese besonderen
Herausforderungen, die uns interessieren.
Erst kürzlich haben wir „The EY Exhibition:
Paul Klee – Making Visible“ gefördert. Es
war die erste große Klee-Ausstellung seit
über zehn Jahren in Großbritannien. Paul
Klee war eine radikale Figur der europäischen Moderne, ein ziemlich sperriger Künstler, dem man sich als Laie nur schwer nähern kann. Es fiel nicht gerade leicht, einige
meiner Kollegen aus dem Topmanagement
davon zu überzeugen, dass wir uns ausgerechnet für diese Ausstellung engagieren
sollten, aber sobald sie sich einmal darauf
eingelassen hatten – und erst recht, nachdem sie sich die Klee-Ausstellung angeschaut
hatten –, sprang der Funke über.
Serota: Klee war in den 1950er- und 1960erJahren sehr populär und galt als Inbegriff
des modernen Künstlers. In der Folgezeit verschwand er irgendwie aus dem öffentlichen
Bewusstsein. Mit unserer Ausstellung wollten wir wieder auf ihn aufmerksam machen.
Als EY sich entschloss, die Klee-Ausstellung
02/2014 Entrepreneur
18 Entrepreneure  Perspektivwechsel
„Kunst ist etwas Stimulierendes, etwas Verbindendes; sie schafft
Netzwerke zwischen
Menschen, mit denen
die Unternehmenswelt
sonst nicht täglich
in Berührung kommt.“
Lance Uggla
zu fördern, stand dahinter keineswegs der
Gedanke an einen sicheren und schnellen Erfolg für das Image des Unternehmens. Dieses
Projekt war wirklich mit einem Risiko verbunden, aber am Ende übertraf der Erfolg alle
unsere Erwartungen. Wir hatten im besten Fall
auf etwa eine Viertelmillion Besucher gehofft,
aber dann kamen über 300 000 Menschen,
und auch die Medienresonanz war enorm.
Uggla: Für uns liegt die Herausforderung in
erster Linie in der Frage der Auswahl. Warum haben wir uns entschieden, die Tate zu
fördern? Und warum entwickelten wir die
Initiative „Art for All“? Als global operierendes Unternehmen wird man gefragt: Warum
denn nicht die Met? Warum nicht etwas
in Singapur, Noida oder Dallas? Schließlich
haben wir große Niederlassungen in diesen
Städten – also könnte man dort etwas sponsern. Die nächste Herausforderung, der man
sich gegenübersieht, lautet: Wie viel gibt man
den Theatern im Vergleich zu Museen, zu
Hospizen oder humanitären Hilfsprojekten
im Ausland? Man muss sich entscheiden.
Einige der nicht so alltäglichen Bereiche, in
denen man sich engagiert, darunter die
Kunst, finden bei vielen Mitarbeitern anfangs
nicht die gleiche, tief empfundene Akzeptanz wie zum Beispiel eine Spende nach einer
Naturkatastrophe. Jedes Mal, wenn man
jemandem etwas gibt, enttäuscht man jemand anderen. Letzten Endes muss man
sicherstellen, dass die Auswahl fair bleibt.
Serota: Es fällt auf, dass Unternehmen im
Bereich des Sponsorings heute wesentlich
fokussierter und – wenn man so will – pro-
Entrepreneur 02/2014
fessioneller vorgehen als noch vor zehn Jahren. EY hat, ich glaube, es war Ende der
90er-Jahre, wirklich neue Maßstäbe gesetzt,
als das Unternehmen sich fragte: „Warum
tun wir das eigentlich? Wir sollten unsere
Aktivitäten bündeln, anstatt nach dem Gießkannenprinzip vorzugehen. Es ist besser,
wenn wir mit einigen wenigen Organisationen
zusammenarbeiten und langfristig stabile
Partnerschaften aufbauen. Aus solchen Kooperationen und nicht aus Einzelaktionen
resultieren Vorteile, die sich quantifizieren
und messen lassen.“ Vorher war es dagegen
eher so, als würde man Saatkörner auf der
Erde verstreuen.
Lance Uggla und Sir Nicholas Serota
im Gespräch mit Martin Cook,
Managing Partner Commercial von EY;
das Unternehmen schmiedete im
vergangenen Jahr eine dreijährige
Partnerschaft mit der Tate.
Entrepreneure  Perspektivwechsel 19
Uggla: Wichtig ist, dass man ein durchdachtes, nachhaltiges CSR-Programm bietet, auf
dessen Grundlage sich stabile Beziehungen
entwickeln können. Es ergibt keinen Sinn, in
einem Jahr etwas zu fördern und im nächsten Jahr die kalte Schulter zu zeigen. Es kann
nicht darum gehen, hier und da ein bloßes
Strohfeuer zu entfachen. Genau das passiert
manchmal, wenn es an der Professionalisierung des Engagements mangelt und wenn
die Initiativen nicht mit den übrigen Kommunikationskanälen im Unternehmen vernetzt sind.
Serota: Lassen Sie uns nicht vergessen, dass
es auch darum geht, Vertrauen aufzubauen –
und eine gemeinsam geteilte Zuversicht, dass
die Tate mit einem überzeugenden, wohldurchdachten Programm tatsächlich auch
in der Lage ist, Menschen für die Kunst zu
begeistern, die bisher vielleicht eher abseits
standen. Wir sagen durchaus selbstbewusst:
„Tate understands business.“ Und ich bin überzeugt, dass auf der anderen Seite, bei den
Unternehmen, nicht nur die Professionalisierung der Sponsoring-Aktivitäten zugenommen hat, sondern auch die Bereitschaft gewachsen ist, sich auf eine wirkliche Partnerschaft mit Kulturinstitutionen einzulassen.
Ich weiß nicht, ob man von einer zunehmenden Konvergenz im Denken zwischen Kultur
und Wirtschaft sprechen sollte; dafür ist es
vielleicht noch zu früh. Aber es gibt immerhin Ansätze zu einer gemeinsamen Sprache.
Cook: Ich glaube, inzwischen herrscht ein
gewisses Grundvertrauen – und dadurch,
dass wir gemeinsam etwas gelernt haben,
ist eine Beziehung entstanden, von der
heute beide Seiten profitieren. Aber wie
lässt sich eigentlich strategisches Sponsoring mit der Unabhängigkeit vereinbaren,
die für die Glaubwürdigkeit einer Institution wie der Tate unverzichtbar ist? Für uns
ist das relativ klar: Wir haben eine gewisse
Entscheidungsfreiheit, welche Ausstellungen wir fördern, aber wir sind auf keinen
Fall der Schwanz, der mit dem Hund namens Tate wedelt.
Serota: Wir bedienen uns einer sehr einfachen Methode: Wir arbeiten das Programm
aus und suchen dann nach Sponsoren. Es
wäre doch sehr naiv zu sagen: „Wir möchten
gerne von einem russischen Unternehmen
gefördert werden, also lasst uns einen russischen Künstler ausstellen.“ Manche Sponsoren sind nur an einer bestimmten Kunstrichtung interessiert, während andere ein
spezielles Publikumssegment erreichen wollen.
Wir beginnen mit dem, was wir über unseren
Sponsor, sein Profil und seine Bedürfnisse
wissen. Und dann schnüren wir gemeinsam
mit dem Sponsor große und kleine Pakete.
Uggla: Als sich das Team von der Tate mit
unseren Leuten zusammensetzte, sagten
wir: „Wie können wir Menschen erreichen,
denen es normalerweise nicht möglich ist,
in die Tate zu kommen, und wie schaffen
wir es, dass sie auch wirklich Zugang zu den
wichtigsten Events haben, die hier stattfinden?“ So begann das Brainstorming. Daraus entwickelte sich dann „Art for All“ –
ein Joint Venture zwischen Unternehmen.
Wir wollten zudem sicherstellen, das Programm auf alle Museen der Tate auszuweiten – also nicht nur Tate Modern, sondern
auch Tate Britain, Tate Liverpool und Tate
St. Ives. Genau das haben wir getan. Wir werden uns genau ansehen, wie groß die Resonanz auf „Art for All“ in den jeweiligen Museen war, und können dann das Programm
möglicherweise zielgenauer zuschneiden.
Wir werden das gemeinsam mit dem Team
der Tate auswerten und diskutieren.
Serota: Lance und Martin, Sie haben beide
betont, wie wichtig es ist, neue Publikumsschichten zu erschließen. Ich möchte
hinzufügen: Es geht darum, ein neues
Publikum auf innovative Art zu erreichen.
Mit ihrem interaktiven Konzept ist Tate
Modern ja schon heute das erfolgreichste
Museum der Welt; statt der einst erhofften zwei Millionen empfangen wir mittlerweile mehr als fünf Millionen Besucher
jährlich. In den riesigen Tanks des ehemaligen Elektrizitätswerks vermitteln wir ein
völlig neues Museumserlebnis; mit Performances, Workshops und Installationen. In
Zukunft wollen wir den Austausch von Ideen zwischen Künstlern, Kuratoren und dem
Publikum noch starker fördern, vor allem
in dem von Herzog & de Meuron gestalteten
Pyramidenanbau. Er wird Tate Modern auf
elf Stockwerken 21 000 zusätzliche Quadratmeter bescheren – eine Erweiterung der
Ausstellungsfläche um 60 Prozent.
Derzeit bieten wir beispielsweise eine von
BMW geförderte Performance – nicht live
im Museum zu beobachten, sondern im Internet. BMW war daran interessiert, durch ein
neues Medium – das auch wir gerade für uns
zu erschließen begannen – ein weltweites
Publikum zu erreichen. Das Team der Tate
sucht ständig nach neuen Wegen, und es
ist faszinierend, mit einigen der klügsten Köpfe in einigen der besten Unternehmen des
Landes, wenn nicht sogar der Welt, zusammenzuarbeiten. Wir versuchen, in vielen
Bereichen Neuland zu betreten. Am besten
wird uns das gelingen, wenn wir Unternehmen finden, die mit uns gemeinsam auf diese Reise gehen wollen.
Lance Uggla
Der Mitbegründer und CEO des in London ansässigen Finanzinformations-Dienstleisters Markit
gehört seit dem vergangenen Jahr zu den Sponsoren der Tate Gallery. Über die Initiative „Art for
All“, die Freitickets für Ausstellungen in allen vier
Tate-Galerien sponsert, will Markit vor allem
junge Menschen und Familien an Kunst heranführen – ausdrücklich auch aus eher hochkulturfernen Milieus. Markit entwickelte sich unter seiner
Führung binnen zehn Jahren vom Start-up zu
einem international aufgestellten Unternehmen
mit über 3 000 Beschäftigten in zehn Ländern.
2012 wurde Lance Uggla als UK Entrepreneur Of
The Year ausgezeichnet.
02/2014 Entrepreneur
Entrepreneure  Erfahrung 21
„Vertrauen
entsteht nicht
zwischen
Firmen, sondern zwischen
Menschen.“
Für Richard Cullen, Chef
der Jelly Bean Factory
aus Dublin, steht beim Networking der Nachhaltigkeitsgedanke im Vordergrund. Stabile Beziehungen
sind ihm wichtiger als der
schnelle Vorteil.
I
ch glaube, für viele Unternehmer
geht es beim Thema Vernetzung
vor allem darum, aus einem Beziehungsgeflecht möglichst große
Vorteile für sich herauszuschlagen, zur Not auch auf Kosten der
anderen. Das ist absolut nicht mein
Verständnis des Nutzens von Netzwerken, und das gilt genauso für
meinen Vater, mit dem ich vor 16 Jahren
Aran Candy aufgebaut habe, den meisten
besser bekannt als Jelly Bean Factory. Für
uns ging es immer darum, eine bestehende
Situation zum Nutzen aller Beteiligten zu
verbessern, gemeinsam Probleme zu lösen,
sei es mit Kunden, mit Lieferanten oder
auch mit Wettbewerbern. Und das funktioniert nur, wenn man Geschäftsbeziehungen
langfristig anlegt. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist ja sehr in Mode gekommen. Hier
trifft er auf jeden Fall zu.
An der Entstehungsgeschichte unseres
Unternehmens kann man das gut verdeutlichen. Als wir die Jelly Bean Factory gründeten, erlebte Irland einen beispiellosen
Wirtschaftsboom. Das ganze Land lag in
einem Fieber. Aber wie das bei einem Fieber
so ist – es war Symptom einer Krankheit.
Neid und Gier grassierten. Den meisten ging
es um das schnelle Geld, sie wollten mit
ein paar cleveren Deals in möglichst kurzer
Zeit möglichst reich werden. Und so sahen
sie auch Netzwerke und Geschäftsbeziehungen ausschließlich als Mittel, dieses Ziel
zu erreichen. Wir bekamen das schmerzlich
zu spüren. Keine Bank war bereit, unsere
altmodische Geschäftsidee zu finanzieren.
Eine Fabrik? Um Himmels willen! Und dann
auch noch Süßwaren. Das war nicht cool.
Immobilien waren cool. Sie versprachen
einen riesigen Wertzuwachs binnen weniger Monate.
Hätten wir nicht auf ein kleines, stabiles
Netzwerk von Beziehungen aus der Vergangenheit zurückgreifen können – ich glaube
nicht, dass es unsere Firma heute geben würde. Mein Vater und ich hatten in einem Süßwarenunternehmen gearbeitet, das 1997
in Konkurs ging – er als Geschäftsführer
und ich im Marketing. Als die Idee zu den
Jelly Beans entstand, hatten wir nicht viel
mehr als eine Handvoll Computer – und
eine Liste mit Kontakten, sozusagen das
Substrat aus der 40-jährigen Erfahrung
meines Vaters in der Branche. Dieses Netzwerk hat uns über die Anfangszeit getragen. Wir haben beispielsweise noch heute
einen Kunden in Kanada, den wir schon zu
Zeiten des Vorgängerunternehmens beliefert haben. Wir legen stets großen Wert
darauf, den Eigentümer oder den Geschäftsführer des Unternehmens persönlich zu
kennen, wenn wir eine Geschäftsbeziehung
zu Kunden oder Lieferanten aufbauen. Eine
vertrauensvolle Zusammenarbeit entsteht
letztlich nicht zwischen Firmen, sondern
zwischen Menschen. Und da ist es wichtig,
dass die Kulturen zusammenpassen. Kenne ich den Chef, kenne ich auch das Unternehmen. Ich muss wissen, wie der Mensch
an der Spitze denkt, was ihm wichtig ist.
Eine Zeitlang war es Mode, die Lieferanten
zu knechten, Preisabschläge herauszuhandeln und vom einen zum anderen zu wechseln, wenn das einen Preisvorteil bot. Das
haben wir nie gemacht, weil es die Beziehung zum Lieferanten irreparabel zerstört.
„Eine gute Beziehung zum Lieferanten ist
genauso wichtig wie eine gute Beziehung
zum Kunden“, lautet einer der Leitsätze meines Vaters. Nur so lassen sich gemeinsam
Herausforderungen bewältigen – beispielsweise wenn unerwartet ein Auftrag ins
Haus kommt, der eigentlich eine Nummer
zu groß ist. Natürlich sprechen wir mit unseren Lieferanten über Preise und Qualität;
da wird auch Klartext geredet, wenn es sein
muss – aber immer auf einer Ebene des gegenseitigen Respekts. Im Fokus steht die
Frage: Was können wir beide tun, um die
Situation zu bewältigen?
Auch als wir in die Produktion einstiegen
und Mitarbeiter suchten, war das alte Netz-
werk wichtig. Die meisten Iren wollten ja
damals mit Fabrikarbeit nichts zu tun haben.
Aber einige der Leute, die in der alten Firma mit uns gearbeitet hatten, hörten von
unseren Plänen – und klopften bei uns an
und fragten, ob sie nicht wieder für uns
arbeiten könnten. Etliche von ihnen sind
heute noch dabei.
Zu meinem Verständnis von Vernetzung
zählen sogar die Wettbewerber, und zwar
nicht nur in der Theorie. Als wir die Firma
schon gegründet, aber noch keine Maschinen für die Produktion hatten, riefen wir
einen unserer früheren Konkurrenten an
und fragten, ob er in der ersten Zeit für
uns produzieren könnte. Das lief völlig problemlos. Das beste Beispiel war aber vor
einigen Jahren ein Auftrag von Walmart.
Das Unternehmen bot uns an, seine Supermärkte in den USA mit Jelly Beans zu beliefern. Allein hätten wir den riesigen Auftrag nicht gestemmt, das gab unsere Fabrik
nicht her. Also gaben wir die Hälfte des
Auftrags an einen amerikanischen Konkurrenten. Er belieferte die Westküste, wir
die Ostküste. Auf allen anderen Märkten
standen wir mit diesem Unternehmen im
Wettbewerb. Es war eine gute und verlässliche Kooperation, alle waren zufrieden.
Ich glaube, dort könnten wir jederzeit wieder anrufen.“
Richard Cullen
Richard Cullen gründete mit seinem Vater Peter
1998 Aran Candy, besser bekannt als The Jelly
Bean Factory. In seiner Fabrik in Dublin produziert
das Unternehmen Geleebohnen, die mit 36 geschmacklich verschiedenen Überzügen ummantelt
sind. Aran Candy beschäftigt derzeit 67 Mitarbeiter, erwirtschaftete 2013 einen Umsatz von
knapp 12 Millionen Euro und exportiert seine
Jelly Beans in 55 Länder.
02/2014 Entrepreneur
22 Entrepreneure  Interview
Einst war Victor Allis beim Knobeln
mit dem Zauberwürfel kaum zu schlagen,
heute hilft der Gründer und CEO von
Quintiq Inc. Unternehmen bei der Optimierung ihrer weltweiten Logistikketten.
Entrepreneur 02/2014
„Die Lösung
von heute
steht schon
morgen
auf dem
Prüfstand.“
Mit seiner Softwareplattform
optimiert der Logistikdienstleister Quintiq weltweite
Lieferantennetzwerke. Im
Gespräch erklärt Gründer und
CEO Victor Allis, worin die
Parallelen zwischen der Lösung
komplexer Denkspiele und
der Planung von Logistikketten
bestehen und warum die
Suche nach der einen, der besten
Lösung nie aufhören wird.
Viele Industrien, eine Softwarelösung:
Quintiq optimiert die weltweiten Lieferantenbezie­hungen von Pharmaunternehmen genauso wie jene von Stahlkonzernen,
Logistikfirmen oder großen Airlines.
V
on Victor Allis heißt es, dass er
beim Langstreckenlauf gern die
Grenzen seiner Leistungsfähigkeit austestet. „Gesunde Missachtung des Unmöglichen“, so
bringt der Gründer und Chef des
Logistikoptimierers Quintiq seine Neigung zu extremer Zähigkeit
auf den Punkt. Mit der gleichen
Einstellung nähert sich der gebürtige Holländer auch seinen beruflichen Herausforderungen. Er ist derjenige, den man anruft, wenn man vor einem
Planungsproblem steht, an dem sich andere Logistikdienstleister bereits vergeblich die Zähne ausgebissen haben. Die
Planung und Optimierung weltweiter Netzwerke von Lieferbeziehungen mit Hilfe einer einzigen Softwareplattform,
die auf jedes nur denkbare Geschäftsmodell zugeschnitten
werden kann, sind die erklärte Spezialität des in Philadelphia
beheimateten Unternehmens.
EY: Vor gut 20 Jahren, während Ihrer Promotion in Künstlicher Intelligenz, entwickelten Sie Lösungen für komplexe
Denkspiele wie Schach, Connect Four und Qubic. Sie vergleichen die Optimierung von Logistiknetzwerken mit solchen Herausforderungen. Worin besteht die Analogie?
Victor Allis: Es geht in beiden Fällen darum, in einem unendlich großen Heuhaufen die sprichwörtliche Nadel zu
finden – die Lösung, die allen anderen überlegen ist. In dem
einen Fall wollen Sie beispielsweise wissen, mit welcher
Schachfigur Sie wann auf welches Feld vorrücken müssen,
um einen strategischen Vorteil zu erlangen, während es
bei der Routenplanung für eine Lastwagenflotte darum geht,
welcher Lastwagen zu welchem Zeitpunkt in welcher Reihenfolge welche Ladung aufnehmen soll. Die Algorithmen,
die Sie für die Lösung derart komplexer Aufgaben benötigen, sind durchaus ähnlich.
EY: Wo setzen Sie in der Regel an, wenn Sie sich das Logistiknetzwerk eines Kunden anschauen – bei den Kosten oder
bei der Verbesserung der Servicequalität?
Allis: Wir nehmen fast immer beides in den Fokus. Walmart
beispielsweise bewegt in den USA täglich eine Flotte von
7 000 Lastwagen. Solange es nur darum geht, dass die Trucks
möglichst wenige Meilen leer unterwegs sind, damit sie weniger Sprit verbrauchen, ist die Sache relativ einfach. Walmart will aber auch, dass die Transporte pünktlich am Ziel
sind – damit die Kunden in den Supermärkten nicht vor leeren
Regalen stehen. Da ist die Frage, welchen Truck ich für welche Tour nehme, schon schwieriger zu beantworten. Bei den
meisten unserer Kunden landen wir allerdings nicht bei zwei
Parametern eines Logistikproblems, sondern eher bei sieben,
acht oder mehr. Sie haben nicht nur ein einziges Puzzlespiel
vor sich liegen, das Sie vervollständigen müssen, sondern
eine Vielzahl. Und sie sind alle miteinander verbunden.
Die Quintiq-Plattform, die Standardisierung und individuellen Zuschnitt auf die Kundenbedürfnisse vereint, ist
heute bei mehr als 500 Unternehmen in 80 Ländern im
Einsatz. Täglich begeben sich bis zu 12 000 Nutzer weltweit via Quintiq-Software an die Lösung ihrer komplexen
Planungs- und Steuerungspuzzles. Zu den größten Anwendern zählen Konzerne wie DHL Express, ArcelorMittal,
Entrepreneure  Interview 25
Danone und DB Schenker. Als Victor Allis das Unternehmen
1997 mit vier Programmierern gründete, wagte er von solchen Dimensionen nicht zu träumen. Jeder der Gründer hatte
10 000 Dollar auf den Tisch gelegt, damit es losgehen konnte. „Erzählen Sie mir von Ihren anderen Kunden“, erinnert er
sich an die Aufforderung eines Firmenchefs in der Akquisephase. „Nun ja, Sie sind der erste“, antwortete Allis. Das war
vielleicht keine besonders gute Antwort, aber trotzdem gelang es Allis und seinem Team, innerhalb von drei Monaten
nach dem Start des Unternehmens den ersten großen Kunden
an Land zu ziehen – der Auftakt zu einer beeindruckenden
Wachstumsgeschichte.
EY: Die Suche nach der einen, der besten Lösung hört nie auf –
auch dann nicht, wenn man glaubt, sie gefunden zu haben.
Warum erfordern logistische Netzwerkbeziehungen fortwährende Aufmerksamkeit und Pflege?
Allis: Weil sie aus sich heraus nicht zur Stabilität neigen. In
Logistiknetzwerken wirken immer zwei Kräfte gegeneinander.
Die Freiheit beispielsweise, sich einen neuen Lieferanten zu
suchen, wenn der bisherige zu teuer oder unzuverlässig ist, führt
tendenziell dazu, dass die Netzwerke nicht völlig stabil sind.
Es sind ja nicht nur diese beiden Unternehmen betroffen, sondern meist auch weitere, die sich an einer anderen Position des
Logistiknetzwerks befinden. Auf der anderen Seite investieren
viele Unternehmen heute eine Menge Zeit in den Dialog mit
ihren Lieferanten, die sie langfristig an sich binden wollen. Sie
versuchen, deren Engpässe zu verstehen, tauschen Daten und
Erfahrungen aus. Das führt in der Tendenz wiederum zu mehr
Stabilität und Robustheit. Im Ergebnis konvergieren Logistiknetzwerke weder zu völliger Stabilität noch zu absoluter Instabilität. Meist befinden sie sich in einer fragilen Balance.
EY: Sie glauben, dass sich die Komplexität der Logistikaufgaben
in Zukunft noch erhöhen wird. Warum?
Allis: Es gibt eine natürliche Tendenz, dass die optimale Lösung
von heute schon morgen auf dem Prüfstand steht, vor allem
wenn man die Konkurrenz im Nacken hat. Betrachten wir es mal
aus der Sicht eines Verbrauchers. Vor 40 Jahren war er froh,
wenn eine Bestellung aus dem Katalog nach zwei Wochen bei
ihm zu Hause ankam. Heute liefern Internet-Kaufhäuser am
nächsten Tag. Und schon geht es in die nächste Runde. In den
USA ist jetzt die Diskussion über die Lieferung noch am Tag
der Bestellung voll entbrannt. Je schneller und flexibler aber die
Lieferung wird, desto kleiner werden die Liefermengen. Die
Puzzleteile werden immer winziger, das Puzzle als Ganzes zusehends komplexer. Und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht
in Sicht.
„Es geht darum, in einem
unendlich großen Heuhaufen
die sprichwörtliche Nadel zu
finden – die Lösung, die allen
anderen überlegen ist.“
Unter
Hochspannung
Dr.-Ing. Frank Jenner
[email protected]
Managing Partner Advisory Services –
Strategy & Operations, EY.
Ein einfaches Beispiel mag verdeutlichen, mit welch enormen
Herausforderungen sich das Supply Chain Management heute
konfrontiert sieht. Wer vor 15 Jahren ein Notebook bestellte, hatte bei jedem Modell die Auswahl zwischen vielleicht drei
oder vier Varianten. Heute lässt sich das Wunsch-Notebook
im Internet individuell konfigurieren. Mit Touchscreen und
integrierter Diebstahlversicherung? Mit besonders vielen
Schnittstellen? Einem Flash-Laufwerk? Die Zahl der möglichen
Varianten geht in die Hunderte. Man benötigt nicht viel Phantasie sich vorzustellen, unter welche Hochspannung derart
individualisierte Kundenbedürfnisse die Supply Chain der
Unternehmen setzen.
Hinzu kommen neue Unsicherheiten. Heute mag es ein Tsunami
sein, morgen eine Katastrophe wie die in Fukushima, übermorgen die Finanzkrise. Die Reaktorkatastrophe in Japan stellte etliche Hightech-Hersteller vor das Problem, dass ihre
einzigen Chiplieferanten für Monate ausfielen. Allein dieses
Beispiel zeigt, wie viel Agilität und Flexibilität in den Supply
Chains heute verlangt wird. Außerdem haben die unter Kostendruck stehenden Unternehmen weit mehr als in der Vergangenheit ihr Working capital im Auge – und versuchen beispielsweise, teure Lager- und Pufferbestände zu vermeiden. Früher
orderten sie einmal im Monat fünf Paletten eines Zulieferteils,
heute täglich einen Karton.
All dies führt dazu, dass die Supply-Chain-Strategien immer
kurzlebiger werden. Vor wenigen Jahren hatte eine solche
Strategie fünf Jahre Bestand. Mittlerweile kann man schon drei
Jahre nicht mehr garantieren. Es existiert auch nicht mehr
eine Strategie für das gesamte Unternehmen, sondern man
versucht, für interne Cluster Zuliefer- und Wertschöpfungsketten zu konfigurieren, die anschließend in die Gesamtstrategie
eingebettet werden. Unter dem Namen „Integrated Supply
Chain Excellence“ hat EY ein Modell für eine solche integrative
Strategie entwickelt. Auf dem Prüfstand steht das gesamte
Geflecht von Lieferbeziehungen. Früher stand Zulieferer A gegen
Zulieferer B, heute konkurrieren ganze Supply-Netzwerkstrukturen gegeneinander. Und ein Ende des Zuwachses an
Komplexität ist nicht absehbar.
Victor Allis
02/2014 Entrepreneur
Nerio Alessandri, TechnogymGründer, Wellness-Missionar
und Netzwerker. Mit 22 bastelte
er in einer Garage sein erstes
Fitnessgerät zusammen.
Entrepreneure  Report 27
Das Technogym Village in Cesena ist eine
Mischung aus Fabrik, Entwicklungszentrum,
Büros und Wellness-Erlebniswelt.
„Es geht
um ein
besseres,
gesünderes
Leben.“
Nerio Alessandri, Gründer
und Chef des italienischen Sportgeräteherstellers Technogym, hält
weltweit 35 Millionen Men­
schen auf Trab. Jetzt
will er die globale WellnessGemeinde per Cloud,
Apps und soziale Medien
digital vernetzen. Ziel
ist eine Wohlfühl-Lebensweise im Einklang von
Körper, Geist und Seele –
überall und jederzeit.
W
enn Nerio Alessandri sein Geschäftsmodell erklärt,
treibt es ihn gedanklich mitunter weit zurück in
die Geschichte seines Landes. „Wir liefern die technische Ausrüstung für eine gesunde Lebensführung“, erklärt der Gründer und Vorstandschef des
italienischen Fitnessgeräteherstellers Technogym, „und ich denke, das ist ein Vermächtnis der
alten Römer. Dort waren eine gesunde Diät und
regelmäßige Besuche der Bäder und Gymnastikräume auch schon Teil des täglichen Lebens.“
Anders als bei seinen Urahnen aus den Zeiten der Antike, bei denen der Müßiggang
in hohem Ansehen stand, ist der Arbeitstag des 53-Jährigen genau getaktet, Stunde
für Stunde, Minute für Minute. Telefontermine mit Nerio Alessandri sind strikt einzuhalten. Immer „on the go“, wie der Selfmade-Unternehmer über sich sagt – das passt
zu jemandem, der Regie bei einem der größten Fitnessgerätehersteller der Welt führt.
Und der dazu auch noch von einer zum Produktportfolio bestens passenden Mission
beseelt ist: „Es geht um ein besseres, gesünderes Leben nicht nur für Privilegierte,
sondern für die Massen“, lautet Alessandris Credo, „um die Integration eines gesunden Lebensstils in den Alltag der Menschen.“ Da spricht jemand, der sich aufgemacht
hat, die Welt zur Wellness zu bekehren und sie in einen „Zustand körperlichen und
geistigen Wohlbefindens“ zu versetzen. Keine leichte Aufgabe. Das dazu benötigte
Werkzeug steuert der Technogym-Chef aus seiner Fabrik im italienischen Cesena bei.
Die Pläne des Maurersohns aus dem Hinterland von Rimini waren einmal viel bescheidener. Als er am 20. Oktober 1983 nach monatelanger Tüftelei in der Garage seines
Vaters, wo er sonst Mofas frisierte, eine Kraftsportapparatur für die örtliche Gemeinde der Gewichtheber und Bodybuilder zusammengeschweißt hatte, dachte er sicher
noch nicht an „Wellness Economy“. Binnen drei Jahrzehnten wurde aus dem 1-MannStart-up ein weltweit operierendes Unternehmen. Die Sportgeräte aus Cesena stehen
heute in weltweit 100 000 Haushalten und 65 000 Sportstudios, Reha-Kliniken, Schulen,
Arztpraxen, Hotels und Unternehmen. Alessandri schätzt, dass rund um den Globus
täglich 35 Millionen Menschen seine Produkte und Dienstleistungen nutzen.
02/2014 Entrepreneur
28 Entrepreneure  Report
„Wellness richtet sich
an jeden, der bereit ist, die
Grundsätze gesunder
Lebensführung in sein
Leben zu integrieren.“
Nerio Alessandri
Allerdings ist Technogym mittlerweile weit
mehr als nur ein führender Hersteller von
Fitness-Equipment. Alessandri verfolgt mit
seinem Unternehmen geradezu eine Mission:
Er will die Wellness-Jünger dieser Welt aus
der Vereinzelung holen, sie miteinander in
Beziehung und in Bewegung bringen. Die Digitalisierung versetzt dieser Vernetzung der
globalen Wellness-Gemeinde gerade einen
ungeheuren Schub – und sie ist gleichzeitig
der stärkste Wachstumsmotor für Technogym.
„Durch die Digitalisierung können wir den
Wellness-Lifestyle viel schneller verbreiten
als in der Vergangenheit“, sagt Alessandri,
„sie ist zwar nicht das Ziel unserer Aktivitäten,
aber der wichtigste Weg.“
Vorläufiger Höhepunkt der Digitalisierungsoffensive ist die Wellness Cloud. Sie ermöglicht
eine gesunde Wohlfühl-Lebensweise, wenn
gewünscht unter professioneller Anleitung,
überall und jederzeit. Egal ob im Fitnessstudio,
im Büro, zu Hause, im Urlaub oder während
einer Geschäftsreise. In der digitalen Cloud sind
sämtliche Trainingsdaten der TechnogymNutzer gespeichert, beispielsweise Alter, Gewicht, Trainingsleistungen, Fortschritte und
bevorzugte Übungsprogramme. Sobald man
sich an ein Technogym-Gerät begibt und sich
einloggt, erkennt die Apparatur, wer sich an
ihr zu schaffen macht, und zieht die Daten aus
Im Technogym-Hauptquartier kann
die weltweite Wellness-Gemeinde
die neuesten Gerätschaften des Herstellers dem Praxistest unterziehen.
der Cloud. Der Clou der Cloud besteht nun darin, dass all dies nicht nur im
Fitnessstudio funktioniert, sondern dank eines passgerechten Sortiments an
mobilen Apps auch per Handy, Tablet, PC oder Smart TV. Egal wo man sich
gerade aufhält – der Technogym-Nutzer hat überall Zugriff auf sein maßgeschneidertes persönliches Trainingsprogramm und kann seine Leistungsfortschritte verfolgen. Die „Wellness World“ von Technogym kennt keine Grenzen.
„In unserem Verständnis bedeutet Vernetzung, dass es
gelingt, eine voll personalisierte Wellness-Erfahrung überall
und jederzeit in das Leben zu integrieren“, definiert Nerio
Alessandri, „egal ob im Sportstudio, in der Reha-Klinik, im
Job, daheim oder im Urlaub auf den Seychellen.“
Die Wellness Cloud macht die Wände des Fitnessstudios durchlässig. Der Personal Trainer kann Tipps geben, Aktivitätsdaten abfragen, steuern und ermuntern, den Nutzern interaktive „Challenges“, also Herausforderungen zuweisen –
jederzeit und egal wo diese sich gerade befinden. „Die Digitalisierung eröffnet den Betreibern von Fitnessclubs fantastische neue Möglichkeiten, sich um das Wohl ihrer Kunden zu
kümmern“, sagt Nerio Alessandri – und vergisst natürlich
nicht zu erwähnen, dass auch die Nutzer die Möglichkeit haben,
sich via Cloud, mobile Apps und Facebook oder Twitter untereinander zu vernetzen. Sie können beispielsweise Trainingsprogramme und Leistungsdaten posten und sich so virtuell
zum sportlichen Wettbewerb herausfordern.
Entrepreneur 02/2014
Entrepreneure  Report 29
Noch befindet sich die Wellness Cloud im Anfangsstadium ihrer Entfaltung; sie
vernetzt gegenwärtig etwa eine Million Technogymnasten. Doch das Potenzial scheint unerschöpflich. „Lediglich zehn Prozent der Weltbevölkerung betätigen sich in irgendeiner Weise sportlich“, legt Alessandri den Maßstab an.
„Das ist doch eine ungeheure Herausforderung.“
Der Technogym-Lenker hört es nicht sonderlich gern, wenn jemand sein Unternehmen als „Sportgerätehersteller“ bezeichnet. Natürlich stattet Technogym vor allem Fitnessclubs und Sportstudios mit Geräten aus, aber Alessandri
geht es dabei nicht vorrangig um Schinderei, Höchstleistungen und durchgeschwitzte Sportleibchen. Die von ihm gepredigte Wellness hat zwar viel mit
Sport zu tun, ist aber gleichzeitig mehr und weniger als die reine, auf Fitness
abzielende Leibesübung: mehr Lebensgestaltung, weniger Schinderei. Alessandri wahrt Distanz zum Fitnesskult und präferiert stattdessen das aus den
englischen Wörtern „well-being“, „fitness“ und „happiness“ zusammengeschmolzene ganzheitliche Gesundheitskonzept, das mit einem Wechsel von
Betätigung, Entspannung und bewusster Ernährung Körper, Geist und Seele
in Einklang bringen soll. „Fitness richtet sich an eine Minderheit von körperbewussten, leistungsorientierten Menschen, die bereit sind, sich zu quälen“,
erklärt Alessandri. „Wellness dagegen richtet sich an jeden, der aufgeschlossen
ist, die Grundsätze gesunder Lebensführung in sein Leben zu integrieren.“
Eine Art kultureller Bewusstseinszustand also. Um den zu erlangen, offeriert
Technogym die passenden elektronischen Helfer. Den Wellness Key beispielsweise, kleiner als ein Feuerzeug, der mit einem Plastikbügel am Hosenbund
befestigt wird. Das Gerätchen zählt auch kleinste Erschütterungen, beispielsweise durch Schritte, registriert sie als „Moves“ und dient damit als eine Art
Seismograph der körperlichen Aktivität – auch und insbesondere bei der
Arbeit. In der Technogym-Zentrale veranstalten die Mitarbeiter mitunter Wettbewerbe: Wer schafft bis zum Feierabend die meisten Moves?
In Nerio Alessandris Welt durchwirkt Wellness das Leben mit einem gesunden
Maß an körperlicher Betätigung. Das Prinzip der Vernetzung trägt die Wellness-Philosophie eigentlich schon in sich – „weil sie in so viele unterschiedliche
Sektoren und Communities hineinwirkt und weil sie Beruf und Privatleben,
Orte und Lebenssphären verbindet“.
Der Technogym-Chef ist selbst ein Netzwerker par excellence. Über die von
ihm gegründete Wellness Foundation schmiedet er Koalitionen mit anderen,
weltweiten Aktivitäten. Mit der Clinton Foundation zieht er gegen Fettleibigkeit bei Kindern
zu Felde, das World Economic Forum nutzt er
als Forum zur Promotion von Wellness am Arbeitsplatz. Allerorten preist er die Vorzüge
des gesunden Lebenswandels. „Das ist doch
auch für die Politik ein wichtiges Thema“, findet er. „Schließlich lassen sich durch einen
Wellness-Lifestyle die Gesundheitskosten erheblich senken.“ Nicht zuletzt Unternehmen
könnten von einer gesünderen Lebensweise
profitieren – durch ein Plus an Kreativität, Motivation und Leistungsfähigkeit.
Manche der Netzwerkaktivitäten des umtriebigen Unternehmers sind schlicht eine Verbeugung vor seiner Heimatregion, der Emilia
Romagna, die er kurzerhand zum Wellness
Valley erklärt hat und in Kooperation mit lokalen Behörden, Tourismusanbietern und Unternehmen zur Modellregion für einen gesunden
Lebensstil entwickeln will. Technogym-Mitarbeiter gehen in Schulen und unterrichten Kinder
in Gesundheitslehre, Senioren werden zur
gemeinsamen Gymnastik in die Parks gerufen.
Als Eingangstor zum Wellness Valley dient die
Zentrale des Unternehmens in Cesena, das
Technogym Village, eine 150 000 Quadratmeter große Mischung aus Fabrik, Entwicklungszentrum, Büros und Wellness-Erlebniswelt, wo
die meisten Mitarbeiter nicht auf Bürostühlen sitzen, sondern auf schwarzen Plastikbällen, genannt Wellness Balls. Das Village ist
eine Art Laboratorium. Hier kann sich die Technogym-Community – Personal Trainer, Sportstudiobetreiber, Ärzte, Physiotherapeuten,
Lieferanten und Wellness-Jünger aus aller
Welt – aus erster Hand einen Eindruck von der
gesundheitsfördernden Wirkung körperlicher
Betätigung verschaffen.
Voller Stolz blickt Nerio Alessandri auf sein erfolgreiches unternehmerisches Werk, auf seine
Heimatregion und auf sein Land. „Wir Italiener
haben einen Wettbewerbsvorteil, den uns niemand stehlen kann, nicht mal die Chinesen“,
sagt er, bevor er auflegt: „Unser Lebensstil ist
unser größtes Kapital, sozusagen das Erdöl unter unseren Füßen. Wir merken es nur nicht.“
Technogym
Nerio Alessandri, geboren 1961 in der kleinen Gemeinde Gatteo
unweit von Rimini, gründete mit 22 Jahren Technogym, ein
auf die Herstellung von Sport- und Wellness-Geräten spezialisiertes Unternehmen, das sich seitdem zu einem der weltweit
führenden Anbieter der Branche entwickelte. Technogym beschäftigt heute weltweit etwa 2 200 Mitarbeiter und erwirtschaftet einen Umsatz von jährlich rund 400 Millionen Euro.
Bild links: Nerio Alessandri (Mitte) gemeinsam mit seinem
jüngeren Bruder Pierluigi (links) und Italiens Staatspräsidenten Giorgio Neapolitano bei der Einweihung des Technogym Village in Cesena.
02/2014 Entrepreneur
30 Entrepreneure  Report
Die
Kunst
der
Entschlüsselung
Saskia Biskup und Dirk Biskup:
Die Entrepreneure hatten
schon lange die Idee eines gemeinsamen Unternehmens,
2009 wagten sie den Sprung
in die Selbstständigkeit.
Die Revolution der humangenetischen
Diagnostik treibt eine kleine BiotechSchmiede auf der Schwäbischen Alb
voran. Der Tübinger CeGaT GmbH
war es 2010 als weltweit erstem Unternehmen gelungen, alle für eine Krank­heit relevanten Gene gleichzeitig zu untersuchen. Das Erfolgsgeheimnis: inter­
disziplinäres Know-how. Und ein Ehepaar
an der Spitze, bei dem sich medizinischwissenschaftliche und wirtschaftliche
Kompetenzen ideal ergänzen.
Fotos Robert Fischer
N
icht dagegenlehnen!“, schallt ein
Warnruf durch das Labor. Die Besucher hatten sich versehentlich
einem hochsensiblen Gerät genähert, das CeGaT die zentralen
Daten seiner Genanalysen liefert:
einem Hochdurchsatz-Sequenzie­
rer der neuesten Generation, einer Art Genscanner, der mittels
Lichtsignalen und einer empfindlichen Spezialkamera DNAStränge auf den Nanometer genau nach Erbdefekten abtastet.
„Da standen eben 20 000 Euro auf dem Spiel”, erklärt Firmengründerin Dr. Dr. Saskia Biskup – nun, da die Gefahr gebannt
ist, mit gewohnt ruhiger Stimme. Verschiebt sich die Kamera
des Genscanners, verschiebt sich auch die Gensequenz, aus
der Rückschlüsse auf aktuelle oder zukünftige Erkrankungen
eines Menschen gezogen werden. Das Ergebnis wäre wertlos, eine Woche Vorbereitungszeit vergebens.
Zahlreiche Erkrankungen werden heute auf Veränderungen im
Erbgut eines Menschen zurückgeführt. Die Pionierleistung von
CeGaT bestand 2010 in der Entwicklung sogenannter Diagnostik-Panels, die auf dem Hochdurchsatz-Sequenzierer zum
Einsatz kommen. Dabei werden jeweils Listen von zwei bis hin
zu Hunderten von Genen, die für eine Erkrankung relevant sind,
innerhalb kurzer Zeit untersucht und ausgewertet – mit dem
Ziel, die jeweilige Krankheit besser zu verstehen, klinische
Diagnosen abzusichern, Krankheitsverläufe zu prognostizieren
und möglichst früh therapeutische Interventionen zu ermöglichen. Ein hochkomplexer wissenschaftlich-interdisziplinärer
Vorgang, der erklärt, warum das reine Vorhandensein der
Sequenziertechnologie noch keinen besonderen Wert darstellt,
auch wenn diese grundsätzlich in der Lage ist, innerhalb einer Woche das gesamte menschliche Genom zu scannen.
02/2014 Entrepreneur
32 Entrepreneure  Report
„In Deutschland können viele
gute Ideen nicht durchgesetzt
werden, weil diejenigen mit den
guten Ideen nicht auf die treffen,
die diese realisieren können.“
Saskia Biskup
„Ein solches Hochleistungsgerät kann sich im Prinzip jeder
hinstellen, Proben reinschieben auch”, sagt Geschäftsführer
Dr. Dirk Biskup, der zusammen mit seiner Frau Saskia die Geschäfte der Tübinger CeGaT GmbH führt. „Entscheidend aber
ist das Know-how, das 80 bis 90 Prozent unserer Arbeit ausmacht.” Schon der Prozess der Probenvor- und -aufbereitung
sei anspruchsvoll, die eigentliche Kunst bestehe aber in der
Auswertung des umfangreichen Untersuchungsmaterials:
10 000 Dateien mit der gigantischen Größe von bis zu 2,5 Terabyte wirft der Sequenzierer in einer einzigen Nacht aus. Diese
Ergebnisse gezielter und schneller lesen zu können als andere, darin liegt die besondere Qualität des CeGaT-Teams. Die
Tübinger waren weltweit die Ersten, die sämtliche für eine
Krankheit in Betracht kommenden Gene gleichzeitig sequenzieren und interpretieren konnten. Bei der klassischen DNADiagnostik ist dies jeweils nur bei einem einzigen Gen möglich; dabei den für eine Krankheit entscheidenden Gendefekt
schnell zu finden, gleicht einem Lottogewinn.
Wie stark die 2009 gegründete Firma auch international dasteht, bewies sie 2012 bei einem „Clarity-Wettbewerb” des
Boston Children’s Hospital, bei dem es um die bis dato nicht
diagnostizierten Erkrankungen zweier Kinder mit neuromuskulären und eines Kindes mit kardiovaskulären Symptomen
ging: Weltweit erhielten 30 Expertenteams Datensätze, die
so umfangreich waren, dass bereits deren Herunterladen vier
Wochen in Anspruch nahm. Drei Monate später stand das
Ergebnis fest: Als einziges Unternehmen hatte CeGaT jede
krankheitsverursachende genetische Mutation bei den betroffenen Familien gefunden und konnte so in allen drei Fällen
die Krankheitsursachen zweifelsfrei klären.
Ein weiteres Erfolgsbeispiel, das zudem deutlich macht, wie gut
vernetzt das junge Biotech-Unternehmen in der Forschungslandschaft ist: Einem Verbund aus zwei Forschungsgruppen
gelang 2013 der Nachweis, dass die sogenannte RolandoEpilepsie, eine der häufigsten Epilepsieformen im Kindesalter,
durch eine Mutation im GRIN2A-Gen ausgelöst wird. Für die
Studie hatten die Wissenschaftler von CeGaT das Genmaterial
von insgesamt 400 Patienten mit der Erkrankung untersucht
und ihre Erkenntnisse zu dem Gendefekt mit denen der 20 führenden Spezialisten auf diesem Gebiet, unter anderem in Kiel
und Tübingen, vernetzt. Die Ergebnisse der Studie, die in der
Fachzeitschrift „Nature Genetics“ veröffentlicht wurden, zogen
auch international große Aufmerksamkeit auf sich.
Für ihre unternehmerischen Leistungen wurden die CeGaTGründer und ihr Team vielfach ausgezeichnet – zuletzt mit dem
„EU-Innovationspreis” 2014 für Frauen, den Kommissionspräsident José Manuel Barroso Saskia Biskup überreichte. Die
Wissenschaftlerin, die sowohl in Medizin als auch in Biologie
Entrepreneur 02/2014
promovierte, bildet im Unternehmen die Schnittstelle zwischen
Diagnostik, Forschung und Therapie. Dabei hilft ihr ihre reiche
berufliche Erfahrung: Als Ärztin hatte sie Frauen mit Brustkrebs beraten, ihren Leidensdruck unmittelbar erlebt, wenn
die Patientinnen monatelang auf eine Diagnose warten mussten. Als Forscherin leitete sie unter anderem an der Uniklinik
Tübingen eine eigene Arbeitsgruppe zur Parkinson-Krankheit
und ermittelte im Jahr 2004 die Veränderungen in dem bis
dahin unbekannten Gen LRRK2 als weltweit häufigste Ursache
der neurodegenerativen Erkrankung.
Und dann waren plötzlich Geräte wie die Hochdurchsatz-Sequenzierer auf dem Markt, die diagnostische Wege deutlich abkürzen
konnten. Daraus entstand der interdisziplinäre Ansatz von ­CeGaT:
Wissenschaftler aus völlig unterschiedlichen Bereichen – Humangenetik, Biologie, Biochemie und Bioinformatik – führen ihr jeweils spezifisches Wissen zusammen, ermöglichen die Anwendung ihrer Erkenntnisse für die Diagnostik und stellen sie Ärzten,
Kliniken und Forschungseinrichtungen zur Verfügung.
Den interdisziplinären Ansatz des Unternehmens leben Saskia
und Dirk Biskup auf Geschäftsführungsebene vor: Ihr akademischer Hintergrund könnte kaum unterschiedlicher sein. Die
Vorzeigewissenschaftlerin und Ärztin auf der einen Seite, auf
der anderen ihr Mann, promovierter Diplom-Kaufmann, der
zuvor in leitenden Positionen bei Bertelsmann und AEG tätig
war. Die Idee einer gemeinsamen Firma hatten sie schon lange,
im Winterurlaub Anfang 2009 nahm sie Gestalt an, im Februar
stand der Businessplan, im März die Zusage der Banken, am
1. Juli 2009 wurde der erste Mitarbeiter eingestellt. „Das ist
an Schnelligkeit nicht zu übertreffen“, sagt Saskia Biskup, „vor
CeGaT GmbH
Dr. Dr. Saskia Biskup, geboren 1971, studierte in Würzburg Medizin
und promovierte dort zuerst in Medizin und anschließend an der
Biologischen Fakultät am Lehrstuhl für Genetik. Ihre Forschungsprojekte befassen sich mit den Grundlagen der Parkinson-Genetik. Sie
gehört zu den meistzitierten Autoren in diesem Bereich. Seit 2012 ist
sie außer für ihr Unternehmen auch als ärztliche Direktorin für das
Institut für Klinische Genetik am Klinikum Stuttgart verantwortlich.
Dr. Dirk Biskup, geboren 1971, studierte Betriebswirtschaftslehre
an der Uni Hamburg und promovierte am Lehrstuhl für Controlling der
Uni Bielefeld. Nachdem er bei verschiedenen Großunternehmen als
Senior Director und CFO tätig war, widmet er sich seit zwei Jahren ausschließlich der 2009 zusammen mit seiner Frau gegründeten CeGaT
GmbH (Center for Genomics and Transcriptomics). Beide haben gemeinsam die Geschäftsführung inne. 2013 verdoppelte sich der Umsatz gegenüber dem Vorjahr auf circa 9,7 Millionen Euro. Das Unternehmen wurde für seine Leistungen bereits mehrfach ausgezeichnet,
so beispielsweise 2011 als bestes deutsches Nachwuchsunternehmen
mit dem „Deutschen Gründerpreis” und 2013 als EY-Entrepreneur
des Jahres in der Kategorie „Start-up”.
Blick in den Hochdurchsatz-Sequenzierer
HiSeq 2500: Mit seiner Hilfe lassen sich
krankheitsverursachende Veränderungen
im Erbgut eines Menschen inzwischen
weitaus günstiger ermitteln als früher.
sichern und bei der internationalen Expansion – gerade erfolgte
der Markteintritt in den USA – helfen. Wobei es ein Vorteil
sei, sagt Dirk Biskup, dass B. Braun Melsungen langfristig denke.
„Das ist eine echte Partnerschaft und kein finanzielles Investment, bei dem wir damit rechnen müssen, dass man nur auf
unsere Rendite schaut und sich in fünf oder zehn Jahren wieder zurückzieht.” Dabei schätzt Biskup durchaus auch die praktische Unterstützung durch die größere Firma: Wenn er zum
Beispiel einen komplizierten englischsprachigen Vertrag mit
potenziellen US-Kooperationspartnern beurteilen müsse, könne er diesen einem amerikanischen Juristen aus der Steuerund Rechtsabteilung von B. Braun Melsungen vorlegen.
Der Respekt für die Stärken von Geschäftspartnern, Kunden
und Mitarbeitern und die Vernetzung von Wissen und Kompetenzen spielen in der Unternehmenskultur von CeGaT eine zentrale Rolle. So dient die Beteiligung von B. Braun Melsungen
auch dem kontinuierlichen Ausbau und der internationalen
Vermarktung der Diagnostik-Panels. Und dazu, dass die Visionen von CeGaT eines Tages Realität werden: Genanalysen
auch den Ländern der Dritten Welt zu günstigen Preisen zur
Verfügung stellen zu können.
allem in einer Branche, in der es oft sechs bis acht Monate dauert, bis die Entscheidung über einen Forschungsantrag gefallen ist.” Dass sie angesichts der notwendigen Investitionen
ein erhebliches wirtschaftliches Risiko auf sich nahmen, war
beiden Geschäftsführern klar. Doch ihre Vision ging auf. Nur
im Jahr der Gründung 2009 machte ihr Unternehmen Verlust, bereits 2010 erreichte es bei einem Umsatz von rund einer
Million Euro den Break-even. Seitdem geht es stetig aufwärts:
Circa 65 Mitarbeiter sind inzwischen für CeGaT tätig.
Zum Erfolg trägt auch die klare Rollenverteilung der beiden
Geschäftsführer bei: Saskia Biskup ist kreativ, wissenschaftlich basiert und erfahren im Umgang mit den medizinischen
Zielgruppen, Dirk Biskup eher analytisch und auf Strukturen
ausgerichtet. „Wie umfangreich darf eigentlich ein Produkt
sein, damit es noch erfolgreich ist? Wie müssen wir unser Unternehmen strukturieren?” Das sind Themen, die Dirk Biskup
immer wieder in die Diskussion einbrachte. Seine Frau sagt, es
sei ein einschneidendes Erlebnis für sie gewesen, als er sie in
der Planungsphase zum ersten Mal fragte: „Und womit generieren wir Umsätze?“ Die Frage habe sie völlig aus der Bahn
geworfen, denn sie war getrieben von vielen Ideen aus der Forschung. Saskia Biskup: „Das kann ich ganz offen sagen: Hätten
wir das nicht zusammen gemacht, wäre es schiefgegangen!“
2012 holte CeGaT als strategischen Partner die B. Braun Melsungen AG ins Boot, eine traditionsreiche, wesentlich größere
Firma für Medizinprodukte. Bei der Ehrung zum Deutschen
Gründerpreis 2011 war deren Aufsichtsratsvorsitzender Ludwig Georg Braun an die Biskups herangetreten. Hatte ihnen
gratuliert und gesagt, sie müssten mal miteinander reden.
Als er sie wenig später in Tübingen besuchte, äußerte er sein
Interesse an den Diagnostik-Panels. Ein halbes Jahr danach
war B. Braun Melsungen mit 20 Prozent an CeGaT beteiligt.
Das frische Geld soll in erster Linie das Wachstum der Firma
Entrepreneur 02/2014
Entrepreneure  Report 35
Die beiden CeGaT-Geschäfts­führer in
ihrem Labor: Die Rollen sind klar
verteilt, aber wichtige Entscheidungen
erfolgen in enger Abstimmung.
36 Entrepreneure  Statement
Tradition in den Genen
„Natürlich sind die sozialen Netzwerke wie Facebook oder Twitter
auch für uns wichtige Instrumente. Vor allem in der Anfangszeit
haben wir sehr von der ‚digitalen Mund-zu-Mund-Propaganda‘ profitiert und die Vermarktung über diese Kanäle bewusst forciert.
Fast noch wichtiger ist uns allerdings die Vernetzung unseres Unternehmens mit den Kulturen, aus denen es hervorgegangen ist. Wir
haben mittlerweile drei Fabriken, zwei in den Vereinigten Staaten
und eine in Australien. Alle drei Standorte blicken auf eine lange
landwirtschaftliche Tradition zurück. Die Menschen dort sind offen
und ehrlich, sie beklagen sich nicht, wenn harte Arbeit ansteht. Ich
versuche, diese Werte, die ich für sehr wichtig halte und die den genetischen Code von Chobani geprägt haben, in unser Unternehmen
einfließen zu lassen.“
Entrepreneur 02/2014
Hamdi Ulukaya
Der aus der Türkei stammende Hamdi Ulukaya verhalf griechischem Joghurt in
Amerika zum Durchbruch. Mit seiner Marke
Chobani hat er sich binnen weniger Jahre
zum Branchenprimus emporgearbeitet. Dafür wurde er 2013 als „World Entrepreneur
Of The Year“ ausgezeichnet.
Expertise  Wachstum durch Vernetzung 37
Ökosysteme der Innovation
Forschung und Entwicklung hinter verschlossenen Türen waren gestern.
Immer mehr Unternehmen streben heute den Auf- und Ausbau von
Innovationsökosystemen an, in denen sie sich mit Wissenschaftlern,
Zulieferern und Kunden sowie kreativen Start-up-Entrepreneuren vernetzen. Unternehmen, die diese Art der Integration erreichen, wer­den
künftig entscheidende und nachhaltige Wettbewerbsvorteile erzielen.
Von Markus Heinen
Nicht erst seit dem gleichnamigen Bestseller des Autorenteams Robert und Edward
Skidelsky fragen sich immer mehr Menschen
in den westlichen Industrieländern: „Wie
viel ist genug?“ Vielmehr bringen diese und
andere Autoren in ihren Werken mit einer
eher wachstumskritischen Haltung ein zunehmendes Umdenken und den tiefgreifenden
Wertewandel vor allen Dingen in der jüngeren Generation zum Ausdruck. Es geht nicht
mehr allein um den ökonomisch-technologischen Fortschritt, sondern in nahezu allen
Lebensbereichen gewinnen soziale, kulturelle und zudem nachhaltige Innovationen
an Bedeutung.
Beispiele dafür gibt es viele. So ist Mobilität
zwar auch für junge Menschen ein wichtiges Thema, doch das Auto spielt dabei keine
zentrale Rolle mehr. Gerade in Städten, deren urbane Vielfalt für die junge Generation
hochattraktiv ist, gilt das eigene Kfz kaum
noch als Statussymbol. Dazu trägt auch das
steigende Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten für einen wirksamen Klima- und
Ressourcenschutz bei. Es geht für die Hersteller künftig also nicht mehr allein darum,
ein Auto weiter zu optimieren, sondern vielmehr neue, intelligente Mobilitätskonzepte
zu entwickeln. Dabei wird die effektive Vernetzung zwischen Automobil-, Softwareund Hardwareproduzenten eine zunehmend
erfolgskritische Rolle spielen.
Für die Industrie insgesamt bedeuten der
Wandel der Werte und die damit einhergehende Veränderung der Ansprüche vieler
Konsumenten nichts weniger als den Beginn
eines neuen Innovationszeitalters. Neue,
intelligente Geschäftsmodelle werden hierbei eine zunehmend wichtigere Rolle spielen
als die von den meisten Unternehmen noch
favorisierten ständigen Verbesserungen
ihrer Produkte und Prozesse.
Neue Formen der Wertschöpfung
Die Wirtschaft insgesamt und jedes einzelne
Unternehmen stehen vor vielfältigen Herausforderungen, die in komplexen Bereichen
wie Mobilität, Energie, Kommunikation und
Gesundheit nicht von einzelnen Akteuren bewältigt werden können. Es werden sich nach
unserer Auffassung in diesem Zusammenhang verstärkt vertikale und horizontale
Netzwerkstrukturen entwickeln müssen, in
denen Anbieter, Kooperationspartner und
Kunden in neuer Art und Weise interagieren,
Informationen und Wissen austauschen und
neue Formen der Wertschöpfung erproben.
Dabei verschwimmen die klassischen Grenzen zwischen Anbieter und Abnehmer von
Leistungen. Es können sich völlig neuartige
Geschäftsmodelle, getrieben durch ein neuartiges Zusammenspiel diverser Wertschöpfungspartner, entwickeln.
eispiel Energiebranche: Schon heute
• B
sind intelligente Stromnetze, die Smart
Grids, gefordert, die die Produktion von
Strom aus den unterschiedlichsten Energiequellen mit schwankenden Leistungsspitzen an den ständig wechselnden Energiebedarf von Industrie und privaten
Verbrauchern anpassen. Zugleich sind
durch die Privatisierung der Versorgung
neue Anbieter neben die klassischen Versorger getreten. Kunden werden selbst
zu Stromproduzenten, haben andererseits dezidierte Wünsche, was beispielsweise den Energiemix angeht, den sie
beziehen wollen. In Zukunft werden weitere neue Kooperations- und Geschäftsmodelle entstehen.
eispiel Konsumgüter: Ein Newcomer
• B
wie das Start-up Zalando hat innerhalb
von fünf Jahren den gesamten deutschen Schuh- und zunehmend auch den
Textilmarkt revolutioniert; allein durch
das Internet. Das Unternehmen unterhält global Beziehungen zu Lieferanten,
zu Markenproduzenten, zunehmend
auch zu Designern. Es steht in ständigem Kontakt mit seinen Kunden, versorgt sie ständig mit auf ihren individuellen Geschmack und Geldbeutel zugeschnittenen Angeboten.
Unternehmen aller Branchen werden künftig
gefordert sein, ihre eigene Rolle in Netzwerken kontinuierlich zu definieren und ihr
Geschäftsmodell an sich verändernde Werte
und neue Wertschöpfungsstrukturen anzupassen. Doch die Vernetzung ist nicht nur
Herausforderung, sondern bietet vor allem
auch Chancen; insbesondere im Innovationsprozess. Die Untersuchung von 1 600 kleinen
und mittleren Unternehmen in der von der
EU-Kommission initiierten Studie IMP³rove
zeigt: Enge Vernetzung führt zu höheren
Wachstumsraten. Mehr als 70 Prozent der am
schnellsten und profitabelsten wachsenden
­ die Wachstumschampions –
Unternehmen –
binden Partner über den gesamten Innovationsprozess hinweg ein. So verstehen schon
seit einigen Jahren besonders rührige Unternehmen ihre Kunden als Innovationsquelle
und tauschen sich mit ihnen intensiv etwa in
sozialen Netzwerken aus.
Das Internet der Dinge
Immer intelligentere Netzwerke sind aber
auch im Begriff, traditionelle Industrien
und ihre Produktionsweisen von Grund auf
zu verändern. Das Schlagwort lautet hier
02/2014 Entrepreneur
38 Expertise  Wachstum durch Vernetzung
„Unternehmen aller Branchen werden
künftig gefordert sein, ihre eigene Rolle in
Netzwerken kontinuierlich zu definieren
und ihr Geschäftsmodell an sich verändernde
Werte und neue Wertschöpfungsstrukturen anzupassen.“
Markus Heinen
Industrie 4.0. Wesentliches Element von
Industrie 4.0 ist die Smart Factory, die intelligente Fabrik. Menschen, Maschinen und
Produkte kommunizieren hier miteinander.
Intelligente Produkte liefern im Netzwerk
selbstständig Informationen über ihren Herstellungsprozess und künftigen Einsatz:
Wann wurde ich gefertigt? Mit welchen Parametern muss ich bearbeitet werden? Wohin
soll ich ausgeliefert werden? Sämtliche am
Fertigungsprozess beteiligte Maschinen –
Werkzeugmaschinen, Handhabungsgeräte
oder Logistiksysteme – und mit elektronischen Etiketten versehene Smart Products
tauschen ständig in Echtzeit Daten miteinander aus und unterstützen damit aktiv den
Fertigungsprozess. Produktionsfachleute
sprechen in diesem Zusammenhang vom
Internet der Dinge.
Nach Ansicht von Experten bringt die Vernetzung der Fertigung, und um nichts anderes geht es bei Industrie 4.0, für die meisten Industrieunternehmen Vorteile, weil sie
ihre Produktion damit viel flexibler gestalten und somit sehr schnell an sich ändernde
Kunden- und Marktbedürfnisse anpassen
können. Sogar die Produktion von Einzelstücken und kleinen Losgrößen kann dadurch
rentabel werden.
Die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften in München schätzt, dass die neuen
Fertigungsverfahren zu einer Produktivitätssteigerung der Industrie von 30 Prozent
führen könnten. Anders als in der heutigen
Fertigung, wo Informationen und Daten mehr
oder weniger zentral gespeichert werden,
ist die Smart Factory dezentral und selbstorganisierend angelegt. Die Wertschöpfungskette soll sich dabei nach unterschiedlichen
Kriterien wie etwa Kosten, Verfügbarkeit oder
Entrepreneur 02/2014
Ressourcenverbrauch flexibel optimieren
lassen. Allerdings dürfte die Heterogenität
vorhandener IT-Strukturen, der Maschinen
und der Vernetzungs- und Kommunikationsstandards dazu führen, dass die Unternehmen nicht innerhalb von fünf Jahren auf intelligente Produktion umschalten können,
sondern dafür eher 20 Jahre brauchen; vorausgesetzt, sie fangen heute mit der umfassenden Vernetzung an. Denn Experten sind
sich darin einig, dass nicht unbedingt der
Stand der Technik, sondern vielmehr die Fähigkeit, diese einzusetzen und zu kombinieren, die Entwicklung bremsen könnte. Und
umgekehrt jene Unternehmen, denen die
Vernetzung früher gelingt, die Nase vorn haben werden.
Hinzu kommt, dass sich eine Bewegung von
hochinnovativen Verbrauchern, die sogenannten Maker, jetzt sogar anschickt, selbst
wirtschaftlich aktiv zu werden und somit völlig neue Strukturen zu schaffen. Diese Maker
warten nicht auf neue Entwicklungen etablierter Unternehmen, sondern sie erstellen
mit Hilfe sogenannter FabLabs (fabrication
laboratories) – Hightech-Werkstätten mit
hochmodernen industriellen Herstellungsverfahren – ihre eigenen Produkte. Die nötigen Produktionsdaten liefert der User per
Internet. (Siehe Beitrag von Prof. Piller, S. 40)
With a little help from my friends
Viele dieser Unikate sind aber nicht nur hochinnovativ, sondern auch für eine breitere
Vermarktung interessant. Um den Sprung
vom Einzelstück zur Serienfertigung bzw.
zur Marktreife zu schaffen, brauchen jedoch
viele dieser Maker oder Lean Start-ups die
Unterstützung und den Anschub stärkerer
und etablierterer Partner. Wie EY in seinem
G20-Entrepreneurship-Barometer 2013 festgestellt hat, sind neben anderen Faktoren
vor allem der leichte Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten sowie die koordinierte
Unterstützung der Gründer durch staatliche, universitäre und unternehmerische Partner für die prosperierende Start-up-Kultur
einer Volkswirtschaft von essentieller Bedeutung. Dezidierte Innovationsnetzwerke
von Forschung, Firmen und Neugründungen etwa können:
• d
ie Innovationskosten und die Innovationszeit reduzieren und damit die
Effizienz steigern,
• das Innovationsrisiko aufteilen,
• komplementäre Kompetenzen bündeln,
• die Marktposition der Partner stärken
und
• Zugang zu neuen Märkten schaffen.
Schnelle Brüter
Um die Maker, diese besondere Form der
Lean Start-ups, aber auch andere innovative
Gründer etwa aus der Forschung mit etablierten Unternehmen zusammenzubringen,
bedarf es nach unserer Ansicht einer speziellen Form der Vernetzung bzw. Kollaboration. Sogenannte Inkubatoren bilden eine
Art Brutkasten für Neugründungen, der den
Entrepreneuren den Start in eine wirtschaftlich gesunde Zukunft erleichtert und zugleich
etablierten Unternehmen die Möglichkeit
bietet, sich frühzeitig an Neuentwicklungen
zu beteiligen und davon zu profitieren.
Ein Inkubator versteht sich als Dienstleistungszentrum mit ganzheitlicher Unterstützung für Neugründungen ab frühester
Entwicklungsphase. Er stellt die oftmals
problematische Finanzierung in den ersten
Das Internet von 1901
Jede neue Technologie baut auf der
vorangegangenen auf – so auch das
Internet. Es basiert auf dem Telefonund Tele­graphennetzwerk, das die
Welt bereits im Jahre 1901 umspannte.
40 Expertise Wachstum durch Vernetzung
„Die Fähigkeit von Unternehmen zur Bildung
funktionierender Netzwerke wird künftig stark
über wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg
mitentscheiden. Die intelligente Erfassung und
Auswertung der großen Datenmengen bietet
allen Wirtschaftsakteuren neue Chancen –
dem Start-up ebenso wie kleinen und mittleren
Unternehmen oder großen Konzernen.“
Markus Heinen
Die Maker Economy – Chancen
für neue Geschäftsmodelle
Werden wir gerade Zeugen der vierten industriellen Revolution? Genau wie in den ersten
drei Phasen industrieller Umstürze brechen
heute eine Reihe neuer „Unternehmen“ mit
den bekannten Regeln erfolgreichen Wirtschaftens und schaffen völlig neue Strukturen.
Zwar wird im Innovationsmanagement der Einbezug von Kunden und Nutzern in die Produkt- und Service-Entwicklung schon lange
diskutiert (Customer Co-Creation). Aber innovative Anwender sind bereits einen Schritt
weiter: die „Maker“, kreative Bastler und Entwickler, die unter Ausnutzung neuer, meist netzgebundener Infrastrukturen nicht nur Ideen
und Prototypen liefern, sondern komplett marktreife Produkte erstellen und diese teilweise sogar – oft unter Open-Source-Hardware-Lizenzen – selbst vermarkten. Die Motivation dieser
Maker ist dabei noch nicht primär Gewinnstreben. Oft geht es um den Spaß an der Entwicklung, die Nutzung des Produktes für eigene Zwecke – und den Stolz auf das fertige Werk.
Was nach Hobby klingt, bietet in der Praxis
enormes Potenzial – beflügelt durch drei Entwicklungen.
• W
ichtigeInnovationstoolswieLaborkapazität, Rechenleistung, CAD-Programme, 3DDrucker zum Prototypenbau oder Simulationssoftware sind heute auch für private
Nutzer erschwinglich und oft über das Internet als Web-Service zugänglich.
• MakerhabenheuteZugriffaufeineProduktionsinfrastruktur industrieller Qualität,
die sie per Computer vom eigenen Schreibtisch aus ansteuern können – junge Startups wie Shapeways, Ponoko, TechShop oder
eMachineShop unterstützen sie dabei mit
dem Angebot unterschiedlicher Werkstoffe
und hochmoderner Produktionsgeräte.
Entrepreneur 02/2014
• ImNetzarchivierteundlizenzierteDigitalentwürfe erlauben die Verwendung der
Designs anderer – und damit einen hocheffizienten Entwicklungsprozess.
Die ersten industriellen Produkte sind bereits
auf dem Weg. Maker haben mit Arduino ein
breit genutztes Set für Elektronik geschaffen,
mischen intensiv beim Bau von Flugdrohnen
mit, erstellen Low-Cost-LagermanagementRoboter. Der Amerikaner John B. Rogers hat
mit „Local Motors“ ein marktreifes Open-SourceAuto kreiert. Die Vorschläge für Design und
Technik des Fahrzeugs werden komplett in einer Online-Community mit über 30 000 Mitgliedern gesammelt und es wird dort darüber
abgestimmt. Seit 2012 arbeitet Local Motors
mit BMW zusammen.
Für etablierte Unternehmen ist eine intensive
Beschäftigung mit dem Thema eine wichtige
Zukunftsinvestition: Sie können mit vergleichsweise geringen Investitionen vom enormen
Kreativpotenzial der Maker profitieren und im
besten Fall nahezu serienreife Produktinnovationen aufspüren. Die technische Entwicklung macht es zudem wahrscheinlich, dass
Qualität und Potenzial der über das Netz zugänglichen Produktionstechnologien schnell
weiter steigen werden. Innovative Maker könnten ihre Ideen damit selbst zur Marktreife
bringen – finanziert durch online akquiriertes
Crowd Funding – und bräuchten nicht mehr
ein etabliertes Produktionsunternehmen als
Seniorpartner. Sie wirken damit als kreative
Zerstörer im klassischen Sinn.
Von Prof. Frank T. Piller,
RWTH Aachen
Jahren sicher. Denn die Eigenmittel der
Entrepreneure reichen in der Regel nicht
weit. Gerade Gründungen im Technologiebereich sind besonders kapitalintensiv und
in den ersten Jahren werden nur sehr geringe Cashflows erzielt. Der Inkubator bietet
zudem Räumlichkeiten und die notwendige
technologische Infrastruktur. Sowohl Konzerne als auch Start-ups können ihre Stärken in eine Partnerschaft einbringen und
Schwächen gegenseitig ausgleichen. Die
Gründer können sich beispielsweise in betriebswirtschaftlichen Fragen, etwa in Strategie oder Controlling, beraten lassen, von
externem Coaching oder Gedankenaustausch mit dem erfahrenen Partner profitieren und umgekehrt mit neuen Denkansätzen frischen Wind in dessen Innovationsstrategie bringen. Dabei sollten beide Seiten
die Identität des anderen akzeptieren.
Die Integration eines Inkubators in ihre Innovationsstrategie ist gerade für Unternehmen in Branchen mit hohem Innovationsdruck eine interessante Option. Der Inkubator kann interne Innovationsimpulse stärken
oder als externes Element für erfolgreichen
Technologietransfer fungieren. Somit können Inkubatoren integraler Bestandteil einer
offenen und vernetzten Innovationsstrategie werden. Dabei sollte der Inkubator nicht
in die Konzernstrukturen eingebunden werden, sondern stattdessen durch Vernetzung
vom technischen und wirtschaftlichen Knowhow des älteren Unternehmens profitieren.
EY unterstützt sowohl private Konzerne und
Start-ups als auch öffentliche Partner bei
der Konzeption und Implementierung von
Inkubatoren. Die jeweilige Ausgestaltung
des Modells hängt dabei von Strategie, Ressourcen und Ausrichtung der beteiligten
41
Markus Heinen
[email protected]
Markus Heinen ist Partner bei
EY sowie Advisory Leader Deutschland, Schweiz und Österreich.
Landkarte der Aromen
Der koreanische Wissenschaftler Yong-Yeol Ahn
zeigt die chemischen Beziehungen zwischen Gewürzen und anderen Nahrungsmitteln sowie die Häufigkeit
ihrer Nutzung auf.
Partner ab. Der „Hubraum“ der Deutschen
Telekom ist dafür ein Beispiel. Weitere
Konzerne denken derzeit über Inkubatoren
für innovative Gründer nach, etwa Rewe
oder SAP.
Die Fähigkeit von Unternehmen zur Bildung
funktionierender Netzwerke wird künftig
stark über wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg mitentscheiden. Die intelligente Erfassung und Auswertung der großen Datenmengen, die heute im Internet kursieren und
zum großen Teil frei zugänglich sind, bietet
allen Wirtschaftsakteuren neue Chancen –
dem Start-up ebenso wie kleinen und mittleren Unternehmen oder großen Konzernen.
Gründer haben die Chance, mit völlig neuen
Produkten und innovativen Geschäftsmodellen erfolgreich an dieser Entwicklung teilzuhaben. Sie sollten deshalb von etablierten Unternehmen als interessante Kooperationspartner ernst genommen werden.
02/2014 Entrepreneur
Hoher Anspruch: Nur die
Grundlagenforschung, so
Peter Gruss, kann Durchbruchsinnovationen liefern.
Expertise  Dialog 43
„Wenn wir die Daten der Welt vorenthalten,
nützen sie uns nichts.“
Als Wissenschaftler schätzt Prof. Peter Gruss, bis Juni Präsident der Max-PlanckGesellschaft, traditionell die weltweite Vernetzung mit Forschungskollegen. Schnelle
Kommunikationsnetze und gewaltige Speichermedien ermöglichen heute die Erhebung und Verteilung riesiger Datenmengen rund um den Globus. Über eine bessere
Ver­­netzung ­von Wirtschaft und Wissenschaft, den richtigen Umgang mit Big Data,
aber auch die damit verbundenen gesellschaftlichen Fragen diskutierten Peter Gruss
und Georg Graf Waldersee, Vorsitzender der Geschäftsführung von EY.
Fotos Fritz Beck
Georg Graf Waldersee: Prof. Gruss, die MaxPlanck-Gesellschaft (MPG) gilt als die führende Institution der Grundlagenforschung
in Deutschland und genießt auch international einen hervorragenden Ruf. Vernetzung
und die Verteilung von Wissen sind also für
die MPG schon länger wichtige Themen.
zu den Unternehmen hat. Als deutsches Problem gilt ja bis heute, dass der Wissens- und
Technologietransfer zwischen Forschung
und Umsetzung in die Praxis nicht besonders
gut funktioniert, vor allem die Umsetzung
von Ergebnissen der Grundlagenforschung
in innovative Produkte zu lange dauert.
Prof. Peter Gruss: Ja, Forschung ist schon
immer vernetzt gewesen, und sie ist es heute
mehr als je zuvor. Wir sind einerseits Lieferant von Wissen. Umgekehrt nutzen unsere
Forscher das Wissen, das sich rund um den
Globus im Netz bewegt, auch für ihre Arbeit.
Die MPG war die treibende Kraft, die vor
zehn Jahren die sogenannte Berlin-Konferenz
mit der Zielsetzung ins Leben gerufen hat,
all das mit öffentlichen Mitteln produzierte
Wissen für jedermann auf der Welt zugänglich zu machen. Das war und ist das große
Ziel der sogenannten Open-Access-Bewegung.
Da hat sich inzwischen sehr viel getan.
Gruss: Ich sehe die Grundlagenforschung als
einen integralen und essenziellen Bestandteil des Innovationsprozesses. Ihre Bedeutung
hat sich gegenüber früheren Zeiten deutlich verändert. Heute erwartet man auch von
der Grundlagenforschung einen Return on
Investment. Die Gesellschaft finanziert ihre
Forscher, um für die Probleme von heute
Lösungen anzubieten und für die Probleme
der Zukunft präpariert zu sein.
Waldersee: Netzwerke sind keine Einbahnstraßen, sondern lassen die unterschiedlichsten Verbindungswege zwischen den Akteuren zu. Digitalisierung und Vernetzung
dürften mithin doch auch Ihre Forschung
beeinflussen.
Gruss: Das ist absolut richtig. Wir sind zwar
immer noch initial der Sender von Wissen,
aber wir erhalten inzwischen sehr viele Antworten. Wir schicken Wissen – mal für Experten, mal für Laien – in die Welt und bekommen
eine Rückkopplung, wie die Welt mit diesem
Wissen umgeht. Für die Wissensproduktion
ist die Empfängerfunktion inzwischen mindestens so wichtig wie die Senderfunktion.
Waldersee: Da drängt sich natürlich die Frage
auf, welchen Einfluss dies auf Ihr Verhältnis
Waldersee: Aber Grundlagenforschung, wie
sie die Max-Planck-Institute betreiben, unterscheidet sich ja doch sehr deutlich von der
angewandten Forschung zur Industrieentwicklung.
Gruss: Ja, natürlich. Faktisch alle Firmen
betreiben inkrementelle Innovation, die im
Prinzip die Mehrzahl der deutschen Produkte auf dem Weltmarkt ausmacht. Diese
inkrementellen Innovationen basieren auf
Hochtechnologien, nicht aber auf Spitzentechnologien. Im Automobilbau zum Beispiel geht es immer noch um vier Räder, die
von einem Motor angetrieben werden, der
überwiegend Verbrennungsmittel nutzt.
Im Wesentlichen hat sich die deutsche
Wirtschaft ihre große Wertschätzung überall auf der Welt durch Hochtechnologie,
nicht durch Spitzentechnologie erworben.
Deutschland braucht aber, um seine Führungsposition zu halten, nicht nur die inkrementellen Innovationen, sondern Durch-
bruchsinnovationen. Durchbruchsinnovationen werden geliefert durch von Neugier
getriebene Forschung. So entstehen wirklich vollkommen neue Produkte, die eine
vorhandene Technologie verdrängen oder
ersetzen, neue Geschäftsmodelle ermöglichen und ganz neue Märkte eröffnen.
Nur so kommt in Gang, was Schumpeter
einst als schöpferische Zerstörung bezeichnet hat.
Waldersee: Da gibt es ja das bekannte Beispiel von der LCD-Technologie, für die die
entscheidenden Forschungen und Patente
im deutschsprachigen Raum betrieben und
geschrieben wurden, deren Chancen aber
etwa von der damals noch starken deutschen TV-Geräte-Industrie überhaupt nicht
erkannt wurden. Mit der Folge, dass die
Hersteller hierzulande wenige Jahre später
von asiatischen Wettbewerbern mit eben
dieser Technologie völlig aus dem Markt gedrängt worden sind.
Gruss: Solche Erfahrungen haben wir bei der
MPG selbst in jüngerer Zeit gemacht. Wir haben einige Patente in der Medizin, bei denen
biologische Aktivitäten durch die Gabe von
kleinen RNA-Molekülen geblockt werden. Diesen therapeutischen Ansatz, der völlig neue
Wege geht, weil er bestimmte Genaktivitäten
stoppt, kann man für Dutzende von Indikationsgebieten nutzen. Die Technologie konnten wir in Deutschland nicht verkaufen, haben
sie stattdessen sehr erfolgreich in den USA
auslizenziert. Der Wert dieser Firma liegt inzwischen bei vier Milliarden US-Dollar.
Waldersee: Woran liegt es aus Ihrer Sicht,
dass die Marktchancen solcher Durchbruchsinnovationen in Deutschland oft nicht
erkannt oder gewollt werden?
02/2014 Entrepreneur
44 Expertise  Dialog
„Die Vernetzung, die Veränderung der
Kommunikationsströme hat zu einer
Veränderung der Wertesysteme geführt.
Da geht es neben den wirtschaftlichen
ebenso um soziale und ethische Aspekte.“
Georg Graf Waldersee
neben Zeit und Geld vor allem Überzeugungskraft, Mut und Durchhaltewillen.
Waldersee: Wachsende Komplexität, technischer und wissenschaftlicher Fortschritt
haben die Grundlagenforschung inzwischen
zu einer extrem teuren und zeitaufwendigen
Angelegenheit gemacht, aus der sich selbst
große Unternehmen zunehmend zurückziehen. Wenn also bestehende Lücken zwischen
Forschung und Anwendung geschlossen und
der Wissenstransfer beschleunigt werden sollen, muss die Vernetzung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft noch deutlich verbessert werden.
Gruss: Inkrementelle Innovationen folgen
einem Marktbedarf. Bei Durchbruchsinnovationen geht es dagegen um einen Technologie-Push. Man muss zunächst einmal verstehen, was diese Technologie bedeutet,
wie sie potenziell auf den Markt wirken könnte. Und das ist oft gerade das Problem großer Firmen, deren Erfolg auf einer traditionellen Technologie beruht: Dort gibt es viel
Widerstand gegen eine solche neue Technologie; vor allem, wenn sie nicht im eigenen
Haus erfunden wurde – das Not-invented-hereSyndrom. Das zweite Problem sind die Rahmenbedingungen. Für ein vollkommen neues
Produkt muss der Markt erst noch entwickelt werden. Wenn das gelingt, hat man zwar
den großen Vorteil eines riesigen Feldes,
auf dem man wahrscheinlich sogar eine Zeit
lang der einzige Player ist. Aber das braucht
Entrepreneur 02/2014
Gruss: Da kann ich Ihnen nur zustimmen. Und
das ist inzwischen ein Grundverständnis der
MPG – wir sind zwar in unserer Forschung
vollkommen frei, und unsere Wissenschaftler
sind in ihrer Arbeit keinen wirtschaftlichen
Zwängen unterworfen. Das schließt aber nicht
aus, dass wir in Bereichen, in denen wir eine
Anwendung sehen oder eine Anwendungsnähe erkennbar ist, daran interessiert sind, Ergebnisse unserer Grundlagenforschung, also
Inventionen, in Innovationen zu überführen.
Aber das können Wissenschaftler in der Regel
nicht selbst, dafür brauchen sie Profis, die
unsere wissenschaftliche Expertise ergänzen
um Industrieexpertise, Marktexpertise und
Venture-Capital-Wissen. Diese Profis haben
wir bereits seit 1969 im Haus; zunächst in
Garching bei München, jetzt als eigenständige
Max-Planck-Innovation GmbH. Unsere Mitarbeiter bei Max-Planck-Innovation sind die
Schnittstelle, der Transmissionsriemen zwischen den Kollegen aus der Wissenschaft und
den Kollegen aus der Wirtschaft. Sie haben
die Expertise, um Ergebnisse aus unseren
Instituten auf ihre Industrietauglichkeit hin
bewerten zu können, und stehen in kontinu-
ierlichem Kontakt mit unseren Forschern
und potenziellen Industriepartnern. Wir haben so einige sehr wertvolle Patente, zum
Beispiel in der Krebsforschung und in der
Medizintechnik, erfolgreich vermarkten
können. Diese werden von unterschiedlichen
Industriepartnern auch sehr erfolgreich
genutzt.
Waldersee: Solche Erfolgsgeschichten müssten doch ungemein belebend auf Ihre Kontakte zur Wirtschaft wirken.
Gruss: Wir müssen heute sehr viel mehr an
Information für eine wirtschaftliche Verwertung produzieren. Wir können uns nicht mehr
einfach mit einem Experimentalergebnis an
die Firmen wenden und sagen: „Kauft uns
das mal ab.“ Die Unternehmen erwarten von
uns eine fundierte Validierung und einen erkennbaren Nutzen. Für die Umsetzung gibt
es dann die unterschiedlichsten Wege. Da
können wir über ein Patent und die Auslizenzierung reden. Wir können aber auch – denken Sie an IT im Softwarebereich – über einen
Direktverkauf sprechen. Oder wir können
über Ausgründungen nachdenken, wobei das
im Moment sehr schwierig ist.
Waldersee: Sicher eine Folge der vielen geplatzten Blasen nach dem Gründungsboom
Ende der 90er-, Anfang der 2000er-Jahre.
Die Chancen, derzeit für eine Neugründung
im Spitzentechnologiesektor Kapital zu akquirieren, sind nach unseren Erfahrungen
stark gesunken. Es gibt kaum noch Venture
Capital, und wenn, dann wollen die Kapitalgeber heute doch sehr genau wissen, wann
sie mit einem Return on Investment rechnen
können, beziehungsweise sie achten verstärkt
auf einen erfolgreichen Exit in absehbarer
Zeit; entweder durch einen Börsengang oder
Expertise  Dialog 45
„Ich sehe die Grundlagenforschung
als einen integralen und essen­ziellen Bestandteil des Innovationsprozesses. Heute erwartet man
auch von der Grundlagenforschung
einen Return on Investment.“
Prof. Dr. Peter Gruss
durch den Verkauf bzw. die Fusion der Neugründung mit einem etablierten Unternehmen.
In Deutschland funktionieren IPOs derzeit
trotz ständig neuer Kursrekorde praktisch
nicht. Und wenn schon das Startkapital fehlt,
kommt es gar nicht erst so weit, dass etwas
zu verkaufen wäre.
Gruss: Leider ist das so. Wir müssen intensiv
über Maßnahmen nachdenken, wie wir die
erkennbar nachlassende Gründungsaktivität
in der Wirtschaft überwinden können.
Waldersee: Ich sehe gute Chancen, in Inkubatoren jungen Unternehmen über die schwierige Anfangsphase hinwegzuhelfen und einen
erfolgreichen Start zu gewährleisten.
Gruss: Ja, wir selbst haben auch drei Inkubatoren ins Leben gerufen, in denen wir
potenzielle Entrepreneure in einer Vorphase
vor der Ausgründung unterstützen und
begleiten. Diese Vorphase, die meist aus
öffentlichen Geldern finanziert wird, gibt
dem jeweiligen Projekt Zeit, zu reifen und
erste Ergebnisse zu erzielen, und erleichtert es einem Venture-Capital-Geber, eine
positive Investitionsentscheidung zu treffen. Wir reden dabei über eine Zeitspanne
von ungefähr drei Jahren Labor, voll finanziert, damit die Entrepreneure eine Chance
haben, die PS auf die Straße zu bringen.
Waldersee: Ich möchte noch einmal auf das
Thema Vernetzung und die gewaltigen Datenmengen, die inzwischen in diesen Netzen
produziert und bewegt werden, zurückkommen. Wie geht die Forschung, wie geht die
MPG damit um?
Gruss: Ja, Big Data ist ein Riesenthema für
uns. Als Biologe verweise ich gern auf das
Beispiel der Sequenzierung des menschlichen
Genoms. Nachdem das gelungen ist, wird
sich in wenigen Jahren mit den Informationen von mehreren Millionen Menschen eine
solche Datenfülle im Netz ansammeln, dass
wir uns fragen müssen: Wie können wir diese
Daten klug für unsere Wissenschaft nutzen,
um den Output, also unsere Senderfunktion,
noch einmal zu verstärken?
Waldersee: Big Data und Datability sind ja
nicht nur ein Thema für die Wissenschaft.
Wie sehen Sie Deutschland, wie die deutsche
Wirtschaft dafür gerüstet?
Prof. Dr. Peter Gruss
Der Molekularbiologe Peter Gruss, Jahrgang 1949,
war von 2002 bis Juni 2014 Präsident der MaxPlanck-Gesellschaft. Nach Studium und Promotion
hatte Gruss in den 70er-Jahren zusammen mit
Forschungskollegen ein eigenes Unternehmen gegründet. Es gehört seit 2010 zum börsennotierten
Hamburger Biotech-Unternehmen Evotec. Seit
1986 ist Gruss wissenschaftliches Mitglied der
Max-Planck-Gesellschaft und Direktor der Abteilung „Molekulare Zellbiologie“ am Max-PlanckInstitut für biophysikalische Chemie. Gruss galt
bei Amtsantritt in der Presse als „Macher amerikanischen Stils“, der Spiegel nannte ihn einen
„bescheiden auftretenden Überflieger“.
Gruss: Es gibt hier zwei Ebenen. Die eine
Ebene ist die Infrastruktur. Wir brauchen
schnelle Netze, und wir brauchen die Möglichkeiten, große Datenmengen zu speichern.
02/2014 Entrepreneur
Expertise  Dialog 47
Max-Planck-Gesellschaft
Die Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V. (MPG), 1948 unter der
Präsidentschaft von Otto Hahn als Nachfolgeorganisation der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
in Göttingen gegründet, ist eine, wenn nicht die führende Institution der Grundlagenforschung
in Deutschland. Die MPG beschäftigt sich vorrangig mit Forschungszielen, die aufgrund ihrer Interdisziplinarität oder der umfangreichen notwendigen Ressourcen nicht von anderen
Forschungseinrichtungen bearbeitet werden können. Sie genießt weltweit hohe Anerkennung. So wurde sie 2006 im Times Higher Education Supplement Ranking zur weltweit besten
nicht universitären Forschungseinrichtung gekürt. Bisher wurden 17 ihrer Wissenschaftler
für ihre Entdeckungen bzw. Forschungsarbeiten mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. In den
83 Instituten und Forschungseinrichtungen der MPG sind derzeit etwa 5 500 Wissenschaftler,
über 13 000 Doktoranden, Diplomanden, studentische Hilfskräfte und Gastwissenschaftler
sowie mehr als 11 000 Mitarbeiter im kaufmännischen, technischen und administrativen
Bereich beschäftigt. Das Jahresbudget betrug 2013 rund 1,5 Milliarden Euro.
Aus unserer Sicht sind wir, was die Infrastruktur bezüglich Großrechnern und Netzen angeht, schon ganz ordentlich ausgerüstet.
Das entscheidende Problem ist aus meiner
Sicht ein anderes: Weder die Unternehmen
noch die Gesellschaft insgesamt sind derzeit
dafür aufgestellt, um mit diesen Datenmengen, vor allem aber auch den Dateninhalten
umzugehen.
Waldersee: Das ist auch unser Eindruck. Vor
allem der Bereich Data Analytics ist der Engpass.
Gruss: Ich würde als Erstes in jeder großen
Firma eine Einheit etablieren, die sich exklusiv mit der Frage befasst: Welche Daten sind
für unsere Organisation potenziell von Bedeutung und wie kann ich gezielt nur diese
Daten nutzen? Denn der Rest interessiert
doch gar nicht und ist nur Ballast. Stellen Sie
sich einmal vor, Sie haben weltweit 100 000
Genome sequenziert und 1 000 dieser Genome haben einen kleinen Appendix – die
stammen nämlich alle von Bluthochdruckpatienten. Würde ich mich in meinem Unternehmen mit Medikamenten gegen Bluthochdruck beschäftigen, würde ich mich genau
auf diese Genome konzentrieren. Diese Fokussierung fehlt noch. Da sehe ich bislang
zu wenig Aktivität.
Waldersee: Ich meine, das betrifft alle Bereiche der Industrie. Da ist die Frage, wie
wir die Organisation darauf einstellen, dass
sie in der Lage ist, mit diesen Informationsmengen umzugehen. Das sind Strukturfragen,
Organisationsfragen, und das ist auch eine
Frage kombinatorischer und intellektueller
Fähigkeiten, jenseits reiner IT-Lösungen
Wege zu finden, Big Data zu bewerten. Aber
es gibt noch eine ganz andere Ebene. Die
Vernetzung, die Veränderung der Kommunikationsströme hat zu einer Veränderung
der Wertesysteme geführt.
Gruss: Absolut. Da bin ich ganz bei Ihnen.
Waldersee: Was ist für mich persönlich wichtig? Was ist für meine und die kommenden
Generationen wichtig? Wie geht eine Unternehmung mit diesen veränderten Werten hinsichtlich der Frage um, welche Produkte sie
in der Zukunft entwickeln will und wie sie
diese vermarktet? Wie wirkt sich das auf Markt
und Markenführerschaft aus? All diese Themen sind mit der Vernetzung eng verknüpft.
Gruss: Ich sehe da auch die Aufgabe für die
Geisteswissenschaften, sich mit diesen
Themen zu befassen. Wir müssen sie hier als
integrales Element sehen. Es geht um den
Zugang oder Nichtzugang zu Wissen. Es gibt
einen weiteren wichtigen Punkt: die Unsicherheit, die die Menschen in der Umgangsweise mit immer detaillierteren Daten verspüren. Der NSA-Skandal ist ein perfektes Beispiel dafür. Und was könnte passieren, wenn
in fünf oder zehn Jahren von jedem Individuum ein Datensatz existiert, der praktisch alle
privaten und öffentlichen Lebensbereiche
umfasst, vom Einkaufsverhalten bis zur gesamten Gesundheitshistorie? Wie gehen wir
damit um, wenn die Gefahr besteht, dass durch
Big Data, durch Open Access individuelle
Daten von praktisch jedem abgegriffen werden
können, für welche Zwecke auch immer und
ohne eigenes Zutun und Kontrolle?
liche Daten nutzen, um neue Produkte und
Dienstleistungen zu entwickeln? Welche Sicherungen sind andererseits notwendig, um die
Rechte und die Individualität des Einzelnen zu
schützen? Da geht es sowohl um soziale und
ethische als auch um wirtschaftliche Aspekte.
Gruss: Wenn wir die Daten der Welt vorenthalten, nützen sie uns nichts. Nehmen wir
mein Beispiel mit dem Bluthochdruck. Es ist
aus Forschungssicht nicht wichtig, zu wissen, wer genau die 1 000 Menschen mit Bluthochdruck sind. Aber wichtig ist, dass der
detaillierte klinische Befund jeweils zum Datensatz gehört, denn sonst nützt uns die
Information nichts. Es muss also schon eine
gewisse Verschränkung zwischen diesen
Datensätzen geben. Es schließt sich nur das
aus, was einen Rückschluss auf bestimmte
Personen erlaubt.
Waldersee: Ich sehe es so, dass die Menschen,
ob nun als Politiker, Unternehmer oder Privatperson, der neuen Situation noch relativ
ratlos gegenüberstehen. Wir investieren in
Forschung und entwickeln Dinge, die dazu führen, dass wir möglicherweise bessere Leistungen zu niedrigeren Kosten anbieten können. Aber das hat einen Preis. Und die Frage
ist: Wie setzen wir den Rahmen? Ich denke,
jeder muss auch persönlich bereit sein, diesen Rahmen über die Zeit zu verschieben und
den neuen Bedingungen anzupassen.
Waldersee: Die Frage ist doch: Was muss man
zulassen, um Forschung zu erleichtern und
neues, wertvolles Wissen aus der Fülle und
Verfügbarkeit von Big Data zu ziehen? Wie
können und dürfen Unternehmen auch persön-
02/2014 Entrepreneur
48 Expertise  Studie
Keine Angst vorm großen Sprung
Mit Big-Data-Anwendungen können Unternehmen ihre Prozesse effizienter
steuern und den Geschäftserfolg steigern. Dafür müssen sie in einem ersten
Schritt nach passenden Prozessen suchen, die sich mit Hilfe von Big Data
optimieren lassen. Außerdem müssen sie ihre Problemlösungskultur auf
den Prüfstand stellen. Und sie brauchen das Zutrauen, dass sie die großen
Datenmengen beherrschen und sinnvoll einsetzen können – auch wenn
sie anfangs oft nicht wissen, wohin sie der eingeschlagene Weg führt.
Von Drazen Nikolic
Unternehmer kennen das: Täglich entsteht
eine wahre Flut neuer Daten. Weil Unternehmen immer stärker mit ihren Kunden
und Lieferanten vernetzt sind, weil Kunden
und potenzielle Kunden immer mehr Daten
erzeugen und von sich preisgeben, nimmt
der Datenstrom beständig zu. Trotz einer immer leistungsfähigeren IT haben viele Unternehmer den Eindruck, dass sie die in den
Daten enthaltenen Informationen bislang
nicht optimal nutzen. Das Schlagwort Big
Data ist zwar in aller Munde, ebenso ist bekannt, dass Firmen mit der Auswertung großer Datenmengen ihr Geschäft optimieren
können. Doch wie das in der Praxis funktionieren kann, wissen bislang die wenigsten.
Die große Mehrheit der Unternehmen steht
noch ganz am Anfang der Entwicklung: Weltweit haben 80 Prozent bisher allenfalls erste Überlegungen angestellt, wie sie Big-DataTechnologien einsetzen könnten, belegt die
EY-Studie „Ready for takeoff? Overcoming
the practical and legal difficulties in identifying and realizing the value of data“.
Damit ist jedoch zumindest ein erster wichtiger Schritt getan. Denn das Potenzial von
Big-Data-Anwendungen ist immens: Wer
große Datenmengen auswertet, wirtschaftet
um 20 Prozent effizienter als Konkurrenten,
kann beim Wachstum zulegen und die Erträge
steigern, belegt die EY-Studie. Wenn Handel und Industrie weltweit Big-Data-Anwendungen im großen Stil einsetzten, könnte
der Umsatz dieser Branchen um 325 Milliarden US-Dollar steigen, schätzen Experten.
Konzerne wie Google, Facebook und Amazon machen vor, was mit Big Data möglich
ist. Sie nutzen Daten als Steinbruch. Das
Ziel ist es, die Organisation bedingungslos
an den Wünschen der Kunden auszurichten,
die Bedürfnisse der Kunden zu erkennen und
Entrepreneur 02/2014
daraus einen konkreten Bedarf an Produkten
und Dienstleistungen abzuleiten. Und zwar
am besten, bevor sich Kunden bewusst werden, was genau sie wollen.
Wohl und Wehe großer Datenmengen
Nicht nur Händler und Dienstleister profitieren von den Möglichkeiten der Big-DataAnwendungen. Die Liste potenzieller Nutzungsmöglichkeiten ist endlos: Ausfallzeiten
von Maschinen können reduziert, Einkaufsprozesse optimiert oder betrügerische Absichten von Kunden erkannt werden. Doch
den ersten Schritt zu tun fällt vielen Firmen
immens schwer. Das liegt beispielsweise daran, dass sie das große Datenaufkommen
als Problem empfinden. Reports und Analysen gelten als Pflichtübung des Financial
Controlling. Unternehmer empfinden derlei
oft als Last. Wie Datenauswertungen dazu
beitragen könnten, neues Geschäft zu generieren, Prozesse zu verbessern oder den
Absatz zu erhöhen, können sich viele Führungskräfte bisher kaum vorstellen. Deshalb ist die Bereitschaft, Big Data intensiver
als bislang als Basis für Entscheidungen zu
nutzen, oft noch gering ausgeprägt. Zudem
fehlt es an Vertrauen in die vorhandenen
Daten – und Projekte scheitern in Genehmigungsprozessen häufig, weil der Kostenaufwand für IT und Fachkräfte hoch ist und weil
es keinerlei interne Vergleichsmöglichkeiten gibt, welche Kostensenkungen oder Umsatzsteigerungen konkret zu erwarten sind.
Standardlösungen erleichtern den Start
Solche Hürden können Unternehmen überwinden, wenn sie Big Data einen Vertrauensvorschuss gewähren und Aufwand und
Risiken zunächst einmal gering halten. Das
funktioniert zum Beispiel mit Big-Data-Anwendungen, die nicht firmenspezifisch sind
und entsprechend leicht extern zugekauft
werden können. Beispiel Personalwesen: Für
Firmen ist es wichtig, frühzeitig zu erkennen, wann ein Mitarbeiter überarbeitet ist
und sein Arbeitspensum nicht mehr schafft.
Die Zeiten, zu denen er E-Mails schreibt, sind
ein guter Indikator für eine Überlastung. Wer
dem Burnout nahe ist, braucht zunehmend
mehr Zeit, bevor er auf E-Mails antwortet,
er verschickt Nachrichten immer häufiger
außerhalb der typischen Arbeitszeiten. Mittlerweile können Unternehmen anhand des
E-Mail-Verkehrs nicht nur erkennen, wer sein
Pensum womöglich nicht mehr schafft. Die
gesammelten Erfahrungswerte aus vielen
Unternehmen sind so umfangreich, dass Analyseprogramme für jeden Mitarbeiter eine
konkrete Wahrscheinlichkeit berechnen, mit
der er in nächster Zeit kündigen oder zusammenbrechen könnte.
Preiswerte Informationen aus dem Netz
Im nächsten Schritt können Unternehmen
dann hauseigene Themen adressieren, für
die sie individuell entwickelte Analyseprogramme brauchen. Solche Spezialanwendungen sind gerade im Hinblick auf die Analyse von Kundenwünschen für Marketing
und Vertrieb attraktiv, denn Firmen erleben
derzeit das goldene Zeitalter preiswerter
Informationen: Plattformen wie Facebook
generieren täglich eine Fülle an Daten, aus
denen Unternehmen zum Beispiel Signale
für Nachfrageänderungen ablesen können.
Nutzer tauschen sich im Netz über die Beliebtheit von Produkten aus, versehen Filme mit
einem „Like“, kommentieren neue Dienstleistungsangebote. Dass Social-Media-Experten die Klicks auf Produktvideos bei Youtube
39 %
The world currently has 2.7
billion internet users, 39 % of
the world’s population.
The world currently has 6.8 billion
ac­tive mobile subscriptions, equivalent
to 96 % of the world’s population.
6 ZB
The volume of data generated or processed in 2014 will exceed 6 zettabytes,
increasing to 40 zettabytes by 2020.
Unstructured data is booming:
every minute 208,300 photos are
uploaded to Facebook and 350,000
Tweets are posted on Twitter.
79 %
96 %
208 k
Seventy-nine percent of
businesses believe that
big data will boost revenue.
Forty-nine percent of consumers
say that they will be less willing
to share personal information in
the next five years.
325 Bill $
Seventy-eight percent of consumers
believe that their personal information
enables companies to make more money.
49 %
Better analytics tools create huge
value. The mainstream adoption of
big data analytics would boost the
output of global retail and manufacturing industries by $ 325 billion.
78 %
50 Expertise  Studie
Fokus vieler Beratungsfirmen
und Technologieanbieter
Manage
data
Appropriate
data sources
Continuous feedback loop
Relevant data
Perform
analytics
• Viele Analyseunternehmen im Markt setzen
heute vor allem auf Data Warehousing und
Dashboard- oder Reportinglösungen für Unternehmen.
• Allerdings haben viele Kunden immer noch
Schwierigkeiten, Analyseanwendungen
systematisch und konsequent in ihre operativen Entscheidungen einzubeziehen, sodass sie den Wert der Analytik unterschätzen.
Strategischer Fokus bei EY
Rules or
algorithms
Insights
Drive
Decisions
• Unser Schwerpunkt liegt auf wertorientierter
Analytik. Wir nutzen einen Marktansatz,
der auf den unterschiedlichen Sektoren und
Kernkompetenzen basiert. Dabei unterstützt
uns eine zentrale Gruppe, die marktführende Analyse- und Big-Data-Kompetenzen
und -Technologien liefert.
• Wir wissen, wie wichtig Change-ManagementKompetenzen bei unseren Bemühungen
sind, Kunden bei der effektiveren und wertschöpfenden Nutzung von Analytik zur
Seite zu stehen.
Improve
performance
Manage
risk
Entrepreneur 02/2014
Durch Analyseanwendungen
zu besseren Entscheidungen
Um bessere Entscheidungen zu treffen, müssen wir
zunächst die richtigen fachlichen Fragen stellen
und dann anhand der Daten die Antworten finden. Wir
arbeiten also von oben nach unten, denken aber
von unten nach oben.
Expertise  Studie 51
„Das Potenzial von Big-Data-Anwendungen
ist immens: Wer große Datenmengen auswertet, wirtschaftet um 20 Prozent effizienter
als Konkurrenten, kann beim Wachstum zulegen und die Erträge steigern.“
Drazen Nikolic
zählen und Kommentare auswerten, ist seit
mehreren Jahren üblich. Mit einer Big-DataAnwendung kann der Vertrieb nun aber sogar hochrechnen, in welcher Stückzahl ein
neues Produkt bei seiner Markteinführung
voraussichtlich nachgefragt werden wird –
etwa aus der Intensität des „Social Media
Buzz“, also der positiven Erwähnungen in
sozialen Medien. Erste erfolgreich absolvierte
Big-Data-Projekte dienen als Vorbild, um
im Unternehmen ein Bewusstsein zu schaffen, welche Erfolge man mit Analysemethoden auf Basis von Big Data erzielen kann.
Das gilt nicht nur für Daten, anhand derer
man die zukünftige Kundennachfrage erkennen kann, sondern auch für viele andere
Themen: So können zum Beispiel Logistikunternehmen GPS-Positionsdaten auswerten, um wenig staugefährdete Fahrtrouten
für Lastwagen zu berechnen. Und Unternehmen in besonders wettbewerbsintensiven
Branchen können Stellenanzeigen analysieren, um frühzeitig herauszufinden, welche Wettbewerber besonders stark wachsen und in welchem Bereich.
Fachkräfte potenzieren den Nutzen
Das gesamte Potenzial des datenbasierten
Managements können Unternehmen aber
erst erschließen, wenn sie Big Data abteilungsübergreifend nutzen. Dafür müssen
sie investieren: in IT-Infrastruktur und vor
allem in Fachkräfte. Denn um eine Big-DataStrategie umsetzen zu können, brauchen
Unternehmen auf operativer Ebene ein ganzes
Arsenal von Experten. Sie bereiten Daten
aus Texten, Bildern, Videos und Datenbanken
auf. Rund 90 Prozent der weltweit gespeicherten Daten sind unstrukturiert und müssen erst in eine von der Analyse-Software
lesbare Form übersetzt werden. Business-
Intelligence-Analysten werten die Informationen aus und schaffen damit Entscheidungsgrundlagen. „Visualization Experts“ präsentieren geschäftsrelevante Informationen in
einer sehr effizienten und nutzbaren Form.
Jede Disziplin, die mit Big-Data-Anwendungen arbeitet, braucht solche Experten, die
neben der Analysetechnik auch etwas vom
Fach verstehen, sei es beispielsweise im
Marketing, in der Produktentwicklung, der
Logistik oder der Produktion.
Das große Ganze im Blick
Ob jede einzelne Abteilung die Kosten für
Big Data wieder hereinholt, steht auf einem
anderen Blatt. Denn häufig entsteht der
Nutzen aus Big-Data-Anwendungen an anderer Stelle als der Aufwand. Beispiel Automobilindustrie: Werkstätten könnten die
Daten aus Garantiefällen sammeln und an
den Hersteller weiterleiten, damit der daraus Schlussfolgerungen ziehen kann, wo er
bei der Fertigung nachbessern muss. Den
Aufwand müssen in dem Fall die Händler
schultern, den Nutzen hat der Hersteller. Unternehmen müssen sich deshalb von der
Vorstellung lösen, Big Data nur in Bezug auf
einzelne Projekte, Abteilungen oder Geschäftsbereiche zu kalkulieren. Zumal der
Druck steigt, Fehler in der Produktion zu
minimieren. So hat China aktuell ein Gesetz
erlassen, demzufolge Hersteller jedem Kunden ein neues Auto anbieten müssen, dessen Neuwagen eine bestimmte Zahl von
Werkstatt-Tagen überschreitet.
Andere Branchen zeigen schon heute, wie
man Daten von Partnern aus der Lieferkette
einbindet. Führende Konsumgüterkonzerne
haben sich bereits mit großen Handelsketten
vernetzt und speisen die Daten aus den
Points of Sale (POS) direkt in ihre IT ein.
Aus den POS-Daten und den Informationen
aus elektronischen Warenwirtschaftssystemen der Händler rechnen die Hersteller
hoch, wie sich die Nachfrage künftig an bestimmten Wochen- und Feiertagen entwickeln
wird. Der Nutzen: Die Hersteller können ihre
Produktionsplanung anpassen und exakt die
benötigten Kapazitäten beim Logistiker buchen. Vorreiter gehen noch einen Schritt weiter und beziehen weitere Faktoren mit ein.
Sie können zum Beispiel hochrechnen, wie
stark Werbespots im Fernsehen die Nachfrage nach einem bestimmten Waschmittel
am nächsten Tag beeinflussen werden.
Die Suche nach neuen Geschäftsmodellen
Auf Ebene der Unternehmensleitung besteht
die Königsdisziplin darin, mit Big-Data-Anwendungen neue Geschäftsfelder zu erschließen. Ob das gelingt, ist keine Frage der Technik, sondern des Managements. Beispiel Energieversorger: Intelligente Stromzähler sowie Wärme- und Wasserverbrauchszähler
liefern ständig in Echtzeit Daten über den
Verbrauch jedes einzelnen Kunden. Diese
Daten beinhalten wertvolle Informationen,
denn aus den Verbrauchskurven lassen sich
Hinweise auf die Lebensgewohnheiten der
Menschen in einzelnen Haushalten ableiten. Bislang tun sich die meisten Versorger
schwer, solche Möglichkeiten zum Erschließen neuer Geschäftsfelder zu erkennen und
passende Wege der Monetarisierung zu
finden. Das Denken in Abteilungsstrukturen
erschwert das Entstehen neuer Geschäftsideen, und es fehlen Anreize für Mitarbeiter,
innovative Ideen weiterzuverfolgen. Das
Geschäft mit den Informationen der Kunden
machen derweil andere: Der zweitgrößte
Firmenzukauf in der Geschichte von Google
02/2014 Entrepreneur
52 Expertise  Studie
„Auf der Ebene der Unternehmensleitung
besteht die Königsdisziplin darin, mit
Big-Data-Anwendungen neue Geschäftsfelder zu erschließen. Ob das gelingt,
ist keine Frage der Technik, sondern des
Managements.“
Drazen Nikolic
Drazen Nikolic
[email protected]
Drazen Nikolic ist Partner
bei EY und im EMEIA Advisory
Center tätig.
war Anfang des Jahres ein Hersteller vernetzter Haustechnikgeräte. Mit den übermittelten Daten kann Google nun direkt ins
Heim potenzieller Konsumenten schauen
und Muster in den Lebensgewohnheiten der
Menschen entdecken. Diese Informationen
über Gewohnheiten und Bedürfnisse sind
wertvoll und lassen sich weiter verwerten.
Wer Big-Data-Technologie wie Google als
Wachstumstreiber einsetzen will, braucht
eine Strategie, die das Change Management
zu einer Kernkompetenz des Unternehmens
entwickelt. Nur so können Unternehmen erkennen, welche bislang nicht wertschöpfend
genutzten Informationen in vorhandenen
Daten stecken.
Vertrauensbildende Maßnahmen
sind gefragt
Wenn Firmen eine Big-Data-Strategie entwickeln, sollten sie von Beginn an sicherstellen, dass die geplanten Anwendungen
rechtlich wasserdicht sind, und den Datenschutz berücksichtigen. Sonst kann es für
Unternehmen teuer werden: Dass die Rechtsabteilung eine fertig entwickelte Anwendung kippt und nachträglich kostspielige Änderungen notwendig werden, ist dabei nur
ein denkbares Szenario. Noch gefährlicher
und teurer wird es, wenn ein Unternehmen
seine Big-Data-Anwendungen bereits in der
Praxis einsetzt – und Aufsichtsbehörden
dann Alarm schlagen. Das Europäische Parlament hat gerade erst die Strafen für Unternehmen drastisch erhöht, die gegen Datenschutzbestimmungen verstoßen.
In einem solchen Fall droht neben den rechtlichen und monetären Konsequenzen ein
massiver Glaubwürdigkeitsverlust. Das Unbehagen der Konsumenten gegenüber dem
Entrepreneur 02/2014
Sammeln von Daten durch Unternehmen
steigt ohnehin weltweit, zeigen Studien von
EY: 70 Prozent der Verbraucher geben ihre
Daten nur ungern an Unternehmen weiter.
Jeder Zweite will künftig weniger Daten
zur Verfügung stellen als früher. Ob sich der
Trend noch aufhalten lässt, hängt maßgeblich davon ab, wie sensibel Firmen mit den
Daten ihrer Kunden umgehen. Wer hier eine
Vorreiterrolle einnimmt und nicht nur die
gesetzlichen Standards erfüllt, kann seine
Datenschutzpolitik offensiv gegenüber Konsumenten kommunizieren und sich damit
als vertrauenswürdig positionieren.
Entscheidend für die Akzeptanz von Big-DataAnalysen wird zudem sein, wie Konsumenten die Nutzung ihrer Daten beim alltäglichen
Kontakt mit dem Unternehmen wahrnehmen. Wer nach dem Kauf im Online-Shop passende Empfehlungen bekommt, wird sich
darüber zunächst freuen. Wer aber einen
Gesundheitsratgeber kauft und danach das
Angebot für die passenden Medikamente
bekommt, wird sich eher ausspioniert als
gut beraten fühlen. Und beim nächsten Einkauf einen anderen Shop aufsuchen. Das
Beispiel zeigt: Unternehmen in Wirtschaftsbereichen wie der Gesundheitsbranche, in
denen Kunden ihre persönlichen Daten für besonders vertraulich halten, müssen Compliance ganz besonders ernst nehmen. Ansonsten droht ihnen ein Reputationsschaden. Hier
ist auch der Gesetzgeber gefordert, zumindest EU-weit einheitliche Regeln für Unternehmen zu schaffen.
Letztlich wird jedes Unternehmen seinen
eigenen, individuellen Weg zu einer Big-DataStrategie finden müssen. Abhängig von
Branche und Managementkultur werden die
Hürden unterschiedlich hoch sein. Doch
immer gelten zwei Erkenntnisse. Erstens:
Das Potenzial von Big Data, Firmen zu revolutionieren, ist immens. Um es zu nutzen,
müssen Unternehmen ein tiefes Verständnis
der Nutzbarkeit von Daten und Informationen für ihr Geschäftsmodell entwickeln, um
passende Ansatzpunkte zu finden. Erst dann
sollten sie sich der notwendigen Technologie
zuwenden. Zweitens: Big-Data-Anwendungen werden schon bald zum Alltag gehören.
Je eher sich ein Unternehmen dem Thema
widmet und damit Konkurrenten zuvorkommt,
desto größer ist seine Chance, sich einen
dauerhaften Wettbewerbsvorteil zu sichern.
Impulse  Mindmap 53
Das Chamäleon
Wie novomind im E-Commerce für Verständigung sorgt.
Unternehmen
Mitarbeiter
• Was wir machen, ist schon ziemlich
cool – Vernetzung durch Begeisterung
• Langfristige Perspektive und inhaber­geführt – genaue Kenntnis eigener
Stärken und Schwächen
• Unsere Philosophie: einfach mal machen
• Innovationen entstehen durch Ausprobieren
• Sich täglich neu erfinden als Basis des Erfolgs
• Vernetzung in beide Richtungen:
eine Hälfte der Zeit für die Kunden,
die andere für die Mitarbeiter
• Ergo: Es macht Spaß bei novomind
• Jeder kann hier alles werden
• Was zählt, sind Begeisterung
und Leidenschaft
• Bewegung statt Langeweile
• Wir funktionieren, weil das Team stimmt
• A lle Türen immer offen – keine
„Undercover Bosses“
• Strukturen flach, Entscheidungswege
kurz, Führung unbürokratisch –
das bietet Entwicklungschancen
•C
hancen schaffen Bindung
Partner
Kunden
• Wir sind das Chamäleon, nicht
der Dinosaurier – immer an
den Markt anpassen
• Wir folgen den Wünschen der
Kunden – nicht umgekehrt
• Persönliche Gespräche zählen
mehr als E-Mails
• Gute Beziehungen durch ein
gutes Produkt – unsere Software ist komplex, muss aber
einfach zu bedienen sein
THEMA
Vernetzung
Privat
• Partner sind eigenständig; mit
eigenem Wissen, eigenen Technologien und Erfahrungen
• Niemals vergessen: Partner
steigern unsere Leistungsfähigkeit
• Auch unsere Kunden profitieren
von unseren Partnern
• Ergo: Partnern auf Augenhöhe
begegnen – aber wirklich!
Engagement
• Offene Augen für neue Ideen – immer im
Kontakt mit der Welt
• Was zählt, ist eine teamfördernde Umgebung
• Wer mit anderen etwas leisten will, braucht
eigene Kraft – Ausgleich durch Golf, Handwerken, Holzhacken
Vom Nischenplayer mit einer Handvoll Mitarbeiter
zum Technologieführer? Das hätte sich Stefan
Grieben (Mitte) nicht träumen lassen, als er im
Jahr 2000 als Entwickler beim Hamburger Softwarehaus novomind einstieg. Heute gehört die
novomind AG zu den Branchengrößen unter den
europäischen E-Business-Dienstleistern. Rund
140 Mitarbeiter entwickeln innovative IT-Lösungen
für den Online-Handel und die elektronische Kundenkommunikation. Web-Shops und die dahinterliegenden Prozesse, der Anschluss von Markenartikelanbietern an Handelsplattformen wie Amazon
oder Ebay, multichannelbasierte Servicecenter –
novomind sorgt für reibungslose Abläufe.
• Soziales Engagement bewirkt Gutes – und
tut uns selbst gut
• Für andere: Geld für gute Ideen in der
Kinder- und Jugendhilfe, Sponsoring einer
Jugend-Fußballmannschaft
• Für Mitarbeiter: Ausgleich durch Sport –
Zuschüsse für Fitnessclubs, Schwimmbäder
oder Tennisstunden
• Eigener Betriebssportverein
• Segeln schweißt zusammen – auf der
„novomind“-Segelyacht
Rund 80 Unternehmen zählt novomind heute zu seinen
Kunden, darunter Otto, Bertelsmann und die Lufthansa.
Dass es dazu kam, ist auch Stefan Griebens Verdienst,
der bereits kurz nach seinem Einstieg als E-CommerceProjektleiter den Vertrieb stärkte, bevor er 2006 als
Mitglied der Geschäftsleitung das Unternehmen auch
übergreifend zu steuern begann.
Seit Januar 2012 lenkt der heute 40-Jährige als Chief
Operating Officer und Mitglied des dreiköpfigen Vorstands die Geschicke von novomind, verbindet technische
mit menschlicher Kompetenz. Eine seiner Hauptaufgaben: weiterhin die besten IT-Entwickler und Berater
für novomind zu gewinnen, als Voraussetzung für weiteres Wachstum.
02/2014 Entrepreneur
Impulse  Digital 55
Wilde
Mischung
„Connect the unexpected“,
lautet das Motto der BurdaManagerin Stephanie
Czerny, die von München
über London, Tel Aviv,
Istanbul, New York, Rio de
Janeiro und Palo Alto bis
nach Moskau und Peking
ein weltumspannendes Netz
von Zukunftsforen für die
Digitalbranche geschaffen
hat – und in den Chefetagen
von Facebook, Google & Co.
ein und aus geht.
Stephanie Czerny ist seit 2005 Gastgeberin
der DLD-Konferenz. Von ihrem Büro beim Münchner
Burda Verlag aus kümmert sie sich um die
richtige Mischung von Vortragenden und Gästen.
D
as MacArthur Park Restaurant im kalifornischen Palo
Alto empfängt seine Gäste
stilvoll im historischen Ambiente kolonialer Holzarchitektur. In dem 1918 errichteten Gebäude,
einst vom Christlichen Verein Junger
Frauen (YWCA) für die Bewirtung von Soldaten und später als Treffpunkt von
Veteranenorganisationen genutzt, kommen jeden Herbst zwischen 300 und
400 Topleute des Silicon Valley zusammen. Allerdings sind es nicht die preisgekrönten Spare Ribs oder der berühmte Brunch des MacArthur Park, die
Yahoo-Chefin Marissa Mayer, FacebookGründer Mark Zuckerberg oder KultBlogger Jeff Jarvis in das Traditionsrestaurant locken, sondern es ist die
Gelegenheit, sich über die neuesten Trends
auszutauschen – bei einem Kommunikationsevent, den ein deutscher Verlag
dort seit acht Jahren inszeniert. Auch
kommenden Oktober jetten Burdas globale Networkerin Stephanie Czerny
und ihr DLD-Team wieder von der Isar
ins Silicon Valley, um die Crème der
US-Internet-Community zum intellektuellen Brainstorming zu versammeln –
mit lautstarker Begleitung der „Tegernseer Musikanten“.
DLD steht für „Digital Life Design“, die
Konferenz- und Innovationsplattform
von Hubert Burda Media. Alles begann
mit der erstmals 2005 von Stephanie
Czerny veranstalteten DLD-Konferenz
in München, die inzwischen als einer
der weltweit wichtigsten Treffpunkte der
digitalen Branche gilt – und weitaus
mehr als ein reiner Technologiekongress
ist: „Natürlich waren schon alle großen
Vordenker des digitalen Wandels bei
uns“, sagt Czerny. „Aber das eigentlich
Spannende ist, dass wir Google-Gründer
Larry Page, Wikipedia-Erfinder Jimmy
Wales und WhatsApp-Co-Founder Jan
Koum mit Künstlern wie Ai Weiwei und
Lady Gaga, mit Architekten wie Zaha
Hadid und Norman Foster, mit Politikern
wie Ursula von der Leyen, mit Neurowissenschaftlern wie Tania Singer und
mit Topmanagern wie Jean-Claude Biver
von der Luxusuhrenmarke Hublot zusammenbringen.“ Es ist dieser bunte,
hochkarätige Mix, der erklärt, warum im
Januar 2014 rund 1 000 Teilnehmer aus
aller Welt der Einladung der beiden DLDChairmen, Dr. Hubert Burda und des
israelischen Hightech-Investors Yossi
Vardi, nach München folgten, um drei
Tage lang über Themen wie „Mobile &
Massive Data“, „Gamification & Health“
oder „News & Privacy“ zu diskutieren.
Natürlich ist das Programm wichtig,
aber wichtiger noch ist für Czerny die
richtige Mischung von Vortragenden
und Gästen – Menschen, die sich etwas
zu sagen haben und durch die Vernetzung im Idealfall spontan neue Ideen
und Erkenntnisse entstehen lassen. Gerne erinnert sie sich an einen Workshop,
in dem Starautor Paulo Coelho mit Sean
02/2014 Entrepreneur
56 Impulse  Digital
„Connect the unexpected“: Seit 2005
versammeln sich auf der jährlichen
DLD-Konferenz in München die weltweit
wichtigsten Vordenker der digitalen
Branche, um sich gemeinsam mit Wissenschaftlern, Managern und Künstlern
über die neuesten Trends auszutauschen.
Als Gastgeberin mittendrin: Stephanie Czerny.
Impulse  Digital 57
Parker, einem der Facebook-Gründer,
auf der DLD-Bühne saß: „Der eine hat
darüber geredet, wie man einen guten
Roman schreibt, der andere darüber,
wie man eine gute Software schreibt.
Einfach faszinierend.“ Letztlich gehe
es bei DLD um „Mustererkennung“, so
Czerny: „Wer passt mit wem zusammen? Wo ergeben sich aufschlussreiche
Übereinstimmungen, wo interessante
Verknüpfungen?“
Dass solche Arrangements, wenn sie
gelingen sollen, eine generalstabsmäßige Vorbereitung erfordern, versteht
sich von selbst. Die Gastgeberin erläutert am Beispiel eines weiteren DLDKongresses, der Ende April/Anfang Mai
2014 in New York stattfand, das Prozedere: „Zwei Monate vor dem Event
hatten wir bereits 600 Anmeldungen sowie 60 Speaker auf unserer Liste. In
unseren Teamsitzungen haben wir dann
besprochen, wen wir letztendlich einladen, wer mit wem auf der Bühne diskutiert, wer neben wem bei den verschiedenen Essen sitzt und natürlich
wie man die Themen spannend rüberbringt.“ Dazu recherchieren Czerny und
ihre acht Mitarbeiter im Vorfeld alles,
was sie nur irgendwie erfahren können,
über die möglichen Teilnehmer: „Wie
diese aussehen, was sie gerade beruflich machen, mit welchen Themen sie
in der Presse erwähnt werden. Wahrscheinlich wissen wir am Ende mehr über
sie als sie selbst“, vermutet sie, denn
nur auf dieser Basis sei es möglich, „die
Konferenz vorab im Kopf zu haben und
die Voraussetzungen für erfolgreiche Vernetzungen zu schaffen“.
Dies gilt auch für die Konferenz „DLDwomen“, die Czerny und ihr Team derzeit vorbereiten. Die nächste Konferenz
in München findet im Juli statt. „DLDwomen“ beleuchtet das Thema Digitalisierung aus weiblicher Perspektive: „Es
geht um die gravierenden Veränderun-
„Ich bin einfach ein
großer Menschenfreund,
ich liebe es, Menschen
zu beobachten, zu
erkennen und wild zu
mischen.“
gen des Internets, die wir unter dem
Stichwort ,Big Data‘ gerade erleben,
um personalisierte Medizin, neue Produkte, neues Lernen, das ganze Thema
Sicherheit und vieles mehr“, so Czerny.
Gerade Frauen würden sich durch die
Digitalisierung viele neue Perspektiven
eröffnen, ist sie überzeugt. Und dass in
der noch jungen Internetbranche der
Aufstieg grundsätzlich leichter gelinge
als in traditionellen Unternehmen mit
etablierten Hierarchien, zeigten ja die
Beispiele von Marissa Mayer und Sheryl
Sandberg. Czerny: „Als es im Silicon
Valley losging, stand bereits ein Heer
topausgebildeter Frauen bereit, was
früher in dem Maße nicht der Fall war.“
Der große Brunch, den sie einmal im
Jahr im MacArthur Park Restaurant im
Herzen des Silicon Valley veranstaltet –
neben den Konferenzen und Round Tables eine der weiteren Vernetzungsplattformen von DLD Media –, ist für Czerny
so etwas wie ein Heimspiel. „In meinen
Anfängen bei Burda habe ich einfach sehr
früh Leute wie Marc Andreessen, den
Erfinder des Netscape-Browsers, Mark
Zuckerberg und Sheryl Sandberg kennengelernt. Und Silicon Valley ist ja trotz
seines Wachstums ein kleines, enges
Netzwerk geblieben. Wenn man da einmal mittendrin ist, ist es ganz leicht,
Leute anzusprechen.“
Es ist ihre Fähigkeit, Networking für
die Beteiligten zu einem ebenso angenehmen wie inhaltlich anspruchsvollen
Erlebnis zu machen, die weltweit die
IT-Ikonen zu den Zukunftsforen der
bodenständigen Bayerin strömen lässt.
Sie sei nicht besonders internetaffin,
sagt sie und erklärt dies mit ihrem Alter,
sie beobachte lieber Vögel im heimatlichen Kreuth als Bitcoins am Bildschirm,
was mit ihrer grossen Naturverbundenheit zu tun habe. Bei einer Veranstaltung
kann die 59-Jährige auch schon einmal
den fast 30 Jahre jüngeren Multimilliardär Mark Zuckerberg mit mütterlicher
Strenge ermahnen: „Mark, you have to
talk to this person“, was dieser dann
auch bereitwillig tut. „Ich bin einfach ein
großer Menschenfreund, ich liebe es,
Menschen zu beobachten, zu erkennen
und wild zu mischen“, erklärt sie ihren
Antrieb, ihre Motivation. Man kann sich
gut vorstellen, welche Freude es ihr
bereitete, als Hubert Burda mit Marissa
Mayer bei einem der letzten DLD-Frühstücke im MacArthur Park Restaurant das
Tanzbein schwang – zu den Klängen
bayrischer Volksmusik.
Stephanie Czerny
Stephanie Czerny, Jahrgang 1954, kam 1996 zum
Münchener Burda Verlag, wo sie zunächst im Stab von
Dr. Hubert Burda dafür verantwortlich war, „die spannendsten digitalen Themen für den Verlag zu erkunden“
(Czerny). Daraus entstanden 2005 die erste DLD-Konferenz in München und Burdas neuer Konferenz- und
Innovationsgeschäftszweig DLD Media, der seit einigen
Jahren schwarze Zahlen schreibt. Czerny ist gelernte
Journalistin (unter anderem mit Schwerpunkt Internationales Seerecht). Nach ihrem Studium der Politischen
Wissenschaften absolvierte sie eine Ausbildung an der renommierten Deutschen Journalistenschule in München.
Sie engagiert sich stark in der Frauenförderung, unter anderem im Frauenbeirat der HypoVereinsbank (HVB):
Als Mentorin unterstützt sie Start-ups talentierter Frauen.
Die Bayerin ist verheiratet und hat vier Kinder.
Stephanie Czerny
02/2014 Entrepreneur
Impulse  Live Scribing 61
Kreative
Störer
Noch nie wurde eine Generation von
den Arbeitgebern so umworben wie
die der heute 20- bis 30-Jährigen. Sie
sind bestens ausgebildet, vielfältig
vernetzt, flexibel, aufgewachsen mit
Internet, Handy und Social Media –
und sie gelten als Treiber für Innovation
und neue Kommunikationswege.
Auf der Münchner Konferenz „Front
End of Innovation“ (FEI) debattierten
200 Entscheider, Innovatoren, Trendspotter und Wissenschaftler über
die kreativitätsfördernde Kraft dieser
High Potentials. Die wichtigsten Ergebnisse der Diskussion wurden in live
gezeichneten Bildern dokumentiert.
Von „Try before you buy“ bis „How to capture
creative destruction“ – die Ansätze der Generation Y
für einen Innovationsschub in den Unternehmen
sind vielfältig und mitunter recht unkonventionell.
Die Live-Zeichnung unter der Aufklappseite verschafft
einen Eindruck von der Palette der Ideen.
02/2014 Entrepreneur
58 Impulse Live Scribing
Entrepreneur 02/2014
Impulse Live Scribing 60
02/2014 Entrepreneur
62 Impulse  Salonkultur
Netzwerke
der
Ideen
Der Salon war der Motor
der Aufklärung. Nun
kommt er zurück. In der
Welt der digitalen Ära
stellen sich vielleicht andere Fragen als in den
europäischen Metropolen des 17. Jahrhunderts.
Doch die Regeln sind
die gleichen geblieben.
Warum herrscht im
Zeitalter des Internets
eine so große Sehnsucht nach ein paar ge­
selligen Stunden im
Kreise Gleichgesinnter?
Entrepreneur 02/2014
Der Salon, der eine ganze Epoche
prägte: Herzogin Anna Amalia
von Sachsen-Weimar mit ihren Gästen,
darunter Goethe (Dritter von links)
und Herder (ganz rechts).
Die Methoden der Wertstoff-Rückgewinnung wurden im Laufe der Jahre
immer effizienter; heutzutage
stammen bereits 15 Prozent der
Plastikproduktion aus dem Recycling.
64 Impulse  Salonkultur
D
gärten unter einem strahlenden Atlantikhimmel. Der New Yorker Literaturagent John Brockman lebt dort an den
Wochenenden, und einmal im Jahr lädt
er eine kleine Schar aus jenem Kreis von
Wissenschaftlern, Künstlern und Intellektuellen ein, die die Speerspitze der
sogenannten „Third Culture“ bilden.
Nun waren die Salons damals – und
sind es auch heute noch – geschlossene Gesellschaften exklusiver Zirkel.
Doch wird man zu einem solchen geladen, dann begreift man schnell, was
solchen Zusammenkünften eine derartige intellektuelle Kraft gibt. An einem
Sommertag auf der Eastover Farm in
Connecticut zum Beispiel, inmitten
der grünen Hügel von New England
mit ihren Pferdekoppeln und Obst-
Diese dritte Kultur ist weniger eine
neue Kultur als eine neue Form zu
debattieren – quer durch alle Disziplinen, die sich traditionell in die Geistes- und die Naturwissenschaften aufteilen, also in die erste und die zweite
Kultur. An jenem Wochenende beispielsweise war ein halbes Dutzend
Männer eingeladen, die ihr jeweiliges Feld entscheidend geprägt haben:
der Genforscher Craig Venter, der
das erste Genom entschlüsselt hatte,
sein Kollege George Church, Robert
Shapiro, der die Chemie der DNS erforscht, der Astronom Dimitar Sasselov, der Quantenphysiker Seth Lloyd
sowie der Physiker Freeman Dyson,
er Salon war lange
eine Fußnote der
Geschichte, existierte nur noch am
Rande der Gesellschaft. Doch jetzt
ist er wieder da –
und mit ihm die Sehnsucht nach jenen
Nachmittagen in den großbürgerlichen Zimmerfluchten der Gesellschaftsdamen von Paris, Wien, Berlin und
Weimar, an denen aus einzelnen Gedanken plötzlich historische Ströme
werden konnten.
der seine Rolle als Wissenschaftler
auch immer darin sieht, allgemein
akzeptierte Wahrheiten in Frage zu
stellen. Ein paar Wissenschaftsautoren waren gekommen und die Literaturredakteurin der Zeitschrift New
Yorker, Deborah Treisman.
Bei anderen solchen Zusammenkünften war die Zahl der Nobelpreisträger
vielleicht höher, doch was die Runde
dann im warmen Sommerwind unter
den rauschenden Wipfeln der Ahornbäume mit Krügen voll frisch zubereiteter Limonade diskutierte, war die
gewichtige Frage: Wie entsteht Leben?
Seth Lloyd formulierte das Problem
gleich zu Beginn: Die Wissenschaft wisse alles über den Ursprung des Universums und fast nichts über den Ursprung
des Lebens. Ohne dieses Wissen bewegten sich die Wissenschaften an der
Schwelle zum biologischen Zeitalter
allerdings weitgehend im Dunklen.
Brockman hatte die eingeladenen Wissenschaftler ganz bewusst ausgewählt. Sie sind zwar Vertreter ganz
unterschiedlicher Felder, können sich
aber schon lange nicht mehr auf ihre
Einzeldisziplinen zurückziehen. Auch
wenn man sich spätestens in dem Moment als Außenseiter fühlte, als Robert Shapiro einen Witz über Ribonukleinsäuren machte, der ihm von
den Wissenschaftlern großes Gelächter einbrachte.
John Brockman führt solche Zusammenkünfte mit souveräner Lässigkeit. Viele seiner Treffen markierten
schon den Beginn einer Phase, in der
ein ganz bestimmtes wissenschaftliches Thema den Lauf der Dinge prägte. So wie er die Koryphäen der Verhaltensökonomie versammelte, kurz
bevor die Finanzkrise die traditionellen Wirtschaftswissenschaften in eine
massive Identitätskrise stürzte. Oder
wie jenes Zusammentreffen der naturwissenschaftlichen Moralforscher,
die den Zerfall der amerikanischen
Gesellschaft entlang der politischen
Gräben im Blick hatten. Er übernimmt
Nicht alle Salonnièren begnügten
sich mit ihrer Gastgeberrolle –
Johanna Schopenhauer (die Mutter
des Philosophen Arthur, hier
mit ihrer Tochter Adele) war eine
bedeutende Schriftstellerin mit
einem umfangreichen Lebenswerk.
Entrepreneur 02/2014
da regelmäßig eine Rolle, die eigentlich aus dem 17. und 18. Jahrhundert
stammt, als die Damen der großen
Salons in ihren großbürgerlichen Wohnungen Matineen und Soireen gaben,
die gesellig wirkten, doch in Wahrheit
die Kräfte der Aufklärung bündelten.
Der Salon gilt bis heute als eine geheimnisvolle Welt der Gedanken und
Ideen, eine Welt, in der sich einst Menschen trafen, die von den Geschichtsbüchern schon bald als historische
Figuren geführt wurden. In der Frühzeit der Salonkultur waren diese Zusammenkünfte sowohl Brutstätten neuer Ideen als auch erste Formen einer
urbanen und bürgerlichen Kultur. Im
Paris des frühen 17. Jahrhunderts bildeten sich die ersten Salons, als die
Adeligen ihre Landgüter verließen und
sich in der Hauptstadt um den König
scharten. Zunächst zementierten sie
nur die frühen Formen der bürgerlichen
Kultur, die Musik, die Literatur. Bald
aber kamen Philosophen hinzu. Voltaire
etwa und Denis Diderot bereiteten da im
späten 18. Jahrhundert den geistigen
Boden für die französische Revolution.
In ganz Europa gehörte es schon bald
zum Leben in den großen Städten dazu, dass Damen der Gesellschaft die
wichtigsten Denkerinnen und Denker
versammelten. Das waren zu ihrer Zeit
oft radikale Versammlungen, denn in
In Caroline Schellings Mainzer Salons
gärte Ende des 18. Jahr­hunderts
der revolutionäre Geist. Das preußische
Militär verhaftete Schelling 1793 für
ihre Verbindungen zu den Jakobinern.
den Salons gab es keine Standesgrenzen. Mit dem Vernunftdenken der Aufklärung war der Intellekt mit einem
Male zu einem neuen Maß des Ansehens
geworden. Berlin und Wien etablierten sich neben Paris als Metropolen der
Salonkultur. Aber auch in den kleineren Städten kreiste das Geistesleben
bald schon um die Salons. Legendär
waren beispielsweise die Salons in Weimar, wo Johanna Schopenhauer, die
Mutter des zukünftigen Philosophen
Arthur, und Anna Amalia von SachsenWeimar und Eisenach, Johann Wolfgang
von Goethe und Friedrich Schiller zu
ihren Gästen zählten.
In England wiederum entwickelte sich
die Kaffeehauskultur. Im Jahr 1650
hatte mit dem Grand Café in der Universitätsstadt Oxford das erste Coffee
House der britischen Insel eröffnet.
Dort hatte nicht nur die offene Struktur des Cafés einen enormen Effekt
auf die Debattenkultur, sondern auch
Kaffee und Tee, die neuen Getränke
aus den Kolonien. In einem Land, in
dem die gesamte Bevölkerung zu jeder Tageszeit Alkohol trank, wirkten
die Stimulanzien des Koffeins wie
Dünger für die aufblühenden Ideenkulturen. Vor allem aber bildete sich
Der Salon der Herzogin Anna Amalia
galt bald als Musenhof. Sie war
aber nicht nur Dame der Gesellschaft,
sondern auch grosszügige Mäzenin,
die Goethe und Schiller unterstützte.
in den Salons und Kaffeehäusern Europas (und später auch Amerikas) das
Grundprinzip der Innovation und des
Fortschritts heraus – das Netzwerk.
Denn es waren eben nicht die jähen
Heureka-Momente in der Einsamkeit
des Labors oder der Studierstube, in
denen die Wissenschaftler und Denker
die Menschheit aus den dunklen Zeiten der Vormoderne in das Licht der
Vernunft holten. In den oft heftigen
Debatten in den Salons und Kaffeehäusern konnten die Ideen erst einmal
reifen, um solche Heureka-Momente
überhaupt möglich zu machen.
Es ist also kein Wunder, dass die nostalgische Sehnsucht nach den Zusammenkünften der großen Ideengeber
gerade heute so ausgeprägt ist. Woody
Allen, der größte aller Großstadtromantiker, setzte dieser Nostalgie 2010
mit seinem Film „Midnight in Paris“
02/2014 Entrepreneur
Impulse  Salonkultur 67
ein filmisches Denkmal. Da streift der amerikanische Autor Gil Pender durch die nächtlichen Straßen und Gassen von Paris. Nur durch
Zufall gerät er in ein Zeitportal und landet
dann jede Nacht aufs Neue im Paris der 20erJahre. Dort trifft er in den mit Kunstwerken
zugehängten Zimmerfluchten der Schriftstellerin und Sammlerin Gertrude Stein auf
Pablo Picasso, auf F. Scott Fitzgerald, Ernest
Hemingway, Salvador Dalí und Luis Buñuel.
Es ist der Traum von jenen kleinen Welten der
Bohème, in denen Großes für die Kulturgeschichte entsteht.
Diese Sehnsucht passt perfekt in ein Zeitalter,
in dem sich die Massenmedien von den Veröffentlichungs- und Sendemodellen verabschieden und in Netzwerke mit schier unendlichen
Knotenpunkten verwandeln. Facebook, Twitter
und die unzähligen Blogs und Foren simulieren ja genau dieses Erlebnis des Ideenaustausches für ein Publikum von inzwischen Milliarden. Vom digitalen Weltgeist ist da schon
die Rede, vom globalen Salon und von einem
universalen Hirn. Kann es sein, dass die nostalgische Hinwendung zu den Salons der Vergangenheit also eine Sehnsucht nach etwas
mehr Klarheit auf dem Weg in eine so komplex
vernetzte Zukunft ist?
In der digitalen Ära stellt sich die Frage, ob
sich nun noch einmal vollzieht, was Jürgen
Habermas den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ nannte, jenen Aufstieg des Bürgertums und der Massengesellschaft, der mit
den Salons begann. Man kann diese Frage nicht
pauschal beantworten – nicht wenn es um
einen Strukturwandel geht, der verschiedene
Sphären der internationalen Gemeinschaft
unterschiedlich betrifft. In Europa und Amerika
entstehen mit den digitalen Medien immer
neue Sackgassen und Kreisverkehre der Kommunikation. Aus den ideengeschichtlichen
Entladungen der Salonkultur ist in den sozialen
Netzwerken wie Twitter und Facebook ein
digitales Grundrauschen geworden, das jede
Idee zur Gleichgültigkeit verdammt.
In den Schwellen- und Entwicklungsländern
vollzieht sich Habermas’ Strukturwandel der
Öffentlichkeit über die digitalen Medien dagegen ganz ähnlich wie im Europa der Aufklärung über die Salons und die frühen Massenmedien. In Ländern wie dem Iran, Ägypten oder
der Ukraine finden sich über das Netz Gleichgesinnte, die dort das austauschen können, was
Salon des 21. Jahrhunderts: der Literaturagent John Brockman (Mitte, mit Hut) im Kreise
der Wissenschaftler des Edge-Netzwerkes
bei einem seiner legendären Wochenenden
auf der East­over Farm in Connecticut.
02/2014 Entrepreneur
Impulse  Salonkultur 69
der Beginn jedes Wandels ist – gefährliche Ideen. Denn Ideen müssen gefährlich sein, wenn sie etwas verändern sollen.
Das war auch in den Frühzeiten der
Salons nicht anders. Denn es ging ja
keineswegs nur um ästhetische Fragen und literarische Formen, wenn sich
die Großen ihrer Zeit in literarischen
Salons trafen. In den Salons der Schriftstellerin Caroline Schelling in Mainz
und Göttingen trafen sich beispielsweise gegen Ende des 18. Jahrhunderts
all jene revolutionären Geister, die in
Paris eine neue Zeit anbrechen sahen,
die das Ende der Regenten bedeuten
sollte. Schelling wurde verhaftet, verleumdet, geschmäht. Und doch änderte
es nichts daran, dass sich die Jakobiner unter der Obhut Caroline Schellings
auch in Deutschland zu einer Kraft
gegen Könige und Kaiser formierten.
Das ist auch der Grund dafür, dass
eine Autokratie wie China mit Macht
versucht, auf allen sozialen Ebenen
die Vereinzelung des Individuums zu
fördern. Denn der Einzelne wird keine gefährlichen Ideen entwickeln. In
dieser Angst vor der Kraft der Netzwerke liegt auch der Grund für die so
ungewöhnlich vehemente Verfolgung
von Glaubensgemeinschaften. Schlimm
genug, dass der Glaube die Deutungshoheit der Partei in Frage stellt. Doch in
den Netzwerken der Kirchen und Klöster lauert für die Macht eine Gefahr.
Der aktuelle Kampf um die Deutungshoheit ist jedoch kein politischer – der
hat sich seit dem Ende der Ideologien
in unzählige, oft regionale Mikrokonflikte aufgelöst. Auch der Kampf zwischen Religion und Wissenschaft ist
längst entschieden. Und doch sind es
die Wissenschaften, die Gewissheiten
in Frage stellen. Da kommt dann auch
Mit dem Internet erweiterte sich der Kreis jener, die
Ideen entwickeln und austauschen, ins Unendliche.
Deswegen treffen sich Denker und Schöpfer seit einigen
Jahren wieder vermehrt auf salonähnlichen Tagungen wie DLD, dem Aspen Ideas Forum oder der TED
Conference. Was vor 30 Jahren als Elitetreffen der
Silicon-Valley-Pioniere begann, ist heute ein globales
Forum für Ideen geworden, das sich mit Videoaufnahmen von Vorträgen auch im Internet verbreitet.
Zweimal im Jahr kommen gut 1 000 Wissenschaftler,
Künstler, Aktivisten und Unternehmer an einem Ort
zusammen, um Ideen kennen zu lernen und zu diskutieren, die es „wert sind, verbreitet zu werden“, wie
das Motto der Konferenz besagt. Oft hört man hier,
was die Welt Jahre später prägen wird.
Kaum einer verstand sich im
New York der 60er so gut auf
das Vernetzen wie der exzentrische Künstler Andy Warhol,
hier mit John Brockman (links)
und Bob Dylan (rechts) in seiner
„Factory“, einem Hybrid aus
Salon, Atelier und Partyraum.
die Erinnerung an jenen Sommertag
in Connecticut und den Moment,
als die Wissenschaftler von der Frage
nach dem Ursprung schon bald auf
ihre Forschungen und Projekte kamen.
Craig Venter erzählte von seinen
Plänen, Bakterien zu entwickeln, die
einmal fossile Brennstoffe als Energiequelle ablösen könnten. George
Church beschrieb das Konzept, die
Genetik als Sprache und das Genom
als Mammutwerk zu betrachten, die
es nun zu entschlüsseln gilt. Dimitar
Sasselov berichtete von seiner Suche nach erdähnlichen Planeten. Seth
Lloyd erläuterte die ungeahnten
Möglichkeiten der Quantencomputer.
Was vor wenigen Jahren unter den
Ahornbäumen für die Zaungäste noch
wie Science-Fiction klang, ist heute zu
einem guten Teil schon wissenschaftliche Realität.
Auch John Brockman pflegt seine
Salons natürlich längst im Netz. Auf
seiner Website edge.org versammeln
sich regelmäßig die führenden Wissenschaftler, Künstler und Intellektuellen, die Fragen der Zeit auseinandernehmen. Einmal im Jahr gibt es da
eine konzertierte Aktion, bei der sich
Brockmans gesamtes Netzwerk eine
große Frage stellt. Vor acht Jahren
war dies die Schlüsselfrage der Salonkultur: Was ist Ihre gefährlichste
Idee? Über 100 solcher Ideen kamen
da zusammen. Liest man quer durch
dieses intellektuelle Feuerwerk, wird
man schon bald im eigenen Kopf erleben, wie die Ideen aufeinanderprallen,
wie sie Energie freisetzen und so neue
Ideen schaffen. Da ist es dann, das intellektuelle Hochgefühl, das die Salons
schon immer beflügelte.
Brockmans Manege der Ideen hat inzwischen längst unzählige Nachahmer gefunden. Konferenzen haben sich
als eigenständige Kommunikationsform etabliert, weil das Netzwerken
jenseits des Internets sehr viel effektiver, sehr viel fruchtbarer ist. Konferenzen wie die TED Conference, das
Aspen Ideas Festival, PopTech oder
Digital Life Design haben mit Tagungen
und Kongressen nicht viel mehr gemein als die äußere Form. Längst sind
sie die neuen Durchlauferhitzer der
Ideengeschichte. Gerade die amerikanische TED Conference hat in den
letzten Jahren gezeigt, wie sich der
Salon des 21. Jahrhunderts entwickeln kann. Was 1984 unter dem Banner „Technology, Entertainment,
Design“ als Elitetreffen des Silicon
Valley begann, ist heute ein weltumspannendes Netz, das sämtliche
Kanäle der Kommunikation nutzt –
Konferenzen, Online-Videos, Blogs
und Debattenforen. Und zweimal im
Jahr trifft sich ein kleiner Kreis aus
dem großen Netzwerk in einer Weltstadt zu einem – Salon.
02/2014 Entrepreneur
70 Impulse  Zehn Fragen
Mit Methoden zur Erforschung von Netzwerken werden heute
Epidemien vorhergesagt, Terrornetzwerke gestört, Innovationen
befeuert. Überrascht Sie diese Vielfalt? Wie wichtig der Netzwerkgedanke ist, war mir sofort klar. Aber diese Revolution hätte ich mir
nicht träumen lassen. Ich wundere mich immer wieder über die
Kreativität von Entrepreneuren und Wissenschaftlern, die mit ihnen
arbeiten. Das ist oft wie Science-Fiction.
Albert-László Barabási
Google, Facebook – viele erfolgreiche Unternehmen gründen sich auf Netzwerke. Wer
könnte noch davon profitieren? Es wird eine
Revolution geben in Medizin und Pharmakologie. Die Gesundheitsversorgung und die Arzneimittelforschung werden sich fundamental
in Richtung Netzwerkdenken verändern.
Vernetzte Daten ermöglichen Einblicke in
unsere Vergangenheit. Bald auch in unsere
Zukunft? Diese Netzwerke bestehen schon
heute. Google und Apple haben mobilfunkbasierte Systeme, die unseren künftigen Aufenthaltsort bereits jetzt vorhersagen können.
Der Physiker Albert-László Barabási (47)
ist einer der weltweit renommiertesten
Netzwerkforscher, seit 2007 leitet der
Professor an der Northeastern University
Boston das Center for Complex Network
Research. Barabásis Ruf gründet sich vor
allem auf die Einführung der Theorie
skalenfreier, besonders ausfallsicherer
Netzwerke – ein Schwerpunkt, dem er
sich seit den 90er-Jahren gemeinsam
mit Informatikern und Mathematikern
widmet. Netzwerke bilden für Barabási
die Grundstruktur diverser naturwissenschaftlicher und sozialer Phänomene,
weshalb er sich bei seinen Forschungen
ganz bewusst kaum Grenzen setzt. Die
komplexen Verbindungen sozialer Netzwerke in der realen Welt, das World Wide
Web, die Struktur biologischer Zellen,
die Verbreitung von Mobilfunk-Viren – für
Barabási sind Netzwerke niemals abstrakte Konstrukte, sondern immer integraler
Bestandteil menschlichen Lebens.
Entrepreneur 02/2014
Sie sind Physiker – warum beschäftigen
Sie sich mit Netzwerken? Ich interessiere
mich für Menschen, ihre Technologie und
Biologie, ihr Bewusstsein. Mit physikalischen Methoden kann ich unsere prägenden Netzwerke verstehen – das World
Wide Web, soziale Beziehungen, die genetische Struktur.
Sie wollten einmal Bildhauer werden. Spielt
Kunst eine Rolle in Ihrer Arbeit? Durchaus,
weil Wissenschaft und Denken nicht getrennt werden können von unserer Kultur –
deren bester Ausdruck die Kunst ist. Sie
inspiriert mich.
Ihre „Bacon-Nummer“, also die Anzahl der
Schritte, mit der Sie über Filmrollen mit
dem Schauspieler Kevin Bacon verbunden
sind, ist die 1 – wie ist das möglich? Im BaconDokumentarfilm „Connected“ spiele ich
mich selbst. Aber ich würde gern gegen
eine Erdös-Nummer 1 tauschen. Dafür müsste ich einen Aufsatz mit dem ungarischen
Mathematiker Paul Erdös schreiben. Doch
der lebt nicht mehr.
Sie sagen, menschliches Handeln sei gekennzeichnet von eruptiven Aktionen, gefolgt
von Zeiten der Ruhe. Was meinen Sie damit?
Telefonanrufe, Finanztransaktionen – niemals agieren wir gleichmäßig. Dieser Rhythmus trägt mathematische Züge, was ihn zu
einem Schlüsselaspekt menschlichen Verhaltens macht.
Die Wirkmächtigkeit von Netzwerken – hat
Sie diese Erkenntnis persönlich verändert?
Ich rede mehr mit Menschen, denn ich habe
gelernt, dass die Welt über Beziehungen
funktioniert. Ohne sie existiert man nicht.
Bahnbrechende Denker werden oft belagert
von Menschen, die ihre ganz eigenen Vorteile aus diesen Gedanken ziehen wollen …
Ja. Ich wurde einmal gebeten, eine Suchmaschine zu entwickeln, die besser ist als
Google. Auch sollte ich helfen, die Besiedlung ferner Planeten zu planen.
In jüngster Zeit haben Sie sich verstärkt der
Kontrolle komplexer Netzwerke gewidmet.
In welchen Netzwerken ist das besonders
wichtig? In Organisationen. Wer eine Organisation führen will, muss wissen, wer die
einzelnen Menschen sind, mit denen er die
Organisation in die gewünschte Richtung
lenken kann.
Impressum
Herausgeber:
Georg Graf Waldersee
Gestaltung und Realisation:
Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Art Direction:
Markus Rasp
Projektmanagement:
Annette Rau
Bildnachweise:
S. 5 Mitte: Michael Herdlein, S. 6: Garrett Lisi,
S. 20: Zadas Photography, S. 21: Michael Donald,
S. 22: Sabine Bungert, S. 23 / 24: Quintiq Inc.,
S. 26: Scarpati / Contrasto / laif, S. 27 – 29: Technogym SPA, S. 36 oben: Adam Krause / Redux / laif,
S. 36 unten: Bloomberg / Getty Images, S. 39: Tom
Standage, S. 41: Yong-Yeol Ahn / Mapping It Out,
S. 54/57: Michael Herdlein, S. 55/56: DLD Conference
2014, S. 58 – 60: LUDIC creatives, S. 62 – 65: akg-images, S. 65 unten: akg-images / bilwissedition, S. 66 / 67:
Tobas Everke / Agentur Focus, S. 68: Marla Aufmuth,
James Duncan Davidson, Bret Hartman, Ryan Lash,
S. 69: Nat Finkelstein, S. 70: CEU / Daniel Vegel
Adresse der Redaktion:
Ernst & Young GmbH
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
Mittlerer Pfad 15
70499 Stuttgart
[email protected]
Druck:
Druck- und Verlagshaus Zarbock
Frankfurt am Main
Mapping It out
Dem kürzlich erschienenen, von Hans Ulrich
Obrist herausgegebenen Buch sind die auf
den Seiten 39 und 41 abgebildeten „Landkarten des 21. Jahrhunderts“ entnommen.
Das Buch basiert im Wesentlichen auf den
Arbeiten anlässlich des Serpentine Gallery’s
Map Marathon 2010. Verlag Thames & Hudson, 240 Seiten, 177 Farb-Illustrationen,
€ 23,95.
EY | Assurance | Tax | Transactions | Advisory
Die globale EY-Organisation im Überblick
Die globale EY-Organisation ist einer der Marktführer in der Wirtschaftsprüfung, Steuerberatung, Transaktionsberatung und Managementberatung.
Mit unserer Erfahrung, unserem Wissen und unseren Leistungen stärken wir
weltweit das Vertrauen in die Wirtschaft und die Finanzmärkte. Dafür sind wir
bestens gerüstet: mit hervorragend ausgebildeten Mitarbeitern, starken Teams,
exzellenten Leistungen und einem sprichwörtlichen Kundenservice. Unser
Ziel ist es, Dinge voranzubringen und entscheidend besser zu machen – für
unsere Mitarbeiter, unsere Mandanten und die Gesellschaft, in der wir leben.
Dafür steht unser weltweiter Anspruch „Building a better working world“.
Die globale EY-Organisation besteht aus den Mitgliedsunternehmen von
Ernst & Young Global Limited (EYG). Jedes EYG-Mitgliedsunternehmen ist
rechtlich selbstständig und unabhängig und haftet nicht für das Handeln
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sich in dieser Publikation auf alle deutschen Mitgliedsunternehmen von
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