Keep on movin` don`t you ever stop

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Keep on movin` don`t you ever stop
“Keep on movin' don't you ever stop”
Geschichte und Entwicklung der New York City
underground dance music
Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt für die Sekundarstufe
II ggf. mit Zusatzprüfung für die Sekundarstufe I, dem Staatlichen Prüfungsamt für Erste
Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen in Köln vorgelegt von:
Autor: Björn Klein
Datum: Köln, den 04.04.2007
Gutachter: Professor Michael Rappe
Institut: Hochschule für Musik Köln, Fachbereich 4
This book is a publication of
Dobijazz Music Publishing
Palanterstr. 9a
50937 Cologne, Germany
Copyright © 2007 by Björn Klein
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Manufactured in Germany
Dobijazz Music Publishing
Cologne
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung
1
1.1.
Themenfindung
1
1.2.
Forschungsstand
2
1.3.
Aufbau der Arbeit
5
1.4.
On academic writing
6
2.
Musik im Kontext – Sozialpsychologischer, technischer und
8
struktureller Rahmen von UDM
2.1.
Sozialpsychologischer Rahmen – UDM als Bewegung
2.1.1. Black and gay underground – Stonewall Rebellion and Gay
10
10
Liberation
2.1.2. The message is love – The spirit of UDM
14
2.1.3. Active participation – Die Bedeutung des Tanzens und der
18
Spiritualität in UDM
2.2.
Technischer und struktureller Rahmen von UDM
2.2.1. Die ersten DJs und die Entwicklung von DJ-Techniken &
26
26
-Equipment
2.2.2. Entwicklung der Soundsystems
37
2.2.3. Lightingsystems und sonstiges Equipment in Clubs
41
2.2.4. Einschub: UDM und der Gebrauch von Drogen
46
2.2.5. Specialty retail stores und der erste Recordpool
49
2.2.6. Remix und 12-inch Single
56
3.
Der Sound von UDM
64
3.1.
Die Wurzeln des UDM-Sounds – Ein Stil entsteht
64
3.1.1. Der fließende Übergang – Von Funk bis Motown
64
3.1.2. Philly Sound & Salsoul
74
3.2.
79
Instrumente in UDM und die Art ihres Einsatzes
3.2.1. Drums & Perkussion
79
3.2.2. Bass
89
3.2.3. E-Gitarre
96
3.2.4. Bläser
97
3.2.5. Orgel, Piano & Synthesizer
98
3.2.6. Streicher
102
3.2.7. Vibraphon
106
3.2.8. Vocals & Lyrics
108
3.3.
Formaler Aufbau von UDM-Songs
121
3.4.
Effekte in UDM-Songs – Das Konzept des Dub-Mixes
129
3.5.
Epische Formen – Der Mix des DJs & der Aufbau von DJ-Sets
132
4.
Schlussteil – “Where do we go from here?”
137
5.
Verzeichnis der verwendeten Materialien
142
6.
Trackliste
150
7.
Anhang – Interview mit dance music-Produzent Jonothan
153
Podmore
1
1. Einleitung
1.1. Themenfindung
Meine erste Berührung mit 'dance music' fand im Alter von 19 Jahren und damit
relativ spät statt. Sie war geprägt von der Gruppe Jamiroquai und ihrem 1999
veröffentlichten Album Synkronized. Zuvor fühlte ich mich eher von Funk, Jazz,
Klassik und Rock-/Songwriter-Künstlern wie Billy Joel, Jimi Hendrix oder Bob
Dylan angesprochen. Doch mit Jamiroquai's Musikvideo zur Synkronized-SingleAuskopplung Canned Heat änderte sich das schlagartig. Mit seinem unglaublichen
funky-feeling, der Rhythmuslastigkeit und der exaltierten Soulstimme des
Leadsängers, trat dieser Song ein regelrechtes Tanz- und Clubfieber bei mir los und
meine Hörgewohnheiten sollten sich immer mehr in Richtung Earth, Wind & Fire,
Bee Gees und Gloria Gaynor verschieben. Diese erste Begegnung mit 'dance music'
war allerdings noch vollständig dem Mainstream verhaftet. Weder war mir zu diesem
Zeitpunkt spezielle 'underground dance music' bekannt, noch war mir bewusst, dass
es im New York der 1970er/1980er Jahre kulturelle Gruppierungen gegeben hatte,
die sich beinahe ausschließlich über das Phänomen DJ-/Danceculture definierten und
welche den eigentlichen innovativen Ursprung der Musik darstellten, für die ich
gerade ein Faible entwickelte. Dies sollte sich erst ändern, als ich im Rahmen eines
Seminars von Professor M. Rappe an der Kölner Hochschule für Musik auf eben
dieses Phänomen aufmerksam gemacht wurde und mich in einer anschließenden
Arbeit über Disco und house music mit der historischen Entwicklung dieser
'underground dance music'-culture1 beschäftigte (vgl. Jamiroquai 2000: 3).
Die Überlegung, diese Forschungen in meiner Examensarbeit zu
vertiefen, reifte auf Grund meines Interesses an dieser Kultur und besonders deren
Musik, schnell zur konkreten Idee aus. Allerdings stellte sich die Frage, welche
Aspekte dieser Kultur ich genauer untersuchen wollte. Neben bereits erwähnten
historischen Aspekten, boten sich in erster Linie Untersuchungen auf sozialer
(genderspezifischer) und musikalischer Ebene an. Letztlich entschied ich mich für
die musikalische Untersuchung und zwar aus zwei Gründen:
Erstens: Es war die Musik, die mein Interesse an der Kultur geweckt hatte und ihr
galt nach wie vor mein Hauptinteresse.
1 Die wir im Folgenden der Kürze wegen UDM-culture nennen wollen. Unter 'underground dance
music' (UDM) soll in dieser Arbeit tatsächlich die Musik verstanden werden, die ab den späten
1960ern bis Ende der 1980er in den New Yorker Underground Discos gespielt wurde.
Ausdrücklich ausschließen möchte ich dabei house music, sowie sämtliche später folgende
elektronische dance music.
2
Zweitens: Bei meinen anfänglichen Recherchen musste ich feststellen, dass es,
obwohl es sich bei der UDM-culture um eine Kultur handelt, die sich über die Musik
und das Tanzen definiert, nahezu keine Literatur über die Musik selbst gibt. Zwar ist
hinreichend Literatur über die historischen, sozialen und technischen Aspekte der
UDM-culture vorhanden, aber Untersuchungen zur Musik per se sind tatsächlich nur
sporadisch zu finden. Der Ehrgeiz dies Lücke zu füllen, genährt durch das Anliegen
etwas Eigenes zur Forschung der UDM-culture beizutragen, bekräftigte mich somit
in meiner Entscheidung für eine Fokussierung auf die musikalischen Aspekte der
UDM-culture. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass andere Faktoren gänzlich
unberücksichtigt bleiben, insbesondere dort, wo es sich um bedingende Faktoren
handelt. Soziale, genderspezifische, technische, etc. Aspekte haben einen enormen
Einfluss auf die Musik selbst und müssen damit auch in der musikalischen Analyse
Berücksichtigung finden.
1.2. Forschungsstand
Wie bereits angedeutet, gibt es durchaus eine ganze Reihe ansprechender Literatur zu
dem Forschungsgebiet UDM-culture. Allerdings sind Forschungen auf diesem
Gebiet noch sehr jung und de facto vor dem Jahre 1995 nahezu nicht existent.
Ernsthafte wissenschaftliche Forschungen finden somit erst seit ca. 10 Jahren statt.
Einige Bereiche sind daher noch sehr wenig oder gar nicht erforscht, andere dagegen
schon recht ausführlich behandelt worden.
Vor 1995 gab es lediglich Albert Goldman's 1978 veröffentlichtes
Buch Disco welches vermittelte, dass 'Disco' mehr ist als Saturday Night Fever,
Celebrities, Glamour und Studio 54, sondern dass das Mainstreamphänomen 'Disco'
seine Wurzeln in einer afroamerikanischen und homosexuellen Undergroundszene
hat. Es ist wohl auch das erste Buch das anerkennt, dass frühe DJs, wie Francis
Grasso oder David Mancuso, mit ihren innovativen Ideen entscheidenden Anteil an
der Entstehung von 'Disco' als Stil hatten. Viele wichtige Themen der UDM-Szene
schneidet Goldman's Buch allerdings lediglich an und es entsteht der Eindruck, dass
sich ein Großteil des Buches eher mit Anekdoten und skandalösen Geschichten rund
um Celebrities befasst, wenn dies auch in einem weitaus erträglicheren Maße als
beispielsweise in Kitty Hanson's Disco Fieber geschieht. Einen bitteren
Beigeschmack hinterlässt zudem Goldman's oft anmaßende und wertende
Herangehensweise an die UDM-culture, die er häufig aus einer homophoben und
3
rassistischen Sichtweise heraus darstellt. Zitate, in denen er beispielsweise David
Mancuso's Loft beschreibt, können aus neutraler Sicht bestenfalls noch als peinlich
eingestuft werden:
“The moment you hit the room, your nostrils were distended by the stench of black
sweat ... Many of the scruffy boys from the East Village hadn't washed or run a comb
through their hair in weeks ... The infrared rays that were broiling all this dark meat
were ultrahigh frequencies” (Goldman 1978: 119).
“When the speakers blared Love Is the Message, the boys would sing along; only
they didn't sing the namby-pamby words of the original. They chanted the classic gay
line of the guy who has picked some trashy little fag out of the gutter, taken him
home, screwed him and then ended the evening by yelling, 'Throw the motherfucker
out!' At this moment, perhaps, all the lights would go out. Then, it was ass-grabbing
time” (Goldman 1978: 120).
Goldman's Disco kann aus wissenschaftlicher Sicht nur unter Vorbehalten
herangezogen werden. Nichtsdestotrotz musste es vor 1995 schon deshalb als
Standardwerk betrachtet werden, weil schlichtweg kaum Alternativen vorhanden
waren. Kitty Hanson's Disco Fieber (1979) beispielsweise liest sich, mit seinen
Stories über Celebrities, Ratschlägen zur neuesten Discomode und Tanzanleitungen
für den Hustle, eher wie ein Boulevardmagazin oder Fanzine, denn eine fundierte
wissenschaftliche Untersuchung und beschäftigt sich ausschließlich mit dem
Mainstreamphänomen 'Disco'. Dough Shannon's Off the record (1982), sowie
Radcliff Joe's This business of Disco (1980) hingegen sind aus wissenschaftlicher
Sicht wesentlich ernster zu nehmen und leisten einen angemessenen Beitrag zur
Forschung der Disco-Kultur. Sie beschränken sich jedoch zu einem Großteil auf den
Businessbereich von Mainstream-Disco2. Auch wenn sie die UDM-Szene als
Forschungsfeld überwiegend außen vor lassen, bieten die beiden Bücher dennoch
gute Einblicke beispielsweise in die Arbeitsweise von Recordpools.
Doch erst 1995, mit Ulf Poschardt's Buch DJ-Culture, wurde die UDM- und DJculture ernsthaft als wissenschaftliches Forschungsfeld entdeckt. Auch wenn sich
Poschardt's Kapitel über Disco an manchen Stellen unglücklicher Weise noch sehr an
Albert Goldman's Buch orientiert, muss DJ-Culture dennoch als echter Meilenstein
in der Erforschung der UDM-culture gesehen werden3. Als erster Autor im Kontext
2 Shannon und Joe sprechen beispielsweise Aspekte
Urheberrechtsfragen und ähnliches an.
3 Vor allem der Abschnitt über house music ist exzellent.
wie
erfolgreiche
Clubführung,
4
einer größeren Forschungsarbeit zu diesem Thema zeigt Poschardt ein angemessenes
Verständnis für die Wurzeln und ästhetischen Aspekte der Kultur, stellt diese knapp
aber prägnant dar und weist auch bewusst auf die große soziale Bedeutung von UDM
hin, die diese zweifelsohne für ihre Anhänger hat. Zwar ist Poschardt's Buch
angesichts späterer Veröffentlichungen wie Bill Brewster und Frank Broughton's
Last Night A DJ Saved My Life (2000) oder des neuesten Referenzwerkes von Tim
Lawrence, Love Saves The Day (2003), sowohl in seiner Ausführlichkeit, als auch
Aktualität des Forschungsstandes an vielen Stellen inzwischen überholt, dennoch
war DJ-Culture ein wichtiger Schritt für die Erforschung der UDM-culture und
bildete eine Art Wegweiser für darauf folgende Veröffentlichungen.
Seit 1995 hat sich mittlerweile einiges im Forschungsbereich UDM-culture getan.
Kai Fikentscher's 2000 erschienenes Buch “You better work!” ist eine ansprechende
Arbeit, deren Schwerpunkt auf der Erforschung des komplexen Zusammenspiels von
Musik, Tänzern und DJ liegt und welches auf diesem Gebiet der Erforschung der
sozialen Aspekte der UDM-culture einen guten Beitrag leistet. Neue Maßstäbe in
Bezug auf die historische Sichtweise setzten die beiden bereits erwähnten Bücher
Last Night A DJ Saved My Life und Love Saves The Day, sowie – mit Abstrichen –
das 2005 erschienene Turn the beat around von Peter Shapiro. Auf technische
Aspekte und Entwicklungen gehen vor allen Dingen Tim Lawrence und
Brewster/Broughton sehr gut ein. Ergänzend ist hierzu noch David Cross's 2003
erschienene Doktorarbeit A history of the development of DJ mixer features zu
nennen, welche gut vermittelt, wie sich der DJ-Mixer im Laufe der Zeit den
Bedürfnissen der DJs entsprechend weiterentwickelt hat.
Einzig und allein auf musikalischem Sektor gibt es bisher kaum Material.
Brewster/Broughton, Lawrence und auch andere gehen zwar immer wieder auf
bestimmte Merkmale der Musik ein, eine tiefere Analyse der Musik bietet allerdings
keiner der bisher erwähnten Autoren. Lediglich Mark Butler's 2006 erschienenes
Unlocking the groove bietet eine ansprechende Analyse elektronischer dance music.
Allerdings bezieht sich diese ausschließlich auf elektronische dance music (mit
Schwerpunkt auf Techno), weshalb das Buch für meine Examensarbeit zwar
wertvolle Anregungen gab, dessen Ergebnisse sich aber größtenteils nicht auf die
Analyse von UDM übertragen lassen.
Zu guter Letzt wäre noch die 2005 erschienene underground dance musicDokumentation Maestro zu erwähnen, welche einen Querschnitt durch die
5
wichtigsten Entwicklungen und Aspekte der UDM-culture bietet, ausgezeichnet
recherchiert ist, ästhetisch äußerst ansprechend aufgebaut ist und auf Grund der
Möglichkeiten des Mediums Film über das Zusammenspiel von Interviews,
Originalaufnahmen von Larry Levan's Paradise Garage, Musik und anderem
Material mitreißend die Stimmung dieser Zeit einfängt.
1.3. Aufbau der Arbeit
Der Hauptteil dieser Arbeit ist in zwei große Teile untergliedert. Im ersten Teil soll
auf die sozialen, technischen und strukturellen Faktoren eingegangen werden, welche
die Entwicklung der UDM beeinflussten, bzw. aus denen sich die UDM-culture
langsam entwickelte. Dies beginnt unter Punkt 2.1. mit der Eruierung des sozialpsychologischen Kontextes in dem UDM stand. Hier wird ein Überblick gegeben
wie
sich
die
UDM-culture
in
einer
überwiegend
homosexuellen
und
afroamerikanischen Szene herausbildete, die – angetrieben durch die Stonewall
Rebellion 1969, sowie der darauf folgenden gay liberation-Bewegung – begann, sich
Rechte zu erkämpfen und daraufhin zu zelebrieren. Dabei soll aufgezeigt werden,
dass eine Kultur entstand, die sich nahezu gänzlich über die Musik und das Tanzen
definierte, wobei hedonistische Aspekte und offenes Ausleben der homosexuellen
Neigungen genauso betont wurden, wie eine idealistische Philosophie, die sich um
Gemeinschaft, Zusammengehörigkeit und die demokratische Gleichheit aller
Tanzenden drehte. Gleichzeitig soll die enorme soziale Reichweite deutlich werden,
welche UDM für seine Anhänger beinhaltete.
Unter Punkt 2.2. werden dann Entwicklungen technischer und struktureller Art,
welche modernes DJing, Clubbing, als auch moderne UDM-Produktionen erst
ermöglichten und prägten, thematisiert. Dies beinhaltet die Evolution bestimmter DJTechniken (slip-cueing, Beat-mixing, etc.) und die Entwicklung technischer
Innovationen, sowohl im Bereich DJ-Equipment (DJ-Mixer mit KopfhörerVorhöroption, Turntables mit Pitchcontrol, etc.), als auch auf dem Gebiet von Club
Sound- und Lightingsystems. Dabei soll erläutert werden, wie all diese Faktoren dem
DJ dazu dienen, eine spezifische außerweltliche Traumwelt zu erzeugen, welche über
die Einnahme von Drogen zusätzlich verstärkt werden kann. Anschließend wird die
Wichtigkeit der Gründung des ersten Recordpools besprochen und seine Bedeutung
als neues strukturelles Bindeglied zwischen DJs und Plattenfirmen. Zum Abschluss
von Teil 1 dieser Arbeit wird schließlich die revolutionäre Entstehung spezifischer,
6
ausschließlich auf den Dancefloor ausgerichteter musikalischer Produktions- und
Tonträgerformate erörtert, nämlich der Remix, so wie die 12-inch Single, die den für
dance music-Produktionen gewünschten größeren Produktionsplatz, als auch bessere
Soundqualität bot.
Teil 2 dieser Arbeit beschäftigt sich im Anschluss ausschließlich mit der
musikalischen Entwicklung und dem musikalischen Aufbau der New Yorker UDM
in den Jahren 1969-1987. Dabei wird zunächst unter Punkt 3.1. dargelegt, welche
musikalischen Stile die DJs zu Beginn der UDM-Szene in ihre DJ-Sets einbezogen,
bevor sich ein eigenes Genre daraus entwickelte. In diesem Zusammenhang werden
deren charakteristische musikalische Eigenheiten erläutert, um in der darauf
folgenden Analyse von UDM deutlich zu machen, wie UDM diese Merkmale
aufgriff und in ihre Klangästhetik einwob. Diese Analyse beginnt unter Punkt 3.2.
mit der Besprechung der Instrumentierung von UDM und der Erläuterung typischer
Spielweisen und Einsatzzwecke der Instrumente. Kapitel 3.3 widmet sich schließlich
dem formalen Aufbau von UDM-Songs, bevor im folgenden Abschnitt, über das
Konzept des Dub-Mixes, auf das Einfügen von Effekten und dem Spiel mit
klanglichem Raum auf UDM-Platten eingegangen wird. Im abschließenden Kapitel
wird der Aufbau längerer DJ-Sets aufgezeigt und dessen Funktion, bzw. Wirkung auf
die Tänzer erläutert werden.
1.4. On academic writing
Wie schreibt man über Musik? Ein großes Manko vieler musikwissenschaftlicher
Arbeiten ist sicherlich deren ausschließliche Beschränkung auf das Medium Schrift4.
Bei rein historischen oder empirischen Arbeiten, die sich nicht direkt mit
musikalischen Phänomenen beschäftigen mag dies als ausreichend erscheinen. Doch
wie kann man ernsthaft die Meinung vertreten, bei Arbeiten, die sich primär mit
Musik befassen, wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen, wenn man lediglich
4 Problematisch ist in diesem Kontext insbesondere auch die Tatsache, dass das Aufbrechen dieser
ungeschriebenen und vollkommen inadequaten wissenschaftlichen Konventionen an Universitäten
nicht gerade gefördert wird. Vielmehr hält man bevorzugt an alten Standards fest, die im Zeitalter
von digitalen Ton- (und auch Bild-) Trägern schlichtweg überholt sind. Es wäre ein Klima an
Universitäten wünschenswert, das die Studenten auch dazu ermutigt starre wissenschaftliche
Konventionen neu zu definieren; dazu ermutigt andere Medienarten in Arbeiten mit einzubeziehen
und die Studenten nicht zur Eigeninitiative auf eigenes Risiko hin verdammt, denn nur so kann
wissenschaftliches Schreiben wieder innovativ und kreativ werden; und nur so kann das Lesen
wissenschaftlicher Arbeiten auch dem außer-universitären Leser wieder Spaß machen und aus
seinem
stiefmütterlichen
'ausschließlich-für-den-Universitätsgebrauch-produziert'-Status
ausbrechen.
7
über dieselbe schreibt, ohne dem Rezipienten eine Möglichkeit zu geben, sie auditiv
zu erfassen? Ohne dass man Hörbeispiele beifügt, die Erstens das klangliche
Phänomen, welches man beschreiben möchte, viel besser verdeutlichen können, als
dies über Beschreibungen jemals möglich wäre und Zweitens den Leser in eine
emotionale Atmosphäre einbetten, von deren Kontext Musik niemals los zu lösen ist
und von deren Kontext Musik niemals losgelöst werden sollte? Viele
Wissenschaftler werden vermutlich argumentieren, dass es unwissenschaftlich sei
beim Rezipienten einer wissenschaftlichen Arbeit bewusst Emotionen auslösen zu
wollen. Ich würde aber im Gegenteil argumentieren, dass gerade dieses emotionale
Hören ganz im Sinne des wissenschaftlichen Interesses steht, denn die Wirkung der
Musik ist ja auch im ursprünglichen Kontext an Emotionen gebunden. Um die Musik
also überhaupt adäquat begreifen zu können, darf deren wissenschaftliche
Untersuchung nicht in der absurden Abstraktheit einer emotionslosen Blase
stattfinden.
Musik ist ein Phänomen, das von jedem Hörer individuell wahrgenommen wird.
Natürlich kann man immer Kriterien finden, die charakteristisch für musikalische
Stile sind. Aber da Musikhören nicht nur faktisches, sondern immer auch
emotionales und kontextuales Hören ist, wird die Musik jedem Hörer auch immer
etwas anderes vermitteln. Daher sollte es geradezu als verpflichtend betrachtet
werden, Klangbeispiele zu geben. Somit würde auch verhindert, dass ein
wissenschaftlicher Text ein starres, fixes Medium bleibt, in welchem die Musik in
ein statisches deskriptives Raster gepresst wird. Vielmehr würde dem Leser, durch
die größere Unmittelbarkeit des Mediums Tonträger, ermöglicht die musikalischen
Interpretationen des Autors (welche ohnehin nur als Angebote an den Leser gewertet
werden können, die dieser aufgreifen, neu deuten und auch verwerfen kann und soll)
augenblicklich zu verwerten. Damit blieben die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse in einem konstanten Fluss und wissenschaftliches Arbeiten würde seinen
Absolutheitsanspruch verlieren, der ohnehin nie erfüllt werden kann. Musik selbst ist
schließlich kein starres Medium, sondern lebt erst und ausschließlich von den
Interpretationen ihrer Rezipienten.
Im Rahmen dieses wissenschaftlichen Denkens (mit all seinen Vor/Nachteilen und
Gefahren5) soll die vorliegende Arbeit verstanden werden. Sie soll den Leser auf eine
5 Auch Gefahren für den Autoren selbst. Es ist durchaus kein geringes Risiko in seiner
Examensarbeit scheinbar feste wissenschaftliche Normen bewusst anzugreifen und
wissenschaftliche Arbeitsweisen zu hinterfragen. Doch hier zeigt sich eine interessante Parallele
8
musikalische Reise mitnehmen, welche sich an der Ästhetik der UDM-culture
orientiert, deren beste DJs es schafften die Tänzer im Laufe eines Abends auf einen
musikalischen Trip durch verschiedene Stimmungen zu schicken. Gerade die Musik
der UDM-culture ist eng an den Kontext des Clubs, der musikalischen Partizipation
(sprich des Tanzens) und der Musik selbst gebunden. Mir der Tatsache bewusst, dass
im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit der Kontext der ersten beiden Faktoren
nicht herzustellen ist, soll zumindest der musikalische Kontext angemessen in die
Arbeit integriert werden. Dies soll einerseits dadurch erreicht werden, dass
Klangbeispiele zur Beschreibung spezifischer musikalischer Details angeboten
werden, andererseits aber auch durch die Verwendung von Hörpassagen, deren
Zweck es ist, den Leser emotional in die Arbeit hinein- und wieder herauszugeleiten.
2. Musik im Kontext – Sozialpsychologischer, technischer und struktureller
Rahmen von UDM
Bevor Sie nun weiter lesen, möchte ich Sie bitten, Track 1 der dieser Arbeit beigefügten CD1
einzulegen. Falls wider Erwarten Probleme hinsichtlich des Hörverstehens auftreten sollten, ist es
möglich den Text anhand des folgenden Zitates nachzuverfolgen.
“I’m gonna tell you about walking into an oasis [der Club Paradise Garage] …
Feeling like I just walked into my family’s living room. It was more than just
walking into their living room, it was about completely being safe from the social
restrictions of the outside. Everything that the moral majority told you you couldn’t
do … it didn’t exist anymore. It was … it was a family that had only one rule: to love
thy brother – and that was O-K. When I think about this oasis, this place of total
freedom, I can’t help the feel like I lost a part of myself [da die Paradise Garage
1987 schließen musste], a part of my family. That’s why it’s not about the space
itself. It’s about the community that’s inside the space that helps you bring you back
zur UDM-culture auf, deren Innovationen dadurch vorangetrieben wurden, dass es DJs wie David
Mancuso, David Rodriguez oder Larry Levan gab, die bereit waren Risiken einzugehen; bereit
waren Songs zu spielen, die andere DJs nicht bereit waren aufzulegen, da die Songs so andersartig
klangen, dass das Publikum den Dancefloor beim ersten mal komplett verließ; die jedoch
beharrlich den Song im Laufe des Abends und weiterer Abende spielten und somit das Publikum
so lange 'erzogen' bis sie letztendlich den Song akzeptierten (vgl. Brewster/Broughton 2000: 177,
Cheren 2000: 274). Ebenso wie diese frühen dance music-Innovatoren bin ich auch bereit im
Rahmen dieser Arbeit Risiken einzugehen, in der (naiven?) Hoffnung, dass die gewählte
wissenschaftliche Vorgehensweise vielleicht einen gewissen Fortschritt im Umgang mit
wissenschaftlichem Arbeiten bringen wird.
9
to that moment. When you, the DJ, and everybody involved … It was you and them
against the world. And we survived together.” (Ramos 2005: DVD 1, chapter 1)
So beginnt die dance music-culture-Dokumentation Maestro. Wir sehen die Welt aus
der Sicht des Sprechers. Es ist tiefschwarze Nacht. Der Sprecher läuft durch die
Straßen von New York, über große Pflastersteine, vorbei an schemenhaften
Häuserzeilen und parkenden Autos, die nur von vereinzelten Straßenlaternen spärlich
beleuchtet werden, seinem ersehnten Zielort immer näher kommend. Dabei erzählt er
eine Geschichte. Er berichtet von der Paradise Garage, einem New Yorker
Undergroundclub, der – geöffnet von 1977-1987 – einer der wichtigsten
'Zufluchtsorte' für ein überwiegend schwarzes und homosexuelles Publikum war. Er
berichtet von 'diesem' Gefühl absoluter Freiheit und Geborgenheit, das ihn umgab,
sobald er die 'Außenwelt' hinter sich gelassen hatte und in die 'paradiesische' Welt
der Garage eintauchte. Eine Welt, in der ethnische und sexuelle Minderheiten fernab
von den Restriktionen der Außenwelt einfach nur sie selbst seien konnten. Eine Welt,
in der auf der Basis von Musik und gemeinsam geteilten Problemen ein starkes
Gefühl von Familie entstand; eine Familie, deren Angehörige sich stärker
miteinander verbunden fühlten und verstanden wussten, als sie dies innerhalb ihrer
leiblichen Familie je hätten erfahren können (vgl. Lewis 1998, Ramos 2005: DVD 1,
chapter 1).
In vollkommener Dunkelheit, nur von kleinen flackernden Lichtern umgeben, läuft
der Sprecher am Ende seines Berichts die steile Eingangsrampe der Paradise Garage
hoch. Es folgt ein Schnitt auf die riesige Menschenmenge innerhalb der Garage.
Hunderte von Menschen tanzen Körper an Körper auf engstem Raum auf dem
Dancefloor, die Hände über die Köpfe gestreckt, umspült von buntem Lichtspiel.
Plötzlich peitscht die Bass Drum durch die Lautsprecher, druckvoll und
unnachgiebig und wir hören Eddie Grant's Time Warp. Ein Song, der die Aussage
obigen Zitats auf den Punkt bringt, denn die Tänzer der Garage haben in der Tat
einen (Zeit)sprung gemacht. Einen Sprung in eine Welt, in der sie das ausleben
können, was ihnen von der kulturellen Mehrheit außerhalb der Garage versagt wird:
einfach nur sie selbst zu sein (vgl. Ramos 2005: DVD 1, chapter 1).
10
2.1. Sozialpsychologischer Rahmen – UDM als Bewegung
2.1.1. Black and gay underground – Stonewall Rebellion and Gay Liberation
Disco hat seine Wurzeln im afroamerikanischen und homosexuellen Underground.
Ohne das subversive Klima der 1960er, welches – angetrieben vom Civil Rights
Movement, der Frauenbewegung, sowie einer (im Zuge der Legalisierung der
Abtreibung und der Einführung der Antibaby-Pille) generellen neuen liberalen
Einstellung gegenüber Sex, gepaart mit der propagierten Hippie-'Love &
Peace'-Ethik – 1969 schließlich auch der Gay Liberation Momentum verlieh, wäre
die ästhetische Entwicklung von Disco mit Sicherheit anders verlaufen. Disco hätte
sich nicht zu DEM Lebensgefühl und DER kulturellen Ausdrucksform einer ganzen
Generation homosexueller und afroamerikanischer Minderheiten entwickelt. Disco
hätte niemals mit dieser Macht und Schnelligkeit im Mainstream eingeschlagen,
wäre die Musik nicht so stark mit Dekadenz, Party, Drogen und Sex in Verbindung
gebracht worden – hedonistischen Aspekten der Underground-Kultur, die von
Stonewall und der Gay Liberation-Bewegung sprichwörtlich ausgelöst wurden, da
Homosexuelle nach Jahrzehnten der Restriktionen begannen ungehemmt ihre
Identität und Sexualität, sowie die errungenen Erfolge von (scheinbarer?) Gleichheit
zu zelebrieren, was in einer unglaublichen Energieexplosion und Intensität auf dem
Dancefloor resultierte. Aspekte, die der Mainstream gerne aufgriff, während er die
weitere soziale Bedeutung von Disco für die Underground-Kultur – dieses 'Discoals-Bewegung'-Denken, welches tief im neu gefunden 'gay pride' verankert saß,
sowie das idealistische Streben nach Einheit und Community – entweder nicht
erkannte, oder auf Grund der homosexuellen Konnotationen geflissentlich ignorierte
(vgl. Brewster/Broughton 2000: 136-39,183, Fikentscher 2000: 11, Lawrence 2003:
28-29, Shapiro 2005: 26,161-162,286 & Wilson 2006: 41).
Um die Tragweite der Stonewall-Zeit zu verstehen, sollten wir einmal betrachten wie
das Leben für Homosexuelle vor Stonewall aussah. In seiner Autobiographie Keep
on dancing legt Mel Cheren6 dar, dass es für ihn und andere homosexuelle Männer
prinzipiell drei Zeitrechnungen gibt: die Zeit vor Stonewall, die Zeit nach Stonewall,
sowie die Zeit nach AIDS. Wir wollen uns für den Moment mit der Zeit vor und um
Stonewall herum beschäftigen. Cheren berichtet von der Zeit vor Stonewall als “... a
time before you could dance with another man in a dance club, or walk down a gay
6 Disco-Anhänger und Clubgänger der ersten Stunde, sowie Mitbesitzer des von ihm und Ed
Kushins Mitte der 1970er gegründeten disco independent labels West End Records (vgl. Cheren
2000: 175 ff.).
11
street in a gay neighborhood, ... or list your lover on your mailbox, or in your
obituary. A time when everything was a scary, sexy, secret code ...” (Cheren 2000:
xv). Vor Stonewall war homosexuelles Tanzen gesetzlich untersagt. Die
diskriminierenden Gesetze schrieben klar vor, dass auf Disco-Tanzflächen
mindestens ein Drittel Frauen anwesend sein mussten. Das gemeinsame Tanzen
zweier Männer zog Verhaftungen nach sich, und polizeiliche Razzien in
Schwulenklubs waren streng und fanden relativ häufig statt – oftmals nur um
Homosexuelle Erniedrigung spüren zu lassen. Dies ging so weit, dass Besitzer von
Diskotheken und Bars homosexuelle Tänzer zwangen, den Dancefloor zu verlassen,
wenn sie nicht eine Frau in ihrer Mitte hatten. Ebenso war es in Bars und Restaurants
gesetzlich untersagt, alkoholische Getränke an Homosexuelle auszugeben und
obwohl dieses Gesetz offiziell 1967 außer Kraft gesetzt worden war, änderte dies de
facto nichts daran, dass die Polizei nach wie vor an der Praxis festhielt, dieses Gesetz
mit Hilfe von Razzien durchzusetzen. Die ständige Furcht vor Razzien beeinflusste
ganz klar die Überlegungen, bzw. war der bestimmende Faktor für Homosexuelle
wohin und ob sie überhaupt ausgehen sollten (vgl. Cheren 2000: 58,60,78,
<http://www.keconnect.co.uk/...> 2006, Jones/Kantonen 2000: 96 & Lawrence 2003:
28-29,31,39ff.,189, Shapiro 2005: 62).
Das Problem vor Stonewall war, dass Homosexuelle mehr oder weniger diese
Erniedrigungen stillschweigend hinnahmen. Sie akzeptierten, dass sie sich bei jeder
Razzia durch den Hintereingang der Bars stehlen mussten, gewarnt von extra für den
Fall bevorstehender Razzien installierten Alarmsystemen. Sie akzeptierten, dass sie
ihr homosexuelles Leben abgeschottet in Scham leben mussten, isoliert und
unsichtbar, und zu diesem Zweck eine von der Gesellschaft anerkannte Fassade
aufrecht erhielten. Sie akzeptierten ihren Status als Bürger zweiter Klasse und kaum
einer kämpfte gegen diesen Zustand an, bis zu diesem 17. Juni 1969 im Stonewall
Inn, einem Pub auf der Christopher Street 53 in New York 7. An diesem Tag kam für
die homosexuelle Gemeinschaft einfach alles zusammen. Das Maß schien voll zu
sein nach jahrelanger Unterdrückung und Erniedrigung durch die Polizei und
Gesellschaft, und als eine erneute Razzia ausgerechnet an dem Tag von Judy
Garland's Beerdigung – die eine verehrte Ikone in der homosexuellen Community
war – das Stonewall Inn traf, kochte die Stimmung schlichtweg über. Als die Polizei
7 Das genaue Datum scheint etwas unklar zu sein. Tim Lawrence verweist auf den 17.Juni (2003:
28), Peter Shapiro auf den 27. Juni (2005: 62), während Brewster/Broughton den 21.Juni als den
ersten Tag der Stonewall-Unruhen angeben (2000: 136-37).
12
einige Drag Queens abführte, wehrte sich eine Lesbierin namens Stormé DeLarverie
und löste damit einen öffentlichen Aufruhr aus, der darin gipfelte, dass die
Homosexuellen die Polizisten mit Steinen und Flaschen bewarfen und offene Feuer
entzündeten. Was mit einer üblichen Polizeirazzia begonnen hatte, weitete sich
schließlich zu einem mehrere Tage andauernden Aufruhr aus, an dem tausende von
Homosexuellen teilnahmen und welcher in die Geschichte eingehen sollte als die
Geburtsstätte des 'gay pride' und der vor allem dadurch an Bedeutung gewann, dass
er so öffentlich war und eine nicht zu unterschätzende Medien-Aufmerksamkeit
erfuhr. Homosexuelle erkannten nun, dass sie gemeinsam eine nicht zu
unterschätzende Macht hatten und als Folge der Stonewall-Aufstände formulierte
eine neue Gruppe, die 'Gay Liberation Front', eine offizielle Erklärung der
Homosexuellen zu den Aufständen, welche Mel Cheren als den offiziellen Beginn
der Schwulenbewegung ansieht. Jedoch erst Ende 1971 sollten schließlich Erfolge
erzielt werden, die sich in gelockerten Gesetzen gegenüber Homosexuellen
widerspiegelten. Im Oktober 1971 erklärte der damalige New Yorker Bürgermeister
John Lindsay öffentlich, dass die bestehenden Gesetze gegen Homosexuelle nicht
haltbar seien und dass Homosexuelle ein Recht darauf hätten, sich an öffentlichen
Plätzen zu treffen, zu trinken und zu tanzen. Vorschläge, die im Dezember des selben
Jahres auch umgesetzt wurden und Homosexualität zu einem großen Teil
legalisierten (vgl. Brewster/Broughton 2000: 137, Cheren 2000: 78-80, Collin 1997:
10, Garratt 1999: 8, Jones/Kantonen 2000: 96, Lawrence 2003: 28,63,74, Shapiro
2005: 62-64).
Dies alles gab der homosexuellen underground dance-Szene einen enormen Schub
und Homosexuelle begannen ihren neu gewonnen Stolz und ihre Rechte in New
Yorker Clubs auszuleben und zu zelebrieren. Nach Stonewall herrschte eine solch
euphorische Stimmung geprägt von Idealismus, herausforderndem Hedonismus,
Wut, sowie vormals unterdrückter Energie, welcher nun auf einen Schlag freien Lauf
gelassen wurde, was in einem, die UDM und UDM-Kultur enorm prägenden,
kreativen Entwicklungsprozess und einem nie dagewesenen Sinn für Gemeinschaft
mündete. Es begann sich eine Identität schwuler Lebensweise zu bilden, welche sich
im wesentlichen um das Tanzen, die Musik und Sex als zentrale Mittelpunkte drehte,
wie auch in Andrew Holleran's realistischen Homosexuellen-Roman Tänzer der
Nacht immer wieder deutlich wird:
13
“... der einzige Grund, weshalb er [ein homosexueller Tänzer namens Malone, Figur
des Romans] zu dieser Zeit überhaupt noch herkam, nachdem er sich von Frankie
getrennt hatte ... war der verrückte Drang, mit dem wir alle die aufgestauten
Aggressionen unseres täglichen Lebens lösten – das Bedürfnis zu tanzen“ (Holleran
1985: 36), und weiter: “In diesem Raum waren die romantischsten Seelen der Stadt
versammelt. Wenn sie auch ihre Tage in Banken und Bürohäusern verbrachten, egal:
Ihr wirkliches Leben begann, sobald sie durch diese Tür [einer New Yorker
Diskothek] schritten – und sie waren alsbald getauft in einem neuen Glauben, wie
durch wunderbares Untertauchen zum Leben erwacht. Sie lebten nur für die Nacht“
(Holleran 1985: 37), “... ihr eigentliches Glück bestand aus Musik und Sex“
(Holleran 1985: 103; vgl. Goldman 1978: 107,112-114, Holleran 1985: 36-37,
Lawrence 2003: 42,60-64,104, Poschardt 2001: 112-113).
Musik, Tanzen und Sex wurden für unterdrückte Minderheiten entscheidende
Ventile, um die restriktivierenden Hemmungen endlich fallen lassen zu können und
die alltäglichen Sorgen zu vergessen. Sie waren Möglichkeiten um die eigene
Identität frei und expressiv in den Discos auszudrücken und zu erkunden, in deren
offenem Ambiente die Identitäten, laut Tim Lawrence, auf Grund der
Experimentierfreude der Klientel, in der Tat in ständiger Fluktuation waren8. Der
offene, militante homosexuelle Hedonismus fand seinen exaltierten Ausdruck in
Clubs wie dem Sanctuary, in dem der DJ Francis Grasso Platten auflegte, dem
Tamburlaine, in dem Steve D'Acquisto DJ war, oder dem Continental Baths, einem
8 Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Ergründung von Identität nicht nur individueller Art ist,
sondern dass Homosexuelle durch das Teilen eines gemeinsamen sozialen Konzepts, eines
gemeinsamen eigenen kulturellen Ausdrucks (in diesem Falle Disco mit all seinen kulturellen
Charakteristika), gleichzeitig eine Art kollektive Identität konstruieren (und von der Gesellschaft
konstruiert werden, da die Gesellschaft dazu neigt in sozialen Kategorien zu denken), welche
durch eine bestimmte Art sich zu bewegen, sich zu kleiden, zu leben etc., ausgedrückt wird und
welche die üblichen Definitionen der Geschlechterrollen untergräbt, indem mit scheinbar festen
Normen weiblicher und männlicher Identität gespielt wird. Dies muss durchaus auch als
sozialpolitisches Instrument verstanden werden, denn in dem Moment in dem Homosexuelle die
Geschlechteridentitäten verwirren, unterwandern sie das kulturelle System und bringen die
machtpolitische Sicherheit normierter Geschlechteridentitäten ins wanken und stärken die eigene
kollektive und individuelle Identität auf der Suche nach einem Platz im gesamtkulturellen Gefüge.
Kollektive Identität bedeutet Macht und Stärke, denn einerseits wird durch das Teilen
gemeinsamer Belange das Gefühl von Unsicherheit und Einsamkeit, welches einem die kulturelle
Mehrheit auf Grund der Andersartigkeit vermittelt, aufgefangen, da die Probleme nicht mehr nur
Einzelschicksale sind, sondern kollektiv von der Community geteilt werden. Andererseits
beeinflusst man durch kollektive Handlung und verschafft sich Aufmerksamkeit. Wie Peter
Shapiro treffend feststellt: “... disco culture was the most effective tool in the struggle for gay
liberation” (2005: 65) und in der Tat hatte einige intensive Jahre lang die Gesellschaft Discos
Maxime von offenem Verlangen, Sexualität und Vergnügen des Vergnügens willen adaptiert, was
über konventionelle politische Mittel mit Sicherheit niemals erreicht worden wäre (vgl. Dyer 1992:
159,164-166, Fikentscher 2000: 11,26, Shapiro 2005: 65).
14
Badehaus für Homosexuelle, welches neben einer Sauna, einem Swimmingpool und
einem Restaurant auch eine Diskothek beherbergte und in dem der spätere Paradise
Garage-DJ Larry Levan seinen ersten DJing-Job erhielt. Neben dem Tanzen war Sex
eine der Triebfedern in diesen Etablissements und Beteiligte berichten, dass dies
oftmals in regelrechten Orgien mündete, bei denen offen und freizügig
Geschlechtsverkehr vollzogen wurde und sämtliche gesellschaftlichen Tabus unter
den Tisch fielen. Das stolze, ungehemmte Ausleben der homosexuellen Sexualität
gehörte nach Jahren des Versteckens und der Scham schlichtweg zum Feiern in den
Clubs dazu, was sich in den darauf folgenden Jahren auch in der Produktion der
Musik widerspiegeln sollte, welche – sowohl in den Lyrics als auch in der auf
Körperlichkeit zielenden Verwendung der Musik selbst – auf Sexualität anspielende
Züge trägt, wie wir in der musikalischen Analyse der UDM noch feststellen werden.
Doch während, wie bereits erläutert, der Mainstream lediglich die Merkmale von
Dekadenz, offener Sexualität und Drogen dieser Underground-Kultur registrierte,
barg die UDM-culture für seine Anhänger auch überaus wichtige soziale Ideale in
sich: Ideale von Zusammengehörigkeit und Familie, gemeinsamer Identität und der
Vision von sozialem Fortschritt. Eine Vision, der der Wunsch zu Grunde lag,
kulturelle Gruppierungen – homosexuell, heterosexuell, männlich, weiblich,
wohlhabend, arm; afroamerikanischen, lateinamerikanischen oder mitteleuropäischen
Ursprungs – zusammenzubringen. Diese fand in David Mancuso's Loft ihre zentrale
Formulierung und sollte im Anschluss viele wichtige Clubs wie The Gallery und
Paradise Garage prägen (vgl. Brewster/Broughton 2000: 171-172, Collin 1997: 1011, Goldman 1978: 107,112-114, Holleran 1985: 36-37, 103-107, Lawrence 2003:
42,60-64,104, Podmore 2006: xx, Poschardt 2001: 112-113, Ramos 2005: DVD1,
chapter 2 & Shapiro 2005: 27,57-59).
2.1.2. The message is love – The spirit of UDM
Gab es in Clubs wie dem Sanctuary, dem Tamburlain oder dem Continental Baths
die extremsten Formulierungen von Sex und Dekadenz, bildete David Mancuso's
Loft einen eher moderaten Ruhepol des Underground, in dem Sex zwar dazu gehörte,
aber Musik, Tanzen und progressive Ideale die determinierende Rolle spielten.
Mancuso prägte einen Party-Ethos, durch den er es vollbrachte, über das Schaffen
einer intimen, privaten Atmosphäre und das gemeinsame intensive Erleben und
Teilen von Musik und Tanzen, verschiedene soziale Gruppen zusammenzubringen.
15
Dies ist um so bemerkenswerter, wenn man sich die schwerwiegenden
Segregationsprobleme Amerikas vor Augen führt. Amerika war – trotz der
propagierten Hippie-Floskeln von Liebe und Toleranz der 1960er Jahre –
insbesondere auch im Schwarz-Weiß-Denken des Musikbusiness und des Landes
generell, sowie den strengen Gesetzen gegenüber Homosexuellen von einem Zustand
der kulturellen Apartheid geprägt, auch wenn sich dies im kulturell aufgeschlossenen
New York nicht ganz so stark äußerte, wie in anderen Teilen Amerikas. Für David
Mancuso jedoch waren Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Geschlecht, sowie sozialer
Status vollkommen irrelevant. Ihm war es wichtig, dass die privaten Partys, die er
einmal wöchentlich Samstags in seinem Loft gab, einen Bereich kultureller
Sicherheit und Zuflucht darstellten und dass jeder, der daran teilnahm sich
willkommen und integriert fühlte und die Teilnahme unabhängig von seiner
finanziellen Situation war9. Er schuf einen demokratischen sozialen Raum, in dem
keine Person einen höheren Stellenwert hatte als eine andere und der ein Gefühl der
Zugehörigkeit zu einer großen Familie vermittelte, welche im Loft ihr neues Zuhause
gefunden hatte. Dieses familiäre Klima wurde unter anderem dadurch genährt, dass
Mancuso's Loft keine kommerzielle Diskothek war, sondern dort Privatpartys
stattfanden, zu denen man nur durch persönliche Einladung oder das Begleiten eines
Eingeladenen Zutritt erlangen konnte, oder empfohlen werden musste. Somit
entstand ein Netzwerk, welches sich nahezu ausschließlich auf freundschaftlicher
Basis gründete, und welches zwar ständig durch neue Leute bereichert wurde, aber
dennoch einen Kreis darstellte, in dem beinahe jeder jeden kannte (vgl.
Brewster/Broughton 2000: 156,158,160-161,183,207, Cheren 2000: 59,105-106,
Fikentscher
2000:
10,12,95,
Garratt
1999:
14,
Lawrence
2003:
12,22-
27,48,197,342,402, Lopez 2003, Podmore 2006: ii,ix, Poschardt 2001: 113, Ramos
2005: DVD 1, chapter 2, Shapiro 2005: 31-32,283, <http://www.djhistory.com/...>
(Vince Aletti) 2006).
Zudem schaffte es Mancuso, wie kein Zweiter, Menschen in eine Stimmung der
vollkommenen Entspannung zu versetzen, was er über die Verkettung vieler kleiner,
9 Mit einem Betrag von anfangs lediglich $2.50, welches kostenlose Getränke und ein Buffet
miteinschloss, war das Loft in der Tat an der absoluten Untergrenze des Eintrittsgeldes angesiedelt.
Doch selbst wenn jemand diesen geringen Beitrag nicht bezahlen konnte, war Mancuso aus seinem
Idealismus heraus bereit demjenigen Einlass zu gewähren, denn er war weniger darauf aus einen
kommerziellen Erfolg zu erzielen, sondern durch das Teilen von Musik und Atmosphäre mit
Freunden und Gleichgesinnten die bestmögliche Party zu feiern (vgl. Brewster/Broughton 2000:
156, Lawrence 2003: 49, Ramos 2005: DVD 1, chapter 2).
16
aber überaus wichtiger Details schaffte: “... it really felt like a lot of friends hanging
out. David had a lot to do with creating that atmosphere. Everybody who worked
there was very friendly. There were people putting up buffets and fruit and juice and
popcorn and all kinds of stuff. It did feel like going to someone's party, yet you were
completely welcome at it” (<http://www. djhistory.com/...> (Vince Aletti) 2006).
Neben dem angesprochenen freundlichen Personal und dem Aufstellen eines Buffets
mit Essen und Getränken, gehörte auch das Dekor aus zahllosen Luftballons und
Girlanden, sowie der gezielte Einsatz von Licht und das kunstvolle Aufbauen einer
musikalischen Dramaturgie dazu, die schon damit begann, dass Mancuso die ersten
Gäste nicht augenblicklich mit dance music empfing, sondern mit atmosphärischer
Jazz- oder Weltmusik begann, um die Stimmung des Abends ganz allmählich die
Besucher ergreifen zu lassen und sie nicht direkt mit dem Vorschlaghammer der
Bass Drum zu erschlagen, wie es in nahezu allen kommerziellen Diskotheken
geschieht. Vor allem aber vermittelte David Mancuso auch eine positive Botschaft
durch die Auswahl der Songs, die er spielte, denn er legte großen Wert darauf Songs
zu spielen deren Lyrics, oder deren zugrunde liegende Stimmung, Gefühle der Liebe,
Hoffnung und Erlösung transportierten, wie ein Besucher des Loft bekräftigt: “With
David it was a mood story. David in general was always about love, and he'd always
try to stay with that” (Brewster/Broughton 2000: 162). Nicht aus Zufall wurde der
Song Love Is The Message von MFSB schließlich zu einer die Underground-Szene
definierenden Hymne, denn er symbolisierte genau dieses Denken eines sozialen
Utopias voller Idealismus, Liebe und Hoffnung (vgl. Brewster/Broughton 2000: 158162,197,
Lawrence
2003:
24-25,
Shapiro
2005:
31,
Tremayne
2005,
<http://www.djhistory.com/...> (Vince Aletti) 2006).
Mit seiner beinahe schon mystisch-religiösen Aura schlug David Mancuso seine
Besucher ausnahmslos in Bann und beeinflusste eine ganze Generation, sowohl von
Party-Gängern, als auch DJs – allen voran Nicky Siano und Larry Levan, welche
Mancuso's einflussreichem Vorbild folgen sollten. Beide versuchten in ihren
jeweiligen Clubs The Gallery, bzw. Paradise Garage, dieselbe Fürsorge gegenüber
den Tänzern und die selbe intime Atmosphäre aufzubauen, die sie im Loft kennen
gelernt hatten. Auch wenn dies nun vor einem kommerziellen Hintergrund geschah –
was Mancuso, im Falle der Paradise Garage, teilweise kritisch betrachtete, da es
seiner Meinung nach in gewissen Belangen den Underground unterwanderte –, muss
man nichtsdestotrotz feststellen, dass Siano und Levan es schafften das Party-Ethos
17
und den Kern der Ideale, welche das Loft betonte, in ihren Clubs weiterleben zu
lassen. Das Konzept Mancuso's kopierend, waren Getränke und Essen in The Gallery
und der Paradise Garage ebenfalls im Eintritt enthalten, und Siano und Levan
maßen gleichermaßen jedem noch so kleinen Detail höchste Bedeutung zu. So hing
über Siano's DJ Booth beispielsweise ein kleines Schild mit der Aufschrift
“Welcome Home”, oder Larry Levan richtete die Lautsprecher der Garage jede
Woche stundenlang neu aus, um den Besuchern jedesmal ein neues, klangliches
Erlebnis zu bieten. Zudem folgten sie in ihrem DJing-Stil ganz klar der von Mancuso
geprägten Ästhetik, positive Botschaften von Liebe und familiärer Gemeinschaft zu
vermitteln und schafften es über die Lyrics zu ihrem Publikum zu sprechen. Dieses
starke Gemeinschaftsgefühl, ungeachtet welcher ethnischen oder sexuellen
Gruppierung man angehörte, war auch in The Gallery und der Paradise Garage
vorzufinden, denn dort trafen ebenso sämtliche kulturellen, sozialen und sexuellen
Strömungen zusammen wie im Loft und, auf Grund eines ähnlichen Einlass-Systems,
war sicher gestellt, dass beide Clubs in der Tat intime (wenn auch im Vergleich mit
dem Loft größere), freundschaftliche Schmelztiegel blieben: “If there were 2,000
people in there every Saturday, a good thousand of them knew each other by name”
(ein Mitarbeiter der Garage über dessen Besucher; Lewis 1998; vgl. Bidder 2001: 68, Brewster/Broughton 2000: 162,166,168,295,301, Garratt 1999: 20, Lawrence
2003: 100-104,342,352-353, Lewis 1998, Ramos 2005: DVD 1, chapter 1, DVD 2,
chapter 6, Tremayne 2005).
Solchen Underground-Lokalitäten kam bezüglich ihres sozialen Stellenwerts eine
besondere Bedeutung zu, die über das bloße Ausgehen in eine Diskothek am
Wochende weit hinausging. Besucher des Loft betonen immer wieder, dass
Mancuso's Partys ihr Leben vollkommen verändert und ihren Geist geöffnet haben
und für viele trugen die Underground-Partys des Loft, der Gallery und der Paradise
Garage
durchaus
religiöse
Züge.
Tänzer
der
Garage
bezeichneten
die
allwöchentlichen Samstags beginnenden und bis spät in den Sonntag hineingehenden
Partys sogar als ihre 'Saturday Mass' (Lewis 1998) und DJ Larry Levan folgte
Sonntag morgens tatsächlich einer fast schon sakralen Dramaturgie: “On Sunday
mornings at around 7:00 A.M., Larry would stop all the dancing by putting on Aretha
Franklin singing 'Mary Don't You Weep'. We knew he was giving us church. But
then he would take us from [a Black] church to his church! After Aretha was done
with her song, he would serve us fiercely! And he didn't do this just once, but for
18
several weeks.” (Fikentscher 2000: 105; vgl. Bidder 2001: 6-8, Brewster/Broughton
2000: 162,166,168,295,301, Garratt 1999: 20, Lawrence 2003: 100-104,342,352353, Lewis 1998, Ramos 2005: DVD 1, chapter 1, DVD 2, chapter 6, Tremayne
2005)
2.1.3. Active participation – Die Bedeutung des Tanzens und der Spiritualität in
UDM
Die Tatsache, dass UDM-Tänzer der Erfahrung solcher UDM-Partys eine spirituelle
Dimension zuschreiben, liegt sowohl an der individuellen, als auch der
gemeinschaftlichen Grenzerfahrung beim Tanzen, sowie daran, dass die UDM-Szene
tief in der Tradition afroamerikanischer Musik (vor allem des Gospels, sowie des
Souls und des Funk) verwurzelt ist, was zu einem kulturellen Diskurs über Gospel
und dessen Konzepte von Spiritualität und Erlösung auffordert, wie ich in diesem
Kapitel darstellen werde. Afroamerikanische Musik, UDM einschließend, ist
Performance-Musik, welche ihren Sinn dadurch entfaltet, dass jeder innerhalb des
momentan geteilten sozialen Raumes (in unserem Falle also dem dance club) an der
Gestaltung der Performance (Auflegen von Platten von Seiten des DJs, Tanzen von
Seiten der Tänzer) teilnimmt. Anders als in unserem westlich-europäischen Denken
sind Komposition und Performance in afroamerikanischer Musik nicht zwei
voneinander getrennte, fixe Entitäten, sondern Teile eines sich bedingenden
kreativen Ganzen, welches von allen Teilnehmenden im Laufe der Performance aktiv
geformt und interpretiert wird (d.h. die Tänzer beeinflussen durch ihr Tanzen die
Performance gleichermaßen wie der DJ durch sein Plattenauflegen). Musik wird
nicht als starres, autarkes Medium aufgefasst, sondern als aktiver Prozess, während
dessen die Musik ständig neugestaltet und im Idealfall von allen gemeinsam gefühlt
wird. Dieses gemeinsame Fühlen ist wichtig, denn die Musik wird nicht kognitiv
analysiert, sondern aufkommende Emotionen werden direkt über die Performance
ausgedrückt: “what we feel about the music is what it means”, wie Simon Frith
(1996: 139) die Bedeutung von Musik für Afroamerikaner herausstreicht. Im Sinne
dieser Idee, welche sich vor allem über den Rhythmus und über die emotionale und
inspirierende Kapazität der vom Gospel abgeleiteten Gesangstechnik (welche das
emotionale Involviert-sein des Sängers/Sängerin auf der Platte ausdrückt) in UDM
als bedeutende expressive Stilmittel artikuliert, auf welche die Tänzer über ihre
Bewegungen direkt mit ihren Emotionen antworten, bekommt die Partizipation durch
19
das Tanzen in UDM eine soziale Dimension, welche sowohl auf individueller, als
auch kollektiver Ebene ein bedeutsames und wirkungsvolles Instrument ist, um
Identitäten und Beziehungen zu erforschen, zu bestätigen und zu feiern, sowie
sozialkritisch gesellschaftliche Normen zu hinterfragen. Zudem finden die Tänzer ein
Ventil, über das sie ihre aufgestauten alltäglichen Sorgen und Probleme abbauen und
vergessen können, was einen der Hauptgründe darstellt weshalb das Tanzerlebnis im
UDM Club, als auch in der afroamerikanischen Kirche, die Verbindung zum Begriff
Erlösung trägt (vgl. Brewster/Broughton 2000: 314, Butler 2006: 72-73,91,256,
Fikentscher 2000: 8-9,13,58-61,93,106-107, Frith 1981: 16-17, Frith 1996: 135,137139,142, Lawrence 2003: 104, Lewis 1998, Maultsby 1985: 45-46, Podmore 2006:
vii-viii,xxi, Poschardt 2001: 261, Rietveld 1998: 164,191-193, Rietveld 2004: 46).
Die Musik und das Tanzen werden darüber hinaus zu einem
direkten Mittel der Kommunikation zwischen DJ und Tänzern und zwischen Tänzern
untereinander, wie Paradise Garage Tänzer bestätigen: “... to ME we [were] telling a
story [through our dancing] ... We knew we were telling a story, we were talking to
one another” (Ramos 2005: DVD 2, chapter 2). Das Kommunikationspotential ist
dabei den polyrhythmischen, als auch polyphonen/polyinstrumentalen Feinheiten der
Texturen und Schichten der Songs, welche der DJ spielt, inhärent, welche Tänzer
interpretativ aufgreifen10. Über die Auswahl der Platten und über die, in den Lyrics
aber auch im Feeling und der Polyrhythmik der Songs zugrunde liegenden
Botschaften, gibt der DJ die Entfaltung der Performance vor und spricht förmlich zu
10 Wie ich im zweiten Teil dieser Arbeit weiter ausführen werde, ist diese polyrhythmische und
polyinstrumentale Anlage, sowie der formale Aufbau von UDM ein ganz wichtiger Faktor für das
interpretative Ausgestalten der Musik durch die Tänzer. Durch dieses komplexe strukturelle
Ineinandergreifen verschiedener instrumentaler Elemente steht den Tänzern eine breite Palette
interpretativer Möglichkeiten zur Verfügung, auf die sie individuell reagieren können (einen
ähnlichen Ansatz verfolgt auch Mark Butler in Bezug auf elektronische dance music. Allerdings
beschränkt sich bei dieser Form von Musik die interpretatorische Möglichkeit auf das komplexe
Zusammenspiel rhythmischer Patterns, da in elektronischer dance music andere Instrumente
zumeist fehlen). Durch den repetitiven Aufbau von UDM und dem zielgerichteten Ansteuern
gewisser Spannungselemente auf einen bestimmten Punkt hin, erwartet der erfahrene Tänzer
zudem an gewissen Stellen der Musik gewisse Elemente, bzw. können selbst unerfahrene Tänzer
die Momente, in denen sich die musikalische Spannung löst, instinktiv vorausahnen und ihre
Bewegungen darauf ausrichten. So wird der Tänzer beispielsweise nach dem Breakdown (in dem
bis auf die perkussiven Elemente des Songs alle Instrumente aufhören zu spielen) den
Wiedereintritt der Bassline antizipieren und daraufhin mit gesteigerter Energie die Bewegungen
seines Tanzens auf das Zurückkommen der Bassline ausrichten. Gleichzeitig wird durch die
Kontinuität bestimmter repetitiver Elemente (wie die konstant durchgehende, auf jeden
Viertelschlag kommende Bass Drum) ein Rahmen aufgestellt, der die Tänzer bis zu einem
gewissen Grade auch synchronisiert und es entsteht eine Überblendung individueller als auch
kollektiver Performance, die in ständigem Wechsel ist, auch dadurch, dass Tänzer auf die
Bewegungen der Anderen reagieren, diese abschauen, neu interpretieren oder ein Gegenangebot
bieten (vgl. Butler 2006: 4,74,90-95,242,256, Fikentscher 2000: 58-59,80-81, Gerard 2004:
176,178, Rietveld 2004: 55).
20
seinen Tänzern. Die Tänzer greifen das Angebot des DJs auf und bringen dieses in
expressiven tänzerischen Bewegungen zum Ausdruck, welche eine Art rhythmischen
Kontrapunkt zur komplexen musikalischen Matrix entfalten. Darüber hinaus
beziehen UDM's Tänzer neben ihrem Körper auch Instrumente wie Tamburins,
Pfeifen oder Maracas, sowie ihre eigene Stimme (einfaches Mitsingen der Lyrics bis
hin zur gesanglichen Improvisation) in die tänzerische Performance ein, wie man es
beispielsweise im Loft oder in der Paradise Garage beobachten konnte. An diese
Rückmeldung der Tänzer knüpft nun wiederum der DJ an und so findet ein ständiger
Austausch und Fluss kommunikativer und körperlicher Energien statt – Tänzer
sprechen im Zusammenhang dieses kollektiven Teilens von Energien, diesem
Versuch die mentalen Energien jedes einzelnen Tänzers und des DJs Eins werden
zulassen, davon, eine Art “vibe” zu schaffen –, welche sich im Laufe eines Abends in
Verbindung mit körperlicher Erschöpfung, sensorischer Überstimulation, der
Repetitivität und Expressivität der Musik, sowie dem Gebrauch von Drogen11, so
hochspielen und solch eine Spannung aufbauen können, dass das Ganze in einer Art
spirituellen Klimax oder 'peak-experience', wie es die Amerikaner nennen, enden
kann (vgl. Brewster/Broughton 2000: 166-167, Butler 2006: 72-73,93-95,256,
Fikentscher 2000: 41-42,58-59,63,80-81, Frith 1981: 16, Frith 1996: 135,137-138,
Gerard 2004: 177, Goldman 1978: 119, Lawrence 2003: 26,37-38,424, Lewis 1998,
Maultsby 1985: 45-46, Poschardt 2001: 126,252,262, Rietveld 1998: 190-192,
Rietveld 2004: 47,53-54).
Es ist dabei wichtig zu erkennen, dass das Spiel zwischen Spannung und Erlösung
essentiell für das Aufbauen dieser 'peak-experience' ist. In UDM vollzieht sich dieser
Wechsel zwischen Spannung und Entspannung unaufhörlich, sowohl auf einem
Mikro-, als auch auf einem Makrolevel12. Auf einem Mikrolevel heißt dies, dass in
einzelnen musikalischen Teilen und Abschnitten eines Songs und im Song als
Ganzem immer wieder Spannung aufgebaut und wieder gelöst wird. Ein Beispiel
hierfür können wir an dem Song Ten Percent betrachten (vgl. CD1, Track 2). Für
UDM-Songs ist es typisch, dass vor den Übergängen von einem Teil eines Songs (im
Falle des betrachteten Songs Ten Percent der Refrain) in den anderen Teil (in
unserem Beispiel die 2.Strophe) häufig eine Verdichtung der Instrumente, sowie ein
11 Bezüglich der Verwendung von Drogen vgl. Kapitel 2.2.4.
12 Ich werde darauf in der späteren Besprechung der musikalischen Eigenheiten von UDM immer
wieder darauf zurückkommen, daher soll der Aspekt der Spannung und Entspannung in diesem
Kapitel nur angeschnitten werden.
21
kurzfristiges statisches Verharren innerhalb dieser Verdichtung stattfindet, so dass
die Rückkehr in die Strophenstruktur verzögert wird und damit für kurze Zeit eine
enorme Spannung aufgebaut wird, die sich mit dem Eintritt der Strophe auflöst. Der
Aufbau der Spannung auf diesem Mikrolevel lässt den Tänzer, metaphorisch
gesprochen, für kurze Zeit ungewiss über der Klippe hängen, bevor die Erlösung in
Form der Strophe folgt. Der Moment des Übergangs von Spannung zur Erlösung ist
dabei der entscheidende, denn der Tänzer übersetzt die Spannungsauflösung in eine
Energieexplosion beim Tanzen und setzt dieses daraufhin für gewisse Zeit mit
gesteigertem energetischen Engagement fort (vgl. Brewster/Broughton 2000: 160,
Butler 2006: 92,251, Fikentscher 2000: 41-42,83-85, Gerard 2004: 176-177,
Lawrence 2003: 22,55,66,225-226,235, Poschardt 2001: 126,261-262, Rietveld
2004: 52).
Auf dem Makrolevel läuft dies nach denselben Prinzipien – Spannungsaufbau und
Spannungsauflösung – ab, jedoch über die Spanne mehrerer Songs und ganzer DJSets hinweg. Man muss dabei bedenken, dass diese DJ-Sets in der New Yorker
UDM-Szene von enormer Länge waren. Wir sprechen hierbei im Schnitt von 6-7
Stunden und länger. Die Organisation von Anspannung und Entspannung in solchen
Sets muss also mit Bedacht angeordnet sein, denn wenn der DJ sein Publikum über
einen langen Zeitraum unentwegt puscht und einem hohen Intensitätslevel aussetzt,
wird das unweigerlich dazu führen, dass die Tänzer nach einer Stunde komplett
ausgepowert sind. Deshalb ordnen die meisten UDM-DJs, wie David Mancuso, ihre
Sets in einer wellenförmigen Form an (andere sprechen auch von einem 'peak-andvalley'-Verlauf): “I like to do it kind of ... like, peaks and valleys ... like, bring it up
slowly. So you'll kind of start out slow – sometimes ... sometimes I just bang it –
[and] kind of pick them up; let them down; pick them up higher; let them down.
Yeah – I like to ... midway through the set I just want them to be out of their minds”
(DJ Shiva über die Anordnung ihrer Sets, Butler 2006: 251; vgl. Brewster/Broughton
2000: 160, Butler 2006: 92,251, Fikentscher 2000: 41-42,83-85, Gerard 2004: 176177, Lawrence 2003: 22,55,66,225-226,235, Poschardt 2001: 126,261-262, Rietveld
2004: 52).
Die Tänzer werden über einen gewissen Zeitraum immer wieder von musikalischen
Spannungswellen erfasst, fort getragen und wieder heruntergebracht. Dies wiederholt
sich kontinuierlich, wobei die Tänzer bei jeder neuen Spannungswelle in der
Intensität ein wenig höher gespült werden, bis schließlich die spirituelle Klimax
22
erreicht ist (bei einer längeren Nacht ist es auch möglich, dass der DJ auf mehr als
eine Klimax hinarbeitet). In diesem Stadium angekommen, transzendiert der Tänzer
die Grenzen des individuellen Selbst, als auch konzeptueller Konstrukte wie Raum
und Zeit. Das 'Sich-bewusst-sein' des eigenen Selbst, sowie der weltlichen
Umgebung, löst sich zunehmend auf. Sämtliche Alltagssorgen des Tänzers fallen von
ihm ab und er verschmilzt mit den anderen Tänzern zu einer spirituellen und
körperlich äußerst intimen Einheit, in welcher die individuellen Unterschiede
verschwinden. Intim deshalb, weil die Tänzer in diesem Moment des spirituellen
Höhepunkts empfänglich und verletzlich zugleich sind. Das Hinarbeiten auf eine
'peak-experience' stellt eine komplette leidenschaftliche Hingabe und Demontage des
inneren Selbst, inklusive seiner Hemmungen, Vorbehalte und seiner Schutzschilde
dar. Intim auch im Hinblick auf die lustvoll ansprechende körperliche Nähe der
anderen Tänzer, denn der Dancefloor beispielsweise des Loft oder des Sanctuary,
war bei jeder Party so dicht gedrängt, dass Körperkontakt unumgänglich war und in
der Tat auch ein intimes körperliches Verschwimmen der Grenzen zwischen
Individuum und Kollektiv stattfand. Erst durch Verletzbarkeit und Öffnung entsteht
schließlich ein geteiltes energetisches Band und ein geteiltes energetisches Feeling
zwischen den Tänzern. Somit bildet sich ein starkes Gefühl des gegenseitigen
Verstehens und der Gemeinschaft auf einer existenziellen Ebene heraus, welches in
seiner Summe größer ist als die Energie jedes Einzelnen und welches dabei diese
spirituelle
Dimension
der
'peak-experience'
annehmen
kann
(vgl.
Brewster/Broughton 2000: 314, Butler 2006: 251, Fikentscher 2000: 41,80-81,
Gerard 2004: 173,177, Lawrence 2003: 25,38,104,288-289,424, Lewis 1998,
Poschardt 2001: 252-253, Rietveld 1998: 164,192, Rietveld 2004: 46-50,53).
Die Parallele, die sich hier zwischen der Bedeutsamkeit der
afroamerikanischen Kirche und der Bedeutsamkeit des UDM-Clubs für die
afroamerikanische Kultur zeigt, ist bemerkenswert, denn für Afroamerikaner stehen
beide Institutionen, genauso wie die Black Music Tradition von den ersten Spirituals
bis hin zu Disco und elektronischer house music, im Zusammenhang eines
ungebrochenen kulturellen Kontinuums. Wenn man so will, ist das Erleben von
Spiritualität und Erlösung im UDM-Club, eine konsequente Fortsetzung der sakralen
Praxis spirituellen Feierns auf säkularer Ebene. Die afroamerikanische Kirche muss
mit
Sicherheit
als
eine
der
zentralen
Institutionen
in
der
Geschichte
afroamerikanischer Kultur gesehen werden, welche in ihrer Entstehung in der
23
Unsichtbarkeit des Undergrounds zu Zeiten der Sklaverei, als Ort der kulturellen
Sicherheit und des autonomen kulturellen Ausdrucks gegenüber der Dominanz der
weißen 'Herren' und der puritanischen Kirche dient(e). Die dominante puritanische
Kirche sah es vor, dass man die Predigt des Priesters stillsitzend und stillschweigend
verfolgte. Dies widersprach jedoch vollkommen dem kulturellen Verständnis der
afroamerikanischen Gemeinschaft und deshalb suchte diese nach einem eigenen Ort,
an dem sie die heilige Messe in einer Art und Weise zelebrieren konnte, die für sie
von kultureller Bedeutung war. Einen Ort, an dem sie über die Musik der Spirituals
und des Gospels, sowie über Tanzen und Partizipation an der Gemeinschaft frei ihre
Gefühle ausdrücken konnten. Gefühle des Schmerzes und der Sorgen, aber auch der
Freude und Liebe, welche sie in der Gemeinschaft teilen konnten und durch das
Loslassen derer sie Hoffnung auf Erlösung und Inspiration fanden. Einen Ort, an
dem sie ihre afroamerikanische Identität und gemeinsamen Werte feiern, erforschen
und bestärken konnten und sowohl spirituelle Einheit, als auch einen gemeinsamen
Weg der (Massen)-Kommunikation fanden (vgl. Burnim 1985: 149, Burnim 2001:
625, Fikentscher 2000: 91-94,100,102-105, Lawrence 2003: 424, Maultsby 1985: 4546, Podmore 2006: vii-viii).
Genau solch einen Ort fanden auch die afroamerikanischen und homosexuellen
Minderheiten seit den 1970er Jahren in der Form des dance clubs. Wie wir bereits
festgestellt haben, folgt die UDM-culture in ihrer Essenz den Kernprinzipien dieser
kulturellen Praxis, bzw. die spirituelle Bedeutung dieser beiden Institutionen ähnelt
sich doch sehr. New Yorker UDM-DJs, wie Larry Levan oder Frankie Knuckles13,
sprachen immer wieder davon, dass sie mit den Songs und der Performance, die sie
selbst boten, ihre Tänzer inspirieren wollten. Für sie waren dance clubs in der Tat mit
Kirche gleichzusetzen – an beiden Orten wurde gleichermaßen spirituelle Einheit
und Erlösung erreicht. Gleichzeitig vermischte sich aber diese spirituelle Dimension,
welche sie für die Kultur zweifelsohne hatte, mit einer Dialektik der offen zur Schau
gestellten Körperlichkeit und Sexualität, welche sich aus dem homosexuellen
Kontext herausgebildet hatte, sowie mit einer Dialektik der Andersartigkeit der Club
music,
woraus
sich
neue
interessante
eigene
Formen
der
expressiven
Ausdrucksweise, sowohl in Hinblick auf das Tanzen, als auch im Hinblick auf das
Erforschen und zur Schau tragen der eigenen Identität entwickelten, welche jedoch
13 Knuckles begann seine DJing Karriere in New York im Club Better Days und legte später im
Continental Baths auf, bevor er 1977 nach Chicago zog und dort maßgeblich an der Entstehung
von house music beteiligt war (vgl. Bidder 1999: vii, Garratt 1999: 15-17).
24
an essentiellen Prinzipien der sakralen Tradition, wie dem kommunikativen Prinzip
des 'call-and-response' des Gospels festhalten. Hierzu möchte ich zum Abschluss des
Kapitels zwei Praktiken herausgreifen und dem Leser näher bringen, welche sich im
Kontext des dance clubs entwickelt haben, nämlich das 'dancing in circles' und das
'vogueing' (vgl. Brewster/Broughton 2000: 314, Fikentscher 2000: 60,91-94,102-103,
Garratt 1999: 15, Lewis 1998, Poschardt 2001: 261-263, Ramos 2005: DVD 2,
chapter 2, Rietveld 2004: 57).
Das 'dancing in circles' entstand in der Paradise Garage und diese
Praxis entwickelte sich in der dortigen Szene bald schon zu einem beständigen
Ritual, in welches eine große Anzahl der Besucher integriert wurden. Dieses Ritual
lief so ab, dass die Tänzer sich zu einem großen Kreis versammelten und ein Tänzer
nach dem anderen in den Kreis hineintrat, eine kurze persönliche Tanz-Performance
ablieferte und wieder aus dem Kreis heraustrat, um einem anderen Tänzer Platz zu
machen. Das Tanzen und die Körperbeherrschung der Tänzer waren dabei in
höchstem Maße entwickelt und die Performances fanden auf einem durchaus
akrobatischen Niveau statt – Tänzer bauten Saltos, Spagat, schnelle Rotationen um
die eigene Achse, und komplexeste Bewegungsmuster in ihre Performances ein. Das
'dancing in circles' hatte allerdings trotz des hohen tänzerischen Levels keinen
Wettbewerbscharakter, wie die Tänzer betonen, sondern es ging darum einen
persönlichen Beitrag zu leisten, in einer Atmosphäre, welche eher auf den
Grundfesten einer großen freundschaftlichen Familie beruhte, denn kompetitiver
Rivalerie: “Jumping in the circle has to do with the cameraderie, it's a cameraderie
thing ... You're giving it all and it doesn't matter if your moving isn't as nice as the
other kid ... It doesn't matter who's better ... You were in there, you gave your best”
(Ramos 2005: DVD 2, chapter 2). Es ging, wie in der afroamerikanischen Kirche, um
emotionale Teilnahme und ein Gemeinschaftsgefühl. Die dabei zu beobachtende
call-and-response Struktur, in der ein Tänzer ein expressives Statement macht, auf
welches der nächste Tänzer, der in den Kreis tritt antwortet, leitet sich direkt aus der
Tradition des Gospels ab und wie wir im zweiten Abschnitt dieses Kapitels
festgestellt haben, ist dieses call-and-response nicht nur figurativ zu verstehen,
sondern ist ein ausdrucksstarkes Mittel tatsächlicher Kommunikation (vgl. Ramos
2005: DVD 2, chapter 2).
Aus derselben call-and-response Tradition heraus, muss auch das 'vogueing'
begriffen werden. Anders als das 'dancing in circles' jedoch, ist 'vogueing' eine
25
Tanzform, welche unübersehbar auf Wettbewerb beruht. Das 'vogueing' entstand in
einem New Yorker dance club namens Footsteps. Als sich dort einige
afroamerikanische Drag Queens gegenseitig 'shade' zuwarfen14, reagierte eine der
Drag Queens mit dem Namen Paris Dupree darauf, indem sie eine Ausgabe des
Modemagazins Vogue aus ihrer Tasche zog und in Abstimmung mit dem Beat der
Musik, die Posen der Models aus dem Magazin nachstellte. Andere Drag Queens
folgten ihrem Beispiel und antworteten in derselben Art und Weise. War es zu
Anfang noch das bloße Einfrieren bestimmter Posen, bauten die Tänzer mit der Zeit
immer mehr tänzerische Elemente aus Ballett, Jazztanz und Akrobatik ein. Darüber
hinaus integrierten sie Bewegungen aus allen möglichen Bereichen, welche in ihrem
ästhetischen Fluss zu den Bewegungen der Performance passten, so zum Beispiel aus
dem martial arts-Bereich, aus Modeshows oder pantomimische Aspekte und es
entwickelte sich in der Folge eine neuartige Kunstform des Tanzens, welche die
Tänzer, in Anlehnung an das Magazin Vogue, 'vogueing' nannten. Diese neuartige
Kunstform verbreitete sich vornehmlich im afro- und lateinamerikanischen
homosexuellen Underground, sowohl auf Schwulenbällen, als auch in UDM clubs,
wie dem Better Days oder der Paradise Garage, und stellte ein weiteres Beispiel dar,
für das innovative Fortbestehen afroamerikanischer Traditionen in einem frischen
kulturellen Kontext, worüber nun diese 'doppelten' Minderheiten auf eine für sie
kulturell bedeutsame Weise ihre Identität erforschten, bekräftigten und feierten (vgl.
Brewster/Broughton 2000: 176, Cheren 2000: 339, Lawrence 2003: 46-47,
Livingston 1990, Ninja 1994: 160-161, Poschardt 2001: 263, Rose 1994: 167).
14 Sich 'shade' zuwerfen kommt aus der afroamerikanischen Homosexuellenszene und bedeutet
soviel wie 'sich gegenseitig Beleidigungen zuwerfen', allerdings auf einer nonverbalen Ebene und
auf eine äußerst affektierte Art und Weise. Der Vogue-Tänzer Willi Ninja gibt für das Konzept des
'throwing shade' folgende Definition: “Shade is basically a nonverbal response to verbal or
nonverbal abuse. Shade is about using certain mannerisms in battle. If you said something nasty to
me, I would just turn to you, and give you a look like: 'Bitch please, you're not even worth my
time, go on.' All with a facial expression and body posture, that's throwing shade” (Rose 1994:
174; vgl. Livingston 1990).
26
2.2. Technischer und struktureller Rahmen von UDM
2.2.1. Die ersten DJs und die Entwicklung von DJ-Techniken & -Equipment
Das Konzept der Diskothek15 hat seinen Ursprung in Frankreich, zur Zeit der
deutschen Besetzung im 2.Weltkrieg. Um das Verbot der Nationalsozialisten zur
Live-Musik von Jazzbands zu tanzen zu umgehen, behalf man sich damit, in
Undergroundlokalitäten die Musik über Plattenspieler und Boxen zu generieren.
Nach dem Krieg behielten viele Clubs dieses Konzept bei, da es eine äußerst
ökonomische Alternative zur bisherigen Verpflichtung von Live-Bands darstellte.
Vor allen Dingen die Musik amerikanischer Rock'n'Roll-Bands, die sich in den
1950er Jahren größter Beliebtheit beim Tanzpublikum erfreute, konnte so schnell
und billig in den Clubs gehört werden; Bands, die für europäische Clubs live kaum
oder nur sehr teuer zu bekommen waren. Die ersten amerikanischen Discos gab es
seit Anfang der 1960er Jahre, als immer mehr New Yorker Nachtclubs, wie Le Club
oder The Shepheard's, begannen besagtes Konzept des DJing als Quelle für
musikalische Tanzunterhaltung zu entdecken. In den meisten Fällen tanzte das New
Yorker Publikum noch zu Live-Musik, wie in der Peppermint Lounge, doch unter
den ersten DJs wie Slim Hyatt – ein ehemaliger Butler, der in Le Club auflegte und
als erster DJ Amerikas angesehen wird – begann sich das DJ-Konzept in Clubs
langsam durchzusetzen, auch wenn der DJ zu diesem Zeitpunkt als nicht mehr
angesehen wurde, als ein billiger Live-Musik-Ersatz. Der DJ war eigentlich noch
kein 'richtiger' DJ im Sinne der künstlerischen Profession, die man ihm heute
zuschreibt und die sich in der darauf folgenden Zeit langsam zu entwickeln begann,
sondern lediglich ein 'Plattenaufleger', der noch ohne zu mixen eine Platte nach der
anderen ein- und aus-fadete und manchmal sogar mit lediglich einem Turntable
spielte. Die meisten frühen Discos waren elitäre Nobelklubs, in denen Sehen-undgesehen-werden wichtiger war, als die Musik des DJs, die weiter unten auf der
Agenda stand und sich konservativ an den Charts des Mainstream orientierte (vgl.
Brewster/Broughton 2000: 140-142, Cheren 2000: 95-96,98, Goldman 1978: 2324,42-46, Joe 1980: 17, Poschardt 2001: 103-08, Rietveld 1998: 102, Shannon 1982:
48).
Die frühen amerikanischen Discos waren somit alles andere als ein fruchtbarer Ort,
an dem DJs bereit waren musikalische Risiken einzugehen, sowie neue DJ15 Das Wort Diskothek setzt sich aus den griechischen Wörtern 'dískos' (Scheibe) und 'theke'
(Behältnis) zusammen und bezeichnet somit einen Club, in dem zu Platten statt zu Live-Musik
getanzt wird (vgl. Poschardt 2001: 103).
27
Techniken zu entwickeln und zu verwenden. Dies änderte sich erst mit zwei DJs,
nämlich mit Terry Noël und vor allen Dingen Francis Grasso. Beide waren selbst
Tänzer und hatten damit ein Verständnis dafür, auf welche Platten das Publikum
reagieren würde, im Gegensatz zu Hyatt, dem das musikalische Gespür und der
Background dafür fehlte. Terry Noël begann im 1965 eröffneten Arthur aufzulegen
und war einer der ersten DJs, die begannen das DJing als künstlerisch kreative
Betätigung zu sehen. Die meisten DJs zuvor hatten Platten noch nicht ineinander
gemischt und Noël kritisierte vor allem die Sprunghaftigkeit in der Auswahl der
Songs dieser frühen DJs. Der DJ-Stil in Discos wie Le Club baute noch nicht
kontinuierlich und schrittweise auf einen Höhepunkt hinzielend die Energie der
Tänzer auf, sondern es war gängige Praxis eine langsame Ballade zu spielen, dann
einen schnellen Soul-Song, wieder eine Ballade, usw., so dass die Tänzer, auf Grund
des Fehlens eines dramaturgischen Set-Aufbaus, jedesmal vollkommen aus der
Stimmung herausgerissen wurden. Terry Noël begann das zu ändern: Er prägte einen
DJ-Stil, der mit langsamen Songs begann und sich dann kontinuierlich in der
Geschwindigkeit und dem Energielevel steigerte, bis schließlich ein Höhepunkt
erreicht war. Song für Song aufeinander aufbauend und, mittels zweier Turntables,
ineinander gemischt, so dass keine unnötigen Pausen entstanden, wobei Noël
versuchte sich an der Rückmeldung des Dancefloors zu orientieren (vgl.
Brewster/Broughton 2000: 140-43,156,158, Cheren 2000: 96,98,106, Cross 2003: 41,
Goldman 1978: 46-51, Joe 1980: 17-18, Katigbak 2006, Lawrence 2003: 10,1617,19-20,102, Poschardt 2001: 106-108, Ramos 2005: DVD 1, chapter 2, Shapiro
2005: 21-22).
Doch auch wenn Noël dem DJing erste kreative Impulse gab, das Arthur war ebenso
ein Laden für den Jet Set wie Le Club und dies spiegelte sich auch in Noël's
Songauswahl wieder, die, obwohl er hin und wieder auch neue Songs integrierte und
damit experimentierte, doch noch sehr auf den Mainstream konzentriert war. Viel
schwerwiegender ist jedoch, dass Noël und andere DJ-Kollegen den DJ-Job so
verstanden, dass sie nicht nur dazu dar waren, die Tänzer zu einem energetischen
Höhepunkt zu führen, sondern sie mit langsamen Songs auch wieder von der
Tanzfläche herunterzuholen, um den Alkoholverkauf an der Bar anzukurbeln. Das
unterschiedliche Verständnis des DJings in kommerziellen Clubs wie dem Arthur
und in Underground-Clubs in denen Francis Grasso aufzulegen begann, wird
besonders deutlich, wenn man sich Dough Shannon's Ausführungen über die
28
Aufgaben eines guten DJs durchliest, welche durchweg von Bussiness-Aspekten
geleitet sind. Shannon zitiert den DJ einer kommerziellen Clevelander Diskothek
folgendermaßen: “The main purpose of the disco DJ, besides just making people
dance and party, is to make them thirsty. When they're thirsty they will naturally
want to quench their thirsts, presumably by going to the bar and ordering a drink, and
not just a glass of water. This puts money in the cash register ...” (Shannon 1982:
176). Ein Club wie das Arthur drehte sich zwar mehr ums Tanzen, als die meisten
anderen High Society-Clubs, aber die Entwicklung einer Hardcore dance-Szene,
welche wiederum in der kreativen Entwicklung der UDM mündete, wurde in dieser
Art von Lokalität nicht verfolgt (vgl. Brewster/Broughton 2000: 140-43,156,158,
Cheren 2000: 96,98,106, Cross 2003: 41, Goldman 1978: 46-51, Joe 1980: 17-18,
Katigbak 2006, Lawrence 2003: 10,16-17,19-20,102, Poschardt 2001: 106-108,
Ramos 2005: DVD 1, chapter 2, Shapiro 2005: 21-22).
Dies geschah außerhalb des Mainstreams in der Underground-Szene, in Örtlichkeiten
wie David Mancuso's Loft (in dem Mancuso seit 1970 regelmäßig Partys
veranstaltete), Nicky Siano's Gallery (geöffnet seit 1972) oder später in Larry
Levan's Paradise Garage (geöffnet seit 1977), in denen sich alles um die Musik und
das Tanzen drehte und auch kein Alkohol ausgeschenkt wurde, sondern Fruchtsäfte,
Nüsse und andere Erfrischungen für die Tänzer bereitstanden, um die leeren Akkus
für das Tanzen aufzuladen. Fragt man DJs dieser Zeit, wie Francois Kevorkian,
warum dort kein Alkohol ausgeschenkt wurde, fällt die Antwort vergleichsweise
simpel aus: “That was not what it was about.” (Lewis 1998); und Steve D'Acquisto,
einflussreicher DJ und 'Schüler' von Francis Grasso, beschreibt in der
Dokumentation Maestro die unterschiedliche Party-Ästhetik sehr treffend: “At the
Loft the music and the sound was the party. That was the event ... At nightclubs you
had a bar with liquor and you had to deal with all kinds of things but at the Loft there
was no liquor. So basically people were just expressing themselves in a whole
different way. It was ... the tightness and the oneness with the music was just
amazing” (Ramos 2005: DVD 1, chapter 3; vgl. Brewster/Broughton 2000: 14043,156,158, Cheren 2000: 96,98,106, Cross 2003: 41, Goldman 1978: 46-51, Joe
1980: 17-18, Katigbak 2006, Lawrence 2003: 10,16-17,19-20,102, Poschardt 2001:
106-108, Ramos 2005: DVD 1, chapter 2, Shapiro 2005: 21-22).
In dieser Underground-Szene trieb vor allem Francis Grasso als
Vorreiter die Entwicklung der UDM und die Entwicklung der DJ-Culture weitaus
29
radikaler voran, als Terry Noël, zunächst im Salvation und später u.a. auch im bereits
erwähnten Sanctuary. Zum einen zeigte Grasso eine Vorliebe für eine andere Art von
Musik, als Terry Noël, der vor allem Rock'n'Roll-Songs und auch gerne langsame
Songs von Elvis spielte, wohingegen Grasso Soul-, Funk-, als auch Rock-Songs
bevorzugte, die sehr percussion-lastig waren. Zum anderen entwickelte, bzw. griff
Grasso gewisse DJ-Techniken auf und entwickelte diese weiter, um im Endergebnis
einen möglichst ungebrochenen Beatfluss zu garantieren, wonach die mit mehr
Energie tanzenden Underground-Tänzer verlangten und hob dabei das Mixen von
Platten auf eine vollkommen neue Ebene. Eine Technik, die Francis Grasso
entwickelte und zur Perfektion führte um diesen Nonstop-Beatfluss zu gewährleisten
war das Beat-mixing. DJs wie Terry Noël hatten einfach nur zu einem beliebigen
Zeitpunkt den einen Song beendet und den neuen Song eingeblendet, nicht darauf
achtend, dass der Beat des neuen Songs auch nahtlos in den Beat des alten Songs
übergehe. Grasso ging einen Schritt weiter. Er blendete die Beats zweier Platten so
ineinander, dass ein perfekter, nahezu nicht hörbarer Übergang von einem Song zum
nächsten entstand. D.h. der Zuhörer hörte noch die Zählzeit 4 eines Taktes des alten
Songs und exakt auf die Zählzeit 1 des nächsten Taktes begann der Beat des neuen
Songs. Dazu war es nötig, die neue Platte auch genau im richtigen Moment starten zu
können, wobei das Problem war, dass der Turntable immer eine gewisse Anlaufzeit
brauchte um auf Geschwindigkeit zu kommen. Dieses Problem löste Grasso, indem
er eine Technik namens slip-cueing verwendete, eine Technik die vor ihm bereits
Radio-DJs verwendet hatten16 und die es erlaubt die Platte punktgenau und bereits in
der richtigen Geschwindigkeit zu starten. Bei dieser Technik lässt der DJ den
Plattenteller des zweiten Turntables, auf dem der neue Song hereingebracht werden
soll, bereits vorher rotieren, hält die Platte mit dem Finger an der Stelle fest, an der
die Platte später starten soll und lässt dann im richtigen Moment los. Damit der
Antrieb des Plattenspielers auf Grund des hohen Reibungswiderstandes dabei nicht
durchbrennt, legt der DJ eine Filzmatte zwischen Plattenteller und Schallplatte (vgl.
Brewster/Broughton 2000: 143-145,148-49, Butler 2006: 55, Cross 2003: 41-44,
Goldman 1978: 112-115, Jones/Kantonen 2000: 215, Lawrence 2003: 19,35,86,
Poschardt 2001: 109-110, Shannon 1982: 257-62, Shapiro 2005: 28-29).
16 Der weitläufigen Meinung vieler Autoren widersprechend, die behaupten, dass Grasso slip-cueing
erfunden habe (vgl. z.B. Goldman 1978: 115), belegen u.a. Cross (2003: 22,42) und
Brewster/Broughton (2000: 149), dass diese Technik bereits im Radiodeejaying gängige Praxis
war.
30
Das Problem, das allerdings Grasso zu Beginn seiner DJ-Zeit noch hatte war, dass er
dieses Beat-mixing noch ohne Kopfhörer-Vorhöroption (cueing system) durchführen
musste. Er musste die Platten daher äußerst genau, Takt für Takt, kennen, um die
Stellen, an denen die Beats auf Taktschlag 1 anfangen, zu finden und die Nadel
darauf zu platzieren. In Maestro erklären Grasso und D'Acquisto, dass sie ohne
Kopfhörer gezwungen waren die Rillen der Platten zu 'lesen', um die passenden
Stellen zu finden: hellere Stellen auf der Platte bedeuteten, dass an diesen Stellen
Vokalparts begannen, während dunklere Stellen instrumental waren. Jedoch war
dieses Beat-mixing noch äußerst rudimentär und eingeschränkt und die
Fehlerwahrscheinlichkeit die nächste Platte nicht auf Beat 1 zu erwischen war
äußerst hoch. Somit wurde es nötig, DJ-Equipment zu entwickeln, das es dem DJ
ermöglichte bereits den neuen Song zu hören, während die Tänzer noch den alten
Song über das Soundsystem hörten. Hierzu erfand Alex Rosner, ein Sound-Engineer,
extra für Grasso den ersten DJ-Mixer, Rosie genannt. Dieser Mixer besaß u.a. drei
Lautstärke-Schieberegler, mit denen drei Quellen angesteuert werden konnten – zwei
Turntables und eine andere Audioquelle, z.B. ein Kassettendeck –, sowie einen
Kippschalter, um wahlweise eine der drei Audioquellen über Kopfhörer zu hören.
Somit konnte Grasso nun im Vorhörmodus (auch cueing-Modus genannt) über
Kopfhörer mit dem einen Ohr den neuen Song vorbereiten, während er mit dem
anderen Ohr auf den Song hörte, der über das Soundsystem lief; er konnte den
Kippschalter drücken, damit das Audiosignal des zweiten Turntables wieder über das
Soundsystem läuft und die Platte dann im richtigen Moment auf die 1 des neuen
Taktes loslassen (vgl. Brewster/Broughton 2000: 153, Butler 2006:55, Cross 2003:
14-15,41-44, Lawrence 2003: 35-37, Poschardt 2001: 110, Ramos 2005: DVD 1,
chapter 3, Shannon 1982: 251-53,257).
Doch Grasso nutzte nicht nur das Beat-mixing als bloßen Übergang von einem Song
zum anderen. Er benutzte auch Platten in Kombination miteinander und schuf somit
neue Songs. Grasso nahm beispielsweise 2 Kopien derselben 45er Platte (z.B. You're
the one von Little Sister) und dehnte dabei den ursprünglichen Song, indem er immer
wieder einzelne Parts des Songs auf den beiden Turntables aneinanderreihte, was
einen frühen Blueprint für das spätere Studio-Remixen17 darstellte. Auch blendete er
zwei gleiche Platten, jeweils um einen Bruchteil versetzt, übereinander, so dass ein
beeindruckender Echoeffekt entstand. Solche langen Überblendungen (overlay
17 Zum Remixen siehe Punkt 2.2.6.
31
blends) waren ein Markenzeichen Grassos und er ließ diese 2 Minuten oder noch
länger gleichzeitig spielen, auch mit unterschiedlichen Platten. So legte er z.B.
Robert Plant's laszives Stöhnen von Led Zeppelin's Song Whole Lotta Love über den
Latin-Drum Break von Chicago Transit Authority's I'm a Man und formte damit aus
zwei verschiedenen einen neuen, dritten Song, was für die Entwicklung der DiscoMusik ein äußerst wichtiger Meilenstein war: Vom Prinzip waren solche frühen
Mixes Disco-Musik, bevor die Plattenindustrie überhaupt daran dachte solche Musik
zu produzieren und Grasso prägte mit der Auswahl solcher Kombinationen die
Stilästhetik von Disco, wie z.B. mit der Kombination Whole Lotta Love/I'm a Man,
die eine Vorlage für spätere Discoproduktionen darstellte, mit ihrem Drum Break,
den Latinperkussionelementen und dem sexuell aufgeladenen Gesangsgestöhne. DJs
erfanden diesen Musikstil, indem sie mit neuen DJ-Techniken und Soundcollagen
experimentierten (vgl. Brewster/Broughton 2000: 148-150, Cheren 2000: 119,
Goldman 1978: 115, Jones/Kantonen 2000: 215, Lawrence 2003: 35-36, Poschardt
2001: 110, Shannon 1982: 250,256, Shapiro 2005: 28-29).
Doch bei diesen langen overlay blends, die Grasso machte, ergaben
sich neue Probleme. Natürlich hatten die meisten Songs verschiedene Tempi und da
auf den Platten echte Schlagzeuger spielten und keine Drum-machines, gab es auch
in den Songs selbst Temposchwankungen, die es äußerst schwierig machten, zwei
Platten in Synchronisation zu halten. Grasso's Turntables hatten noch keine
Pitchcontrol, mit der man das Tempo der Platten hätte anpassen können18. Zudem
konnte man bei diesen Turntables auch nicht, während die Platten gespielt wurden,
das Tempo nachjustieren, indem man mit der Hand den drehenden Plattenteller
verlangsamte. Dies alles erlaubte die Technik noch nicht und Grasso's Kreativität
beim Mixen waren noch erhebliche Grenzen gesetzt, denn somit waren längere
overlay blends nur möglich, wenn der Beat der beiden Platten und die Länge der
gewählten Abschnitte exakt übereinstimmten, wie es bei der Kombination Whole
lotta love/I'm a Man der Fall war; und wenn man den richtigen Moment in dem die
Beats zweier Platten gleichzeitig begannen verpasste, war der Mix gelaufen. Das
Risiko solche Mixes zu machen war also extrem hoch, doch Grasso war, mehr noch
als andere DJs, bereit, dieses Risiko einzugehen: “Nobody mixed like me. Nobody
18 Goldman (1978: 115) und Poschardt (2001: 110) schreiben zwar, dass Grasso's ThorensTurntables eine Pitchcontrol gehabt hätten. Sowohl Brewster/Broughton (2000: 149), als auch
Lawrence (2003: 36) zitieren Grasso jedoch, dass er mit seinen Thorens-Turntables noch nicht die
Geschwindigkeit anpassen konnte.
32
was willing to hang on that long. Because if you hang on that long, the chances of
mistakes are that much greater” (Brewster/Broughton 2000: 148-149; vgl.
Brewster/Broughton 2000: 148-150, Cheren 2000: 119, Goldman 1978: 115,
Jones/Kantonen 2000: 215, Lawrence 2003: 35-36, Poschardt 2001: 110, Shannon
1982: 250,256, Shapiro 2005: 28-29).
In der Folge machten technische Fortschritte im Bereich DJ-Equipment, das Mixen
immer einfacher, kreativer und weniger fehleranfällig. War Grasso der erste gewesen
der durch das Überblenden unterschiedlicher Platten mit identischer oder ähnlicher
Beat-Geschwindigkeit, die Turntables als kreative Instrumente entdeckte hatte,
knüpften seine 'Schüler' Michael Cappello und Steve D'Aquisto, denen Grasso seine
DJ-Techniken beibrachte, an Grasso's Mixing-Techniken an und zeigten ein
saubereres und schnelleres Mixen. Nichtsdestotrotz behielt das Mixen einen
gewissen 'Hit-and-hope'-Charakter wie Nicky Siano feststellt: “Michael [Cappello]
would put the needle down and hope for the best. Seventy percent of the time he
would get there but 30 percent of the time it just didn't work out. I started doing it
scientifically so I was there 90 percent of the time” (Lawrence 2003: 108). Siano
legte seit 1972 in seiner eigenen Disco The Gallery auf. Um das Beat-mixing zu
perfektionieren beauftragte er Alex Rosner, seine Turntables mit einer Pitchcontrol
zu versehen, so dass Siano die Geschwindigkeit der Platten anpassen konnte. Siano
konnte nun auch Platten mischen und übereinanderlegen, die in ihrer ursprünglichen
Geschwindigkeit nicht zu synchronisieren gewesen waren, was wiederum neue
kreative Möglichkeiten eröffnete, mit Musik und Sound zu experimentieren, zumal
Siano 1974 den dritten Turntable im DJing einführte. Er nutzte ihn dazu,
Soundeffekte, wie die Geräusche eines Flugzeugs, über die Anlage einzuspielen und
dadurch seine Tänzer in noch größere Ekstase zu versetzen. Ein Problem das die
Pitchcontrol allerdings mit sich brachte war – wie der Name schon sagt – die
Tatsache, dass neben der Geschwindigkeit gleichzeitig auch die Tonhöhe (pitch)
verändert wurde. Je schneller man die Geschwindigkeit einstellte, desto höher wurde
die Tonhöhe der Platte und umgekehrt, und ab einem gewissen Faktor auch so, dass
dieser
Tonhöhenunterschied
für
die
Tänzer
hörbar
wurde.
Um
dem
entgegenzuwirken, konnte der DJ mit Hilfe der EQing-control auf seinem DJ-Mixer
(zur Funktionsweise vergleiche die letzten beiden Abschnitte dieses Kapitels) die
Tonhöhe ausgleichen, indem er je nach Geschwindigkeit mehr Bass, bzw. Höhen
hinein, oder heraus mischte (vgl. Brewster/Broughton 2000: 150-152,166-167, Butler
33
2006: 55, Cheren 2000: 112-113, Cross 2003: 16-17, Lawrence 2003: 107-109,125,
Shannon 1982: 252-253, Shapiro 2005: 37-38).
Ein weiteres Problem der Turntable-Technologie war, dass durch die enorme
Lautstärke und der damit verbundenen Vibration in Clubs, die tracking ability (d.h.
die sichere Führung der Plattennadel durch die Plattenrillen) litt und die Nadel
durchaus nicht selten aus der Rille sprang. Um dies zu verhindern, suchte David
Mancuso nach Möglichkeiten die tracking ability von Turntables, sowie den Klang
der Turntables zu verbessern. Ein Baustein hierzu wurde von Mitch Cotter erfunden,
der an Mancuso's Turntable das konventionelle Gehäuse entfernte und durch ein
1.125 inch (~ 2,86 cm) dickes und 150 Pfund (~ 68 kg) schweres Fundament aus
verschiedenen Metall- und Plastikschichten ersetzte, welches den Turntable vor
akustischen Vibrationen abschirmte. Ein weiterer Baustein war, dass Mancuso den
herkömmlichen Tonarm seines Turntables durch einen hochwertigen Fidelity
Research-Tonarm ersetzte, der eine um 40% reduzierte 'lateral tracking error'-Rate
(d.h. die Wahrscheinlichkeit, dass die Nadel aus der Spur läuft) hatte und besten,
unverzerrten Sound selbst an den innersten Rillen der Platte, wo die
Wahrscheinlichkeit von Führungsfehlern der Nadel am größten ist, gewährleistete.
Zusätzlich verwendete Mancuso eine Art 'Stopfen', den er von oben auf den Stift des
Plattentellers steckte, um die Stabilität der Platte zu erhöhen und er benutzte teure
handgemachte
Koetsu
Onyx
Sapphire-Plattennadeln.
All
diese
Bausteine
verbesserten das sichere Abspielen von Platten erheblich und sorgten für den
erstklassigen Sound nach dem DJs wie David Mancuso suchten (vgl.
Brewster/Broughton 2000: 157-58, Lawrence 2003: 237-39, Ramos 2005: DVD 2,
chapter 1, Shapiro 2005: 33).
Auch
der
bereits
thematisierte
DJ-Mixer
erfuhr
im
Jahr
1971
eine
Weiterentwicklung, welche den Mixing-Stil von UDM-DJs enorm beeinflusste. In
diesem Jahr erschien der Bozak CMA-10-2DL, welcher der erste kommerziell
erwerbbare DJ-Mixer war und der absolute Standard im Club-Betrieb wurde. Unter
Mithilfe von Alex Rosner und Richard Long19 von Louis Bozak konstruiert, war
dieser Mixer radikal anders, als der von Rosner entworfene Rosie. Während wichtige
Merkmale, wie die Vorhöroption via Kopfhörer beibehalten wurden, wartete der
Bozak mit Drehknöpfen (2 Drehknöpfe für die Turntables, 2 für Kasettendecks,
sowie 2 für Mikrophone) an Stelle der Schieberegler (sliders) des Rosie-Mixers für
19 Neben Rosner DER Innovator und Tüftler in Bezug auf UDM-Soundsystems.
34
die Lautstärkeregelung auf, was sich charakteristisch auf das Mixing von UDM-DJs
auswirkte, denn die Verwendung von Drehknöpfen drängte die DJs dazu langsame
Übergänge zu machen, Musikschicht für Musikschicht schrittweise ineinander und
übereinander zu mischen (sog. smooth slow mixing), während Schieberegler dafür
prädestiniert sind abrupteres Mixing durchzuführen (sog. fast cutting, welches sich
im HipHop durchsetzen sollte). Während sich heutzutage bei den meisten DJ-Mixern
die Schieberegler wieder durchgesetzt haben, waren nahezu sämtliche wichtigen
New Yorker Underground-Discos der 1970er Jahre mit Drehknopf-DJ-Mixern
ausgestattet, so dass sich im Club-Betrieb dieses langsame Mixen durchsetzte und
somit die Entwicklung der UDM grundlegend beeinflusste (vgl. Brewster/Broughton
2000: 153-154, Cross 2003: 16-28, Fikentscher 2000: 37,45, Rietveld 1998: 109,
Shannon 1982: 247).
Der ursprüngliche Grund, warum Bozak/Rosner/Long Drehknöpfe verwendeten,
war, dass sie nach der bestmöglichen Audioqualität suchten. Wie David Mancuso
waren diese drei Sound Engineers Audiophile und an perfektem Klang interessiert.
Das Problem von Schiebereglern war, dass über den langen Spalt, durch den der
Regler geschoben wurde, Schmutz eindrang und so die Schaltkreise des Mixers, und
damit die Audioqualität, beeinflusst wurden. Zudem war die Lebensdauer von
Drehknöpfen weitaus höher, als die von damaligen Schiebereglern, die im häufigen
Gebrauch schnell verschlissen. Aus diesen Gründen kam die Verwendung von
Schiebereglern für den Bozak-Mixer genauso wenig in Frage, wie die Verwendung
eines Crossfaders, einem horizontal verlaufenden Schieberegler, der zusätzlich die
Audioqualität beeinflusste, da das Audiosignal einen anderen Weg gehen musste.
Der Crossfader fand vor allem Verwendung bei DJ-Mixern die im HipHop-Bereich
eingesetzt wurden und ist dazu da, dem DJ den Übergang von einer Platte zur
anderen zu erleichtern und schneller zu machen. Ohne Crossfader wird der Ablauf
beim Mixen ungleich komplizierter: der DJ muss die zweite Platte starten, dabei
langsam den Lautstärkeregler des ersten Turntables herunterdrehen, gleichzeitig den
Lautstärkeregler des zweiten Turntables langsam aufdrehen, während er die
Lautstärkebalance zwischen den beiden Songs beachten muss, so dass die Tänzer
nicht durch einen zu abrupten Übergang gestört werden. Der Crossfader macht aus
diesem Ablauf eine einzige Aktion, indem er die Lautstärke beider Turntables mit
einem einzigen Regler verändert. D.h. verschiebt man den Crossfader, wird die
Lautstärke des einen Turntables lauter, während die des Anderen leiser wird. Im
35
UDM-Mixing, bei dem langsame Übergänge gefragt sind, war allerdings der
schnelle, unkomplizierte Übergang nicht so wichtig. Viel Wert legte man jedoch auf
gute Audioqualität und darin waren der Bozak, sowie sein später erschienener Klon,
der Urei 1620, die Flagschiffe auf dem Markt, weshalb im UDM-Kontext diese DJMixer Standard wurden – und somit auch eine andere Art zu mixen als
beispielsweise im HipHop –, die zwar aufwändiger zu bedienen waren, aber besseren
Sound boten (vgl. Brewster/Broughton 2000: 153-154, Cross 2003: 16-28,
Fikentscher 2000: 37,45, Rietveld 1998: 109, Shannon 1982: 247).
Der letzte wichtige Aspekt der bezüglich der Entwicklung von DJEquipment noch fehlt, ist das EQing. Der Bozak-Mixer hatte – neben den oben
beschriebenen Funktionen – Drehknöpfe, mit denen sich Bass- und Höhenfrequenzen
der gespielten Songs beeinflussen ließen (EQing controls). In Verbindung mit dem
sog.
Crossover
in
Club-Soundsystems,
standen
dem DJ
nun
ungeahnte
Manipulationsmöglichkeiten zur Verfügung. Laut Nicky Siano wurde einer der
ersten Crossover, der in Discos Verwendung fand, von Alex Rosner in Siano's Club
The Gallery gebaut, nachdem er Rosner dazu aufgefordert hatte, ihm etwas zu bauen,
womit er die einzelnen Soundbestandteile von Platten verändern könne20. Dieser
Crossover funktioniert folgendermaßen: In einer herkömmlichen HiFi-Anlage sind
Hochtöner, Mitteltöner und Tieftöner in ein Boxengehäuse integriert, in dessen
hinterem Teil ein Kasten ist, den man den Crossover nennt. Dieser trennt bei einem
ankommenden Audiosignal, bis zu einem gewissen Grad, die einzelnen Frequenzen
(Bass, Mitten, Höhen) auf. Im modernen Club-Kontext muss man sich jedoch vor
Augen führen, dass die einzelnen Töner nicht mehr in einen Speaker integriert,
sondern separat sind. Es gibt mehrere Speaker für hohe Frequenzen (Tweeter),
mehrere für mittlere Frequenzen, mehrere für tiefe Frequenzen (Woofer) und
mehrere für Subbassfrequenzen (Subwoofer)21 und alle Speaker haben ihren eigenen
20 Siano behauptet sogar, er wäre der erste überhaupt gewesen der einen Crossover besaß. Dem
widerspricht Tim Lawrence allerdings in seinem Buch, in dem er darlegt, dass Rosner und Long
um 1972 herum bereits in Mancuso's Loft einen Crossover für Tweeter und für Subwoofer gebaut
hatten und dieser wohl kurz darauf von Rosner ebenfalls in Siano's Club installiert wurde. Doch
auch wenn Mancuso wahrscheinlich den allerersten Crossover hatte, es war mit Sicherheit Siano,
der diesen zu seinem vollen Potential ausschöpfte, denn Mancuso war an möglichst purer
Soundwiedergabe interessiert und verzichtete meistens vollkommen auf EQing (zumeist mixte er
noch nicht einmal Platten), da er darauf Wert legte, dass der Song so gehört werde, wie der
Künstler dies ursprünglich geplant habe (vgl. Brewster/Broughton 2000: 154,158, Katigbak 2006,
Lawrence 2003: 90,102).
21 Allerdings hatten Siano und Mancuso zu Beginn lediglich separate Boxen für die hohen
Frequenzen (Tweeter) und tiefen Frequenzen (Subwoofer), weshalb nur diese Frequenzen über den
Crossover zu steuern waren. Eine Weiterentwicklung des Crossovers wurde von Richard Long
Ende der 1970er in der Paradise Garage installiert. Dieser war ein 4-way-crossover und konnte
36
Verstärker; und man hat von den Boxen separate Crossover, welche die einzelnen
Frequenzen eines Songs trennen und an die für das jeweilige Frequenzspektrum
zuständigen Boxensets senden. Manipuliert man nun z.B. die Höhen und Tiefen am
eigenen Ghettoblaster, oder an einem Autoradio, ist der Effekt lediglich der, dass der
Gesamtsound des Songs ein wenig höher bzw. tiefer wird, denn alles läuft durch eine
Box und einen Verstärker, und die Frequenzen werden nur bis zu einem bestimmten
Maß verändert. Wenn der DJ allerdings den Crossover über die EQ-Knöpfe seines
DJ-Mixers manipuliert (oder sogar manche Boxen ganz aus- und später wieder
einschaltet), so ist der Effekt der, dass er ganze Songbestandteile komplett
ausblenden kann (z.B. im Falle der tiefen Frequenzen die Bass Drum und den Bass),
(vgl. Brewster/Broughton 2000: 167, Butler 2006: 53-54, Cheren 2000: 145, 209,
Cross 2003: 16-17, Katigbak 2006, Lawrence 2003: 107-109, Podmore 2006: xxiiixxiv, Poschardt 2001: 243-44, Shannon 1982: 253-254, Shapiro 2005: 38-39).
Dies ließ sich nun einerseits dazu verwenden um, wie bereits
erwähnt, den Effekt der Pitchcontrol auf die Tonhöhe des Songs auszugleichen, oder
um den Sound verschiedener Platten anzugleichen. Andererseits war nun im DJing
ein Punkt erreicht, an dem der DJ Songs so manipulieren konnte, dass nahezu
eigenständige neue Songs entstanden. Wie Grasso und andere DJs vor ihm griff
Siano die Techniken, wie lange Overblends oder das ständige Vor- und
Zurückspringen zwischen zwei gleichen Songs auf, nutzte aber zusätzlich die EQingcontrol bis zum Äußersten: “I would turn everything off except the tweeter arrays
and have them dancing to tss, tss, tss, tss, tss, tss, tss, tss [d.h. die Hi-Hat, deren
Frequenzen über den Hochtöner laufen] for a while. Then I would turn on the bass,
and then I'd turn on the main speakers. When I did that the room would just
explode.” (Lawrence 2003: 108). Dabei prägte Siano etwas, was zu einem
definierenden Soundcharakteristikum der UDM werden sollte, nämlich den Break22.
Einerseits war Siano immer auf der Suche nach Songs, die solche Breaks enthielten
und verlängerte diese, indem er zwischen zwei gleichen Platten hin- und her mixte.
Andererseits produzierte er mit Hilfe der EQing-control selbst solche Breaks, wie aus
dem obigen Interviewausschnitt deutlich wird und beinflusste damit die Entwicklung
der UDM in nicht unwesentlichem Maße (vgl. Brewster/Broughton 2000: 167, Butler
somit nun Subbass-, Bass-, Mittel- und Höhenfrequenzen separat ansteuern (vgl. Lawrence 2003:
90, 102, Katigbak 2006, <http://www.agaragetribute.com/tech.html> 2007).
22 Der Break (oder Breakdown) ist der Moment in einem Song, bei dem sämtliche Instrumente
aufhören zu spielen und (meistens) lediglich die Drum-/Perkussion-Instrumente weiterspielen, bis
dann irgendwann wieder der Bass und die restlichen Instrumente dazu kommen.
37
2006: 53-54, Cheren 2000: 145, 209, Cross 2003: 16-17, Katigbak 2006, Lawrence
2003: 107-109, Podmore 2006: xxiii-xxiv, Poschardt 2001: 243-44, Shannon 1982:
253-254, Shapiro 2005: 38-39).
2.2.2. Entwicklung der Soundsystems
Mit der Einführung der im letzten Kapitel angesprochenen DJ-Techniken und der
Entwicklung des DJ-Equipments standen den UDM-DJs bis ca. 1973/74 nahezu alle
wichtigen technischen Möglichkeiten zur Verfügung, die modernes DJing
ausmachen. Doch auch im Bereich Club-Soundsystems gab es revolutionäre
Entwicklungen, welche den UDM-Sound prägten. Viele dieser Innovationen gingen
von David Mancuso aus, der eine klare Vision einer gewissen Klangästhetik hatte,
die er mit Hilfe von Alex Rosner und Richard Long umzusetzen versuchte. Das
Resultat dieser Zusammenarbeit stellte ein Soundsystem in Mancuso's erstem Loft23
(in 647 Broadway) dar, das neue Standards für Clubsystems setzte und dessen
Konzept in der Folge von Rosner und auch Long in zahlreichen anderen New Yorker
Discos umgesetzt wurde (z.B. in Nicky Siano's Gallery, oder 143 Reade Street, der
Club in dem Larry Levan auflegte bevor Paradise Garage eröffnete). DJ Nicky
Siano
erinnert
sich
noch
an
seinen
ersten
Loft-Besuch
und
an
die
Außergewöhnlichkeit von Mancuso's Soundsystem: “I was 15 the first time I went to
the Loft. I never heard a soundsystem before or since THAT good. And I'm not
talking about 99 Prince Street, I'm talking about 647 Broadway, the original Loft”
(Ramos 2005: DVD 1, chapter 6). Nun, was macht ein Soundsystem so besonders,
dass ein DJ wie Nicky Siano, der in seinem Leben seitdem zahllose andere Clubs
besucht und deren Soundsystems gehört hat, ca. 30 Jahre später behauptet, er habe
niemals nach dem Besuch von David Mancuso's erstem Loft je wieder ein so gutes
Soundsystem gehört? (vgl. Lawrence 2003: 89,102,197, Ramos 2005: DVD 1,
chapter 2 & chapter 6).
David Mancuso's erstes HiFi-Equipment, das er sich zulegte, nachdem er 1965 in das
Loft in 647 Broadway eingezogen war, waren Klipschorn-Lautsprecher24, sowie ein
McIntosh-Verstärker und AR Turntables – für die damalige Zeit eine Heim-HiFiAnlage bester Qualität. Doch erst als Mancuso die Zusammenarbeit mit Alex Rosner
23 Mancuso zog 1974 in ein anderes Loft in 99 Prince Street um (vgl. Lopez 2003).
24 Welche für ihre glasklare Soundwiedergabe geschätzt wurden und die er von Richard Long kaufte,
mit dem ihn ein Freund namens Jimmy Miller bekannt gemacht hatte, was später in besagter
Zusammenarbeit mündete (vgl Lawrence 2003: 6-7).
38
begann (etwa um 1971), sollte sich die Soundqualität herauskristallisieren, die Nicky
Siano so bewunderte. Rosner hatte in den frühen 1960er Jahren als ein Hobby
begonnen, an Stereo-Soundsystems herumzubasteln. Diesem Hobby ging er so
erfolgreich nach, dass er beauftragt wurde, für zwei Stände der Weltausstellung
1964-65 die ersten Stereo-Disco-Soundsystems der Welt zu bauen (Soundsystems
zuvor waren, laut Rosner's Aussage, ausschließlich Mono) und er begann auch bald
New Yorker Clubs, wie das Haven (ein weiterer Club in dem Francis Grasso
auflegte), oder das Sanctuary mit solchen Stereo-Soundsystems auszustatten. Rosner
hatte also die Erfahrung die es brauchte, um aus Mancuso's Heimanlage ein HighEnd-Discosoundsystem zu machen: “I knew where to put the loudspeakers. I knew
how many to use and how to make it sound good” (Brewster/Broughton 2000: 157).
Er versorgte Mancuso nur mit den besten Audiokomponenten, verkaufte an ihn seine
Cornwalls-Lautsprecher (Klipschorns, die so gebaut sind, dass sie genau in die Ecke
einer Wand passen) und platzierte diese so, dass sie nicht nur den Sound abgaben,
sondern dieser gleichzeitig reflektiert wurde, so dass der ganze Raum mit Klang
ausgefüllt wurde, wofür Mancuso's Broadway Loft, mit einer Größe von etwa 7,60m
x 30,50m und 4,25m hohen Decken, besonders gut geeignet war, wie Nicky Siano
berichtet. Dies war wohl einer der Gründe, warum der Klang für Siano so einzigartig
und nicht kopierbar war, denn jeder Raum hat eigene Klangeigenschaften und die
Kombination Soundsystem/Raum des Loft schien quasi füreinander geschaffen25
(vgl. Brewster/Broughton 2000: 153, 156-158, Lawrence 2003: 7-10,88, Lopez
2003).
1972 nahm die Soundsystem-Revolution, welche Siano so beeindruckt hatte, mit
Mancuso's visionärer Idee weitere Hochtöner (Tweeter) zu installieren, Gestalt an. Er
forderte Rosner auf, ihm 8 zusätzliche separate Hochtöner für sein Soundsystem zu
installieren (herkömmliche Lautsprecher haben lediglich einen einzigen integrierten
Hochtöner), um mehr Schärfe in die hohen Frequenzen zu bekommen, die nach
Mancuso's Ansicht auf manchen Platten schlichtweg zu flach klangen und auf Grund
des Geräuschpegels während der Party oftmals geschluckt wurden. Rosner dachte zu
25 Ein Beispiel dafür, dass jede Räumlichkeit ihr spezifisches, perfekt auf den Raum abgestimmtes
Soundsystem braucht, ist Nicky Siano's Gallery, welches von der Räumlichkeit wesentlich größer
war als Mancuso's Loft und deshalb mehr Hall erzeugte. Somit wurde es nötig das revolutionäre
Soundsystemkonzept des Lofts (welches im nächsten Abschnitt erklärt wird) leicht zu modifzieren:
Während die Tweeter-Gruppen, die Subwoofer, sowie der Crossover ohne Probleme übernommen
werden konnten, waren die Klipschorn-Lautsprecher nicht ausreichend für die Größe des Raumes,
weshalb Rosner in der Gallery stattdessen mehrere ALTEC Lansing Voice-Lautsprecher benutzte
(vgl. Lawrence 2003: 102).
39
Beginn, dass diese Idee nicht funktionieren würde, da der Gesamtklang zu viele
Höhen bekommen würde. Doch Mancuso setzte sich durch und als Rosner später das
Ergebnis hörte, musste er einräumen, sich geirrt zu haben. Rosner installierte in
Mancuso's Loft 8 JBL Tweeter, die er, nach Mancuso's Vorstellung, genau über dem
ca. 5,80m x 13,10m großen Dancefloor anordnete. Doch nicht etwa so, dass die
Lautsprecher direkt nach unten gerichtet waren und somit den Klang unmittelbar auf
die Tänzer projizierten, sondern Rosner ordnete die Tweeter kreuzförmig an, so dass
jeweils zwei Paare den Klang in jede Himmelsrichtung nach außen abstrahlten.
Durch diese Anordnung wurde die Illusion erzeugt, dass das komplette
Soundspektrum (nicht nur die Höhen) einer Platte direkt vom Zentrum der
Tanzfläche käme, was die Klangintensität enorm erhöhte (vgl. Brewster/Broughton
2000: 157-158, Lawrence 2003: 10,87-91, Ramos 2005: DVD 1, chapter 6, Shapiro
2005: 33).
Allerdings stellte sich nun das Problem, dass manche Platten, die mit wenig
Bassfrequenzen aufgenommen worden waren, mit der Tweeter-Anordnung zu
höhenlastig klangen, weshalb sich Mancuso dazu entschied, Richard Long damit zu
beauftragen ihm Vega Bass Bottom Speaker (in anderen Worten separate Subwoofer)
zu kaufen und in sein Soundsystem zu integrieren. Diese Basslautsprecher hatten
einen solch enormen Effekt, dass sie nicht nur akustisch zu hören, sondern auch
physisch wahrzunehmen waren und trugen zu einer Klangästhetik von UDM bei
(einerseits bereits auf Produktionsebene, indem Bass Drum und Bass in der Folge
verhältnismäßig laut aufgenommen wurden, als auch im späteren Klubkontext), die
darauf zielte Bass und Bass Drum körperlich spürbar zu machen. Zudem waren
Woofer und Tweeter nun nicht mehr standardmäßig in ein Boxenset integriert,
sondern sie waren nun separate Bausteine, wodurch das im letzten Kapitel
angesprochene Spiel mit dem Crossover erst ermöglicht wurde. Mancuso hatte nun
ein Soundsystem, welches im Nachtleben New Yorks seines Gleichen suchte und
dieses Soundsystem bescherte Mancuso und seinen Tänzern, dass man Songs in
Mancuso's Loft anders wahrnahm, als beim bloßen Abspielen auf irgendeinem
qualitativ minderwertigem Disco-Soundsystem. Dies führte dazu, dass Mancuso
Song-Juwelen auf seinem Soundsystem entdeckte, die sonst kaum jemandem zu
Gehör gekommen wären, da sie auf anderen Anlagen einfach nicht gut klangen, was
wiederum
der
Entwicklung
der
UDM
andere
Wege
eröffnete
(vgl.
40
Brewster/Broughton 2000: 157-158, Lawrence 2003: 10,87-91, Ramos 2005: DVD
1, chapter 6, Shapiro 2005: 33).
Der Standard für Soundsystems war gesetzt und in den folgenden Jahren trieben vor
allen Dingen Nicky Siano, mit seiner Art und Weise die Subwoofer durch EQing in
seinem DJing einzusetzen und Richard Long als Soundsystem-Designer besagte
Klangästhetik, welche die Bassfrequenzen in den Vordergrund stellte, weiter voran.
In David Mancuso's Loft hatte diese Ästhetik ihren Anfang genommen, mit der
Installation separater Subwoofer und Siano und Long forcierten sie in der Folge
konsequent weiter. Long experimentierte seit 1974 in seinem eigenen Club, SoHo
Place mit Larry Levan als DJ, an der Entwicklung eigener SoundsystemKomponenten mit einer speziellen (beiderseitigen) Vorliebe für Bassfrequenzen.
Seine Vorstellung war die eines physischen Bass-Sounds und er vermittelte dieses
Ideal auch den DJs mit denen er zusammenarbeitete: “Bass should be felt and not
heard”, wie er Larry Levan immer sagte (Fikentscher 2000: 85). Da SoHo Place sein
eigener Club war, war dies der ideale Ort, um ständig neue Entwicklungen an den
Soundsystems zu testen und laut Richard Long's damaligen Freund Mike Stone
wurde Long ab Mitte der 1970er der gefragteste Mann im Soundsystembusiness (vgl.
Brewster/Broughton 2000: 167, Cheren 2000: 145, 169, Lawrence 2003: 133-34,
Shapiro 2005: 38-39).
Mit Long's Konstruktion des Soundsystems der Paradise Garage fand die SubbassÄsthetik schließlich ihre extremste Formulierung. Extra für diesen Club designte
Long spezielle Subbass-Lautsprecher, die Levan Horns, welche ein zuvor nie da
gewesenes Drucklevelspektrum im Subbassbereich bis 30Hz produzieren konnten
und mehr Power besaßen als 4 Klipschorn-Lautsprecher zusammen. Zeitweilig (auf
Grund ständiger Umbauten der Garage zu Anfangszeiten änderte sich das
Soundsystem ständig) hatte die Paradise Garage eine Soundsystemkonfiguration
von 4 Levan Horns, sowie zusätzlich 4 kleineren Subwoofern und 4 WalldorfBasslautsprechern – diese Lautsprecher für Subbass- und Bassfrequenzen wurden
ergänzt durch 4 Ultima-Lautsprecher, welche das volle Frequenzspektrum
repräsentierten und 6 Tweeter-Gruppen mit je 4 JBL-Hochtönern, d.h. 24 Tweeter
insgesamt. Zudem installierte Long für Levan eine sog. DBX Boom Box, um dem
Bass am Abend noch einen zusätzlichen Schub geben zu können26. Dies alles
26 Die DBX Boom Box erlaubt es dem DJ, die Bassfrequenzen einer Platte um noch einmal eine
komplette Oktave unter der sonstigen Klangausgabe des Soundsystems zu spielen (vgl. Shannon
1982: 159).
41
resultierte in einem extrem physisch spürbaren Sound, der sogar schon an der
Eingangsrampe der Paradise Garage zu spüren war und die Lust zu tanzen bei den
Ankömmlingen verstärkte, wie eine Besucherin berichtet: “The music was so loud,
louder than anything I had ever heard. I felt the bass register of sound reverberating
through my chest, had felt it since I began walking up the entrance ramp. I wanted to
dance” (Fikentscher 2000: 86). Hierzu ist zu ergänzen, dass tiefe Frequenzen
offenbar einen Stimulus für das Tanzen darstellen. UDM-Tänzer reagieren bevorzugt
auf die Bassfrequenzen der Bassline und der Drums wie ein weiterer Tänzer erklärt:
“What gets me are the drums and basslines ... What propels me are the syncopations
between the drums and the bass” (Fikentscher 2000: 87; vgl. Fikentscher 2000: 8587,
Garratt
1999:
28,
Shannon
1982:
159,
Shapiro
2005:
267,
<http://www.agaragetribute.com/tech.html> 2007).
2.2.3. Lightingsystems und sonstiges Equipment in Clubs
Das Ziel eines guten DJs ist es, die Tänzer auf eine musikalische und atmosphärische
Reise zu nehmen. Eine Reise in ein Traumland, ein Land abseits der profanen
Alltagswelt, welches die Tänzer allen Druck und alle Sorgen ihres Alltags vergessen
lässt27. Eine Reise auf welcher UDM's herausragendste DJs wie David Mancuso oder
Larry Levan versuchten verschiedene Stimmungen zu erzeugen (daher auch häufig
die Bezeichnung des DJs als 'mood manipulator', vgl. Rietveld 1998: 109),
Botschaften über die Auswahl und die Verknüpfung bestimmter Songs zu vermitteln,
und für jeden Song eine eigene Atmosphäre zu schaffen. Mancuso als auch Levan
waren Meister darin, die Tänzer über verschiedenste Mittel in eine aural, visuell und
taktil ansprechende Umgebung zu entführen28. Diese Mittel sind natürlich die Musik
selbst (aural), die bereits angesprochene physische Fühlbarkeit der Musik (taktil)29,
27 In Clubs wie dem Loft oder der Paradise Garage waren auch keine Uhren aufgehängt und in der
Garage oder dem Continental Baths gab es nicht einmal Fenster durch die Tageslicht hätte
einfallen können, so dass man in diesen Clubs vollkommen das Zeitgefühl und die äußere Welt
vergaß und in die Traumwelt verführt wurde: “Once you walked into the Loft you were cut off
from the outside world. You got into a timeless, mindless state” (Mancuso über sein Loft,
Lawrence 2003: 24; vgl. Bidder 2001: 4, Lawrence 2003: 24,129).
28 Dazu ist es natürlich nötig, dass der DJ die komplette Kontrolle über das Clubumfeld besitzt (d.h.
Kontrolle über das Soundsystem, die Lichtanlage, etc.), um atmosphärische Kontrolle über die
Tänzer (crowd control) zu erlangen. Über diese Möglichkeiten verfügten DJs wie David Mancuso
oder Larry Levan und damit standen ihnen ganz andere Wege offen die Tänzer zu beeinflussen, als
sie beispielsweise einem Gast-DJ in einem Kölner Club offen stehen, der in den 1-2 Stunden die er
spielt wahrscheinlich lediglich die Kontrolle über seine eigenen Turntables und evtl. über das
Soundsystem hat (vgl. Brewster/Broughton 2000: 300, Lawrence 2003: 100, Tremayne 2005).
29 Diese physische Fühlbarkeit wird zudem durch den Einsatz entaktogener Drogen verstärkt. D.h.
Drogen, welche die Empfänglichkeit des menschlichen Körpers für taktile Reize erhöhen, wie z.B.
42
als auch der Einsatz von Lichteffekten (visuell) und anderer Stimuli, wie
Videoscreens oder die Manipulation der Raumtemperatur, wie im letzten Teil dieses
Kapitels beschrieben wird. Im Kontext einer Clubnacht wird die Umgebung dabei so
erzeugt, dass aurale und taktile Reize dominieren, während dem visuellen Sinn eher
eine untergeordnete Stellung zukommt. Dieser wird sogar vielmehr durch
Lichteffekte verschleiert und die herkömmliche, visuelle Alltagsumgebung verliert
sich vollkommen in einer solchen Traumwelt. Es ist wichtig zu erkennen, dass UDM
zumeist innerhalb dieses vielströmigen Clubumfeldes stattfindet, bzw. konsumiert
wird, denn das Erleben der Musik wird dadurch entscheidend geprägt. Die Erfahrung
einer Clubnacht für den Tänzer kommt dabei einer ständigen sensorischen
Überstimulation gleich, welche in Zusammenhang mit anderen Faktoren, wie zu
wenig Schlaf und Drogen, den Körper an seine Grenzen heranführt und in einem
tranceartigen Zustand resultieren kann und mit ein Grund ist für die Verbindung, die
viele Tänzer zwischen Tanzen und Spiritualität ziehen (vgl. Cheren 2000: 110,
Fikentscher 2000: 23, Lawrence 2003: 86,100,289, Ramos 2005: DVD 1, chapter 1,
Rietveld 1998: 100,109,166,172,176, Rietveld 2004: 53,212, Tremayne 2005).
Die anfängliche 'Lightshow' in Underground-Discos fiel
zumeist noch äußerst spartanisch aus. Frühen DJs, wie Terry Noël, standen lediglich
ein paar bunte Glühbirnen zur Verfügung, die sie in Sequenzen wie z.B. Grün-RotGrün-Rot-Gelb passend zur Musik ablaufen ließen. Auch David Mancuso's Loft hatte
keine professionelle Lichtanlage. Doch die Art und Weise wie diese frühen DJs es
verstanden, aus ihren geringen Mitteln eine Atmosphäre zu erzeugen, indem sie im
richtigen Moment die richtige Kombination von Effekten zusammenlegten, ist
bemerkenswert, wie DJ Frankie Knuckles berichtet: “David would get very
atmospheric. He could have the most incredible energy going on in the room, and
then all of a sudden he would create a tropical rainstorm. The room would be
completely blacked out, and you would hear [über das Soundsystem] this crackling
of thunder and rain, which became louder and louder. It was hot, and everybody
would be standing there, some half-naked, whistling and screaming. Then you heard
this wind blowing, and after a short while you would also start to feel it because he
turned these fans on ... and if you were on acid it wasn't your imagination – this shit
was real” (Lawrence 2003: 86). Ein ganz wichtiges Accessoire, welches auch schon
MDMA (heute eher unter dem Namen Ecstasy bekannt). Mehr hierzu unter Punkt 2.2.4. (vgl.
Rietveld 1998: 166).
43
David Mancuso zur Verfügung stand war zudem der Mirror Ball, welcher zu einem
der wichtigsten Symbole der 1970er Jahre Disco werden sollte. Ein Mirror Ball
besteht aus zahlreichen Licht reflektierenden Fragmenten, welche jedwedes auf sie
gestrahlte Licht aufspalten und, während der Ball sich dreht, unzählige sanfter
Lichtschnuppen über den Raum verteilen, so dass die Tänzer in einem elegant
fließenden, verträumten Licht gebadet werden. Die Rotationsgeschwindigkeit des
Mirror Balls kann dabei variiert werden, was sich Mancuso zunutze machte, indem
er, je nachdem auf welchem Energielevel oder in welcher atmosphärischen Phase der
Party man sich gerade befand, den Mirror Ball entweder still stehen, langsam oder
schnell rotieren ließ, oder in einen automatischen Modus umschaltete (vgl. Goldman
1978: 51, Joe 1980: 18-19, Lawrence 2003: 26,86, Rietveld 1998: 103).
Einer
der
ersten
Underground-Clubs,
der
auf
professionelle
Lichtsysteme zurückgriff, war Nicky Siano's Gallery, dessen Lichtanlage von Robert
DeSilva mit Unterstützung von Siano selbst designt wurde. Dieses Lichtsystem
kontrollierte Siano innovativer Weise über in der DJ-Booth installierte Fußpedale
und neben den obligatorischen Mirror Balls, besaß es unter anderem auch eine
bahnbrechende 3lagige Lichtinstallation, welche vom Dancefloor aus gesehen einen
imposanten räumlichen Effekt produzierte, da man den Eindruck hatte als
verschwinde das ausgestrahlte Licht geradewegs in der Decke. Die Eröffnung der
Paradise Garage 1977 schließlich setzte mit seinem ausgereiften Lichtsystem nicht
nur im Bereich Undergroundclubs Maßstäbe, sondern laut der Aussage eines der
Lichttechniker der Garage im gesamten Nachtleben New Yorks. Auf Grund des
Ausmaßes und der damit verbundenen Komplexität des Systems (alleine die
Lichtausstattung
des
Dancefloors
setzte
sich
aus
730
einzelnen
Beleuchtungsbausteinen zusammen), wurde die Beleuchtungsanlage zumeist von
Robert DeSilva – dem früheren Designer von Nicky Siano's Lichtsystem – bedient.
Levan hatte jedoch ein zweites Kontrollsystem in seiner DJ-Booth und wenn er
gerade in der Stimmung dazu war, übernahm er die Kontrolle der Lichter von
DeSilva und führte die Tänzer eigenhändig durch das Lichterspiel der Garage (vgl.
Brewster/Broughton 2000: 167, Lawrence 2003: 134-135, 359, Shapiro 2005: 37,
<http://www.agaragetribute.com/tech.html> 2007).
Die Haupteffekte dieses Lichtsystems lassen sich in 4 Kategorien einteilen: Color
Washes (farbige Lichtflutungen), Streak Effects (d.h. Spotlight Effekte), Psych
Effects (psychodelische Lichteffekte), sowie Mood Lighting (atmosphärische
44
Effekte). Die Color Washes wurden mittels 32 farbiger, ca. 4,26m großer Fluter
produziert, deren Aufgabe es war, eine möglichst große Fläche des Dancefloors in
ein Farbenmeer zu hüllen. Im Gegensatz dazu dienten die (ebenfalls bunten)
Spotlight Effekte dazu, mittels kurzer Lichtstöße das Farbenspiel der Color Washes
komplementär zu akzentuieren, oder auch um bestimmte Bereiche des Dancefloors
direkt anzustrahlen und hervorzuheben. Zu diesem Zweck hatte die Garage unter
anderem 9 große ringförmige Konstruktionen solcher Spotlight-Strahler (diese waren
fest fixiert und konnten also nur auf einen bestimmten Punkt gerichtet werden) über
die Decke verteilt, um auf dem gesamten Dancefloor bestimmte Bereiche direkt
anstrahlen zu können. Zudem wurden so genannte 'Spinner' verwendet. Diese
produzierten, wie die fixen Spotlight-Strahler, einen intensiven direkten Strahl,
konnten aber (wie das englische Wort to spin=drehen schon andeutet) um 360 Grad
um die eigene Achse rotieren. Die Psych Effects wurden mittels Stroboskop-Licht 30
hergestellt. Hierfür gab es zum Einen 12 so genannter 'Super Strobes', welche einen
besonders lichtintensiven Effekt hatten und in den Farben weiß und gelb zur
Verfügung standen. Zum Anderen standen in der Garage 'Egg Strobes' zur
Verfügung, die feiner waren und nicht ganz so viel Lichtintensität erzeugen konnten
(vgl. Brewster/Broughton 2000: 167, Lawrence 2003: 134-135, 359, Shapiro 2005:
37, <http://www.agaragetribute.com/tech.html> 2007).
Unter die letzte Kategorie, das Mood Lighting, fallen die ca. 75cm großen Mirror
Balls, welche große Strahler in 6 verschiedenen Farben auf sich gerichtet hatten, die
bei Bedarf einzeln angeschaltet wurden und den Dancefloor mit tausenden bunter,
langsam dahingleitender Lichtschnuppen bedeckte. Weitere atmosphärische Effekte
waren die Black Lights, sowie die Gobo-Rotators. Das Schwarzlicht ist nahezu
selbsterklärend und lässt sich am besten als eine Art bläuliches/ultraviolettes
Neonglühen beschreiben. Die Gobo-Rotators dagegen waren breit gefächerte, farbige
Spotlights, die in einem sehr langsamen Tempo hin und her schwangen und dabei
bestimmte Teile des Dancefloors elegant mit verschiedenfarbigem Licht bedeckten.
Somit standen dem Team der Paradise Garage eine Unmenge an Möglichkeiten und
Lichtkombinationen zur Verfügung, die sie einsetzen konnten, um zum
Gesamterlebnis beizutragen und die Musik effektvoll zu unterstützen (vgl.
30 Stroboskop-Licht wird mittels ganz schnell hintereinander geschalteter Lichtblitze erzeugt und hat
den Effekt, dass sich Menschen, die sich innerhalb dieses Lichts bewegen, in Zeitlupe zu bewegen
oder ganz still zu stehen scheinen.
45
Brewster/Broughton 2000: 167, Lawrence 2003: 134-135, 359, Shapiro 2005: 37,
<http://www.agaragetribute.com/tech.html> 2007).
Levan baute in der Paradise Garage jedoch nicht nur über das Spiel mit Sound und
Licht eine ekstatische Atmosphäre auf, sondern er ließ auch über einen installierten
Videoscreen Filmausschnitte ablaufen, die thematisch mit dem gerade gespielten
Song korrespondierten: “He [Levan] was playing [the song] Release ... And, yo, the
crowd gonna, I'll never forget this, the crowd just gonna crazy. And it was like:
'Release yourself, re-re-re-re-re-re-re-re-release', and everybody screaming. And then
he had like this big screen and he had the beginning part of [the movie] When doves
cry, and he had the dove, and the music going like: 'Release yourself', and you'd see
the dove crashing through the door and ... then it'd go right back in and the door is
shutting ... And he did this for a long time to the point where everybody started
screaming ... 'Let it go, let it go' ... because the bird wanted to get released ... Yo, it
was crazy man, it was just beautiful to watch” (DJ Antonio Ocasio über eines seiner
Erlebnisse als Besucher der Paradise Garage; Ramos 2005: DVD 1, chapter 1). DJs
verwendeten zudem auch unkonventionellere Methoden als Videoscreens, um dem
Publikum im wahrsten Sinne des Wortes einzuheizen. Als letztes Beispiel dafür soll
ein weiteres Mal Larry Levan dienen. In dem Club 143 Reade Street (der sich in
einer ehemaligen Fabrik befand und dessen Dancefloor in dem alten Kühlraum der
Fabrik errichtet worden war), in welchem Levan auflegte, bevor er DJ der Paradise
Garage wurde, begann er die Temperaturkontrolle des Kühlraums für sich zu
entdecken. Diese erlaubte es ihm innerhalb weniger Minuten die Temperatur des
Raumes auf tropische Hitze ansteigen oder arktische Kälte fallen zu lassen. In
Verbindung damit verwendete er eine Soundeffektplatte namens Four Seasons von
Walter Carlos, welche Windgeräusche und ähnliche Effekte beinhaltete. Mit diesen
ungewöhnlichen Maßnahmen schaffte es Levan ein ums andere Mal seine Tänzer,
sowohl akustisch als auch klimatisch, auf eine imaginäre Reise durch die
Jahreszeiten zu schicken. In der Tat die Schaffung einer ekstatischen, alle Sinne
ansprechenden Traumwelt, die über das bloße Hörerlebnis weit hinausging (vgl.
Cheren 2000: 145, Garratt 1999: 17, Lawrence 2003: 197, Ramos 2005: DVD 1,
chapter 1, Shapiro 2005: 269).
46
2.2.4. Einschub: UDM und der Gebrauch von Drogen
Durch den exzessiven Gebrauch aller denkbarer Drogen, wurden die visuellen,
akustischen und taktilen Reize, die in Underground Clubs herrschten, noch verstärkt
und bei den meisten Tänzern waren sie willkommene Hilfsmittel, um Alltag und
Realität hinter sich zu lassen und in die gewünschte Traumwelt zu gelangen. Der
Genuss von Alkohol wurde in Underground Clubs vermieden, da dessen Wirkung
die Körperkoordination auf unerwünschte Weise beeinflusst und dem Bestreben, die
Tänzer auf emotionaler Ebene gleichzuschalten eher entgegen wirkt, sowie die
Dehydrierung31 des Körpers beschleunigt32. Demgegenüber wurden Drogen in
sämtlichen bekannten Underground Clubs von Tänzern benutzt, da sie ihnen ein
illusionäres Gefühl der geistigen Offenheit, der Intensivierung und des emotionalen
Miteinanders verschaffen konnten, wie der Clubber Jorge La Torre bestätigt: “If
other people were high then you could tap into this source and make it a shared
experience” (Lawrence 2003: 290). Egal ob im Sanctuary, welches laut Albert
Goldman einem Supermarkt für Drogen glich, oder im The Gallery, im Loft und der
Paradise Garage (in denen es auch üblich war den kostenlosen Fruchtpunsch mit
LSD anzureichern) – in den Underground Clubs waren nahezu alle Arten von
Drogen vertreten: Cannabis, LSD, Kokain, Speed, Poppers, MDA, Quaaludes (beide
der Droge Ecstasy sehr ähnlich) und in den 1980ern Ecstasy selbst (vgl. Bidder 2001:
5, Cheren 2000: 106,133, Garratt 1999: 14-15,22-23, Goldman 1978: 116, Lawrence
2003: 67,135,198,290, Lewis 1998, Rietveld 1998: 112-113,164,176,179,185,187,
Shapiro 2005: 29-31, Wilson 2006: 45).
Um die von La Torre angesprochene gemeinsame Erfahrung hervorzurufen, ging
Nicky Siano in seinem Club The Gallery sogar so weit, dass er die späteren DJs
Frankie Knuckles und Larry Levan (die anfangs beide in The Gallery als Helfer
arbeiteten) am Eingang des Clubs jedem Besucher einen Streifen LSD 25 in den
Mund legen ließ, um zu gewährleisten, dass jeder auf demselben Drogentrip war.
Frankie Knuckles schildert in diesem Zusammenhang die wahrnehmungsverändernde Wirkung der Droge auf die Sinnesorgane, welche sich bei ihm
bemerkbar machte, obwohl er sie gar nicht selbst eingenommen hatte, sondern diese
31 Um der Dehydrierung vorzubeugen, wurden statt dessen in Clubs, wie der Paradise Garage oder
dem Loft, kostenlos Fruchtsäfte, Wasser, Obst, Doughnuts und ähnliches angeboten (vgl. Garratt
1999: 22, Rietveld 1998: 183-184).
32 Clubs umgingen zudem mit dem Verzicht auf Alkoholausschank die gesetzlichen Regelungen der
Liquor Comission der Stadt New York, wodurch sie die ganze Nacht über geöffnet bleiben
konnten (vgl. Cheren 2000: 106).
47
lediglich im Verlauf der Nacht, über Haut und Schweiß absorbierte: “Halfway
through the night, all of a sudden I just got this rush, and everything just completely
turned around. The music amplified, the feeling of the music amplified, and just
visually everything had intensified” (Garratt 1999: 15). Viele der angesprochenen
Drogen haben solche bewusstseinsverändernde Wirkungen, aber sie dienen auch
schlichtweg dazu Hemmungen abzubauen, sowie neue Energie zu geben. Im
folgenden Teil dieses Kapitels sollen die Wirkungsweisen der angesprochenen
Drogen näher erläutert werden (vgl. Bidder 2001: 5, Cheren 2000: 106,133, Garratt
1999: 14-15,22-23, Goldman 1978: 116, Lawrence 2003: 67,135,198,290, Lewis
1998, Rietveld 1998: 112-113,164,176,179,185,187, Shapiro 2005: 29-31, Wilson
2006: 45).
Cannabis wird in der UDM-Szene in erster Linie während der 'Chill out'-Phasen
geraucht. Es wird der Droge nachgesagt, dass sie sowohl die Wahrnehmung von
Farben, als auch von Musik beeinflussen und intensivieren soll, was im akustischen
und visuellen UDM-Umfeld selbstredend eine besondere Wirkung entfaltet. In
Synergie mit Ecstasy stellt sich zudem ein Gefühl der inneren Gelassenheit und
gegenseitigen Verbundenheit ein. Das bereits besprochene LSD beeinflusst die
sensorische Wahrnehmung noch wesentlich mehr, als das vergleichsweise moderat
ansprechende Cannabis. Je nach Dosis kann der bewusstseinsverzerrende Effekt der
Droge gewohnte Wahrnehmungsstrukturen gänzlich auflösen und den Tänzer in eine
surreale, psychedelische Traumwelt versetzen. In Verbindung mit Ecstasy lässt sich
der halluzinatorische Effekt noch verstärken und der Konsument so stark
beeinträchtigen, dass er seine Umgebung nur noch als eine bizarr fragmentierte, wie
durch ein Kaleidoskop betrachtete, glückselige Cartoonlandschaft wahrnimmt.
Sämtliche Hemmnisse fallen ab und der Clubgänger ist bereit, sich vollkommen der
Musik hinzugeben und sich von ihr leiten zu lassen. Darüber hinaus sind sowohl
Cannabis, als auch LSD verhältnismäßig billig33 und der Effekt von LSD hält mit
einer Dauer von 6-12 Stunden sehr lange an (vgl. Cheren 2000: 106, Collin 1997: 2731,37, Garratt 1999: 23, Rietveld 1998: 166,176-181,185-187).
Kokain hingegen verschafft dem Konsumenten einen kurzweiligen
Energieschub von 20-30 Minuten, indem es das Nervensystem zeitweilig betäubt und
33 Um ein Verhältnis herzustellen, in den späten 1980ern kostete ein Streifen LSD (der zudem
ausreicht um zwischen 4 Personen geteilt zu werden) umgerechnet ca. £5, während z.B. Kokain
mit einem Preis von £50 pro Gramm um ein vielfaches teurer war, weshalb es im Kontext von
UDM sicherlich eher selten konsumiert wurde, aber nichtsdestotrotz in Clubs wie dem Loft
vertreten war, wie Mel Cheren attestiert (vgl. Cheren 2000: 106, Rietveld 1998: 178-179).
48
so dem Körper vorgaukelt, er habe endlose Energiereserven zur Verfügung. Als
Alternative wurde zumeist das wesentlich billigere (zwischen £8-£12 pro Gramm)
und in der Wirkung sehr viel länger (ca. 8 Stunden) andauernde Speed genommen.
Mit Hilfe von Speed gelingt es dem Tänzer über einen langen Zeitraum auf die
latenten Energiereserven des Körpers zurückzugreifen, da Speed – wie Adrenalin –
dem Körper suggeriert, er wäre in einer Stress- oder Angstsituation; als Reaktion
darauf werden die Energiereserven des Körpers angezapft. Die sog. Poppers (eine
chemische Droge aus Amyl-, Butyl-, oder Isobutyl-Nitraten) erfreuten sich in der
homosexuellen dance music-Szene besonderer Beliebtheit und Mel Cheren berichtet,
dass die Tanzfläche des Loft häufig mit den kleinen Behältern, in welchen die zu
inhalierende Droge geliefert wurde, übersät war. Die Wirkung der Droge ist nur von
äußerst kurzer Dauer und versetzt den Konsumenten in einen ausgeprägten Zustand
emotionaler und sexueller Erregung, in welchem die Wahrnehmung intensiviert wird
und der Clubgänger sich förmlich eins fühlt mit der Umgebung (vgl. Cheren 2000:
106, Collin 1997: 27-31,37, Garratt 1999: 23, Rietveld 1998: 166,176-181,185-187).
Zu
guter
Letzt
wären
noch
die
mit
Ecstasy
vergleichbaren Quaaludes und MDA, sowie Ecstasy selbst (oder auch MDMA
genannt) zu betrachten. Seit den 1980ern im Umlauf, ist Ecstasy eine auf
Amphetaminen basierende Droge, welche bestimmte Nervenenden dazu veranlasst
den Neurotransmitter Serotonin auszuschütten, der den Menschen in Euphorie
versetzt. MDMA hat zudem ausgesprochen starke emphatische und entactogene
Effekte auf den Konsumenten. Entactogen heißt, dass der Körper auf
Berührungsreize bewusster und empfänglicher reagiert, was im Clubkontext
wesentlich stärker zum tragen kommt, als anderswo. Laut Hillegonda Rietveld
werden zudem vermutlich polymorphe sexuelle Gefühle induziert (vgl. 1998: 181).
Mit
anderen
Worten,
Clubber
scheinen
offener
dafür
zu
werden
mit
geschlechtsspezifischen Identitäten zu spielen, und in der Gemeinschaft aufzugehen
und sich zu verlieren. Damit haben wir auch bereits den zweiten Effekt der Droge
angeschnitten – die emphatische Wirkung. Matthew Collin gibt die Bedeutung des
Wortes 'Emphatie' als “... the sensation of experiencing someone else's feelings as
your own“ an (Collin 1997: 27). Das bedeutet, dass sich die eigene Identität
zunehmend mit denen Anderer vermischt und quasi ein unsichtbares Band von
Zusammengehörigkeit, Intimität und Liebe zwischen den Konsumenten gespannt
wird, welches einen Kontext schafft, in dem Gleichheit und Andersartigkeit in einem
49
repressionsfreien, verständnisvollen Umfeld erlebt werden können. Abschließend sei
auch noch auf die die musikalische Wahrnehmung beeinflussende Wirkung von
Ecstasy hingewiesen. Konsumenten berichten, dass sie in ihrem euphorischen
Zustand nach Einnahme der kleinen Pille offensichtlich vollkommen affirmativ auf
sämtliche Musik, die in Clubs gespielt wurde, ansprachen: “I remember when it first
hit me for the first time, the euphoria of the first Ecstasy I ever took, [...] It was
incredible. We [...] went out, to Studio 54 I think, dancing – and every record I heard
I wanted to buy, because it was fantastic and the best record I'd ever heard“ (Collin
1997: 37; vgl. Cheren 2000: 106, Collin 1997: 27-31,37, Garratt 1999: 23, Rietveld
1998: 166,176-181,185-187).
2.2.5. Specialty retail stores und der erste Recordpool
Als ein enorm wichtiger Schritt für die Entwicklung der UDM muss die Gründung
des ersten Recordpools angesehen werden. Mit diesem im Sommer 1975 ins Leben
gerufenen ersten Recordpool (mit dem schlichten Namen The Record Pool oder
manchmal auch New York Record Pool genannt), schafften es dessen Gründer – die
DJs David Mancuso, Steve D'Acquisto und Eddie Riviera – erstmals in der
Geschichte, der zu dieser Zeit noch sehr jungen Profession des DJings, New Yorks
DJs unter einer organisatorischen Struktur zu vereinen und ihnen somit Macht und
eine gewisse Legitimität gegenüber den Plattenlabeln zu verleihen, von denen sie
kostenlose Platten beziehen wollten und denen sie im Gegenzug ein direktes
Feedback gaben, wie die Tänzer auf einzelne Songs reagierten, was sich wiederum in
der verbesserten Produktion neuer Songs widerspiegelte (vgl. Brewster/Broughton
2000: 145,163-164,200-201, Fikentscher 2000: 47, Goldman 1978: 131, Joe 1980:
78,81-84,91, Lawrence 2003: 115,124,162, <http://www.djhistory.com/...> (Vince
Aletti) 2006).
Zur Anfangszeit des DJings waren DJs gezwungen sich sämtliche Platten, die sie
spielen wollten, selbst zu kaufen was – angesichts eines verhältnismäßig
bescheidenen Einkommens von ca. 25-30 Dollar pro Nacht und der Menge an
benötigten Platten – eine nicht unwesentliche finanzielle Belastung für diese DJs
darstellte. Um an die neuesten Platten, als auch an obskure Importe heranzukommen,
bezogen UDM's erste DJs ihre Platten zumeist aus speziellen 'underground specialty
retail stores' (z.B. Downstairs Records, Colony Records, sowie Record Haven). In
diesen wurden auch die ersten tatsächlichen 'Disco'-Produkte vertrieben und dies zu
50
einer Zeit, als dieser Musikstil von anderen Plattenläden lediglich als
vorübergehender Modetrend angesehen wurde. Schon zu diesem Zeitpunkt allerdings
war die kleine DJ-Szene mehr, als nur eine bloße Ansammlung von Einzelkämpfern.
Vieles drehte sich noch um das Ideal, gute, aber unbekannte Musik zu finden und zu
verbreiten34. Zu diesem Zweck trafen sich DJs, wie Nicky Siano, David Rodriguez
und Michael Cappello, regelmäßig, um Ideen zu diskutieren und Platten
auszutauschen. Man könnte solche Treffen durchaus als frühe, auf Kameradschaft
gegründete 'DJ-Netzwerke' bezeichnen. Der Idealismus der involvierten DJs ging im
Falle David Mancuso sogar so weit, dass er sich von der Debut-LP einer spanischen
Afro-Latino Rock-Band namens Barrabas (die in Amerika nicht zu beziehen war),
mehrere Kisten direkt von der spanischen Plattenfirma der Band zuschicken ließ und
diese
dann
zum
Einkaufspreis
an
seine
Loft-Gäste
verkaufte
(vgl.
Brewster/Broughton 2000: 145,163-164,200-201, Fikentscher 2000: 47, Goldman
1978:
131,
Joe
1980:
78,81-84,91,
Lawrence
2003:
115,124,162,
<http://www.djhistory.com/...> (Vince Aletti) 2006).
Informelle Strukturen innerhalb der DJ-Szene waren also durchaus vorhanden. Was
DJs zumeist jedoch fehlte, waren Kontakte zu den Recordlabels. Einige wenige TopDJs, wie David Rodriguez und Nicky Siano, hatten zwar 1973 bereits ziemlich
ausgeprägte Kontakte zu Plattenfirmen und suchten diese regelmäßig auf, um sich
kostenlos Platten abzuholen, aber dies war eher die Ausnahme und Siano/Rodriguez
nahmen in dieser Hinsicht eine Pionierstellung ein. Steve D'Acquisto bringt auf den
Punkt, was deshalb zu Beginn eine der wesentlichen Aufgaben eines DJs war: “That
is what it was all about – the quest to find new records” (Lawrence 2003: 112). Die
Plattensammlung ist schließlich mit das Wichtigste für einen DJ, denn es ist das
Rohmaterial, mit dem er einen Abend gestaltet und über die Auswahl der gespielten
Songs steht und fällt seine Performance. Doch der Markt für DJ dance music war
noch neu und unkultiviert und die Recordlabels waren sich der Wichtigkeit, die der
DJ für den Verkauf von Platten spielen konnte, noch nicht bewusst. Dies änderte sich
erst, als sie realisierten, dass es Platten gab, die hohe Verkaufszahlen erzielten,
obwohl sie weder besonders häufig von Radiostationen gespielt, noch in sonstiger
34 Das sog. 'white labeling' (d.h. DJs überkleben die Originallabels mit neutralen weißen Labeln, so
dass andere nicht mehr erkennen können, wie die Platte, die sie gerade spielen, heißt), welches
heutzutage weit verbreitet ist, sollte erst später auftauchen, als DJs versuchten sicherzustellen, dass
sie möglichst die Einzigen waren die gewisse Platten spielten und somit ein Geheimnis darum
machten, welche Platte sich gerade auf dem Turntable drehte (vgl. <http://www.djhistory.com/...>
(Vince Aletti) 2006).
51
Art und Weise von den Medien gepuscht worden wären (vgl. Aletti 1976: 18,
Brewster/Broughton 2000: 164-165, 188-189, Lawrence 2003: 112-116,125,142-144,
<http://www.djhistory.com/...> (Vince Aletti) 2006).
Einer der ersten Songs, bei dem die Musikindustrie dieses Phänomen feststellen
musste, war Manu Dibango's Soul Makossa. Diese Platte war ein völlig unbekannter
Import, den einmal mehr David Mancuso 1973 in einem kleinen jamaikanischen
Laden entdeckte und ihn an andere DJs weitergab. Innerhalb weniger Wochen wurde
Soul Makossa nur aus dem Grund, dass der Song so häufig in einigen wenigen
Underground-Clubs gespielt wurde, zu einer der meist gesuchtesten Platten
überhaupt, bis
sich das Recordlabel
Atlantic schließlich entschloss,
die
amerikanische Lizenz für die Vermarktung des Songs zu erwerben und Soul
Makossa in den Charts nach oben kletterte. Ein weiteres Beispiel dafür, dass UDMDJs maßgeblich dafür verantwortlich waren, dass Platten bekannt wurden und sich
verkauften, war der Song Love's Theme von Barry White und dem Love Unlimited
Orchestra. Von White's Recordlabel 20th Century als 'dead record' (man könnte dies
evtl. als 'Ladenhüter' übersetzen) angesehen, bewiesen die DJs, welche Macht sie als
musikalischer Trendsetter ausübten, indem sie Love's Theme durch exzessives
Spielen in den Clubs, gänzlich ohne Radiounterstützung, 1974 auf Platz 1 der
nationalen Single Charts katapultierten: “Love's Theme was in the top twenty before
it even got any airplay. The power we had was phenomenal”, kommentierte Nicky
Siano den Erfolg von Love's Theme (Lawrence 2003: 143). Weitere Songs folgten im
Laufe des Jahres mit Hues Corporation's Rock the boat und George McCrae's Rock
your baby, die beide dank der Unterstützung der DJs Platz 1 der Charts einnahmen.
Auf Grund solcher nicht zu übersehender Erfolge und auch dank einer
entgegenkommenden Medienberichterstattung von Seiten wichtiger Musikmagazine,
wie Rolling Stone und Billboard, die im Anschluss an den Erfolg von Soul Makossa
richtungsweisende Artikel mit Schlagzeilen wie “Discotheques Break Singles”
veröffentlichten35,
begann
die
Musikindustrie
langsam
sowohl
das
Promotionspotential des DJs, als auch das Genre 'Disco' als investitionswürdigen
Markt anzuerkennen (vgl. Aletti 1976: 18, Brewster/Broughton 2000: 164-165, 188189, Lawrence 2003: 112-116,125,142-144, <http://www.djhistory.com/...> (Vince
Aletti) 2006).
35 'to break' heißt in diesem Zusammenhang soviel wie 'Durchbruch verschaffen'/'zum Durchbruch
verhelfen'.
52
Mit der Zeit versuchten immer mehr DJs Nicky Siano's und David Rodriguez's
Beispiel zu folgen und direkt zu den Plattenfirmen zu gehen, um kostenloses
Promotionsmaterial zu bekommen. Doch auch wenn viele Plattenfirmen mittlerweile
begonnen hatten, das Marketingpotential der DJs zu erkennen, in der Praxis war die
Vergabe von kostenlosen Platten problematisch, denn auf Grund mangelhafter
Kommunikation zwischen DJs und Mitarbeitern der Recordlabels und fehlender
organisatorischer Strukturen herrschten Chaos und Willkür über die Entscheidung,
wer letztendlich kostenlose Promos bekam. Die meisten Plattenlabels waren
durchaus bereit den DJs kostenlos Platten zukommen zu lassen, fühlten sich aber mit
der Situation überfordert, denn der Ansturm auf die Plattenfirmen nahm teilweise
bizarre Formen an. An manchen Tagen wurden die Labels von an die hundert Leuten
belagert, von denen jeder behauptete er wäre DJ. Das Hauptproblem lag darin, dass
es den DJs gegenüber den Recordlables an Legitimität mangelte, denn das DJing war
zu diesem Zeitpunkt noch kein anerkannter Beruf und die Labels wussten oftmals
nicht, ob jemand überhaupt DJ war, oder nicht. Es bildete sich eine Art
Kastensystem, in dem die Top-DJs kostenlose Platten bekamen, während
unbekanntere DJs von den Labels abgewiesen wurden (manchmal traf dies selbst
bekanntere DJs wie Steve D'Acquisto). Zudem war es gängige Praxis, dass jeder DJ
individuell bei den Labels vorstellig wurde, was bei der inzwischen großen Anzahl
an DJs, sowohl für Plattenfirmen, als auch DJs unpraktikabel wurde. Man brauchte
eine Lösung, die die Vergabe von Platten zentralisierte (vgl. Brewster/Broughton
2000: 200, Cheren 2000: 154-155, Lawrence 2003: 152-153,156-157, Lopez 2003,
<http://www.djhistory.com/...> (Vince Aletti) 2006).
Diese Lösung kam in Form der Gründung eines Recordpools, um das Verhältnis
zwischen Recordlabels und DJs in organisierte Strukturen zu lenken. The Record
Pool nahm am 2.Juni 1975 offiziell seine Arbeit auf. Dieser Recordpool umfasste zu
Beginn 65 DJs (bis Ende Juli 1975 waren daraus bereits 183 DJs geworden), unter
ihnen Michael Cappello, Steve D'Acquisto, Walter Gibbons, Larry Levan, David
Mancuso, David Rodriguez und Nicky Siano, welche an diesem 2. Juni
übereinkamen, dass The Record Pool von diesem Zeitpunkt an als “... a central point
to exchange information about up-coming releases, present releases, and who's
playing what and where” dienen sollte (Lawrence 2003: 158). Um die Aufgaben des
Recordpools schriftlich zu fixieren, formulierten die anwesenden DJs eine
53
'Declaration of Intent', welche die folgenden Eckpunkte umfasste (vgl. Lawrence
2003: 158-163):
“We the undersigned have agreed to become associated in the RECORD
POOL which has been established for the mutual benefit of discotheque DJs
and record companies. The RECORD POOL will be a self-service, selfregulated, independent calm center which will act as a point of exchange
between record companies and discotheque DJs. The POOL will take
responsibility for establishing the absolute legitimacy of the DJs involved.
The POOL will be a place to receive and distribute recordings and
information pertaining to recordings.
The RECORD POOL will enhance rapport among the participants. The
benefits to the record companies would be a direct and efficient means of
distributing their product to the discotheque DJs. In turn, we as a group and
individually will inform the record companies about the progress of their
products. This will result in our being able to devote more time and energy to
the creative aspects of listening and presenting music”
(Lawrence 2003: 158-159)
Die Vorteile des Record Pools lagen auf der Hand. DJs und Record Companies
bekamen eine zentrale Anlaufstelle (David Mancuso's Loft in 99 Prince Street,
dessen Räumlichkeiten Mancuso kostenlos zur Verfügung stellte), wo die
Recordlabels die kostenlosen Promotionsplatten direkt abliefern und die DJs diese in
extra für sie eingerichteten Regalfächern abholen konnten. Die chaotischen Zeiten
der Belagerung von Recordlabels waren somit vorbei und DJs mussten nicht mehr
Zeit und Energie dafür opfern, Platten hinterherrennen zu müssen. Darüber hinaus
diente das Loft auch als soziales Zentrum, in dem die DJs Neuigkeiten und
Informationen austauschten. Vor allem war nun aber die Legitimität der DJs
gegenüber den Recordlabels sichergestellt, denn wer Mitglied des Recordpools war,
konnte sicher sein, dass die Recordlabels ihn auch als DJ anerkannten. Egal ob
Neuling oder Top-DJ – man bekam nun die gleichen Platten und auf unkomplizierte
Art und Weise nahezu sämtliche Neuerscheinungen kostenlos. Die Recordlabels
bekamen im Gegenzug kostenlose Promotionsträger, die ihre Produkte bekannt
54
machten und den Labels direktes Feedback gaben, wie die jeweiligen Platten bei den
Tänzern ankamen und was verbessert werden könnte36. David Mancuso bestätigt: “[It
was] straight up feedback and no bull shit. The feedback would be just two things,
personal reaction and floor reaction. From that the record label would go back and
redo it or whatever until they got it right” (Lopez 2003). Dieser Punkt war für die
Recordlabels entscheidend, denn im Gegensatz zu Radiostationen war dieses
Feedback viel unmittelbarer, da die DJs die Reaktionen der Tänzer ad hoc
beobachten konnten. Zudem waren DJs im Gegensatz zu Radiostationen bereit, mehr
Risiken einzugehen und völlig unbekannte Songs zu spielen, während das Radio sich
zumeist auf bewährte Hits verließ und nur ab und an neue Songs einstreute. Der DJ
war für die Labels ein potentieller Hitmaker und Discos wurden zu einer Art
Testareal für die Recordlabels, die Promotionsmaterial schon Wochen vor dem
geplanten offiziellen Release-Datum an die DJs herausgaben und mit deren Hilfe
abschätzen konnten, ob sich das Produkt wirklich verkaufen würde (vgl.
Brewster/Broughton 2000: 165, 200-201, Cheren 2000: 155, Goldman 1978: 131132, Joe 1980: 81, Lawrence 2003: 157-159,162,164, Lopez 2003, Shannon 1982:
218-219, 274-275, Shapiro 2005: 36, <http://www.djhistory.com/...> (Vince Aletti)
2006).
Doch die Probleme waren vor allem von Seiten der Plattenlabels noch nicht zur
vollen Zufriedenheit gelöst. Die Labels zeigten sich in erster Linie mit zwei
Tatsachen unzufrieden: zum Einen waren sie davon überzeugt, dass einige DJs, wie
Steve D'Acquisto, überschüssige Promotionsplatten zur Seite schafften, um sie
gewinnbringend zu verkaufen (obwohl diese mit Aufklebern wie “Not For Sale” oder
“For Disco DJs Only” versehen waren), zum Anderen waren sie mit dem informellen
Feedback, das DJs gaben, unzufrieden. Das zweite Problem wurde gelöst, als sich
DJs und Plattenfirmen im September 1975 darauf einigten sog. 'feedback sheets'
einzuführen. Auf diesen sollten DJs beispielsweise festhalten, welche der neuen
Platten ihre persönlichen Favoriten waren, oder sie sollten jeden Titel einzeln auf
einer abgestuften Skala als gut oder schlecht bewerten und kommentieren. Sie
wurden von den Plattenfirmen zu jeder Plattenlieferung mitgeliefert und die
Plattenfirmen schickten nur dann die nächste Ladung Promotionsplatten an den
36 Wie beispielsweise die Ausweitung der Spielzeit der Songs, auf die DJs immer wieder hinwiesen,
da die üblichen 2:30-3:00 Minuten-Songformate die noch aus Radioformatzeiten stammten für den
Clubkontext schlichtweg viel zu kurz waren (vgl. Brewster/Broughton 2000: 190, Lawrence 2003:
153, Ramos 2005: DVD 1, chapter 3).
55
Record Pool, wenn die DJs sämtliche 'feedback sheets' ausgefüllt zurückgaben. Das
erste Problem ließ sich allerdings nicht ganz so gütlich lösen, denn Plattenfirmen wie
United Artists drohten damit, ihre Lieferungen einzustellen, sollte der Record Pool es
nicht schaffen, die illegitimen Plattenverkäufe zu stoppen und David Mancuso sah
sich schließlich dazu gezwungen Steve D'Acquisto, dem unzulässige Plattenverkäufe
nachgewiesen worden waren, darum zu bitten, von seinem Posten als
geschäftsführender Assistent zurückzutreten, woraufhin dieser verärgert aus dem
Recordpool austrat und sein Posten von Eddie Riviera übernommen wurde (vgl.
Goldman 1978: 131, Lawrence 2003: 208-211, Shannon 1982: 220-222).
In der Folgezeit etablierte sich das Konzept des Record Pools auch in
anderen amerikanischen Städten wie Atlanta, Boston und Chicago (bis 1979 gab es
ca. 125 Recordpools in den USA) und auch in New York gründete Eddie Riviera
nach einem Streit mit David Mancuso einen eigenen Record Pool namens
International Disco Record Center. Mancuso hingegen entschloss sich, aus
finanziellen und zeitlichen Gründen, im Dezember 1977 den New York Record Pool
zu schließen. Das Vakuum, welches sich daraus ergab (über 200 DJs waren somit
einstweilig ohne Recordpool), war nur vorübergehender Natur, denn Judy Weinstein
(sie hatte beim New York Record Pool zwischenzeitlich den abgewanderten Eddie
Riviera ersetzt) entschloss sich dazu, die Arbeit des Record Pools unter dem Namen
For The Record fortzuführen und nachdem sie die passenden Räumlichkeiten
gefunden hatte, öffnete For The Record am 1.Februar 1978. Die Record Pools hatten
sich seit 1975 zu einem wichtigen Vermittler zwischen DJs und Recordlabels
erwiesen und waren mittlerweile nicht mehr weg zu denken. David Mancuso ist sich
sicher, dass auf Grund dieses neuen Miteinander die Plattenveröffentlichungen
zwischen 1975-1980 qualitativ die besten gewesen wären: “The music that came out
when we had the record pool in existence was the best. Most of the classics are right
there” (Brewster/Broughton 2000: 201). Durch den sich ständig innovativ
befruchtenden Kreislauf zwischen Publikum/DJ, DJ/Plattenlabels und wieder zurück,
hatte sich mittlerweile ein ausgeprägter Stil entwickelt – das Disco-Genre –, sowie
ein eigener Disco-Markt, mit dem DJ als zentraler Figur, der seit 1974 parallel zur
Entwicklung der Record Pools für die Musikindustrie (vor allem für independent
labels wie Salsoul, Scepter oder Roulette, welche das Potential des DJs früh
erkannten) auch als Produzent/Remixer von Musik immer wichtiger wurde und
durch die Einführung des Remixes bzw. der B-Side-Disco-Mixes (d.h. eine neu
56
erscheinende Single würde einerseits auf der A-Seite den herkömmlichen VocalSong haben und auf der B-Seite einen speziell von DJs für DJs gemachten längeren
Remix bzw. eine Version des Songs bei der die Vocals gelöscht waren und eine
Instrumentalversion übrig blieb), sowie der 12-inch Single und dem Disco-MedleyAlbum37 eigene Formate prägte (vgl. Aletti 1976: 18, Brewster/Broughton 2000:
194,199-201,207-208,212-213, Cheren 2000: 175, de Narp/Tassinari 2006: 15-20,
Fikentscher 2000: 47-49, Joe 1980: 70, Lawrence 2003: 145-146,208,211,337-339,
Lopez 2003, Shapiro 2005: 44-45, Ramos 2005: DVD 1, chapter 4).
2.2.6. Remix und 12-inch Single
Der Remix und die 12-inch Single waren für UDM eine logische Entwicklung aus
der Notwendigkeit heraus, über einen möglichst langen Zeitraum den Beatfluss
aufrecht zu erhalten und bestimmte Soundkriteria herausarbeiten zu wollen. Frühe
DJs, wie Francis Grasso oder Nicky Siano, hatten den Weg gezeigt, indem sie mit
Hilfe von Beat-Mixing und zwei Exemplaren der selben 45er Platte bestimmte
Abschnitte des Songs immer wieder hintereinander hängten und somit eine längere
'live'-Version des ursprünglichen Titels formten, um die den Tänzern zu kurze
Originallänge der Songs zu erhöhen. Zudem prägten DJs durch die Auswahl der
Abschnitte, die sie verlängerten (das Intro, den Break, sowie die Instrumentalparts)
und die Art und Weise, wie sie aus der endlosen Aneinanderreihung dieser
Abschnitte wieder austraten (indem sie nach dem Endlosbreak mittels EQing
effektvoll den Bass wieder zurückbrachten) auch den formalen Aufbau von UDMSongs (vgl. hierzu Kapitel 2.2.1. und den zweiten Teil dieser Arbeit38). Vom Prinzip
kann
man
dieses
experimentelle
Verknüpfen
und
Wiederholen
gewisser
Songabschnitte als 'live'-Edits von DJs ansehen. Was jedoch noch fehlte, war diese
Praxis auch ins Studio zu holen und solche Edits auf Platten zu übertragen und somit
längere Tracks zu produzieren, anstatt sie mühsam 'per Hand' an den Turntables
37 Während Remix und 12-inch Single im nächsten Kapitel untersucht werden, soll das Konzept des
Disco Medleys hier nur kurz Erwähnung finden. Das erste Disco Medley wurde 1975 von Tom
Moulton erstellt, der von einem Plattenlabel dazu aufgefordert worden war, Gloria Gaynor's
Debütalbum zu produzieren. Dabei transferierte Moulton die Idee eines Nonstop-Mixes vom
Dancefloor auf Vinyl, indem er die drei Songs Never Can Say Goodbye, Honeybee und Reach
Out, I'll Be There hintereinander blendete, so dass ein 18 minütiger, ununterbrochener Musikmix
heraus kam (vgl. Brewster/Broughton 2000: 193-194, Cheren 2000: 151, de Narp/Tassinari 2006:
20, Shapiro 2005: 44, <http://www.djhistory.com...> (Tom Moulton) 2006).
38 In diesem Kapitel werden vor allem die historische Entwicklung und die technischen Aspekte des
Remixes und der 12-inch Single besprochen. Wie diese Konzepte genau den Aufbau der Musik
beeinflussen wird in Teil 2 dieser Arbeit behandelt.
57
erstellen zu müssen. Zwar hatten einige DJs bereits damit gearbeitet, solche
'live'-Mixes auf Tapes zu bannen, doch noch hatte keiner den Schritt ins Studio
gemacht,
um
solche
Re-Edits39
auch
auf
Vinyl
zu
produzieren
(vgl.
Brewster/Broughton 2000: 149,190-192, deNarp/Tassinari 2006: 5, Garratt 1999: 18,
Karnik (3) 1989: 164-165, Poschardt 2001: 125, Ramos 2005: DVD 1, chapter 3).
Ironischer Weise war der erste Studioremixer kein DJ, sondern
Model und ehemaliger Angestellter der Promotionsabteilung einer Plattenfirma.
Parallel zu der Praxis von DJs 'live' längere Versionen von Songs zu kreieren, hatte
Tom Moulton 1971 ebenfalls begonnen Songs auf Tape hintereinander zu mischen.
Als er bei einem Besuch einer Party auf Fire Island40 beobachtete, wie die Tänzer
jedesmal, wenn eine neue Platte aufgelegt wurde, vollkommen aus ihrer
energetischen Extase herausgerissen wurden (ca. alle drei Minuten), kam ihm die
Idee eines Endlos-Tapes, um die Tänzer auf der Tanzfläche zu halten und zu
energetischen Höhepunkten zu führen. Nachdem Moulton seine erste 45 minütige
Nonstop-Aufnahme erstellt hatte, gab er das Tape an den Besitzer einer Diskothek
auf Fire Island weiter und nach anfänglichen Startschwierigkeiten fand es bald so
großen Anklang, dass der Diskotheksbesitzer Moulton darum bat, ihm für spezielle
Anlässe 3 weitere Tapes zu je eineinhalb Stunden anzufertigen. Um für diese Tapes
neues Rohmaterial zu bekommen, mit dem er die Aufnahmen extendieren konnte,
ging Moulton von Plattenlabel zu Plattenlabel und fragte nach, ob sie nicht geeignete
Produktionen für ihn hätten. Nachdem er sich über solche Re-Edits mit der Zeit einen
gewissen Namen in der New Yorker UDM-Szene gemacht hatte, fragte ihn 1973 ein
39 Bei diesen Tapes bereits von Remixen zu sprechen wäre zu weit gegriffen, denn letztendlich
reihten DJs zu diesem Zeitpunkt lediglich vorhandene Bausteine von Platten hintereinander,
weshalb der Begriff Re-Edit angemessen erscheint. Die Bezeichnung Remix jedoch ist enger zu
verstehen und bedeutet, dass dem Remixer eine Multitrack-Aufnahme (eine Multitrack-Aufnahme
ist eine Aufnahme, bei der die einzelnen Tonspuren noch nicht zusammen gemischt sind, sondern
einzeln vor liegen und somit auch einzeln bearbeitet werden können) zur Verfügung steht, mit der
er ganz andere Möglichkeiten hat den Song zu bearbeiten. Denn mit der Multitrack-Aufnahme
kann der Remixer den Song gänzlich neu strukturieren, einzelne Instrumente herausnehmen und an
anderen Stellen einsetzen, oder komplett neue Instrumente aufnehmen und hinzufügen. Ein
Prozedere, welches über das bloße Aneinanderreihen von Re-Edits weit hinausgeht. Es muss in
diesem Zusammenhang festgehalten werden, dass die revolutionäre Entwicklung von MultitrackAufnahmegeräten in den 1950er Jahren (und deren weitläufige Verbreitung in Tonstudios in den
1960er Jahren) das Konzept des Studio-Remixens erst ermöglichte, da erst mit dieser Technologie
die Aufnahmespuren einzeln bearbeitet werden konnten (vgl. Berk 2000: 191, Brewster/Broughton
2000: 192-193, Butler 2006: 70, Cheren 2000: 146-147).
40 Fire Island ist eine kleine Insel vor der Küste New Yorks, südlich von Long Island. Auf Grund der
Abgeschiedenheit der Insel hatte sich dort, abseits der strengen Gesetze der Stadt New York
bezüglich Homosexualität, über Jahrzehnte hinweg eine florierende Homosexuellenszene
entwickelt, was sich Ende der 1960er Jahre auch in der Entwicklung einer ausgeprägten PartySzene äußerte (vgl. Brewster/Broughton 2000: 184-185, de Narp/Tassinari 2006: 8, Shapiro 2005:
40).
58
Mitarbeiter des independent labels Scepter, ob er die Idee nicht auch einmal im
Studio umsetzen wolle, woraus schließlich der erste auf Vinyl produzierte Remix
wurde, Do It ('Til You're Satisfied) von der Gruppe B.T.Express, deren Originalsong
Moulton
von
ursprünglich
3:30min
auf
5:35min
verlängerte
(vgl.
Brewster/Broughton 2000: 190-193, Cheren 2000: 124, de Narp/Tassinari 2006:
8,13-15, Karnik (3) 1989: 164, Lawrence 2003: 70-72,146, Poschardt 2001: 125,
Shapiro 2005: 40-43, <http://www.djhistory.com...> (Tom Moulton) 2006).
Sofort nach Do It ('Til You're Satisfied) bekam Moulton von
Mel Cheren, der zu diesem Zeitpunkt bei Scepter angestellt war, eine weitere
Möglichkeit einen Remix41 zu produzieren, nämlich Dreamworld von Don Downing.
Bei seinen Versuchen diesen Song auszudehnen, stieß Moulton allerdings auf ein
musikalisches Problem. Kurz vor Schluss modulierte der Song in eine andere Tonart,
womit es für Moulton unmöglich wurde vom Ende des Songs direkt wieder in den
Anfangsteil zu springen. Deshalb baute Moulton aus der Not heraus geboren einen
Drum Break ein: Er blendete sämtliche Tonspuren der Multitrack-Aufnahme aus und
ließ eine Zeit lang nur noch die Schlagzeug- und Percussion-Spur weiterlaufen.
Anschließend brachte er Tonspur für Tonspur, d.h. Instrument für Instrument, nach
und nach wieder zurück, bis schließlich erneut der komplette Song zu hören war,
womit er wieder in den Anfangspart des Songs gelangt war, ohne dass die beiden
Tonarten miteinander kollidierten. Tom Moulton prägte so ein für UDM essentielles
formales Prinzip – den Drum Break (oder Breakdown). Einige DJs experimentierten
damit zwar auch in den Clubs und der Drum Break war durchaus schon in einzelnen
Songs, wie Chicago Transit Authority's I'm a man, die in Discos gespielt wurden, zu
finden, doch während Songs wie I'm a Man auf den Pop-Markt ausgerichtet und
nicht direkt darauf konzipiert waren, die Tanzbarkeit zu erhöhen, betrat Tom
Moulton's Version von Dreamworld neues Territorium, denn erstmals fand der Drum
Break in einem Song Verwendung, der ausschließlich für den Dancefloor produziert
worden war. Auch wenn Moulton durch Zufall darauf gestoßen war, erkannte er
schließlich schnell, dass der Break die Tanzbarkeit des Songs erhöhen und die
Tänzer in schiere Ekstase treiben würde, so dass er konsequent den Break bis zum
Wiedereintritt des Basses und der anderen Instrumente ausbaute. In der Folge wurde
der Drum Break beinahe schon obligatorisch für sämtliche UDM-Produktionen und
41 In der Tat muss man bei Tom Moulton's Studioproduktionen von Remixen sprechen, denn ihm
standen bei Scepter nun die Multitrack-Aufnahmen zur Verfügung (vgl. Cheren 2000: 149, de
Narp/Tassinari 2006: 15).
59
ist seitdem ein nicht mehr weg zu denkendes Charakteristikum jeglicher dance music
(vgl. Brewster/Broughton 2000: 191, Cheren 2000: 149-150, de Narp/Tassinari 2006:
6,15-16, Lawrence 2003: 145-146, Shapiro 2005: 43-44,243).
Auf Grund des exzessiven Club-Gebrauchs solch spezieller Remixes verkauften sich
viele Platten gleich nochmal so gut: Von Don Downing's Dreamworld wurden 10000
Exemplare abgesetzt, bevor der Song überhaupt das erste Mal im Radio gespielt
wurde, Do It ('Til You're Satisfied) schaffte es sogar bis an die Spitze der
amerikanischen Charts. Der Remix begann sich als neues bedeutsames Konzept der
Musikindustrie durchzusetzen und nahezu alle Platten, die einen A Tom Moulton
Mix-Aufkleber trugen, kamen einem sicheren Erfolgsversprechen gleich. Moulton
war in der Musikindustrie bald nur noch als 'The Doctor' bekannt, der es schaffte
einen mittelmäßigen Originalsong zu beleben. Was jedoch noch fehlte, war das
passende Tonträgerformat, denn durch das alte 7-inch Single-Format waren Remixer
in ihren kreativen Möglichkeiten noch erheblich eingeschränkt. Zum einen bot die 7inch Single lediglich Platz für eine maximale Songlänge von ca. 6:30min., zum
anderen ging bereits diese Länge deutlich auf Kosten der Soundqualität des
Tonträgers, da die Plattenrillen näher zusammengelegt werden mussten. Bereits bei
seinem ersten Remix – Do It ('Til You're Satisfied) – sah sich Tom Moulton mit
diesem Problem konfrontiert, denn er war selbst schon bei der Länge des Songs von
5:35min. dazu gezwungen, den Remix mit weitaus weniger tiefen Frequenzen
abzumischen, als er es ursprünglich wollte (die tiefen Frequenzen beanspruchen am
meisten Platz auf der Platte), (vgl. Brewster/Broughton 2000: 193,195, Cheren 2000:
152-153, Collin 1997: 13, de Narp/Tassinari 2006: 14-15,17-18, Garratt 1999: 18,
Goldman 1978: 132, Lawrence 2003: 145-146,212, Shannon 1982: 204-205, Shapiro
2005: 45).
Über die Lösung stolperte Moulton, wie schon beim Drum Break in Don Downing's
Dreamworld, durch Zufall. Moulton wollte sich von seinem Mastering Engineer Jose
Rodriguez im Tonstudio kurzfristig noch eine Reference Disc (eine Art Test-Disc,
die Moulton an befreundete DJs weitergab, um unfertige Versionen von Songs zu
testen) für den Remix des Songs I'll Be Holding On von Al Downing anfertigen
lassen42. Dem Engineer waren allerdings die 7-inch Rohlinge ausgegangen, auf denen
42 An diesem Punkt wird die Quellenlage vollkommen unklar, vor allem auch weil
Originalinterviewausschnitte mit Tom Moulton unterschiedlich zitiert werden. In einem Interview
auf der Webseite <http://www.djhistory.com...> (Tom Moulton), wird Moulton beispielsweise
folgendermaßen zitiert: “The first 12-inch was 'I'll Be Holding On' by Al Downing ... The seveninch blanks, they were out of them. So he [the mastering engineer] had to give me a twelve-inch”.
60
normalerweise die Singles produziert wurden und er schlug Moulton deshalb vor, 12inch Platten zu verwenden, die sonst nur für Alben Verwendung fanden. Um nicht
den ganzen Platz mit nur einem einzigen Song zu verschwenden, setzte Rodriguez
die Plattenrillen extrem weit auseinander und verteilte sie auf der ganzen Platte. Das
Ergebnis war, dass die Soundqualität und Lautstärke sich um ein vielfaches
verbesserte und UDM hatte sein Tonträgerformat gefunden – die 12-inch Single, das
erste neue Tonträgerformat seit ca. 30 Jahren. Mit ihm standen Remixern, wie Tom
Moulton, einerseits ausreichend Platz für ihre ausgedehnten Remixes und
andererseits eine Soundqualität zur Verfügung, die gerade über ein großes ClubSoundsystem überwältigend war (vgl. Brewster/Broughton 2000: 193,195, Cheren
2000: 152-153, Collin 1997: 13, de Narp/Tassinari 2006: 14-15,17-18, Garratt 1999:
18, Goldman 1978: 132, Lawrence 2003: 145-146,212, Shannon 1982: 204-205,
Shapiro 2005: 45, <http://www.djhistory.com...> (Tom Moulton) 2006).
Von Al Downing's I'll Be Holding On wurden allerdings nie
mehr, als diese wenigen Testpressungen hergestellt und Chess records (der
Rechteinhaber des Songs) gab den Song schließlich Ende 1974 als 7-inch Platte
heraus. Einige independent labels waren dennoch auf das Potential der 12-inch
Single aufmerksam geworden, darunter Mel Cheren vom Plattenlabel Scepter, dessen
Plattenfirma im Juni begann, 12-inch Singles als 'DJ only'-Promotionsplatten
herauszugeben. Die erste, dieser nicht im Handel erwerbbaren, 12-inch Singles war
(höchstwahrscheinlich) Bobby Moore's Call Me Your Anything Man43, welche
De Narp/Tassinari zitieren ein offensichtlich ähnliches Interview folgendermaßen: “... the first 10inch was 'I'll Be Holding On' by Al Downing ... What happened was that the studio ran out of
7inch blanks so José had to give me a ten-inch” (2006: 18). Mel Cheren wiederum gibt an, dass
Tom Moulton für Al Downing's Song auf 12-inch Platten zurückgreifen musste, da dem Mastering
Engineer die 10-inch Acetat-Discs ausgegangen waren (2000: 153); und Tim Lawrence zitiert
Moulton, dass der Mastering Engineer 12-inch Platten für den Al Downing Song verwendete, weil
ihm die 7-inch Platten ausgegangen waren (2003: 212). Auch über den ersten Song auf einer 12inch herrscht Uneinigkeit. Während die meisten Autoren Al Downing's I'll Be Holding On
angeben (z.B. Cheren 2000: 153, Lawrence 2003: 212), geben Brewster/Broughton (2000: 195)
und de Narp/Tassinari (2006: 18) an, dass die erste 12-inch Single So Much For Love von der
Gruppe Moment of Truth gewesen wäre. Um unnötige Verwirrung zu vermeiden, habe ich mich
deshalb entschlossen im Haupttext an einer Version, nämlich der von Tim Lawrence, festzuhalten.
Letztendlich ist es auch nicht wirklich entscheidend, ob dem Mastering Engineer die 7-inchRohlinge oder die 10-inch-Acetat Discs ausgingen, sondern es ist wichtig zu erkennen, dass im
Endeffekt eine 12-inch Platte für eine Single verwendet wurde, welche normalerweise auf einem
kleineren Tonträgerformat produziert worden wäre.
43 Auch diesbezüglich sind die Meinungen wieder geteilt. Tim Lawrence, Peter Shapiro und de
Narp/Tassinari geben Call Me Your Anything Man als erste lediglich für DJs erhältliche 12-inch
Single an (de Narp/Tassinari geben allerdings fälschlicherweise an, dass dies die erste kommerziell
erwerbbare 12-inch gewesen wäre. Sie werden jedoch in dieser Hinsicht klar von sämtlichen
Autoren widerlegt, die darlegen, dass die ersten 12-inch Singles allesamt nur als PromotionsVeröffentlichungen an DJs herausgegeben wurden). Brewster/Broughton hingegen behaupten,
dass Dance, Dance, Dance von der Band Calhoon die erste Promo 12-inch gewesen wäre. Diese
61
Scepter im Juni 1975 an UDM-DJs herausgab. Vollends durchzusetzen begann sich
die 12-inch Single allerdings erst, als das kleine independent label Salsoul Records
im Mai 1976 den Schritt wagte, kurz nach der Veröffentlichung des 4 minütigen
Originalsongs Ten Percent von Double Exposure auf dem gebräuchlichen 7-inch
Format, auch einen Re-Edit44 des Songs als erstmals kommerziell erwerbbare 12-inch
Single herauszugeben. Als Remixer für dieses Projekt engagierte Salsoul einen
jungen DJ namens Walter Gibbons, der in der New Yorker Disco Galaxy 21 auflegte.
Wie Nicky Siano und einige andere DJs war auch Walter Gibbons ein
enthusiastischer Verfechter eines DJing Stils, welcher die Drum- und PercussionInstrumente in den Vordergrund stellte. Ähnlich seinem Gallery DJ-Kollegen war
Gibbons immer auf der Suche nach Songs mit exponierten Schlagzeug-Intros und
-Breaks, welche er live im Club, durch Beat-Mixing zweier Exemplare der
jeweiligen Platte, ins Unendliche verlängerte und oftmals bis in die Unkenntlichkeit
verzerrte, wie Francois Kevorkian, ehemaliger Angestellter bei Galaxy 21 bemerkt:
“You would never hear the actual song. You just heard the drums. It seemed like he
kept them going forever ...” (Lawrence 2003: 216). Gibbons's mixtechnische
Fähigkeiten waren dabei so nahe an der Perfektion dran (viele DJ-Kollegen sind der
Ansicht, dass er technisch wohl der am höchsten entwickelte DJ war), dass bei seinen
Mixes die Songs förmlich ineinander verschmolzen und absolut keine Übergänge zu
hören waren: “[His mixing was so] smooth and seamless that you couldn't even tell
that he was mixing records. You thought the version he played was actually on the
record, but in fact he was taking little 10-second pieces” (Kevorkian über Gibbons's
DJ-Künste; Brewster/Broughton 2000: 174), (vgl. Brewster/Broughton 2000: 172174,195, Collin 1997: 13, de Narp/Tassinari 2006: 18, Garratt 1999: 18, Goldman
1978: 132, Lawrence 2003: 212-213,216,218, Lawrence 2006, Shannon 1982: 206,
Shapiro 2005: 45-46).
Beeindruckt von dieser technischen Perfektion, beauftragte Ken Cayre – Leiter von
Salsoul – Gibbons schließlich damit, ihm einen Re-Edit von Ten Percent zu erstellen.
Behauptung widerlegen wiederum Tim Lawrence und Peter Shapiro die das Erscheinungsdatum
von Dance, Dance, Dance (welches Brewster/Broughton als den Frühling 1975 angeben) auf den
Juli 1975 datieren, also einen Monat nach der Veröffentlichung von Call Me Your Anything Man.
Es ist somit relativ sicher, dass Call Me Your Anything Man wohl die erste erhältliche Promotions
12-inch Single war (vgl. Brewster/Broughton 2000: 195, Cheren 2000: 153, de Narp/Tassinari
2006: 18, Lawrence 2003: 212, Shapiro 2005: 45).
44 Hier müssen wir erneut von einem Re-Edit sprechen, denn Salsoul vertraute seinem Remixer (oder
Re-Editor?) Walter Gibbons für diesen Song noch nicht die für einen Remix nötige MultitrackAufnahme an (vgl. Lawrence 2003: 263).
62
Er sollte diese Entscheidung nicht bereuen. Gibbons bearbeitete den Song (obwohl
seine Möglichkeiten auf Grund der fehlenden Multitrack-Aufnahme noch
eingeschränkt waren) extrem und weitete ihn auf über 9 Minuten aus, indem er die
Drumparts länger und länger dehnte. Mit seiner Art und Weise den Song substantiell
auf seine elementare perkussive Basis herunterzubrechen, arbeitete Gibbons genau
die Teile des Songs heraus, von denen er wusste, dass Tänzer darauf ansprechen
würden. Der Erfolg gab ihm recht – der Re-Edit verkaufte sich gleich innerhalb der
ersten Woche 110 000mal und stach die kurz zuvor erschienene 7-inch Single, deren
Verkauf schlecht lief, um Längen aus45. War Tom Moulton der Pionier des Remixens
gewesen, der als erster Songs im Tonstudio bearbeitete, sollte Walter Gibbons
derjenige werden, der das kreative Potential des Remixens am radikalsten erforschte.
Während Moulton noch verhältnismäßig konservativ an das Remixen heranging und
zumeist lediglich Parts verlängerte, nahm Gibbons, sobald ihm die MultitrackAufnahmen zur Verfügung standen (zu Beginn des Jahres 1977 mit dem Song Hit
And Run von Loleatta Holloway), die Originalsongs vollkommen auseinander und
strukturierte sie grundlegend um. Holloway's Song war ein demonstratives Beispiel
für diese radikale Herangehensweise: Gibbons schnitt einen Großteil der Streicherund Bläser-Tonspuren, sowie die ersten 2½ Minuten von Loleatta Holloway's
Gesang komplett heraus, und verschob den Fokus des Songs vollständig auf die
Drum- und Perkussionelemente und den zweiten improvisierten Teil von Holloway's
Gesangspart, in dem sie in der Tradition des Gospel- und Funk-Gesangsstils
unentwegt exaltierte Schreie und Seufzer eingebaute hatte. Auf dem endgültigen
Remix war von Holloway schließlich, bis auf dieses Zwischending aus Gesang und
Stöhnen, nicht mehr viel zu hören. Viele der ursprünglichen Elemente des
Originalsongs, sowie dessen struktureller Aufbau, mussten zugunsten Gibbons's
Vision, die maximale Effektivität für den Dancefloor aus dem Song herauszuholen,
weichen und übrig blieb ein nahezu vollkommen neuer Song, wie Moulton in einem
Artikel für das Musikmagazin Billboard konstatierte: “This version is really so
different from the original, that it must be classified as a new record” (Lawrence
2003: 264). Gibbons hob mit solch kompromisslosen Restrukturierungen das
Remixen auf ein neues Level und etablierte damit die neue Rolle des DJ, als
45 Durch diesen Erfolg der ersten im Handel erhältlichen 12-inch Single aufmerksam gemacht,
folgten kurz darauf auch weitere independent labels, wie Scepter und Roulette, dem Beispiel von
Salsoul und begannen spezielle dance music Remixes für den öffentlichen Handel herauszugeben
(vgl. Lawrence 2003: 220).
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wichtiges Bindeglied zwischen Produzent und Dancefloor, in der Musikindustrie.
Etliche seiner DJ-Mitstreiter wie Larry Levan, Shep Pettibone oder Jim Burgess
folgten ihm. Die DJs der UDM hatten somit ihre Werkzeuge gefunden. Der Remix
und die 12-inch Single waren Formate, welche aus dem direkten Bedürfnis heraus
entstanden waren, den Anforderungen des Dancefloor gerecht zu werden, für den die
DJs
nun
maßgeschneiderte
dance
music-Produktionen
fabrizierten
(vgl.
Brewster/Broughton 2000: 194,196, Jones/Kantonen 2000: 12, Karnik (3) 1989: 173,
Lawrence 2003: 218-220,263-264 Lawrence 2006, Shapiro 2005: 46-47).