Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
Transcription
Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
Serjoscha Wiemer DAS GEÖFFNETE INTERVALL Serjoscha Wiemer DAS GEÖFFNETE INTERVALL Medientheorie und Ästhetik des Videospiels Wilhelm Fink Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein Umschlagabbildung: Jan Brokof, MuR (67) und MuR (81) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl. Diss., Ruhr-Universität Bochum, 2011 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5779-0 INHALTSVERZEICHNIS DANKSAGUNG .......................................................................................... 7 EINLEITUNG ............................................................................................. 9 I. ZUR BILDTHEORIE ELEKTRONISCHER BILDER .................................... 21 Videobilder analog und digital ...................................................... 34 Die Unabschließbarkeit des Videobildes ...................................... 46 II. DAS GEÖFFNETE INTERVALL ............................................................. 51 Bergsons Bildontologie ................................................................. 52 Video als Zeitkristallisationsmaschine .......................................... 61 Jenseits von Bergson – Kapitalismus und »beliebige Zeit« .......... 65 III. PARTICIPATION TV........................................................................... 75 Eingriff ins TV-Dispositiv ............................................................ 76 Closed Circuit-Installation. Der Betrachter im Bild ...................... 82 Zwischen den Spiegeln: Dan Grahams TIME DELAY und EYE TOY MIRROR ...................... 85 Zwischenfazit CC-Installation und MIRROR TIME ........................ 98 IV. FORMENTWICKLUNGEN IM VIDEOSPIEL ......................................... 101 Realismus und Immersion ........................................................... 111 Räumlich-visuelle Immersion: 3D .............................................. 118 Zur Vielfalt immersiver Raumkonstruktionen .................................. 121 Perspektive und Raumwahrnehmung................................................ 128 Raumkonstitution und räumliche Immersion .................................... 136 Sensomotorische Immersion ....................................................... 138 Interface-Ästhetik ............................................................................. 144 (Halb-)offene Körpergrenzen............................................................ 151 6 INHALTSVERZEICHNIS V. FALLANALYSEN / KARTOGRAFIE..................................................... 155 Bildontologische Skizze .............................................................. 156 Bezüge zu Deleuze’ Bild-Taxonomie ............................................... 160 Die Avatare des Bewegungs-Bildes bei Deleuze.............................. 162 Videospiele als Körper-Bild-Konstellationen ................................... 164 Erste Erkundung: Das Bewegungs-Bild...................................... 167 VIRTUA Fighter / SOULCALIBUR........................................................ 172 REZ .................................................................................................. 181 Zwischenstand der Erkundung zum Bewegungs-Bild ...................... 187 Das Affektbild ............................................................................. 190 SILENT HILL 2 ................................................................................... 193 Affektbild und (De-)Subjektivierung ............................................... 210 Das Aktionsbild im Rennspiel .................................................... 215 NEED FOR SPEED ............................................................................... 218 Die Ränder des Aktionsbildes – optische Situationen und spektakuläre Bilder .................................................................... 225 Vom Aktionsbild zum Zeit-Bild ................................................. 227 Das Zeit-Bild im Videospiel ............................................................. 228 PRINCE OF PERSIA ............................................................................. 233 SHADOW OF THE COLOSSUS............................................................... 239 VI. DIE VIER QUALITÄTEN DES INTERVALLS ....................................... 251 LITERATURVERZEICHNIS...................................................................... 259 ABBILDUNGSVERZEICHNIS................................................................... 279 INSTALLATIONS- UND FILMVERZEICHNIS ............................................ 281 SPIELEVERZEICHNIS ............................................................................. 283 DANKSAGUNG Ich möchte mich an dieser Stelle bei all jenen bedanken, die mich bei der Arbeit an dieser Schrift unterstützt haben. Ganz besonders danke ich Rolf F. Nohr für seine Geduld und Großzügigkeit. Er hat es ermöglicht, dass ich die nötige Zeit zum Schreiben finden konnte. Harald Hillgärtner, Florian Krautkrämer, Stefan Böhme, Julius Othmer, Andreas Weich, Tobias Conradi und Ulrike Bergermann standen mir bei praktischen und theoretischen Fragen zur Seite. Ich danke ihnen für ihre Zeit und ihre kritische Lektüre von Auszügen der Arbeit. Christian Tippe, Alexander Karschnia und Nicola Nord gewährten mir in Frankfurt, Amsterdam und Berlin großzügig Obdach, als ich mich in den Büchern verkroch. Ich danke ihnen für ihre Gastfreundschaft. Jürgen Piechutta zeigte mir, wie wichtig es ist, beim Spielen die Augen offenzuhalten und er half mir, manches besser zu verstehen. Ihm verdanke ich die grundlegende Motivation, Videospiele theoretisch zu untersuchen. Bei Marie-Luise Angerer möchte ich mich für das in mich gesetzte Vertrauen bedanken. Sie unterstützte die Idee zu diesem Projekt von Beginn an vorbehaltlos und hat mir vielfach geholfen, meine vagen Ideen zu präzisieren. Burkhardt Lindner betreute die Arbeit in einer frühen Phase im Graduiertenkolleg »Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung«. Astrid Deuber-Mankowsky möchte ich dafür danken, dass sie mich stets ermutigt hat, theoretisch tiefer zu graben. Sie hat mir den wichtigen Anstoß gegeben, damit ich die Arbeit zum Abschluss bringen konnte. Schließlich will ich Anke Zechner danken. Als ich Rat und Hilfe brauchte, war sie da. Frankfurt am Main, 18. Juli 2014 EINLEITUNG Technische Bilder Die technischen Bilder erscheinen uns in Form von Fotografien auf Papier, als Film auf der Leinwand, als Videosignale auf Fernsehern und Computermonitoren. Sie werden durch Apparate wie Fotokameras, Filmkameras oder Scanner aufgezeichnet, auf Papier, Zelluloid, Folien, Magnetbändern oder Festplatten gespeichert, durch Radiowellen, mithilfe von Kabeln oder per Post auf Datenträgern um die Welt geschickt und mechanisch, chemisch oder elektronisch prozessiert. Videobilder, die in dieser Studie im Zentrum stehen, sind ein wichtiger Teil dieses Universums technischer Bilder. Was die technischen Bilder von älteren ›traditionellen‹ Bildformen grundsätzlich unterscheidet, ist ihr Grad an automatisierter, d.h. maschineller Erzeugung, Speicherung und Distribution. Darin unterscheiden sie sich insbesondere von der vorindustriellen, vornehmlich handwerklich geprägten Bildproduktion. Während der für das vorindustrielle Zeitalter typische ›Homo Faber‹ als Handwerker stets am Ausgangspunkt der von Menschen bestimmten Bildproduktion steht und die Bilder selbst mit Hilfe von Werkzeugen entwirft und herstellt, werden im Zuge der Automatisierung und Maschinisierung des Sehens zunehmend Elemente dieser Arbeit auf Apparate übertragen. Wie Vilém Flusser in Ins Universum der technischen Bilder beschreibt, ähneln die technischen Bilder oberflächlich zunächst den traditionellen, unterscheiden sich von diesen bei genauerer Untersuchung aber deutlich. Dies hat mit den veränderten Möglichkeiten der Verwendung dieser Bilder zu tun, aber auch mit ihren internen Eigenschaften, die sich aus den Bedingungen ihrer apparativen Erzeugung ergeben.1 Flusser spricht vom technischen Bild in einem sehr allgemeinen Sinne. Als Beispiele nennt er Fotografien, Bewegte Bilder, Videobänder, Diagramme, Mikrofilme, Diapositive, Verkehrszeichen, Blueprints, Kurven in Statistiken, Skizzen und anderes mehr.2 In seinen Überlegungen in Kommunikologie betrachtet er Bilder zuvorderst als Symbol-Systeme. Bilder lassen sich nach Flusser als mit Symbolen bedeckte Flächen definieren.3 Als Kern der Funktionsweise technischer Bilder sieht er deren Fähigkeit, Begriffe darzustellen. Damit wird eine bestimmte Bedeutungsebene am technischen Bild betont, die an ein enges Verhältnis zur Sprache und zur Schrift gebunden ist. 1 2 3 Flusser, Vilém (1999) Ins Universum der technischen Bilder. (6. Aufl.) Göttingen: European Photography. Flusser, Vilém (1998) Kommunikologie. Frankfurt/M.: Fischer, S. 140. Flusser (1998), S. 111. 10 DAS GEÖFFNETE INTERVALL Wenn man allerdings das Videobild als ein in besonderer Weise verzeitlichtes Bild versteht, dann sind seine wesentlichen Eigenschaften nicht mehr ausschließlich durch eine es tragende Fläche zu definieren, sondern darüber hinaus durch die zeitlichen Prozesse seiner Hervorbringung. Im Unterschied zu einem auf begriffliche und symbolische Kommunikation ausgerichteten Bildbegriff will ich das elektronische Videobild theoretisch als ein wesentlich zeitlich konstituiertes Bild zu fassen versuchen, das sich von anderen Technobildern durch seine spezifische temporale Verfasstheit unterscheidet. Sein bestimmender ›Code‹ besteht dann weniger in der Arbeitsweise des Monitors, oder in seiner begrifflichen Bedeutung, sondern vielmehr in der spezifischen zeitlichen Abstimmung von Bild- und Wahrnehmungsprozessen. Die folgende Untersuchung der Ästhetik von Videospielen gründet auf zwei einfachen Überlegungen: Die erste betrifft einen möglichen bildtheoretischen Zugriff auf Videospiele, abgeleitet vom Videobild. Ich gehe von der These aus, dass Videospiele als Konkretisierungen bestimmter, innerhalb der temporalen Ontologie von Video angelegten Möglichkeiten angesehen werden können. Entlang dieser These verstehe ich Videospiele nicht zuvorderst als ›Software‹, wie es innerhalb eines strikten Begriffs vom Videospiel als Computerspiel gegeben wäre, sondern als ein weitgehend eigenständiges Medium elektronischer Bewegtbilder. Die zweite Überlegung bezieht sich auf die für Videospiele konstitutiven Prozesse der Verschränkung von Körper und Bild. Die Ästhetik von Videospielen lässt sich unter diesem Gesichtspunkt als kulturelle und ästhetische Ausgestaltung des videologischen Intervalls in der Form des Spiels begreifen, die in besonderer Weise auf die Etablierung komplexer Relationen von Körper und Bild zu beziehen ist. Bildtheorie Die Konzentration auf das Videobild als Grundlage von Videospielen erfordert eine bildtheoretische Präzisierung.4 Was sind die konstitutiven Eigenschaften dieser Bilder? Wie trägt Technik zu diesen Eigenschaften bei? Was sind die spezifischen Bedingungen technisch generierter Sichtbarkeit? Mein Zugang zu bildtheoretischen Fragen ist dabei medientheoretisch geprägt. Während die Bildtheorie5 in einigen ihrer Konzeptionen dazu tendiert, 4 5 Die bildtheoretische Erschließung von Videospielen gewinnt erst in jüngerer Zeit Kontur. Eine eigene Theorietradition hat sich noch nicht herausgebildet, vielfach ist eine Orientierung an kunstgeschichtlichen oder phänomenologischen Traditionen zu beobachten. Vgl. zu bildtheoretischen Ansätzen zu Computerspielen exemplarisch Hensel, Thomas (2012): Uncharted. Überlegungen zur Bildlichkeit des Computerspiels. In: Bildwerte. Visualität in der digitalen Medienkultur. Hrsg. v. Gundolf S. Freyermuth & Lisa Gotto. Bielefeld: transcript, S. 209-236; Günzel, Stephan (2012) Egoshooter : Das Raumbild des Computerspiels. Frankfurt/M.; New York: Campus.. Die akademische Auseinandersetzung mit Bildern hat in den vergangenen 10-15 Jahren ein ansteigendes Interesse erfahren, was sich nicht zuletzt in dem Bemühen niederschlägt, unter- EINLEITUNG 11 den Bildträger gegen das Bildobjekt auszuspielen und das Bildobjekt zum eigentlichen Gegenstand der Bildtheorie zu erklären, interessiert sich ein medientheoretischer Blickwinkel wesentlich auch für die technischen Bedingungen der Produktion von Bildern und damit genau für das, was bei einer bildtheoretischen Fixierung auf das bloße Bildobjekt ausfallen muss.6 Darüber hinaus unterscheidet sich der hier verfolgte medientheoretische Zugang zum Videobild auch von semiotisch geprägten Bildtheorien, in denen Bilder in erster Linie als Bedeutungsträger oder »dichte Zeichensysteme« in einem letztlich intentional gefassten Kommunikationszusammenhang betrachtet werden.7 Tatsächlich wird die Funktion von Bildern als Signifikanten und 6 7 schiedliche Ansätze unter einer gemeinsamen Bildwissenschaft zusammenzufassen. Als zwei der Hauptlinien der Diskussion können nach Lambert Wiesing der semiotische und der phänomenologische Ansatz angesehen werden. Ersterer geht von der Prämisse aus, dass Bilder als Zeichengebilde mit besonderen Eigenschaften zu untersuchen seien. Der phänomenologisch geprägte bildtheoretische Ansatz hingegen betont die Wahrnehmbarkeit des Bildes. Mit Bezug zur Phänomenologie insbesondere Edmund Husserls und Maurice Merleau-Pontys werden Bilder wesentlich als Sichtbarkeiten angesehen und in Verbindung zu wahrnehmungstheoretischen Fragestellungen thematisiert. Sehen wird demnach als ein sinnlicher, leibgebundener Akt verstanden. Der Bildwissenschaftler Klaus Sachs-Hombach hat den Vorschlag gemacht, beide Positionen in einer gemeinsamen Definition zusammenzuführen und Bilder als »wahrnehmungsnahe Zeichen« zu definieren (vgl. Sachs-Hombach, Klaus (2001) Kann die semiotische Bildtheorie Grundlage einer allgemeinen Bildwissenschaft sein? In: Bildhandeln. Interdisziplinäre Forschungen zur Pragmatik bildhafter Darstellungsformen. Hrsg. v. Klaus Sachs-Hombach. Magdeburg: Scriptum, S. 7-25). Wie sehr auch dieser verbindende Ansatz noch einer kunstgeschichtlichen Tradition verpflichtet ist, wird daran deutlich, dass als das »prototypische wahrnehmungsnahe Zeichen [...] das an die visuelle (oder auch taktile) Wahrnehmung gebundene figürliche Bild« angesehen wird (Sachs-Hombach (2001), S. 16). Vgl. weiterführend zur bildwissenschaftlichen Diskussion neben Boehm, Gottfried (1994) Die Wiederkehr der Bilder. In: Was ist ein Bild? Hrsg. v. Gottfried Boehm. München: Fink, S. 11-38 auch Wiesing, Lambert (2005) Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt/M.: Suhrkamp sowie Sachs-Hombach, Klaus (1999) Gibt es ein Bildalphabet? In: Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen. Hrsg. v. Klaus Sachs-Hombach & Klaus Rehkämper. Magdeburg: Scriptum, S. 57-66. Vgl. zur Unterscheidung von Bildträger und Bildobjekt Wiesing (2005). Der grundlegende blinde Fleck einer bildtheoretischen Privilegierung des Bildobjekts offenbart sich meines Erachtens sehr deutlich bei den sogenannten Simulationsbildern: Werden der Bildträger beziehungsweise die materiellen Grundlagen der Bilderzeugung theoretisch ausgeblendet, ist nicht mehr nachvollziehbar, was die Simulationsbilder als eigenständigen Bildtypus auszeichnen soll. Schließlich ist ohne den materiellen Apparat, der über konkrete Schnittstellen die Manipulierbarkeit dieser Bilder ermöglicht, weder ihr dynamischer interaktiver Charakter beschreibbar, noch wären sie überhaupt sinnlich wahrnehmbar. Mit Bezug auf Nelson Goodman (Goodman, Nelson (1998) Sprachen der Kunst. Frankfurt/M.: Suhrkamp) werden in semiotisch geprägten Bildtheorien Bilder häufig als »dichte Zeichensysteme« betrachtet, die unter anderem dadurch charakterisiert sind, dass ihre signifikanten Elemente nicht klar voneinander abgegrenzt sind, auf komplexe Art aufeinander innerhalb eines Bildes verweisen oder auch in Konflikt miteinander stehen können. So kann die Bedeutung der Darstellung eines Apfels auf einem Bild nicht allein an der Form, sondern ebenso an der Farbe, der Position oder am bildlichen Kontext entziffert werden. Hinzu kommt der wesentliche Umstand, dass Bilder Bedeutung nicht nur erzeugen durch das, was sie darstellen, sondern auch dadurch, wie sie es darstellen, also beispielsweise durch die Art der ma- 12 DAS GEÖFFNETE INTERVALL Träger von symbolisch vermittelten Bedeutungen im Folgenden zunächst ausgeklammert zugunsten der Betrachtung der spezifischen Bedingungen technisch generierter Sichtbarkeit. Vor der semiotischen Ebene von Videobildern werden daher die technischen Möglichkeitsbedingungen elektronischer Sichtbarkeit in den Fokus gerückt werden müssen. Der Aspekt der Sichtbarkeit verweist dabei auf die Möglichkeit einer tatsächlichen Wahrnehmung. Denn auch für den Begriff des technischen Bildes, wie er im Folgenden für das Videobild entwickelt wird, ist die Ebene der sinnlichen Wahrnehmung letztlich unhintergehbar: Ohne zumindest die Möglichkeit konkreter Sichtbarkeit kann die Unterscheidung gegenüber einem bloßen Vorstellungsbild sowie einem metaphorischen Gebrauch des Bildbegriffs kaum gewährleistet werden. Gerade aus der hier verfolgten medial-ästhetischen Perspektive ist es notwendig, auf der Sichtbarkeit als Kriterium des Bildes zu bestehen, um das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Technik in den Fokus zu nehmen, das durch die Begriffe des Medialen und des Ästhetischen aufgerufen wird. Erst ein technisches Bild, das als Gegenstand, als ästhetisches Artefakt oder qua apparativem Dispositiv gegeben ist, so dass es als visuelles Ereignis tatsächlich zum Bild werden kann, ermöglicht die Unterscheidung zwischen einem Bild und beliebigen anderen Daten, die für andere Sinne oder für bloße apparative Verarbeitung aufbereitet werden. Die sogenannten ›digitalen Bilder‹ verstehe ich als eine Unterkategorie elektronischer Bilder. Im Diskurs um die Bestimmung der Eigenschaften dieses Bildtyps ist auffällig, dass es immer wieder Versuche gibt, Bilder, die auf Basis technisch digitaler Codierung erzeugt werden, als »immateriell« oder »rein sprachlich« zu definieren.8 Dass durch eine solche Betonung der vermeintlichen Immaterialität digitaler Bilder das Primat der Wahrnehmung keine Berücksichtigung findet, ist aus meiner Sicht ein Mangel vieler Theorien zum Charakter digitaler Bilder. Eine Kritik der These der Immaterialität digitaler Bilder unternehme ich in der Auseinandersetzung mit zentralen Positionen des französischen Videokünstlers und Medientheoretikers Edmond Couchot. In seinem Text La mosaïque ordonneé ou l’ecran saisi par le calcul analysiert Couchot den Übergang vom (halb-)analogen Videobild zum digita- 8 lerischen Ausführung, Pinselstrich usw. Was hier für die Malerei gilt, trifft in abgewandelter Form auch auf Fotografie, Film oder elektronische Bilder zu. Zwar gibt es bei Fotografie oder Videobildern kein direktes Äquivalent zum Pinselstrich, aber dafür eine Vielzahl anderer Gestaltungsparameter, die durch die zur Verfügung stehende Technik realisiert werden können: etwa Kontrast und Körnigkeit durch Auswahl von Papier und Filmmaterial oder durch die Beeinflussung der Entwicklungsverfahren in der Fotografie; elektronische Bilder können u.a. Farbgestaltung und Oberflächenqualitäten durch Steuerung von Lumineszenz, Farbsättigung oder Manipulation des Bildaufbaus modulieren. Die Auffassung, dass digitale Bilder immateriell seien, hält sich selbst in phänomenologisch argumentierenden Bildtheorien mit zuweilen erstaunlicher Hartnäckigkeit. So geht beispielsweise Lambert Wiesing trotz seines phänomenologisch geprägten Ansatzes davon aus, dass »die Sichtbarkeit [...] im digitalen Bild keine Eigenschaften und keinen physikalischen Charakter« besitzt. Wiesing, Lambert (2000) Phänomene im Bild. München: Fink, S. 25. EINLEITUNG 13 len, numerischen Videobild.9 In der Auseinandersetzung mit Couchots Ansatz wird die Frage mit aufgerufen, ob die Digitalisierung von Video als mediengeschichtlicher ›Bruch‹ zu werten ist, oder ob nicht doch – entgegen der geläufigen Behauptung einer radikalen Dichotomie zwischen analog und digital – von einer Kontinuität des elektronischen Bildes auf einer grundsätzlichen Ebene ausgegangen werden muss. An dieser Frage hängen nicht zuletzt auch der Bildbegriff und die Definition des Videobildes, die hier in Stellung gebracht werden sollen. Die Öffnung des Intervalls Elektronische Bilder sind stets synthetische Bilder. Es sind Bilder, die in elektronischen Wellen und Impulsen codiert werden. Im Unterschied zu Ansätzen zum digitalen Bild, die dessen Berechenbarkeit und vermeintliche »Immaterialität« herausstellen, argumentiere ich im Anschluss an Lorenz Engells Theorie des Intervalls10 und Maurizio Lazzaratos Videophilosophie11 für einen wesentlich zeitlichen Charakter der (interaktiven) Videobilder. Videobilder, so die Leitthese, sind ihrem Wesen nach nicht zuerst optischer, sondern zeitlicher Natur. Man könnte in der Betonung dieses zeitlichen Charakters elektronischer Bilder einen Widerspruch zur oben aufgestellten Definition des Bildes als Sichtbarkeit vermuten. Tatsächlich ist es jedoch gerade, so die hier vertretene These, ein wesentliches Charakteristikum technischer Bilder, dass sie auf spezifische Weise Sichtbares und Unsichtbares miteinander in Verbindung bringen: Elektronische Bilder bestehen aus sichtbaren und nicht-sichtbaren Anteilen, da ihre zeitliche Prozessualität sich am stärksten in dem Bereich abspielt, den wir nicht, noch-nicht, oder nicht-mehr sehen: Im vorher und nachher des Sinneseindrucks, in der Apparatur und der elektronischen Verschaltung. Dieser unsichtbare Teil des Bildes ist aber kein Akzidenz, kein kontingenter Bestandteil, den man übergehen kann, will man nicht den Zugang zu den charakteristischen Eigenschaften dieser Bilder und ihrer Funktionsweise im Feld der Sichtbarkeit selbst verstellen. Auch wenn Videobilder flüchtig sind und wir die Prozesse nicht sehen, die zu ihrer Erzeugung gehören, wird das verzeitlichte elektronische Bild, im Sinne der hier vertretenen Bildkonzeption, erst für den Betrachter tatsächlich Bild. Dieser notwendige 9 10 11 Couchot, Edmond (1988) La mosaïque ordonneé: Ou l’écran saisi par le calcul. In: Vidéo. Hrsg. v. Anne-Marie Duguet & Raymond Bellour. Paris: Éditions du Seuil, S. 79-87. Engell, Lorenz (2000) Die Liquidation des Intervalls. Zur Entstehung des digitalen Bildes aus Zwischenraum und Zwischenzeit. In: Ausfahrt nach Babylon: Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur. Weimar: VDG, S. 183-206. Lazzarato, Maurizio (2002) Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus. Berlin: b_books. 14 DAS GEÖFFNETE INTERVALL Bezug zum Subjekt der Wahrnehmung, ohne dessen Aktivität das Bild kein Bild ist, akzentuiert zugleich die Oberflächlichkeit der Bilder. Das Videobild vom Intervall aus zu denken, eröffnet eine weitere Perspektive auf seine dialogischen und prozessualen Eigenschaften. Das ›Dazwischen‹ des Intervalls ermöglicht, in den Zwischenraum und die Zwischenzeit der Bilderzeugung transformativ einzugreifen. Dieses ›Dazwischen‹ für Veränderungen zu nutzen, bedeutet innerhalb der Transmission von Bildsignalen einen Spalt für den Benutzer zu öffnen. Durch das Intervall als einer Öffnung des Bildes für den Eingriff des Betrachters wird das Videobild anschlussfähig an körperliche, partizipative Praxen. Für Videospiele ist die Verschränkung von Wahrnehmungsprozessen mit der handelnden Aktivität des Körpers grundlegender Bestandteil ihrer Funktionsweise und Ästhetik. Doch wie lässt sich die Konstellation des Videospiels, in der Körper und Bild über Wahrnehmungsprozesse und Handlungen fortwährend in Austausch und Wechselbeziehung treten, vor dem Hintergrund der Zeitlichkeit von Video verstehen? Lazzarato entwickelt im Rückgriff auf die temporale Ontologie Henri Bergsons einen theoretischen Ansatz, Videotechnologien als »Zeitkristallisationsmaschinen« zu verstehen.12 Er geht davon aus, dass Videoapparaturen sich wesentlich durch ihre Fähigkeit auszeichnen, Zeit zu modulieren und zeitliche Prozesse in Wahrnehmungsprozesse zu transformieren. Sie sind in der Lage, Einschnitte im Kontinuum der »Zeitmaterie« vorzunehmen sowie Aktionen zu empfangen und zu verzögerten (Re-)Aktionen umzuformen.13 Die Funktionsweise von Video besteht demnach wesentlich in der Ansammlung und Erhaltung von Zeit und ist daher grundlegend mit Vorgängen von Wahrnehmung, Erinnerung und Gedächtnis zusammenzudenken. Lazzaratos Konzept von Video als Zeitkristallisationsmaschine hat im Diskurs über Videospiele bisher noch kaum Berücksichtigung gefunden. Genau für die Frage nach der Verschränkung von Körper und Bild, der Verschränkung von Wahrnehmungs- und Handlungsprozessen mit der Synthese und Transformation elektronischer Bilder, kann die Theorie der Zeitkristallisationsmaschinen jedoch ein wichtiger Ausgangspunkt sein. Über ihre Fähigkeit, Zeit zu modulieren und Wahrnehmungen anzuregen, spielen Videotechnologien eine Schlüsselrolle für die Wertschöpfungsprozesse innerhalb der zeitgenössischen ›Informationsökonomie‹. Sie sind auf besondere Weise an der fortwährenden »maschinischen Integration« beteiligt, die diese Ökonomie kennzeichnet, indem sie an der Herstellung, Formung, Zirkulation, Kontrolle und Reproduktion von Wissensströmen, Verhaltensweisen, Affekten, Wünschen und Einstellungen mitwirken.14 Dies tun sie insbesondere auch dadurch, dass sie an der ›Übersetzung‹ zwischen körperlichen Empfindungen und maschinisch synthetisierten Wahrnehmungen arbeiten so12 13 14 Lazzarato (2002), S. 13. Lazzarato (2002), S. 8. Lazzarato (2002), S. 133. EINLEITUNG 15 wie an der Codierung von Affekt- und Bedeutungsströmen. Weil sie sich an die Wahrnehmung, das Gedächtnis und die Erinnerung richten, sind sie auf komplexe Weise mit Prozessen von Subjektivierung verbunden. Die ›Aktivierung‹ des Körpers, die in Videospielen so deutlich als Bestandteil ihrer medialen Funktionsweise ausgeprägt ist, lässt sich ausgehend von Lazzarato als ein zentrales Element der Produktion von Subjektivierung denken, bezogen insbesondere auf die Fähigkeit der Zeitkristallisationsmaschinen, »affektive Kraft« zu produzieren und zu akkumulieren und so auf die Veränderung der wahrnehmenden Individuen einzuwirken.15 Video: Strukturwandel der Audiovisionen Von besonderem Interesse für eine Diskussion der partizipatorischen Einbindung des Betrachters sind Aspekte der Verwendung von Video in der frühen Videokunst. Auffällig ist, dass dort immer wieder Anordnungen für eine partizipatorische Einbindung des Betrachters konstruiert wurden, die bestimmte dynamische Körper-Bild-Beziehungen vorwegzunehmen scheinen, die später für Videospiele grundlegend werden. Im audiovisuellen Diskurs des vergangenen Jahrhunderts nimmt Video eine wichtige Rolle ein und zwar insbesondere im Kontext der weitreichenden Veränderungen der Distribution und Rezeption von Bildern, wie sie Siegfried Zielinski in seiner Studie Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte als das Ende des Duopols von Kino und Fernsehen beschrieben hat.16 Video kann nicht zuletzt durch seine Bedeutung für die ›Privatisierung‹ des Bilderkonsums, die schließlich in den individualisierten Bilderfolgen der Videospiele kulminiert, als eine Schlüsseltechnologie für das Verständnis veränderter kultureller Praxen im Umgang mit Bewegtbildern seit den 1970er Jahren aufgefasst werden. Die rückschauende Positionierung von Video im Zusammenhang kulturindustrieller Bilderdiskurse und deren Veränderungen, insbesondere in den 1970er Jahren durch das Aufbrechen des Fernsehdispositivs, eröffnet einen spezifischen Zugriff auf Video als Paradigma individuell verfügbarer Bewegtbilder. Dies ist auch gerade für die theoretische und geschichtliche Bedeutung der Videospiele relevant, die allzu oft unhinterfragt und wie selbstverständlich als digitale Artefakte betrachtet werden. Videospiele sind jedoch weit mehr als lediglich spezialisierte Computeranwendungen. Eine mediengeschichtliche Einordnung von Videospielen in den Kontext von Video lässt erkennen, dass nicht allein der Computer als Ausgangspunkt dieser Bild-Spielformen anzusehen ist. Nicht allein die Logik der Software und die Ästhetik von Computerinterfaces bestimmen die Entwicklung von Videospielen, sondern der gesamte Zusam15 16 Lazzarato (2002), S. 135. Zielinski, Siegfried (1989) Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 16 DAS GEÖFFNETE INTERVALL menhang der Audiovisionen. Dies zeigt sich darin, dass die Logik von Video kulturell erst auf der Stufe einer bestimmten Entwicklung der Dispositive von Kino und Fernsehen bedeutsam wird, zu deren Kennzeichen ebenso die weitgehende Sättigung der Haushalte mit Fernsehgeräten gehört, wie eine kulturelle Bewegung, die den individuellen Bilderkonsum unter bestimmten BedinBedingungen als besonderes Bedürfnis forciert. Der Begriff Video verweist im zeitgeschichtlichen und medialen Kontext der 1960er und 1970er Jahre auf den komplexen Strukturwandel der Audiovisionen, aus dem heraus das elektronische prozessuale Bild in die Verfügbarkeit des Betrachters kommt und diesen in bestimmten Video-Anordnungen mit einer neuen Rolle als Teilnehmer und User ausstattet: Sei es nun, dass er ›Hand an die Bilder legt‹, indem er die Tasten des Videorekorders bedient und so in die Zeitlichkeit des elektronischen Bildes eingreifen kann, sei es, dass er selbst Teil des Bildes wird, indem er in Closed Circuit-Anordnungen mit seinem Körper ins Bild tritt, oder aber dass er elektronische Bilder erzeugt und manipuliert durch Eingriff in die elektrischen Ströme des Videosignals und so die Synthetik und Prozessualität des Videobildes hervortreten lässt. Video, medienhistorisch betrachtet, steht für die Erschließung dieser neuen Praxen gegenüber dem elektronischen Bild. Der Begriff Videospiel erfährt dadurch eine medienhistorische Aufwertung, insofern in dem Kompositum Video/Spiel dieser spezifische historische Zusammenhang mit aufbewahrt und artikuliert wird. Wenn Videospiele rückblickend gleichsam von Beginn an auf die Video-Computer-Synthese zuzustreben scheinen, wird darin letztlich ihre Position an der Schnittstelle eines medienhistorischen Wandels nur umso deutlicher. Ihre doppelte Bezeichnung als Video- und Computerspiele ist Ausdruck einer eigentümlichen Zwischenstellung zwischen unterschiedlichen historischen Dispositiven. Was ontologisch und diskursgeschichtlich Video als mediales Arrangement definiert, findet sich verdichtet in der frühen Videokunst zum Ausdruck gebracht. Dies lässt sich insbesondere dort beobachten, wo ästhetische und technische Avantgarde mit sozialutopischen Ansätzen zusammentrifft.17 Seit den späten 50er Jahren, beginnend mit den Arbeiten Wolf Vostells, deutlicher noch dann in den Arbeiten Nam June Paiks in den frühen 1960er Jahren oder beispielhaft in Video-Feedback-Systemen, wie sie Dan Graham in den 1970er Jahren entworfen hat, werden die Möglichkeiten des elektronischen Bildes in dialogischen, heute würde man sagen »interaktiven« Anordnungen, mit analytischer Genauigkeit erkundet und erprobt. Video als Spiegel und Interface, als verzeitlichtes Bild und in Echtzeit transformierbar, nimmt strukturelle Eigenschaften späterer Videospiele vor17 Exemplarisch verdichtet ist die historische Verbindung von technischer Avantgarde und sozialutopischen Ansätzen in dem Videomagazin Radical Software nachzulesen, herausgegeben von Beryl Korot, Phyllis Gershuny und Ira Schneider in den USA ab 1970. Vgl. weiterführend das Online-Archiv von Radical Software (2003) Online: http://www.radicalsoftware.org (letzter Abruf 01. Juli 2014). EINLEITUNG 17 weg. Arbeiten wie beispielsweise Paiks PARTICIPATION TV von 1963 inszenieren das elektronische Bild als individuell manipulierbar und prozessual. Wie später in einer dezidierten Analyse von Dan Grahams OPPOSING MIRRORS AND VIDEO MONITORS ON TIME DELAY gezeigt werden wird, gibt es bemerkenswerte strukturelle Analogien zwischen Videobildern – in ihren Verwandlungen in der Videokunst – und typischen Anordnungen von Videospielen. Diese strukturellen Analogien können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Zusammenschau von Videokunst und Videospiel unterschiedliche Diskurse, Interessen und künstlerisch-ästhetische Strategien aufeinandertreffen. Die aufscheinenden Differenzen können einen Möglichkeitsraum sichtbar werden lassen, der zwischen dem liegt, was Videospiele sind und was sie hätten sein können – oder möglicherweise noch werden können. Der historische Zeitraum der 1970er Jahre ist in dieser Hinsicht ein Angelpunkt kontingenter Möglichkeiten der Aneignung elektronischer Bewegtbilder und die Videokunst der privilegierte Schauplatz der analytischen Sichtbarmachung dieser Potentiale. Formentwicklung im Videospiel Für die Untersuchung der Videospielästhetik im engeren Sinn ist es aus meiner Sicht sinnvoll, die Bedingungen der Formentwicklung von Videospielen theoretische zu reflektieren, um schließlich in einem zweiten Schritt Einzelanalysen ausgewählter Spiele vorzunehmen. Die Formentwicklung von Videospielen wird auf besondere Weise durch die Konnektivität und Modularität des Computers geprägt, durch die enge Wechselbeziehung mit anderen Medien, insbesondere Film, sowie durch spezifische Strategien immersiver Ästhetik. Durch den Computer werden sie anschlussfähig an die neuen Topologien und Infrastrukturen elektronisch vernetzter Kommunikation. In ihrer Interface-Ästhetik sind sie durch die Architektur des Computers als einem modularen System offen für variable, insbesondere taktile und gestische Schnittstellen. Zur Diskussion der intermedialen Relationen von Videospielen kann auf bestehende Konzepte der Intermedialitätsforschung zurückgegriffen werden, um die Mechanismen ästhetischer Bezugnahmen von Videospielen zu anderen Medienformen zu verstehen. Die fortwährende Erneuerung und Umgestaltung der technischen Infrastruktur von Videospielen sowie die dynamischen Veränderungen ihrer Ästhetik werfen jedoch darüber hinaus grundsätzliche Fragen nach der Beziehung von Formentwicklung und Medialität auf. Welche Konsequenzen haben die intermedialen Beziehungen von Videospielen für ihre historisch-genetische Entwicklung? Wie lässt sich die Rolle der intermedialen Relationen für ihre Konturierung als Medium theoretisch modellieren? Ein weiterer Aspekt, der für die Formentwicklung von Videospielen zentrale Bedeutung hat und eine eingehendere Diskussion erfordert, ist ihre immer- 18 DAS GEÖFFNETE INTERVALL sive Ästhetik. Auffällig ist, dass gerade die Ästhetik der Raumdarstellung, die als zentraler Bestandteil räumlich-visueller Immersionstechniken in Videospielen aufgefasst werden kann, vielfach auf Traditionen zurückgreift, die bereits in älteren Medien etabliert wurden. Das gilt für den ›Realismus‹ der Darstellung, ebenso wie für die Zentralperspektive, die hinsichtlich ihrer mathematischen Formalisierung als Modellfall einer ›Rationalisierung‹ des Raumes betrachtet werden kann. Im Kontext der intermedialen Formbildung von Videospielen kommt der Zentralperspektive darüber hinaus die Funktion eines ›intermedialen Scharniers‹ zu, das die wechselseitigen Bezugnahmen zwischen Film und Videospiel auf formaler Ebene stabilisiert. Neben der räumlich-visuellen Immersion ist ein zweiter Gesichtspunkt die Ästhetik sensomotorischer Immersion. Sensomotorische Immersion in Videospielen geht häufig einher mit Adressierung des Spielenden als ›Zentrum‹ des Spielgeschehens. Von besonderer Bedeutung sind hier unterschiedliche Controller und Bedienungskonventionen, weil sie die materiellen Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Bild und die sensomotorischen Übersetzungen zwischen Körper und Bild definieren. Die sensomotorische Immersion betrifft damit unmittelbar den Handlungsaspekt von Videospielen und die körperliche Einbindung der Spielenden. Die gängigen Formen der Synchronisierung von Körper und Bild, die für die Interface-Ästhetik von Videospielen als charakteristisch angesehen werden können, beruhen auf Steuerungslogiken, die systematisch audiovisuelle mit kinästhetischen und taktilen Wahrnehmungen in Bezug setzen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass die wechselseitige Verschränkung von VideobildTransformationen und Bewegungshandlungen eine Aktivierung des Körpers und seines sensomotorischen Gedächtnisses mit einschließt. Die Untersuchung von Wahrnehmungsprozessen sensomotorischer Immersion hängt vor diesem Hintergrund eng mit der Frage nach der Produktion von Subjektivierungen im Videospiel zusammen. Mich interessiert in dieser Hinsicht, wie eine Ästhetik sensomotorischer Immersion im Videospiel auf eine Intensivierung der Körper-Bild-Relation ausgerichtet wird. Hierfür spielen immersive Strategien wie Echtzeit und taktiles Feedback eine besondere Rolle, da mit deren Hilfe ein gemeinsamer Raum von Körper und Bild im Videospiel konstituiert wird. In der Feedback-Situation des Videospiels können die Grenzen zwischen leiblichen und technisch-vermittelten Wahrnehmungspositionen durchlässig werden. Die enge Verschränkung von Selbstwahrnehmung und Bildwahrnehmung im Videospiel lässt sich dann möglicherweise als eine Form hybrider Subjektivierung beschreiben. Als ein zentrales Merkmal dieser Form von Subjektivierung wäre die intensivierte Selbstwahrnehmung der Spielenden bei gleichzeitiger ›maschinischer Integration‹ anzusehen. EINLEITUNG 19 Fallanalysen/Kartografien Eine Untersuchung der allgemeinen Struktur sensomotorischer Immersion kann die Bedingungen intensiver Wahrnehmungsprozesse benennen. Erst eine konkrete Analyse unterschiedlicher Spielformen und Interface-Ästhetiken ermöglicht jedoch, die Ausgestaltung der Körper-Bild-Relationen in Videospielen zu diskutieren. Die Analyse von Videospielen und ihrer besonderen ästhetischen Merkmale ist allerdings ein schwieriges Unterfangen. Die Vielfalt an unterschiedlichen Spielen und die sich in ständiger Veränderung befindliche Formentwicklung von Videospielen lassen nur unter besonderen Bedingungen verallgemeinernde Schlussfolgerungen zu. Zudem bedingt die variable Prozessualität von Spielverläufen, dass es für ein einzelnes Spiel eine Vielzahl unterschiedlicher performativer Realisierungen geben kann. Die Einzelanalysen ausgewählter Spiele, die im letzten Drittel dieser Studie zu finden sind, konzentrieren sich auf Formen der intensiven Verschränkungen von Körper und Bild im Videospiel. Dabei geht es nicht nur um eine Analyse der Interface-Ästhetik von Videospielen, wie sie für ästhetische Strategien der Immersion relevant ist, sondern weitergehend auch um eine Berücksichtigung der Videospielsituationen als spezifischen Konstellationen für zeitliche Prozesse des Zusammentreffens von Körper und Bild. Aufgrund der Vielfalt unterschiedlicher Spiele kann das Ziel einer solchen Analyse nicht in der Erstellung einer allgemeinen Typologie bestehen. Stattdessen werden bestimmte prägnante ästhetische Formen analytisch herauspräpariert, die zu einer ›Kartografierung‹ von Videospielen beitragen können. Welche unterschiedlichen Ausprägungen des Intervalls können vorgefunden werden? Wie werden Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung in verschiedenen Spielen und Spielsituationen spezifisch ›komponiert‹? Welche Spielräume hybrider Subjektivierung werden in Videospielen vorkonfiguriert, beispielsweise in den kinästhetischen Ordnungen von Kampfsportspielen, in den affektiv aufgeladenen Situationen im Horrorgenre oder in den synästhetischen Rhythmusdispositiven von Tanzspielen? Um die unterschiedlichen Transformationen des videologischen Intervalls zu beschreiben, die in den jeweiligen Spielen beobachtet werden können, greife ich auf die Taxonomie von Bildtypen zurück, die Gilles Deleuze im Kontext seiner Kinotheorie entworfen hat.18 Entscheidend für die Möglichkeit der Übersetzung dieser Taxonomie auf Videospiele ist der enge Bezug der von Deleuze entwickelten Filmtheorie zur Zeit- und Bildphilosophie Bergsons. Es geht daher weniger um eine direkte Anwendung filmtheoretischer Begriffe auf eine andere mediale Konstellation, sondern um den Anschluss an eine bildtheoretische Konzeption, die geeignet ist, die Körper-Bild-Relation von Videospielen mit einer temporalen Ontologie des Videobildes in Bezug zu setzen. 18 Vgl. Deleuze, Gilles (1997) Das Bewegungs-Bild: Kino 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp sowie Deleuze, Gilles (1997a) Das Zeit-Bild: Kino 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp. 20 DAS GEÖFFNETE INTERVALL Dass die maßgeblichen Begriffe, die für die Einzelanalysen herangezogen werden – Bewegungs-Bild, Aktionsbild, Affektbild und Zeit-Bild – dabei gegenüber ihrer filmwissenschaftlichen Verwendung eine Bedeutungsverschiebung erfahren, ist notwendig und unvermeidlich. I. ZUR BILDTHEORIE ELEKTRONISCHER BILDER »Sieht man sich die technischen Bilder näher an, so erweist sich, daß sie überhaupt keine Bilder sind, sondern Symptome von chemischen oder elektronischen Prozessen.« (Vilém Flusser, Ins Universum der technischen Bilder.)19 »Wir werden also im Übergang [...] zu den Synthesebildern andere Verkettungen und andere Brüche aufspüren als die theoretische Tradition, die im Übergang vom Analogen (Eindruck des Lichts auf einem Träger) zum Digitalen (Produktion des Bildes durch eine Sprache) einen paradigmatischen Bruch sieht.« (Maurizio Lazzarato, Videophilosophie.)20 Der akademische Diskurs seit Ende der 1980er hat sich darum bemüht, die Veränderungen der Erscheinungsformen und des Umgangs mit Bildern im Zusammenhang der Digitalisierung zu verstehen und theoretisch zu fassen. Da der Wandel stets im Vordergrund stand, sind aber beinahe zwangsläufig die Kontinuitäten an den Rand gerückt worden. Die Aufmerksamkeit für die Eigenschaften von elektronischen Bildern und den neuen Möglichkeiten ihrer Handhabung und Ästhetik durch die Vernetzung mit immer leistungsfähigeren Computern kulminierte schließlich in der These eines paradigmatischen Bruchs, der einschneidenden Diskontinuität, die in der Entgegensetzung von digitalem und analogem Bild ihre radikalisierte Zuspitzung fand. Im Unterschied zur verbreiteten Auffassung eines mediengeschichtlichen und ästhetischen Bruchs, der am Auftauchen der sogenannten ›digitalen Bilder‹ festzumachen wäre, vertrete ich hier die These einer weitreichenden Kontinuität: Digitale und analoge Bilder sind durch eine Vielzahl gemeinsamer Kennzeichen miteinander verbunden und sie folgen weitgehend einer gemeinsamen Logik. Beide, so mein Vorschlag, sollten nicht als Gegensätze einander gegenübergestellt werden, sondern können als unterschiedliche Realisierungen elektronischer Bildlichkeit verstanden werden. Der Gewinn einer solchen Perspektive kann natürlich nicht darin bestehen, sinnvolle Unterscheidungen zu19 20 Flusser (1999), S. 40. Lazzarato, Maurizio (2002) Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus. Berlin: b_books. S. 16. 22 BILDTHEORIE ELEKTRONISCHER BILDER rückzunehmen, die in den Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte einen Zuwachs an Differenzierung und Bewusstheit gegenüber den ästhetischen Eigenschaften unterschiedlicher Realisationen elektronischer Bilder erbracht haben. Allerdings hat der Wille zur Differenzierung, schon aus rhetorischen Gründen, nämlich um Aufmerksamkeit für das ›Neue‹ des beschleunigten medialen Technologisierungsschubs unter dem Vorzeichen der Digitalisierung zu erreichen, das Trennende häufig überbetont. Das Videobild, das elektronische Fernsehbild und die ›neuen‹ Bilder, die auf den Videomonitoren mit Hilfe von in Mega- und Gigahertz getakteten digitalen Bildgeneratoren sichtbar werden, sie alle – so meine These – können gemeinsam als synthetische technische Bilder verstanden werden. Es sind Bilder, die sich aus der zeitlichen Synchronisierung vereinzelter Bildsignale zusammensetzen und ihre wesentlichen Eigenschaften der Prozessualität und Manipulierbarkeit miteinander teilen. Diese gemeinsame Basis von Fernseh-, Video- und Computerbildern medientheoretisch zu rekonstruieren ist das Vorhaben dieses Kapitels. Im Folgenden geht es zunächst um die Konturierung einer medienwissenschaftlichen Perspektive auf das elektronische Bild: Wie wird Sichtbarkeit technisch erzeugt und welche ästhetischen Eigenschaften lassen sich daraus möglicherweise ableiten oder sind medienhistorisch und -praktisch damit verbunden? Grundbedingungen elektronischer Bilderzeugung Grundsätzlich scheint zu gelten, dass die Funktionsweise elektronischer Bilder als eine Abfolge von Bildabtastung, Bildzerlegung, Codierung, Übertragung, Speicherung, Decodierung und Bildprojektion beschrieben werden kann. Je nachdem, welche Verwendungsweise die elektronischen Bilder erfahren, können manche Phasen auch mehrfach wiederholt oder ineinander verschachtelt werden, es können aber auch ganze Phasen völlig entfallen. Wenn dabei das Videobild im Singular aufgerufen werden soll, ist damit eine bestimmte Ebene der Abstraktion angezeigt, die sich nicht auf das einzelne, konkrete Bildereignis oder Ereignisfolgen bezieht, sondern auf gewisse fundamentale Eigenschaften abhebt, die allen konkreten Videobildern theoretisch zugrunde liegen. Zu fragen ist nach den spezifischen Eigenschaften, die als Möglichkeit in den Funktionsweisen der videologischen Bildproduktion angelegt sind. Das heißt, es wird um die Frage nach einer Ontologie des Videobildes gehen. Soweit wir es mit den Eigenschaften von Bildern zu tun haben, die zu ihrer Herstellung an technische Apparate gebunden sind, ist es nötig, auf die grundlegenden technischen Funktionsweisen elektronischer Bilderzeugung einzugehen. Zwar lassen sich Videobilder nicht allein über technische Verfahren definieren (die zudem auf der Geräteseite fortwährenden Modifikationen unterliegen), jedoch kann keine Diskussion über videologische Bildproduktion VERZEITLICHTE BILDER 23 die technische Basis – zumindest im Hinblick auf elementare Funktionsweisen – völlig vernachlässigen, soweit es ihr um die Definition ihres Gegenstandes geht. Videobilder, so die hier verfolgte These, unterscheiden sich von anderen Bildtypen auch gerade dadurch, dass es sich um verzeitlichte Bilder handelt, um eine Bildlichkeit, die in der zeitlich-prozessualen Organisation von Signalen begründet liegt. Das Prinzip der Nipkow-Scheibe | 1884 Am 06. Januar 1884 wird durch den jungen Techniker Paul Nipkow ein »Elektrisches Teleskop« zum Patent angemeldet. Die in der Patentschrift beschriebene sogenannte ›Nipkow-Scheibe‹ gilt als klassisches Beispiel für die Grundlagen elektronischer Bildtechnik und wird regelmäßig als ein wichtiger Ausgangspunkt der Fernsehgeschichte genannt.21 Mediengeschichtlich kann sie als Ergebnis einer »kollektiven Dynamik« verstanden werden, hervorgegangen aus einem kulturellen ›Milieu‹ der Fernseherfindung gegen Ende des 19. Jahrhunderts, das durch eine zunehmende Elektrizitätsbegeisterung, ›Erfinder-Wettstreite‹ und die Popularisierung utopischer Ideen geprägt ist.22 Entscheidend für die technische Funktionsweise des »Elektrischen Teleskops« ist die Kombination einer mechanischen Vorrichtung für die Zerlegung von Bildern mit der Umwandlung von Lichtwerten in Stromwerte mit Hilfe einer in den Stromkreis eingeschalteten lichtempfindlichen Selenzelle. Die Nipkow-Scheibe ermöglicht, Bilder mittels eines einfachen mechanischen Prinzips zeilenweise zu analysieren und mit Hilfe des gleichen Prinzips bei der Wiedergabe zeilenweise wieder zusammenzusetzen. Auf einer NipkowScheibe sind Löcher angebracht, die in immer geringeren Abständen zur Mittelachse der Scheibe spiralförmig angeordnet sind. Jedes dieser Löcher dient als Lochblende für die dahinter liegende Selenzelle. Die Abtastung des Bildfeldes erfolgt durch Rotation der Scheibe, wobei jedes Loch in der Bewegung die Lichtwerte einer Bildzeile abtastet (zeilenweise Aufrasterung). Der Ab21 22 Nipkows Patentschrift gingen bereits andere Verfahren der elektrischen Bildzerlegung und -übertragung voraus, beispielsweise die Kopiertelegrafen Alexander Bains und F.C. Bakewells. Tatsächlich kennt die Fernsehgeschichtsschreibung eine Vielzahl von Erfindungen, die zur Entwicklung der technologischen Grundlagen des Fernsehens beitrugen. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gibt es einen regelrechten Wettstreit unter Wissenschaftlern und Erfindern um die elektronische Bildtechnik. Raatschen, Heinrich (2005) Die technische und kulturelle Erfindung des Fernsehens in den Jahren 1877-1882. Dissertation, Universität Düsseldorf. Online: urn:nbn:de:hbz:06120060128-001303-1, S. 48. Raatschen stellt die Bedeutung des kulturellen Milieus der Fernseherfindung heraus und weist auf die grundlegende Verschränkung von Kultur- und Technikgeschichte hin. Die ›Erfindung‹ des Fernsehens kann Raatschen zufolge, und damit zieht er den Schluss aus einer Reihe aktueller Studien zu Fernsehgeschichte, nicht auf einen einzelnen Kraftakt erfinderischer Genialität zurückgeführt werden, sondern muss vielmehr als Ergebnis einer »kollektiven Dynamik« (ebd., S. 48) verstanden werden. 24 BILDTHEORIE ELEKTRONISCHER BILDER stand der Löcher zueinander definiert die Größe des Bildfeldes der Abtastung. Das äußerste Loch liefert die erste Zeile. Sobald es das Bildfeld durchmessen hat, erreicht das nächste, auf der Scheibe weiter innen liegende Loch den Anfang der darunter liegenden Bildzeile. Die Zeilenauflösung erfolgt also in einem streng geordneten zeitlichen Nacheinander, Zeile für Zeile ohne Überlappung (Zeilensprung). Mit jeder vollständigen Scheibenumdrehung wird das Bildfeld genau einmal abgetastet. Je schneller also die Scheibe rotiert, desto hoher ist die Bildwiederholfrequenz. Je mehr Löcher auf einer Scheibe angebracht sind, desto höher ist die Zeilenfrequenz und damit die Feinheit der ›Auflösung‹ des Bildes. Die Abtastung des Bildes verbindet sich mit dessen Zerlegung und Codierung. Den Umstand, dass das einzelne Bild somit aus diskreten Bausteinen zusammengesetzt wird, greift Marshall McLuhan später auf, wenn er das elektrische Bild mit einem Mosaik vergleicht. In der diskreten Punktabtastung vermutet er eine Präfiguration digitaler Codierung.23 Bemerkenswerterweise beschreibt schon Nipkow selbst sein Verfahren in Analogie zur Bauweise eines Mosaiks: Ueber das Wesen dieser Aufgaben [der Übertragung eines Lichtbildes, SW] kann man sich am besten klar werden, wenn man das wiederzugebende Bild sich vorstellt als ein aus gleich großen Steinen zusammengesetztes Mosaik. Soll ein solches Mosaik etwa kopirt [sic] werden, so wird man naturgemäß die Farbe der Steine im Originale der Reihe nach feststellen und ähnliche Steine in derselben Reihenfolge in einen für die Kopie bestimmten Rahmen legen.24 Ein entscheidendes Element in der Nipkow’schen Apparatur ist die für die opto-elektrische Wandlung verwendete Selenzelle. Sie soll als lichtabhängiger Widerstand dienen, mit dessen Hilfe eine angelegte Stromstärke abhängig von der Lichtintensität variiert werden kann.25 Das Bild wird auf diese Weise auch gewissermaßen in ein Mosaik zerlegt; in jedem Momente wird ein Feld von der Größe des Fensters auf seine Beleuchtung bezw. Leitungsfähigkeit durch das in den Stromkreis des Empfängers eingeschaltete Selen geprüft und der Befund registrirt.26 Unterschiedliche Lichtintensitäten werden somit in Grade von Stromstärken übersetzbar, so dass der Strom zum Träger eines Bild- oder Videosignals werden kann. Auf der Wiedergabeseite wird eine zweite Nipkow-Scheibe benötigt. Damit der gewünschte Bildeindruck entstehen kann, müssen sich beide 23 24 25 26 Vgl. McLuhan, Marshall (1995) Die magischen Kanäle: Understanding Media. (2. erw. Aufl.) Dresden; Basel: Verlag der Kunst, S. 378f. Nipkow, Paul (1885) Der Telephotograph und das elektrische Teleskop. In: Elektrotechnische Zeitschrift, 1885, 6, S. 419-425, hier: S. 419. Die Selenzelle fungiert hier also nicht wie die gleichnamige Selenzelle, die beispielsweise zur Belichtungsmessung bei Fotoapparaten eingesetzt werden kann, und bei der durch Lichteinfall elektrische Spannung erzeugt wird. Nipkow (1885), S. 420. VERZEITLICHTE BILDER 25 Scheiben mit der gleichen Geschwindigkeit drehen.27 Der Betrachter blickt durch die punktierte Nipkow-Scheibe auf eine dahinter liegende Glimmlampe, deren Lichtintensität fortwährend durch das elektrische Videosignal gesteuert wird (elektro-optische Wandlung). Die einzelnen Lichtpunkte der rotierenden Nipkow-Scheibe umschreiben so zeilenweise die Helligkeitsverteilung des zuvor abgetasteten Bildes. Abbildung 1: Darstellung der NipkowScheibe in der Patentschrift von 1884. 27 Für eine technisch korrekte Bildwiedergabe sind darüber hinaus noch weitere Bedingungen maßgeblich, wie etwa die Phasendrehung der beiden Scheiben. Ich beschränke mich an dieser Stelle darauf, lediglich das grundsätzliche Funktionsprinzip darzustellen. 26 BILDTHEORIE ELEKTRONISCHER BILDER Eine bemerkenswerte Besonderheit ist, dass das Nipkow’sche »Elektrische Teleskop« in der Konzeption wie sie von Nipkow formuliert wird, die Bilder nicht mit Hilfe eines Bildschirms zur Erscheinung bringt. Vielmehr soll der bewegte Leuchtfleck dem Betrachter im Zeilensprung direkt auf die Netzhaut gemalt werden. Nipkow geht davon aus, dass, bedingt unter anderem durch die Trägheit des Auges, einem Betrachter das Zeilenflimmern als eine zusammenhängende Bildfläche erscheinen muss. [D]as nicht mehr ganz durch S ausgelöschte Licht dringt durch die gleichnamige Oeffnung der Scheibe T1 in das Auge V. So oft also eine Oeffnung der Scheibe T auf eine Lichtstelle des von G gelieferten Bildes trifft, sieht auch das Auge V Lichtpunkte, und zwar ganz an den entsprechenden Stellen seines Gesichtsfeldes; da es nun aber einen momentanen Lichteindruck 0,1 bis 0,5 Secunden empfindet, so sieht es nicht die Punkte nach einander, sondern neben einander, also ein einheitliches Bild, wenn beide Scheiben in 0,1 Secunde eine Umdrehung vollenden.28 Mit der Nipkow-Scheibe können Bilder zerlegt und an einem anderen Ort mittels einer gleichgearteten und synchron geschalteten Nipkow-Scheibe wieder zusammengesetzt werden. Entscheidender Unterschied zu anderen Verfahren jener Zeit ist die Möglichkeit zur Übertragung von bewegten Bildern über Distanzen. Wie die Medienwissenschaftlerin Birgit Schneider allerdings anmerkt, ist die Verwendung der Erfindung für die Wiedergabe bewegter Bilder in der Patentschrift an keiner Stelle erwähnt. Tatsächlich beschreibt Paul Nipkow in dieser Schrift ausdrücklich die mögliche Nutzung im Sinne eines »Pan- oder Copirtelegraphen«.29 Damit wird deutlich, wie sehr die Funktionsweise der Nipkow-Scheibe noch in der Tradition der Bildtelegrafie konzipiert ist. An anderer Stelle weist Nipkow jedoch dezidiert auch auf die Verwendung seiner Apparatur zur Übertragung von Bewegtbildern hin, und zwar 1885, ein Jahr nach der Patentanmeldung des »Elektrischen Teleskops«, in einem Auf28 29 Nipkow, Paul (1885a) Elektrisches Teleskop. Berlin: Kaiserliches Patentamt Patentschrift N° 30105 Klasse 21: Elektrische Apparate, S. 2. Die Begründung Nipkows an dieser Stelle bezieht sich auf die Dauer eines Lichteindrucks und ist vor dem Hintergrund chronometrischer Wahrnehmungsstudien zu verstehen. Als physiologischer Effekt beschreibt der Nachbildeffekt die Dauer des Abklingens eines Lichtreizes auf der Netzhaut. Dass Nipkow in seiner Patentanmeldung auf die zeitliche Dauer dieses Effekts in exakten Bruchteilen einer Sekunde Bezug nimmt, hängt damit zusammen, dass im 19. Jahrhundert bereits eine intensive Forschung zu diesem Phänomen stattgefunden hatte. Vgl. hierzu etwa exemplarisch den Beitrag von Emsmann, H. (1854) Über die Dauer des Lichteindrucks. In: Annalen der Physik, 167, S. 611-618. (Online: http://www.weltderphysik.de/intern/upload/annalen_der_physik/1854 /Band_167_611.pdf). Auffallend ist hierbei die Ähnlichkeit der bei Emsmann beschriebenen rotierenden Scheiben als Bestandteile der Versuchsapparate zur Vermessung der Dauer des Lichteindrucks und der Nipkow’schen Scheibe. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Nipkow Emsmanns Beitrag gekannt hat, belegt ist dies allerdings nicht. Vgl. Schneider, Birgit (2002) Die Kunstseidenen Mädchen. Test- und Leitbilder des frühen Fernsehens. In: 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien. Hrsg. v. Stefan Andriopoulos und Bernhard J. Dotzler. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 54-79, hier: S. 67f. sowie Nipkow (1885a), S. 4. VERZEITLICHTE BILDER 27 satz für die Elektrotechnische Zeitschrift mit dem Titel Der Telephotograph und das elektrische Teleskop. Dort kritisiert er die bestehenden Apparate nach dem Modell des »Kopirtelegraphen«, weil durch diese »nur immer gerade ein Bild, nicht etwa die Umrisse eines körperlichen Gegenstandes unmittelbar, geschweige denn etwaige Bewegungen desselben, übertragen werden konnten«, so dass diese »ihrem ganzen Wesen nach als unfertig erscheinen«.30 Demgegenüber stellt er die Möglichkeit seines elektrischen Teleskops als Vorzug heraus, bewegte Bilder zu übertragen: Der Telephotograph liefert aber als ein Zwischenprodukt intermittirende Ströme, deren wir nach dem oben Gesagten nur bedürfen, um ein Lichtbild zu konstruiren. Damit wären wir in der That schon bei dem ›elektrischen Teleskop‹ angelangt, denn nach der Einführung des Telephotographen in den zuletzt entwickelten Plan genügt die ganze Gedankenfolge auch der Forderung, daß es möglich sein muß, Bewegungen der gesehenen Objekte zu verfolgen, wovon man sich sofort überzeugt, wenn man erwägt, daß das zweite, dritte u. s. w. auf der Netzhaut photographirte [sic] Bild dem ersten durchaus nicht zu gleichen braucht, daß aber eine Reihe von schnell auf einander folgenden Bildern, deren jedes dasselbe Objekt in etwas anderer Lage zeigt, dem Beobachter die Vorstellung erweckt, als sehe er eine kontinuirliche Bewegung (auf demselben Prinzip beruhen die stroboskopischen Scheiben).31 Im Zusammenhang dieser Überlegungen zur Möglichkeit, Eindrücke von Bewegung beim Betrachter zu erzeugen, vergleicht Nipkow das menschliche Auge mit einer Fotokamera, und verwendet diese fotografische Metapher, um die Funktionsweise seiner Erfindung zu erläutern. Wie aus seinem Text zu erkennen, ist er sich sehr bewusst darüber, dass seine Apparatur keine ›Bilder‹ im Wortsinne überträgt, sondern vielmehr zeitlich geordnete Lichtimpulse, von deren Synchronisierung mit der menschlichen Wahrnehmungsleistung es allein abhängt, ob tatsächlich eine »Vorstellung« von Bildern und Bewegung erzeugt werden kann. [E]in, wie uns scheint, theoretisch hochinteressanter Gedanke aber ist es, als photographische Kamera in diesem Falle das Auge selbst in Anspruch zu nehmen und die einzelnen Lichtstöße auf der Netzhaut zu photographiren [sic]. Der sogenannte Sehpurpur ist in der That ein lichtempfindliches Material, wie das Brom und Jodsilber auch, für den weiteren Verlauf unserer Entwickelung aber bietet er noch den unschätzbaren Vortheil, daß das Photogramm auf demselben nur eine sehr kurze Dauer hat und nach 0,1 bis 0,5 Sekunden wieder verschwindet. Da nun von dem Vorhandensein dieses Photogrammes die Perzeption eines Lichteindruckes durch das Bewußtsein abhängt, derselbe auch während der gan30 31 Nipkow (1885), S. 419. Nipkow (1885), S. 421. Während im 19. Jahrhundert Bewegungssehen häufig mit der ›Trägheit‹ des Auges in Verbindung mit dem sogenannten Stroboskopeffekt erklärt wurde, führen Erkenntnisse der Gestaltpsychologie und neurophysiologische Forschungen später zu einer differenzierteren Beschreibung der konstruktiven Wahrnehmungsleistung des Bewegungssehend, bei der vor allem die ›Trägheit‹ des Auges nicht mehr als entscheidender Faktor angesehen wird. Vgl. zum Bewegungssehen auch Anm. 34. 28 BILDTHEORIE ELEKTRONISCHER BILDER zen Dauer des Photogrammes empfunden wird, so wird, wenn man in einem Zehntheile einer Sekunde sämmtliche Felder des Originalmosaiks, natürlich jedes Feld an der ihm zukommenden Stelle, photographirt, das Bewußtein aus dieser Reihe von Photogrammen die Vorstellung eines einheitlichen Bildes gewinnen. Hat man nun den Geber des Kopirtelegraphen [sic] zweckmäßig eingerichtet, so kann man das Bild, sobald es vermöge der oben erwähnten Eigenschaft des Sehpurpurs anfängt zu verschwinden, in derselben Weise von Neuem photographiren und so dem Beobachter die Vorstellung eines bleibenden Bildes erwecken, während man ihm doch nichts zuführt als wiederkehrende, nach derselben Formel intermittirende Lichtstrahlen.32 Die Funktionsweise des Nipkow’schen Apparats macht sich zunutze, dass die Möglichkeit der zusammenhängenden visuellen Wahrnehmung grundsätzlich von der Fähigkeit eines Betrachters abhängt, Sinneseindrücke zu einem Zusammenhang, einer Gestalt beziehungsweise einem ›Bild‹ zu synthetisieren. Der Aspekt der ›Trägheit des Auges‹, der dabei so zentrale Bedeutung erlangt, bezieht sich auf einen zeitlichen Parameter, der die Schwelle umschreibt, bei der die Fähigkeit zur Diskriminierung einzelner Bildeindrücke unterlaufen wird, und zwar derart, dass die separaten Lichtpunkte nicht mehr als einzelne Eindrücke wahrgenommen werden können, sondern als zusammengesetzte erscheinen. Die Funktionsweise des Apparats ist in dieser Hinsicht über zeitliche Parameter mit den physiologischen Eigenschaften menschlicher Wahrnehmung synchronisiert. Oder anders formuliert: Die menschliche Wahrnehmung ist als Möglichkeitsbedingung des Bildes in Nipkows Plan für das elektrische Teleskop mit eingegangen, und zwar als Parameter zeitlicher Synchronisierung beziehungsweise Verschaltung mit der bildgebenden Maschine. Was die Nipkow-Scheiben übertragen, sind selbst überhaupt keine ›Bilder‹ im herkömmlichen Sinn, insofern der Ausdruck ›Bild‹ eine flächige Darstellung bezeichnen soll, sondern lediglich Lichtpunkte als Signalfolgen, die auf die Netzhaut gemalt werden – die Synthese dieser Lichteindrücke zum ›Bild‹ erfolgt erst in der Wahrnehmung der adressierten Subjekte. Elektro-Optische Transkription im Präsens Die Nipkow-Scheibe kann in ihrer prinzipiellen Funktionsweise als einer von mehreren möglichen Modellfällen des elektronischen Bildes angesehen werden. Die technikgeschichtliche Relevanz der Erfindung ist dagegen vermutlich eher gering einzuschätzen, was mit der vergleichsweise schwerfälligen Mechanik zusammenhängen mag. So unterscheidet sich die spätere Technik des Fernsehens in vielen Aspekten von der Nipkow’schen Erfindung, beispielsweise ist die Aufrasterung mittels einer Lochscheibe durch elektronische Ver- 32 Nipkow (1885), S. 421.