1585 - Business Journal Deutsche Börse Group

Transcription

1585 - Business Journal Deutsche Börse Group
CORPORATE & INVESTMENT BANKING
I
ASSET MANAGEMENT
I
PRIVATE WEALTH MANAGEMENT
I
PRIVAT- UND GESCHÄFTSKUNDEN
Made in Germany.
Ihr Zugang zu den wichtigsten
Märkten der Welt.
Als eine der weltweit führenden Banken geben wir Ihnen die Stärke und
die Kompetenz, um für die Märkte der Welt gerüstet zu sein. Wir sind auf
der ganzen Welt zu Hause – auch an der Wall Street in New York.
Erwarten Sie die bessere Lösung.
www.deutsche-bank.de
Bank
of the
Year
2005
01/ 06
Die Deutsche Bank teilt Ihre Leidenschaft mit deutschen Produkten und
Dienstleistungen neue Wege zu gehen und die Chancen in ausländischen
Märkten aktiv zu nutzen.
5 Euro
Sie haben viel vor. Mit Ihren Ideen, Ihren Produkten, Ihren Investments,
Ihrem Unternehmen.
1585
Business Journal Deutsche Börse Group
Vertrauen
• An Märkten • Zwischen Menschen • Im Weltall
Vorsprung durch Technik www.audi.de/q7globe
Vom Erfinder des quattro®
Der Audi Q7. Mehr Fahrspaß mit
quattro und adaptive air suspension.
Neue Kraft entsteht – denn im Audi Q7 stecken die Gene jener Autos, die mit quattro
Rennsportgeschichte geschrieben haben. Ihre legendäre Überlegenheit bringt der
Audi Q7 jetzt auf die Straße. Und noch mehr: Durch das Zusammenspiel von herausragenden Audi Technologien setzt er neue Maßstäbe in seiner Klasse. Zum Beispiel
auf Wunsch mit adaptive air suspension: einer Luftfederung, die sich an verschiedene
Situationen anpassen lässt und so die Fahrdynamik steigert. Gemeinsam mit quattro
eine Kombination für mehr Fahrspaß.
Ab sofort bei Ihrem Audi Partner.
1585 AUSGABE 01/06
1585
3
Vertrauen
Ohne den Faktor Vertrauen würden Waren- und Finanzmärkte
nicht existieren. Auch die Gruppe Deutsche Börse ist nur erfolgreich, wenn uns unsere Kunden Vertrauen entgegenbringen.
Grund genug für die Redaktion von „1585“, die erste Ausgabe
diesem zentralen Thema zu widmen. Die Verantwortung für die
Bildsprache haben wir in vertrauenswürdige Hände gelegt: Der
Berliner Fotograf Sebastian Pfütze, Jahrgang 1970, hat alle Bildideen dieser Ausgabe entwickelt und umgesetzt. Seine Erfahrungen haben mit Vertrauen zu tun: „Ich hatte ungewöhnlich große
Freiheiten. Die Verantwortung und Chance, ein ganzes Heft zu
bebildern, ist etwas Besonderes.“
06 FEATURE
14 REPORT
26 GUIDE
32 PORTRAIT
Ökonomie des Vertrauens
Adieu, Homo oeconomicus!
Moderne Wissenschaftler
beweisen, dass Menschen
selbstloser sind als bisher vermutet. Das revolutioniert
nicht nur die Wirtschaftswissenschaft, sondern auch die
Waren- und Finanzmärkte.
Die Wächter der Märkte
Kapitalmärkte funktionieren
nicht allein auf Vertrauensbasis. Doch wie viel Regulierung muss sein – und wann
wird eine allzu strenge Finanzaufsicht schädlich? Die
Debatte darüber beginnt gerade erst.
Schnelle Stadt, alte Werte
Blitzgescheite Köpfe wie
Christopher Morris, Manager
bei Saxon Financials, machen
London zum Finanzmekka Europas. „1585“ besuchte ihn in
Großbritanniens Hauptstadt –
ein (Stadt-)Porträt mit
attraktivem Gewinnspiel.
Der Himmelsstürmer
Voraussichtlich im Juli dieses
Jahres fliegt Thomas Reiter
für ein halbes Jahr zur Raumstation ISS ins Weltall. Team
und Technik sind wichtig.
Doch am Ende kommt es für
Reiter nur auf eines an: das
Vertrauen in die eigene Kraft.
04
12
20
22
30
38
NEWS /IMPRESSUM
KOLUMNE Anthony Hilton über Corporate Governance
INTERVIEW Jochen Sanio über das richtige Maß an Regulierung
DOSSIER Die Magie der Marke Nokia
REVIEW Die mühevolle Vertrauensarbeit eines Referees
FOTOSTORY Robert Adams, Gewinner des Deutsche Börse Photography Prize
4
1585 AUSGABE 01/06
1
NEWS
2
3
1. MODERNE OTHELLOS Beim Thema Liebe und Ei-
3. VERTRAUENSWÜRDIGSTER SCHWEIZER Die
fersucht sind die vermeintlich kühlen Schweden heißblütig. Nach
meisten Europäer vertrauen am stärksten ihrem Staatsoberhaupt,
einer aktuellen Umfrage eines schwedischen Mobilfunkanbieters spio-
aber auch der Papst, Tennisspieler und Naturforscher setzten sich
nieren etwa zwei Drittel der Schweden regelmäßig das Handy ihres
durch. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „Reader’s Digest Eu-
Partners aus und lesen dessen SMS. 25 Prozent der Befragten ge-
ropean Trusted Brands 2006“. Zum sechsten Mal hat das Magazin
ben zu, dabei von Eifersucht getrieben zu sein. Jeder zweite Handy-
„Das Beste / Reader’s Digest“ in der europaweit größten repräsenta-
Schnüffler schnappt sich das Mobiltelefon des Partners, wenn die-
tiven Konsumentenstudie die vertrauenswürdigsten Institutionen,
ser gerade unter der Dusche oder auf der Toilette ist. Besonders groß
Marken und Personen in 14 Ländern Europas ermittelt (siehe dazu
ist das Interesse an empfangenen und versendeten SMS des Lebens-
den Beitrag ab Seite 22). In jedem Land außer Großbritannien konn-
partners, wenn er oder sie zuvor alleine in der Kneipe oder im Res-
ten die Befragten nur eine vertrauenswürdige Person benennen.
taurant war. Gleichzeitig ergab die Studie auch, dass 86 Prozent der
Einige Ergebnisse: 43 Prozent der Russen stimmten für Staats- und
Schweden schon einmal einen Flirt per SMS hatten.
Regierungschef Wladimir Putin. Roger Federer, den derzeit dominierenden Spieler im Herrentennis, nannten zwar nur 16 Prozent der
2. DIE BESTEN SUCHMASCHINEN Google und Ya-
Schweizer – doch das genügte für Platz eins im nationalen Ranking.
hoo liefern die zuverlässigsten Suchergebnisse im Internet. Das ist
Die Polen vertrauen Papst Johannes Paul II auch über dessen Tod hi-
die Meinung von 2.000 nordamerikanischen Internetnutzern, die En-
naus am meisten. In Großbritannien wählten die Interviewten aus ei-
de 2005 von Keynote Systems befragt wurden. Die Teilnehmer der
ner Liste mit 100 Namen ihren Prominenten des Vertrauens: Die
Studie haben im Auftrag des kalifornischen Unternehmens im Web
größte Zahl der Stimmen entfiel auf den Naturforscher Sir David
nach Themen und Bildern gesucht und die Resultate bewertet. Nach
Attenborough. In Deutschland siegte Bundespräsident Horst Köhler.
den Worten von Studienleiter Bonny Brown gibt es einen klaren Sie-
Internet: www.rdtrustedbrands.com
ger: „Google ist weiter der König der Internetsuche.“ In allen 13 Kategorien des Tests liegt Google vorn. Jedoch folgt Yahoo mit nur ge-
4. GUTE UNTERNEHMENSKULTUR In Sachen Ver-
ringem Abstand. Gerade bei neuen Themen wie Bildern oder loka-
haltensstandards und Transparenz zählt die Deutsche Börse AG zu
len Angeboten ist Yahoo stark. Auf Platz drei landet Ask Jeeves, der
den Top-Unternehmen in Deutschland. Das ist das Ergebnis zweier
Suchdienst für Mitglieder des Online-Anbieters AOL. Der Vorjahres-
Untersuchungen zum Thema Corporate Governance. Im Ranking der
dritte, die Microsoft-Suchmaschine MSN, fällt auf Platz vier zurück.
Fondsgesellschaft Union Investment belegt die Deutsche Börse mit
Platz fünf geht an die Suchmaschine im öffentlichen AOL-Bereich.
einer Gesamtnote von 1,75 hinter der Deutschen Telekom AG Platz
Internet: www.keynote.com
zwei unter den 30 DAX ®-Unternehmen. Der Notendurchschnitt aller
1585 AUSGABE 01/06
NEWS
5
Deutsche Börse AG auf Wachstumskurs
Angaben in Millionen Euro
1750
Umsatz
1500
1250
1000
EBITA
750
250
0
2001
2002
2003
2004
2005
4
Quelle: Deutsche Börse AG
500
5
bewerteten Firmen liegt bei 2,75. In die Endnote ging zu gleichen
sen, Steuern und Abschreibungen auf Geschäfts- und Firmenwerte
Teilen ein, wie sehr die Gesellschaften die Aktionärsrechte achten,
(EBITA) kräftig gesteigert (siehe Grafik oben).
wie Vorstand sowie Aufsichtsrat organisiert sind und schließlich wie
Internet:
www.deutsche-boerse.com > Investor Relations > Berichte und Kennzahlen
www.deutsche-boerse.com > Investor Relations > Corporate Governance
transparent das Unternehmen arbeitet und informiert. Auch Betriebswirtschaftsprofessor Alexander Bassen von der Universität Hamburg
bescheinigt eine vorbildliche Corporate Governance: Im Rating, das
Bassen mit der Deutschen Vereinigung für Finanzanalyse & Asset
5. MENSCHEN WIE DU UND ICH Weltweit schwin-
Management und dem Wirtschafts-Informationsdienstleister Hop-
det das Vertrauen in staatliche Organisationen, Unternehmen und ih-
penstedt erstellt hat, landet die Deutsche Börse AG sowohl bei den
re Protagonisten. „Menschen wie du und ich“ dagegen genießen in-
DAX ®-Firmen
zwischen das größte Vertrauen – vor Ärzten und Wissenschaftlern.
als auch im Gesamtranking von
DAX ®,
MDAX ®
und
TecDAX ®-Werten auf Platz vier.
Das brachte das jüngste „Edelman Trust-Barometer“ zu Tage. An der
Vorstand und Aufsichtsrat der Deutschen Börse haben in der Regie-
nunmehr siebten Umfrage beteiligten sich fast 2.000 Entscheidungs-
rungskommission zum Thema Corporate Governance von Beginn an
träger aus elf Ländern. „Die Erosion des Vertrauens in institutionali-
mitgearbeitet und den 2002 vorgestellten „Deutschen Corporate Go-
sierte Informationsquellen ist weiter vorangeschritten“, kommentiert
vernance Kodex“ in vollem Umfang anerkannt. Zu Letzterem geben
Richard Edelman, President und CEO des nach eigenen Angaben
Vorstand und Aufsichtsrat eine jährliche Entsprechenserklärung ab.
weltweit größten unabhängigen PR-Netzwerkes. Unternehmen seien
Die strenge Orientierung an den Interessen der Kapitalgeber spiegelt
gut beraten, die eigene Glaubwürdigkeit mit Dialogangeboten an Kon-
sich auch in der Umsatz- und Ergebnisentwicklung wider: Die Deut-
sumenten, Mitarbeiter und andere Stakeholder zu stärken.
sche Börse AG hat 2005 die Umsatzerlöse und das Ergebnis vor Zin-
Internet: www.edelman.com
IMPRESSUM
Herausgeber: Deutsche Börse AG, Neue Börsenstraße 1, 60487 Frankfurt am Main, Internet: www.deutsche-boerse.com, E-Mail: [email protected]
Chefredaktion Gruppe Deutsche Börse: Ulrich Meißner (V. i. S. d. P.), Heiner Seidel Verlag: corps. Corporate Publishing Services GmbH, Kasernenstraße 69,
40213 Düsseldorf Geschäftsführung corps: Holger Löwe, Wilfried Lülsdorf Redaktion: Florian Flicke (Ltg.), Daniel Ferling, Eva Grillo, Hermann Kutzer, Stefan Merx,
Nicolas Nonnenmacher, Olaf Storbeck, Dorothee Vogt Objektleitung: Jan Leiskau Anzeigenleitung: Ralf Zawatzky, E-Mail: [email protected]
Artdirection: formwechsel.de Fotografie: Sebastian Pfütze Repro: ORT Studios, Berlin Druck: Rademann, Lüdinghausen Bestellnummer: 1080-2082
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Verwendung nur mit Genehmigung. ©2006 Gruppe Deutsche Börse
6
1585 AUSGABE 01/06
FEATURE
„Kontrolle ist gut, Vertrauen besser“, lautet eine zentrale Erkenntnis der modernen
Wirtschaftswissenschaften. Die Koryphäen des Fachs erforschen, wann selbst Egoisten
Entgegenkommen verdienen und wie Unternehmen mit dem „V-Faktor“ ihre Gewinne
steigern können.
Die Ökonomie
des Vertrauens
W
ährend Sie diesen Artikel lesen, wechseln bei eBay
weltweit Waren im Wert von einer halben Million Dollar den
Besitzer. Das Handelsvolumen des Internet-Auktionshauses
liegt bei 1.511 Dollar pro Sekunde. Allein in Deutschland ersteigern eBay-Nutzer alle zwei Sekunden ein Buch und alle zwei
Minuten einen Laptop. Elf Bagger werden täglich über den Internet-Marktplatz verkauft.
Alltag zu Beginn des 21. Jahrhunderts, aber ökonomisch betrachtet dennoch ein kleines Wunder. Denn Millionen von Menschen
überweisen täglich im Voraus Geld an wildfremde Personen –
im guten Glauben daran, nicht übers Ohr gehauen zu werden.
Sie kennen weder Identität noch Wohnsitz des Anbieters, und
die Ware haben sie nur auf Fotos gesehen. Niemand garantiert,
dass das Produkt wirklich in dem Zustand ist, wie bei eBay beschrieben, und keiner weiß, ob der Verkäufer es auch tatsächlich
schickt. „In solch einem Marktumfeld ist Vertrauen ein entscheidender Faktor“, sagt Axel Ockenfels, Professor für Volkswirtschaftslehre an der renommierten Universität Köln. „Ökonomisch kann man sich für das Entstehen von Vertrauen kaum
eine unfreundlichere Umgebung vorstellen als eine OnlineHandelsplattform“, betont der Wissenschaftler. Um die Anonymität zu überwinden, hat eBay daher mit Hilfe von Ökonomen wie Ockenfels ein ausgefeiltes Bewertungsverfahren
entwickelt – Reputation als vertrauensbildende Maßnahme.
FEATURE
1585 AUSGABE 01/06
Phänomen Internet:
Jede Sekunde wechseln
bei eBay weltweit Waren
im Wert von 1.511 Dollar
den Besitzer. Die OnlineKäufer und Verkäufer
kennen sich nur aus dem
World Wide Web – und
vertrauen sich dennoch.
7
8
1585 AUSGABE 01/06
FEATURE
Als einer der ersten Wirtschaftswissenschaftler hat Ockenfels die Relevanz des
„V-Faktors“ erkannt. Seit Jahren erforscht
er in Laborexperimenten, wann und warum Menschen sich gegenseitig vertrauen
und welche Regeln und Institutionen
Vertrauen fördern. Für seine Arbeit erhielt Ockenfels im Jahr 2005 den mit
1,55 Millionen Euro dotierten Leibnizpreis
der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Vorher hatte 17 Jahre lang kein Ökonom
diesen höchst anerkannten deutschen Wissenschaftspreis erhalten.
Tradiertes Bild vom Menschen
Nicht nur bei eBay gilt: kein Vertrauen,
kein Geschäft. Auch auf den modernen
Arbeits- und Finanzmärkten ist Vertrauen
ein wichtiges Gut. Selbst die ganz große
Geld- und Wirtschaftspolitik ist darauf angewiesen. Erstaunlicherweise haben
sich Wissenschaftler bis vor wenigen Jahren nur am Rande damit beschäftigt.
In den althergebrachten ökonomischen Modellen war kein
Platz für solch ein weiches Thema – Ökonomie, das war die
„Wissenschaft des Misstrauens“, wie der Erfolgsautor und Management-Berater Reinhard Sprenger formuliert. Wirtschaftswissenschaftler sahen den Menschen traditionell als Fleisch
gewordene Nutzenmaximierungsmaschine: egoistisch, rational, frei von jeder Moral und ausschließlich am eigenen Vorteil
interessiert. Solch einem „Homo oeconomicus“ bringt man
besser nicht zu viel Vertrauen entgegen. Er würde jeden Vertragspartner über den Tisch ziehen, sobald er einen Vorteil für
sich darin sieht.
Immerhin, unter bestimmten Umständen verhält sich sogar so
ein egozentrisches „Wirtschaftssubjekt“ kooperativ und wirbt
um Vertrauen – wenn die Beteiligten nicht nur ein einziges
Mal, sondern mehrmals miteinander zu tun haben. Der israelische Spieltheoretiker Robert Aumann zeigte bereits 1959 mit
anspruchsvollen mathematischen Modellen: Bei solchen „repea-
ted games“ haben selbst rationale Egoisten starke Anreize zur
Kooperation – obwohl sie kurzfristig betrachtet mit unkooperativem Verhalten besser fahren würden. Für diese Erkenntnis
bekam der 75 Jahre alte Professor an der Hebrew University in
Jerusalem im vergangenen Jahr den Ökonomie-Nobelpreis. „Altruistisches Verhalten und Rache erscheinen kurzfristig betrachtet rational“, betont Aumann. „Aber sie verlieren Sinn, wenn
man die Sache aus der langfristigen Perspektive betrachtet.“
Der Mensch ist sozialer als vermutet
Inzwischen dämmert es Ökonomen zudem: Das Menschenbild
des Homo oeconomicus ist ein wenig realitätsfremd. Egozentrisches Verhalten ist in der Realität wesentlich weniger stark
verbreitet, als Wirtschaftswissenschaftler unterstellen. Laborexperimente und Feldstudien zeigen: Menschen sind weit
sozialer, als die Wissenschaft traditionell annimmt. Ihnen liegt
viel an Fairness, sie haben einen Hang zu Kooperation und
suchen nicht stets den eigenen Vorteil. „Die meisten Menschen
FEATURE
1585 AUSGABE 01/06
9
Reputation entscheidet:
Bewertungssysteme wie
bei eBay machen auch
größte Egoisten kooperationswillig. Doch einen
hundertprozentigen Schutz
vor Reinfällen bei OnlineKäufen bieten sie nicht.
verhalten sich reziprok“, erläutert Professor Armin Falk, Direktor des Laboratoriums für Experimentelle Wirtschaftsforschung
der Universität Bonn. „Das bedeutet: Sie belohnen faires Verhalten und bestrafen unfaires, selbst wenn dies für sie mit Kosten verbunden ist.“
Die Unternehmer hatten die Möglichkeit, ein Mindestmaß an
Leistung festzulegen – oder sie konnten darauf vertrauen,
dass die Mitarbeiter sich auch ohne Überwachung engagieren.
Das bemerkenswerte Ergebnis: Arbeitgeber, die auf Kontrolle
verzichteten, erhielten im Durchschnitt ein Drittel mehr als das
Geforderte. Wer dagegen ein Minimum festlegte, bekam in aller
Regel nicht mehr als die vorgegebene Leistung.
Die von Aumann entdeckten strategischen Anreize im Zuge von
„repeated games“ sind ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis
der Ökonomie des Vertrauens. Ein anderer ist jene menschliche
Nur ein Viertel der Beschäftigten agierte so, wie man es vom
Neigung zu reziprokem Verhalten. Denn daraus folgt: Wenn
Homo oeconomicus erwarten würde: Es missbrauchte das
Vertrauen und arbeitete ohne Kontrolle gar nicht. Die Mehrheit
ich einem Menschen Vertrauen entgegenbringe, besteht begründete Hoffnung darauf, dass er es nicht missbraucht. Umgekehrt
der Arbeitnehmer dagegen verhielt sich reziprok: Sie erbrachte
wird Misstrauen mit gleicher Münze heimgezahlt: Wer einem
für ihr Gehalt freiwillig eine relativ hohe Arbeitsleistung. Sobald
Menschen mit Argwohn begegnet,
der Arbeitgeber aber auf Kontrolle
provoziert dadurch mitunter Unehrsetzte, löste sich bei vielen der gute
lichkeit. Der Soziologe Niklas LuhWille in Luft auf. Sie empfanden
Wer einem Menschen mit
mann sprach bereits 1968 von der
die Kontrolle als Misstrauenssignal,
Argwohn
begegnet,
provoziert
„selbsterfüllenden Prophezeiung des
auf das sie mit Dienst nach Vordessen Unehrlichkeit. Niklas
Misstrauens“.
schrift reagierten. Jeder Fünfte dagegen ließ sich überhaupt nicht
Luhmann sprach von der
davon beeinflussen, wie viel VerVertrauen fördert Leistung
„selbsterfüllenden PropheWunschdenken? Realitätsferne Welttrauen oder Misstrauen die Gegenzeiung
des
Misstrauens“.
verbesserungstheorien? Keineswegs.
seite ihm entgegenbrachte und enDie Thesen haben realen Hintergagierte sich relativ stark.
grund, zeigen zahlreiche Studien.
So engagieren sich zum Beispiel Mitarbeiter, denen von ihren
Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser – diese Erfahrung machten
Chefs Vertrauen entgegengebracht wird, merklich stärker als
auch Kindergärten in Israel, die eine Strafgebühr für Eltern einsolche, deren Arbeitseinsatz penibel kontrolliert wird. Das beführten, die ihren Nachwuchs zu spät abholten. Dadurch sank
legt der Bonner Forscher Falk zusammen mit Michael Kosfeld
die Unpünktlichkeit nicht etwa – sie stieg. Das zeigen die beivon der Universität Zürich in einer Studie, die demnächst im
den US-Professoren Uri Gneezy (Chicago Graduate School of
„American Economic Review“ erscheint, einer der weltweit anBusiness) und Aldo Rustichini (University of Minnesota) in
gesehensten wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriften.
einer viel beachteten Untersuchung. Selbst nach der Abschaffung
Die Wissenschaftler haben in einem Laborexperiment einen
des Säumniszuschlags blieb die Zahl der zu spät kommenden
innerbetrieblichen Arbeitsmarkt simuliert – mit 100 VersuchsEltern auf dem höheren Niveau.
teilnehmern. Eine Hälfte agierte als Arbeitnehmer, die andere
als Arbeitgeber. Jeder Beschäftigte bekam ein Gehalt ausgezahlt
Die Ökonomen erklären das Phänomen so: Die Strafgebühr
und konnte selbst entscheiden, wie stark er sich in seinem Job
habe das Normengefüge in der sozialen Beziehung zwischen
engagiert, wie viel Stress er in Kauf nimmt und wie viel Freizeit
Eltern und Kindergarten verändert. An sich sei es für die Eltern
er hat. Da die Entlohnung unabhängig von der Leistung war,
eine Frage des Anstands, pünktlich zu kommen – weil sonst
ein Kindergärtner nach seinem Feierabend auf den Nachwuchs
hatten die Arbeitnehmer einen Anreiz, so wenig wie möglich
aufpassen muss. Durch die Strafgebühr habe die Verspätung
zu arbeiten.
10
1585 AUSGABE 01/06
FEATURE
Buchtipps
„Vertrauen führt. Worauf es im Unternehmen wirklich ankommt“ von
Reinhard K. Sprenger (Campus Verlag, 192 Seiten, 24,90 Euro):
Manager sollten Vertrauen zum zentralen Führungsprinzip erklären,
lautet die These des Management-Beraters und Erfolgsautors Reinhard Sprenger.
einen Preis bekommen. Das zusätzliche Beaufsichtigen der Kinder
verwandelte sich in eine Dienstleistung, die genauso bezahlt wird
wie andere Angebote des Kindergartens. Unpünktlichkeit wurde
aus Sicht der Eltern zu einem akzeptablen Verhalten.
Faktor Vertrauen an der Börse
„Freakonomics – Überraschende Antworten auf alltägliche Lebensfragen“ von Steven D. Levitt und Stephen J. Dubner (Riemann-Verlag, 288 Seiten, 18,95 Euro): Der Chicagoer Ökonomieprofessor
Levitt und der US-Journalist Dubner untersuchen Fragen des alltäglichen Lebens mit den Instrumentarien der modernen Wirtschaftswissenschaften. Unter anderem gehen sie der Frage nach, wann
Menschen ehrlich sind.
Links
„Distrust – The Hidden Cost of Control“ von Armin Falk und Michael
Kosfeld, erscheint in: American Economic Review, online verfügbar
als IZA Discussion Paper Nr. 1203 unter:
ftp://ftp.iza.org/dps/dp1203.pdf
„Trusting the Stock Market“ von Luigi Guiso, Paola Sapienza,
Luigi Zingales, NBER Working Paper No. 11648, online verfügbar:
http://gsbwww.chicagogsb.edu/fac/luigi.zingales/research/PSpapers/trusting_stock.pdf
und die Hälfte aller US-Amerikaner direkt oder indirekt Aktien.
In Deutschland dagegen gilt das
nur für jeden Fünften, in Italien
und Österreich sogar noch nicht
einmal für jeden Zehnten.
Gleichzeitig haben nur 7,2 Prozent aller Amerikaner und nur
sechs Prozent aller Schweden
überhaupt kein Vertrauen in große Unternehmen – in Deutschland und Italien sind es mehr als
17 Prozent.
Nicht nur auf Arbeitsmärkten, auch
an der Börse ist Vertrauen, das
„Trust among Internet Traders: A Behavioral Economics Approach“
potenzielle Anleger anderen Menvon Gary E. Bolton, Elena Katok und Axel Ockenfels, erschienen in
Analyse und Kritik (2004), online verfügbar:
schen im Allgemeinen und Unhttp://ockenfels.uni-koeln.de/download/papers/trust_03022004.pdf
ternehmen im Besonderen entgeOhne Regeln geht es nicht
genbringen, ein zentraler Faktor.
Ein klug konstruiertes Regelwerk
„A Fine is a Price“ von Uri Gneezy und Aldo Rustichini, erschienen
Auf ein Investment lässt sich nur
kann sich zudem als Katalysator
in: Journal of Legal Studies (2000), online verfügbar:
http://www.econ.umn.edu/~arust/Fine.pdf
ein, wer nicht fürchtet, dabei
für Vertrauen erweisen – eBay
ist ein Musterbeispiel dafür. Die
den Kürzeren zu ziehen. „Für die
menschliche Neigung zu fairem
Entscheidung, Aktien zu kaufen,
Verhalten allein genügt nicht, damit sich Kunden und Anbieter
braucht man nicht nur eine Einschätzung über den erwarteten
Ertrag und das Risiko, sondern auch den Glauben daran, dass
auf anonymen Online-Marktplätzen vertrauen können. Ein
die Informationen verlässlich sind und dass das Gesamtsystem
deutsch-amerikanisches Forscherteam um Axel Ockenfels und
fair ist“, lautet das Fazit der Studie eines Forscherteams von
Gary Bolton (Penn State University) hat in Experimenten gezeigt: Damit eine solche Handelsplattform funktioniert, muss
zwei renommierten US-Business-Schools, die jüngst als Worein Käufer mit mindestens 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit
king Paper des National Bureau of Economic Research erschien.
auf einen ehrlichen Anbieter stoßen. In einem anonymen
Umfeld mit einmaligen Geschäftsbeziehungen ist die Wahrscheinlichkeit dafür aber nur etwa halb so groß.
Luigi Guiso und Luigi Zingales (Chicago Graduate School of
Business) sowie Paola Sapienza (Kellogg School of Management) fanden heraus: Menschen, die generell der Meinung sind, Der Ausweg aus dem Dilemma: richtig gesetzte Anreize wie
man könne den meisten anderen trauen, besitzen mit 50 Prodas eBay-Bewertungssystem, bei dem sich die Nutzer gegenseitig benoten und Reputation aufbauen können. „Damit kann
zent höherer Wahrscheinlichkeit Aktien. Sie legen zudem einen
man auch für egoistische Akteure strategische Anreize schaffen,
höheren Anteil ihres Vermögens in Aktien an. Mit zunehmendem Bildungsniveau nimmt der Einfluss dieses Faktors ab.
sich vertrauenswürdig zu verhalten“, so Ockenfels. Für zusätz„Mehr Wissen und Informationen helfen, die Vertrauensprolichen Käuferschutz sorgt die kostenlose Kulanzleistung „Paybleme abzubauen“, so ihr ökonomisches Fazit.
Pal“: Wenn die gekaufte Ware nicht versandt wurde oder erheblich von der Artikelbeschreibung abweicht, erstattet „PayPal“
dem Käufer das Geld – maximal 500 Euro oder britische Pfund.
Mit dem Faktor Vertrauen lässt sich auch erklären, warum sich
Fazit: Vertrauen ist gut und wichtig. Aber ganz ohne Kontrolle
die Aktionärsquoten in verschiedenen Industrieländern so
enorm unterscheiden: So besitzen zwei Drittel aller Schweden geht es wohl nicht.
2032: Unternehmer.
Die NRW.BANK bringt Ihre Ideen auf den Weg. Mit Kapital. Mit Know-how.
Mit Engagement. Für eine wachstumsstarke, stabile Wirtschaft in NordrheinWestfalen. Wir beraten Mittelstand und Existenzgründer. Wir unterstützen
Kommunen in ihrem Finanzmanagement. Wir fördern den Wohnungsbau. Wir
sind Partner unseres Landes. Damit aus kleinen Ideen große Unternehmen
werden.
Haben auch Sie Ideen? Dann fragen Sie nach uns – bei Ihrer Bank, Sparkasse
oder in unseren Beratungszentren Rheinland 0211 91741-4800 und Westfalen
0251 91741-4800.
www.nrwbank.de
12
1585 AUSGABE 01/06
KOLUMNE
Die zwei Seiten der
Corporate Governance
Der britische Publizist Anthony Hilton sieht eine neue Wende in der Diskussion
zwischen Eigentümern und Verwaltern von Unternehmen.
N
eulich sah ich einen Western, in dem der Held an einer Stelle sagt, dass Menschen eigentlich nur von ihren Freunden wirklich getäuscht werden können, weil sie ihre Feinde ja gar nicht
nah genug an sich heranlassen. Für die Finanzmärkte scheint heutzutage genau dasselbe Prinzip
zu gelten. Vorstände und Manager börsennotierter Unternehmen und ihre Aktionäre / Eigentümer sollten eigentlich auf derselben Seite stehen und gemeinsam am Erfolg ihres Unternehmens
arbeiten. Doch derzeit wird mit Blick auf Corporate Governance eher davon ausgegangen, dass
beide Seiten im Konflikt miteinander sind. Es scheint, als ob Aktionäre den Managern nicht mehr
vertrauen und daher strikte Überwachungsmechanismen einführen möchten. Dies soll das Management davon abhalten, übermäßige Risiken einzugehen, um unangenehme Überraschungen
zu vermeiden – so die Hoffnung der Aktionäre. In den USA und Europa werden derzeit Strukturen eingeführt, die die Befugnisse der Manager einschränken, um sicherzustellen, dass sie gegenüber den Aktionären ihrer Rechenschaftspflicht nachkommen.
Zumindest in Großbritannien gilt es als selbstverständlich, dass Corporate Governance die Unternehmensleistung verbessert. Ich persönlich habe daran so meine Zweifel; es liegt bislang
keine wissenschaftliche Studie vor, die diesen Zusammenhang
„Es darf nicht sein, dass zu viele schlüssig beweist. Im Gegenteil: Es gibt Hinweise darauf, dass
Governance-Regeln zu einer Scheu vor zu viele Governance-Regeln zu einer Scheu vor Risiken und damit einer Scheu vor größeren Investitionen führen – und dazu,
Investitionen führen und sich die dass sich die talentiertesten Manager von Aktiengesellschaften
talentiertesten Manager abwenden.“ abwenden, um in Privatunternehmen, außerhalb des Rampenlichts, zu arbeiten. Sollte sich dieser Trend fortsetzen und sollten die besten Managementtalente sich weigern, für Aktiengesellschaften zu arbeiten, so ließe
sich sogar argumentieren, dass Corporate Governance die Situation verschlimmert.
Aber es gibt noch einen zweiten, wichtigeren Grund zur Beunruhigung. Nach herrschender Meinung werden Führungskräfte als Interessenvertreter der Eigentümer angesehen. Ziel von Corporate Governance ist es, Manager für ihre Entscheidungen verantwortlich zu machen, um sicherzustellen, dass sie im Interesse der Eigentümer und nicht in ihrem eigenen handeln. Allerdings
hat sich niemand die andere Seite des Aktienmarktmodells angeschaut, wo ein noch größeres
Problem liegt. In einer Zeit, in der gepoolte Fonds und kollektive Anlagemodelle den individuellen, direkten Aktienbesitz verdrängen, sollten auch die Fondsmanager – die Leute, die das Geld
KOLUMNE
1585 AUSGABE 01/06
13
Anthony Hilton:
Seit 35 Jahren beobachtet
der britische Journalist das
nationale und internationale
Wirtschaftsgeschehen. Sein
Steckenpferd sind die Finanzmärkte. Hilton berichtete
aus London und New York für
„London Evening Standard“,
„Times“ und „Sunday Times“.
Aktuell ist er Wirtschaftsund Finanzkolumnist für die
„City Pages“ des „Evening
Standard“.
„Die gegenseitige Kontrolle von Unternehmen und Fonds funktioniert nicht mehr
reibungslos. Wir brauchen auch eine
Governance für das Fondsmanagement.“
verwalten – als Vertreter des wahren Auftraggebers betrachtet werden, nämlich des wirtschaftlichen Eigentümers, des „kleinen Mannes“, dessen Ersparnisse bekanntermaßen in den Fonds
stecken.
Fondsgesellschaften sind dazu da, Geld zu verdienen, aber ihr Hauptziel ist es, einen Profit für
sich selbst zu erzielen, nicht für ihre Kunden. In guten Zeiten geht beides Hand in Hand, aber die
Erfahrung seit der Baisse 2001 zeigt, dass dies nicht immer der Fall ist – und das ist auch der Grund,
warum die Öffentlichkeit den Anbietern von Anlageprodukten nicht mehr vertraut. So wie ein
Großteil des Fondsmanagements strukturiert ist – mit Gebühren, die auf das Fondsvolumen erhoben werden, und saftigen Erfolgsprämien – schneiden Fondsmanager und ihre Unternehmen deutlich besser als ihre Kunden ab. Sie verdienen mehr damit, Gelder zu sammeln, als sie zu
verwalten. Sie verfolgen eine Strategie des schnellen Umschlags und der kurzfristigen Profite,
ohne dabei viel Rücksicht auf die hohen Transaktionskosten zu nehmen.
Wirklich gestört jedoch erscheint das System, wenn Fondsmanager (zu oft fälschlicherweise als
der Aktionär beschrieben) auf Vorstände treffen. Hier prallen zwei Gruppen von Interessenvertretern aufeinander, die beide theoretisch ihre langfristige Verantwortung von den Eigentümern
ableiten, letztlich jedoch jeweils ihre eigenen kurzfristigen Ziele verfolgen. Dies allein könnte
bereits dazu führen, dass das System in die Gefahr eines zu kurzfristigen Fokus gerät. Verschlimmert wird die Sache dadurch, dass es sich hierbei nicht mehr um einen Wettbewerb zwischen
ebenbürtigen Partnern handelt. Während die Führungskräfte den Regeln der Corporate-Governance-Einschränkungen unterliegen, sind Fondsmanager keinerlei derartigen Beschränkungen
unterworfen, so dass das System in eine gefährliche Schieflage gerät. Der Aktionärskapitalismus
ist eine wunderbare Wirtschaftsform, aber nur wenn sämtliche Mechanismen der gegenseitigen
Kontrolle reibungslos funktionieren. Dies ist derzeit nicht der Fall. Wir haben weitreichende
Governance-Regeln für Manager – und zwar so weitreichend, dass sie Gefahr laufen, übers Ziel
hinauszuschießen. Jetzt brauchen wir aber ähnliche Regeln für die Fondsmanagementbranche,
damit sie wieder das Vertrauen ihrer Kunden verdient.
14
1585 AUSGABE 01/06
REPORT
REPORT
1585 AUSGABE 01/06
BaFin:
Die 1.600 Kontrolleure der
deutschen Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht wachen über rund
2.150 Kreditinstitute, 750
Finanzdienstleister, 650
Versicherer sowie 6.300
Publikums- und Spezialfonds.
Die Wächter der Märkte
Die weltweiten Finanzmärkte befinden sich in einem dramatischen Wandel –
und mit ihnen die Aufsichtsorgane wie die deutsche BaFin oder die britische
FSA. Die Behörden wachen über den Handel und wollen so für Vertrauen am
Markt sorgen. Doch in die Frage, wie viel Regulierung sein muss und sein darf,
kommt neue Bewegung.
Neue Märkte, neue Produkte, neue Akteure: Finanzmärkte sind nicht nur wegen ihrer täglichen Preisbewegungen so spannend, sondern auch weil sie sich
selbst ständig verändern und weiterentwickeln.
Kein Wunder, dass staatliche und andere Aufsichtsorgane darauf mit immer neuen Regeln reagieren,
um einen angemessenen Ordnungsrahmen zu gewährleisten – nicht nur im Interesse des Anlegerschutzes und -vertrauens. Damit wächst aber die Gefahr, dass sich der langen, erfolgreichen Ära der
Liberalisierung und Deregulierung von Märkten eine Zeit der Re-Regulierung anschließt, obwohl
niemand an Wachstum behindernder Bürokratie
interessiert sein kann, auch nicht die um Harmonisierung bemühte EU-Kommission.
Wer die 80er Jahre aktiv miterlebt hat, erkennt
heute deutlicher denn je die epochale Bedeutung
des damaligen Zusammentreffens neuer Trends –
weil eine Gegenbewegung droht. Schon zu Beginn
jenes Jahrzehnts hatten die führenden Industrienationen als Lernprozess der 70er Jahre gemeinsam
die Erkenntnis gewonnen, dass, nach Ende von
Bretton Woods, Geldwertstabilität ein höchstrangiges Ziel aller sein muss. Außerdem begann die
Welt auf vielen Gebieten zu begreifen, dass man zunehmend voneinander abhängig wird. Das schlug
sich in größer werdenden Fortschritten bei der Liberalisierung des Welthandels nieder, GATT und
WTO sind zwei Konsequenzen. Und mit den Gütermärkten als Vorbild begann in diesem Jahrzehnt
auch eine weit reichende Öffnung und Deregulierung der Finanzmärkte, die deren weitere Internationalisierung entscheidend begünstigte – Eurobonds und Ende der Kapitalverkehrskontrollen sind
hier zwei Stichworte.
Big Bang auf vielen Feldern
Besonders der „Big Bang“ in London im Jahr 1986
und die anschließende „Rest-Liberalisierung“ des
DM-Kapitalmarkts durch die Deutsche Bundesbank
wurden zu Trendsettern. Begleitet und gefördert
wurde dieser Aufbruch von einer technologischen
Revolution in der Informations- und Kommunikationsindustrie. Seither hat sich die Börsenlandschaft dramatisch verändert. Unter anderem durch
den allgemeinen Trend der „Disintermediation“,
die Einführung elektronischer Handelsplattformen,
neue Terminmärkte, komplexere Finanzierungsund Anlageinstrumente, Marktsegmente für junge
Unternehmen, die Umstellung auf die Gemeinschaftswährung Euro, die Konzentration von nationalen Börsen und den Beginn einer grenzüberschreitenden Konsolidierung der Börsen und Institutionen der Geschäftsabwicklung (Clearing &
Settlement).
Spätestens seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts ist die nationale in eine internationale Evolution übergegangen – das gilt für die Märkte und
ihre Aufsicht gleichermaßen. Interessant auch, dass
sich inzwischen der Fokus verändert hat: Amerikas
15
16
1585 AUSGABE 01/06
REPORT
Strategie mit der Leitbörse New York steht nicht
mehr allein im Mittelpunkt; die Securities and Exchange Commission (SEC) spielt nicht mehr die
Rolle als gerne zitiertes, unkritisch bewundertes Vorbild. Vielmehr gewinnt Europa internationale Beachtung, nachdem hier besonders große Fortschritte
bei der Modernisierung von Handel, Abwicklung
und Organisation gemacht worden sind.
Wie eng soll das Sicherheitsnetz sein?
Neue Märkte brauchen neue Regeln, veränderte
Märkte brauchen entsprechende Anpassungen des
Regelwerks – das ist nicht zu bestreiten. Aber:
Wie eng soll das Sicherheitsnetz geknüpft werden,
wie weit kann dabei den Selbstregulierungskräften der organisierten Märkte vertraut werden, wie
weit sollte der Gesetzgeber gehen?
So wurde der Big Bang auch durch mehrere Wellen
von Regulierung auf nationaler, EU- und internationaler Ebene begleitet. Einige der bedeutenden
regulatorischen Begleitmaßnahmen zur Liberalisierung der Finanzmärkte sind die Marktmissbrauchsund Insiderregeln, einheitliche Wertpapierprospekte in der EU und bald eine einheitliche Grundlage
der Regulierung von Börsen und Wertpapierhandelsfirmen in der EU durch die MiFID (Märkte in Finanzdienstleistungen-Richtlinie).
Die Bedenken hinsichtlich einer heute drohenden
Überregulierung werden immer öfter und lauter
geäußert, kritische Stimmen zur Brüsseler Bürokratie nehmen zu. Deshalb wächst aus der Industrie
der Druck auf die EU, in den inzwischen eingeschlagenen Kurs beschleunigt auch die Finanzmärkte
einzubeziehen: „Less red-tape = more growth: Commission tables package for better regulation“. Mit
diesem vor einem Jahr vorgelegten Papier der Kommission keimt bei den Beteiligten und Betroffenen wenigstens die Hoffnung auf, dass der Bürokratismus gestoppt und der Amtsschimmel vertrieben
(less red-tape) sowie die Notwendigkeit neuer und
die Qualität bestehender Regeln überprüft (better
regulation) werden könnten; ein Prozess, der seitens
der Deutschen Börse aktiv begleitet wird.
Dafür gibt es gute Gründe. Der wichtigste: Die national wie international bereits reformierten, aktuell
gültigen Rules and Regulations zeigen längst Wirkung. Ihnen ist es auch mitentscheidend zu verdanken, dass das Bild „Börse lebt von Lug und Trug“,
wie es in der Öffentlichkeit vor Jahren als Folge von
Pleiten, Pech und Pannen sowie spektakulären Unternehmensskandalen gezeichnet wurde, in den
Archiven verschwunden ist. Wer jedoch ständig den
Stempel „Anlegerschutz“ in der Hand hält, dem
reichen die Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten
immer noch nicht aus. So wird von manchen Medien das alte Etikett „zahnloser Tiger“, das man dem
Mitte der 90er Jahre gegründeten Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel (BAWe) aufgeklebt
hatte, auf die nachfolgende Allfinanz-Aufsichtsbehörde BaFin einfach übertragen (siehe auch Interview mit BaFin-Präsident Jochen Sanio). Derartige Vergleiche sind allzu oberflächlich, übersehen sie
doch vor allem die präventive Funktion der
Aufsicht.
Langjährige Beobachter zeichnen dagegen ein anderes Bild, das die Veränderung anschaulich wiedergibt: Die Herde der Schafe (Marktteilnehmer) ist viel
größer geworden, damit gibt es naturgemäß auch
mehr schwarze Schafe. Früher hat man sich als eine
Herde von weißen Schafen bezeichnet und die
Aufsicht als den bösen Wolf. Heute bekennt man sich
zur Existenz von schwarzen Schafen und zur Notwendigkeit, diese auszusortieren.
Ob es in den vergangenen Jahren trotz der modernisierten Aufsicht in Deutschland und international
„zu viele“ Betrügereien an den Finanzmärkten gegeben hat, mag eine Frage des Standpunkts sein –
Zahl und Volumen sind gemessen an Wachstum und
Größe der Märkte jedenfalls überschaubar.
Dreigliedriges Aufsichtssystem in Deutschland
Für die EU-Länder wird der regulatorische Rahmen
des Finanzsystems zunehmend auf europäischer
Ebene festgelegt – durch unmittelbar geltende Verordnungen oder durch Richtlinien, die in nationales
Recht umzusetzen sind. Die Börsenaufsicht erfolgt
bis zum Inkrafttreten der MiFID 2007 allerdings
noch großenteils in nationaler Regie.
In Deutschland zum Beispiel findet erst seit 1995 eine Wertpapieraufsicht auf Bundesebene statt. Bis
zum 2. Finanzmarktförderungsgesetz – ein historischer Wendepunkt – gab es ein klares und besonders von ausländischen Marktteilnehmern beklagtes
Defizit, weil ein Insiderrecht zuvor ebenso fehlte
wie eine zentrale Institution als Ansprechpartner
(BAWe). Gegenwärtig werden die regulativen Auf-
REPORT
1585 AUSGABE 01/06
17
gaben in einem dreigliedrigen System durch Bund,
Länder und die Selbstverwaltungseinrichtungen der
jeweiligen Börsen wahrgenommen. Diese Arbeitsteilung ist immer wieder einmal Gegenstand von
Diskussionen, Kritiker fordern eine Konzentration.
Seit Frühjahr 2002 obliegt die Wertpapieraufsicht
auf Bundesebene der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), einer dem Bundesfinanzministerium unterstellten Allfinanz-Aufsichtsbehörde, in der auch das BAWe aufgegangen ist. Die
Rechts- und Marktaufsicht über die Börsen – und damit über den Handel – fällt nach wie vor in den
Aufgabenbereich der jeweiligen Länder. Hinzu kommen die Selbstverwaltungsinstanzen der Börsen,
die eine von der Landesaufsicht zu genehmigende
Börsenordnung erlassen und eine Handelsüberwachungsstelle (HÜSt) einrichten müssen. Gerade diese
HÜSt ist selbst für kritische Betrachter ein wichtiges, Vertrauen schaffendes Qualitätsmerkmal deutscher Börsen auch im internationalen Vergleich,
beweist diese Form einer Handelsüberwachung mit
gesetzlichem Rahmen doch tagtäglich, was Selbstregulierungskräfte zu leisten vermögen.
Im Zuge der EU-Richtlinien verschiebt sich das
Gleichgewicht zunehmend zur BaFin. So migrierte
beispielsweise die Prospektprüfung von den Börsen hin zur BaFin als zentrale „competent authority“
der EU-Ebene. Die BaFin sieht sich dabei gelegentlich der Kritik ausgesetzt. „Regulierung setzt in
Deutschland noch zu sehr an formalen Kriterien an,
wie beispielsweise an der Produkthülle. Besser wäre
es, Regulierung konsequent qualitativ auszurichten
und damit am Risiko beziehungsweise am Schutzbedürfnis des Anlegers“, fordert Stefan Seip, Hauptgeschäftsführer des BVI Bundesverbands Investment und Asset Management e.V. in Frankfurt.
Doch es gibt auch Lob. „Seit einem Jahr holt Deutschland auf. Wir haben den Eindruck, dass die BaFin
die Branchenentwicklung und Standortsicherung,
neben dem klassischen Ziel des Anlegerschutzes,
verstärkt als Teil ihrer Aufgabe ansieht“, so Wolfgang Mansfeld, Vorstandsmitglied bei Union Investment.
FSA auf dem Weg zur Allfinanz-Aufsicht
Auch die Finanzregulierung in Großbritannien hat
sich in den zurückliegenden Jahrzehnten sehr gewandelt. Mit dem so genannten „Big Bang“ sollte
für Europas Finanzplatz Nummer eins ein moder-
Starker Wächter:
Wertpapiere und Asset
Management beaufsichtigt die BaFin in Frankfurt
am Main. Von Bonn aus
überwacht sie Banken
und Versicherungen.
18
1585 AUSGABE 01/06
REPORT
neres und stärker wettbewerblich orientiertes Regulierungssystem geschaffen werden – parallel zu anderen, das Marktgeschehen unmittelbar betreffenden
Liberalisierungsmaßnahmen wie der Öffnung für
neue Marktteilnehmer und der Freigabe der Gebühren. Der im Frühjahr 1988 in Kraft getretene Financial Services Act von 1986 war aber nur ein Anfang.
Dazu die Deutsche Bundesbank in einer vergleichenden Betrachtung in ihrem Monatsbericht vom
Januar 2006: „Auf Grund offensichtlicher ernsthafter Aufsichtsdefizite kam es im Mai 1997 zu weiteren
tief greifenden Änderungen. Das Prinzip der
Selbstregulierung wurde aufgegeben und stattdessen
die Einführung einer statutarischen Regulierung
beschlossen.“
Kontrolleur Computer:
Dank moderner Hardund Software kommen
die Finanzaufseher bei
BaFin oder FSA Insidergeschäften und anderen
illegalen Börsen-Deals
auf die Schliche.
So wurde die „Financial Services Authority“ (FSA)
als Nachfolgerin des Securities and Investment
Boards (SIB) gegründet und gliederte die darunter
hängenden Selbstregulierungsinstitutionen SFA,
PIA etc. mit ein. Ein Jahr danach ging auch die Verantwortung für die Beaufsichtigung des Bankensystems von der Bank of England an die FSA über. Inzwischen ist diese auch für die Regulierung des
Hypothekarmarkts und das allgemeine Versicherungsgeschäft zuständig. Die FSA entwickelt sich
somit immer stärker zu einer Allfinanz-Aufsicht.
„Better regulation“ ist für die FSA kein Langfristziel,
sondern wird konkret: Erst Anfang Dezember 2005
kündigte sie Maßnahmen zur Entbürokratisierung
und Kostensenkung für die Unternehmen an – manche Vorschriften sollen gelockert oder vereinfacht
und überflüssige Regeln abgeschafft werden. Die
britischen Regulierer residieren im Herzen Londons,
im Zentrum der Geldmacht, das fördert den Austausch zwischen Behörde und Finanzdienstleistern.
Luxemburg mit dem Nischenvorteil
Beim Aufstieg des Finanzplatzes Luxemburg haben
seine professionellen Aufseher eine wichtige Rolle
gespielt, wenn auch oft von der Öffentlichkeit unbemerkt. „Man muss nicht täglich von sich reden machen, um gute Arbeit zu leisten“ – so lautet ein Leitspruch von Jean-Nicolas Schaus, dem Generaldirektor der Commission de Surveillance du Secteur
Financier (CSSF). Deren Zuständigkeitsbereich ist
weit gefasst: Banken, Investmentfonds, Makler, Vermögensverwalter, sonstige Finanzdienstleister
und der Börsenhandel. Finanziert wird die Institution aus Beiträgen der am Platz ansässigen Finanzinstitute.
REPORT
Die Regulatoren bemühen sich erklärtermaßen
darum, die Nischenvorteile des Finanzplatzes zu
erhalten, damit dieser neue Geschäftsfelder anziehen kann. Traditionell ist der Finanzmarkt des kleinen Großherzogtums international und wettbewerbsorientiert. Und der Aufsicht wird bescheinigt,
dass sie stets offene Ohren für Verbesserungsvorschläge aus dem Markt hat. Umso mehr fürchtet sie
aber deshalb die Gefahr einer Überregulierung auf
europäischer Ebene: „Bei uns funktionieren Märkte
und Aufsicht bestens, weil wir auch marktkonforme Regeln bevorzugen“, betonte ein Luxemburger
Offizieller selbstbewusst. Die Schnelligkeit von Prospektbilligungen in Luxemburg ist ein Indiz hierfür.
1585 AUSGABE 01/06
Selbstverwaltungsorgan die Aufsicht über die elektronische Börse Nasdaq und die (außerbörslichen)
OTC-Märkte.
Wie geht es weiter?
Dazu die Deutsche Bundesbank resümierend:
„Angesichts der Globalisierung der Finanzmärkte
kann Regulierung schon lange nicht mehr allein
aus nationaler Perspektive betrieben werden. Denn
der Wettbewerb der Finanzplätze geht mit dem
Wettbewerb der Regulierungssysteme einher. Um
in dieser Standortkonkurrenz bestehen zu können,
dürften Niveau beziehungsweise Regulierung in verschiedenen Wirtschaftsräumen sich tendenziell
angleichen.“
USA: Selbstregulierung mit klaren Vorgaben
Von Amerika kommen nach wie vor wichtige
Trends für alle Bereiche des wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Lebens. Die Finanzmärkte machen da keine Ausnahme. Deshalb empfehlen erfahrene Aufsichtsexperten in Europa das genaue Verfolgen der Entwicklungen rund um die Wall Street,
weil diese gerne mit einiger Verzögerung auch von
der EU-Kommission adaptiert werden – trotz der kritischer gewordenen Haltung der Wertpapierindustrie gegenüber dem Vorbild Amerika.
Traditionell wird am US-Wertpapiermarkt das
Prinzip der Selbstregulierung betont, doch hat diese
schon seit den 30er Jahren, also nach der Börsenund Bankenkrise, klare Rahmenvorgaben erhalten.
Leitmotiv für die Marktaufsicht ist es, sicherzustellen, dass einem Investor alle Informationen über
das emittierende Unternehmen und über die Märkte
zur Verfügung stehen, die dieser zum eigenverantwortlichen Treffen seiner Anlageentscheidungen
benötigt.
Zwar wird hier zu Lande öffentlich fast nur über die
SEC und ihre regulatorische Stärke gesprochen.
Tatsächlich kennt Amerika aber eine Vielzahl von
involvierten Instanzen. Neben der SEC und ihrer
„Terminmarkt-Schwester“ Commodity Futures
Trading Commission (CFTC), von denen die Rahmenvorgaben kommen, sind die US-Börsen selbstregulierende Organisationen (SROs). In ihrer
Verantwortung liegt die Festlegung der speziellen
Regeln und Vorschriften, nach denen die Marktteilnehmer arbeiten. Neben den registrierten Börsen
spielt die National Association of Securities Dealers (NASD) eine wichtige Rolle, denn sie hat als
Interessenverbände der Finanzindustrie loben in
diesem Zusammenhang ausdrücklich den von der
Europäischen Kommission eingeschlagenen Weg,
im Bereich des Kapitalmarktrechts für die nächsten
Jahre den erreichten Rechtsstand zu konsolidieren
und nur noch auf ausgewählten Feldern zu ergänzen.
Andererseits wird auf die schädlichen – auch für
die Investoren selbst schädlichen – Folgen einer überzogenen Harmonisierung hingewiesen. So moniert
der Bundesverband deutscher Banken in Berlin:
„Strukturell weisen die nationalen Märkte weiterhin
deutlichere Unterschiede auf, als es in einem wirklich integrierten Markt zu erwarten wäre.“ Dies zu
ändern, dürfte schwierig werden, denn dafür bedarf es eines echten Konsenses zur Schaffung einheitlicher Strukturen in der EU.
Auf dem Weg zu „better regulation“ kommen alle
Beteiligten in Europa daher nicht umhin, Antworten
auf folgende Fragen zu finden:
• Einheitliche Aufsicht in der EU oder nicht?
• Vertiefte internationale Kooperation über die EU
hinaus oder Fokus auf die EU?
• Mehr Richtlinien und Regulierung im Sinne einer
Vereinheitlichung oder weiterhin Wettbewerb
der Rahmenbedingungen?
Hermann Kutzer, dessen journalistische
Laufbahn 1969 bei der Nachrichtenagentur vwd begann, ist seit 1976 für
die Verlagsgruppe Handelsblatt tätig.
Im Range eines Chefredakteurs fungiert
der Börsenexperte vor allem als TVKommentator und Finanzkolumnist.
19
20
1585 AUSGABE 01/06
INTERVIEW
„Eine Portion Misstrauen
schadet nie“
Interview mit Jochen Sanio, Präsident der Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)
Das vergangene Börsenjahrzehnt war rasant,
aber auch mit vielen Skandalen verbunden.
Verdient der deutsche Wertpapiermarkt heute
mehr das Vertrauen der Anleger als vor zehn
Jahren?
Anleger sollten dem deutschen Wertpapiermarkt
heute mehr Vertrauen entgegenbringen als vor zehn
Jahren. Damals steckte die Wertpapieraufsicht noch
in den Kinderschuhen. Wichtige Aufgaben waren
ihr gerade erst übertragen worden. Ich denke zum
Beispiel an das Verbot von Insiderhandel und an
die Pflicht von Ad-hoc-Mitteilungen. Heute erfüllt
die Wertpapieraufsicht der BaFin diese Aufgaben
sehr wirkungsvoll, und sie hat außerdem noch einige neue Kompetenzen hinzubekommen.
Welche sind das?
Die BaFin überwacht etwa das Verbot von Marktmanipulation und die Durchführung von Übernahmeverfahren, sie ist in die Bilanzkontrolle eingebunden und beaufsichtigt Finanzdienstleistungsinstitute. Entscheidend ist auch, dass wir mittlerweile
sehr viel intensiver mit unseren Kollegen im Ausland zusammenarbeiten, vor allem mit denen in Europa. Das alles ändert aber nichts daran, dass Anleger für das, was sie tun, selbst verantwortlich sind.
Wachsamkeit und eine gesunde Portion Misstrauen
schaden nie.
Werden inzwischen nicht zu viele gesetzliche
und andere Regelwerke erarbeitet, so dass nach
der Deregulierung der 80er Jahre eine Re-Regulierung mit einer Überregulierung droht?
Diese Sorge ist teilweise berechtigt – auch und gerade in der Wertpapieraufsicht. Neue, komplexe
Finanzprodukte schießen wie Pilze aus dem Boden,
und der regulatorische Rahmen muss bei dieser
Entwicklung Schritt halten. Andernfalls würden wir
Aufseher den Entwicklungen des Marktes hinterherhinken und eines unserer Hauptziele, nämlich
die Integrität der Märkte, aus den Augen verlieren.
Doch der Weg, immer detailliertere und damit um-
fangreichere Regeln zu schaffen, Regeln, die selbst
für Fachleute kaum noch durchschaubar sind, ist eine
Sackgasse. Die BaFin setzt sich deshalb in Übereinstimmung mit dem neuen Motto der Europäischen
Kommission, „better regulation“, für eine strikt
prinzipienbasierte Regulierung ein.
Was bedeutet das konkret?
Diese Art der Regulierung ermöglicht flexible
Lösungen im Einzelfall. Was wir unter prinzipienbasierter Aufsicht verstehen, haben wir in der Bankenaufsicht mit unseren neuen „Mindestanforderungen an das Risikomanagement“ (MaRisk)
gezeigt. Mit ihrer schlanken Gestalt machen die
MaRisk „bella figura“.
Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Herausforderungen für die Wertpapieraufsicht
durch die Globalisierung?
Geschäfte über nationale Grenzen hinweg, international aufgestellte Finanzmarktakteure – wir stünden
auf verlorenem Posten, wenn wir keine einheitlichen Standards hätten und wenn wir in der Institutsund Marktaufsicht nicht mit unseren ausländischen
Kollegen kooperieren würden. Eine Organisation, die
sich schon seit Jahren auf diesem Gebiet große Verdienste erworben hat, ist die Organization of Securities Commissions (IOSCO). Sie entwickelt die
internationalen Standards, die wir als Basis für unseren prinzipienbasierten Regulierungsansatz
brauchen, und sorgt gleichzeitig für bessere und effiziente grenzüberschreitende Zusammenarbeit
im Einzelfall. Die IOSCO hat heute rund 180 Mitglieder, und alle wichtigen Aufsichtsbehörden dieser
Welt sind dort vertreten.
Der Spagat zwischen globalem und nationalem
Interesse fällt sicher nicht immer leicht.
Die Kunst besteht darin, die Standards so zu fassen,
dass sie die operative Tätigkeit der nationalen
Aufsichtsbehörden weltweit auf ein vernünftiges
Mindestniveau heben, ohne dabei den Aufsehern
INTERVIEW
1585 AUSGABE 01/06
21
die Möglichkeit zu nehmen, den Besonderheiten
ihrer Märkte gerecht zu werden. Ein Blick auf die
Homepage der IOSCO lohnt sich für alle, die wissen
möchten, über welche Themen die Aufsichtsbehörden im internationalen Kontext aktuell diskutieren (www.iosco.org).
Wie schon der Vorläufer BAWe wird die BaFin
von Beobachtern immer wieder mit einem
zahnlosen Tiger verglichen. Sollte Ihre Behörde
deshalb gestärkt werden, oder kommt es mehr
auf ein konsequenteres Vorgehen der Justiz an?
Die BaFin ist kein zahnloser Tiger. Allein im vergangenen Jahr haben wir 98 Verfahren wegen Verstößen gegen die kapitalmarktrechtlichen Pflichten mit
der Verhängung einer Geldbuße beendet. Der gesetzliche Bußgeldrahmen, in dem wir uns bewegen
müssen, sieht Geldbußen von bis zu einer Million
Euro vor. Doch wir können nicht wild um uns schießen. Wenn wir darüber entscheiden, wie hoch eine
Geldbuße ausfällt, richten wir uns nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, wie sie im Gesetz über Ordnungswidrigkeiten niedergelegt sind. So müssen wir
berücksichtigen, ob vorsätzliches oder fahrlässiges
Handeln vorliegt und welche Bedeutung die Ordnungswidrigkeit hat. 2005 haben wir außerdem
34 Anzeigen an Staatsanwaltschaften erstattet. In
diesen Fällen hatten wir klare Anhaltspunkte für
Insiderhandel oder Marktmanipulation entdeckt.
Was aus solchen Anzeigen wird, entscheidet allein
die Justiz, darauf haben wir keinen Einfluss.
Jochen Sanio:
Seit ihrer Gründung im Jahr 2002 ist
Jochen Sanio Präsident der BaFin in
Bonn und Frankfurt am Main. Zuvor
leitete der 59-Jährige die Vorgängerbehörde Bundesaufsichtsamt für das
Kreditwesen. Der Jurist ist zudem Mitglied im Committee of European Securities Regulators (CESR) der EU-Kommission in Paris.
Sanio wurde im niedersächsischen Hameln geboren, ist verheiratet und Vater
von zwei Kindern.
22
1585 AUSGABE 01/06
DOSSIER
DOSSIER
1585 AUSGABE 01/06
23
Vom Gummistiefel zum Handy:
Anfang der 90er Jahre setzte der
frühere Gemischtwarenladen Nokia
alles auf eine Karte: Mobiltelefone.
Heute dominieren die Finnen ein
Drittel des Weltmarkts.
Die Magie der Marke
Vertrauen ist der Kitt, der Menschen an Marken bindet. Nur einer glaubwürdigen Marke halten Kunden die
Treue. Nokia ist dafür ein Paradebeispiel. Seit Jahren erreicht der Handy-Konzern Spitzenwerte in Sachen
Konsumentenvertrauen. Was ist das Erfolgsgeheimnis dieser Marke?
„Nichts ist erfolgreicher als Erfolg. Dem Marktführer kommt
oft Vertrauen zu, gerade weil er Marktführer ist“, erklärt Jürgen
Häusler, CEO des internationalen Beratungsunternehmens
Interbrand Zintzmeyer & Lux, ein besonders wertvolles Gut
für Markenhersteller – Vertrauen. Denn diese besondere Verbindung zwischen Kunden und Herstellern garantiert dauerhaften Absatz der Produkte, schützt vor Marktschwankungen,
wirkt also gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie ein
Fels in der Brandung.
Zahlreiche Untersuchungen machen den Stellenwert von
Marken transparent: So befasste sich der Verlag Reader’s Digest
jüngst in der Untersuchung „European Trusted Brands“ zum
sechsten Mal mit dem Thema Markenvertrauen in Europa. Dafür befragte Reader’s Digest rund 26.000 Menschen in 14 Ländern West- und Osteuropas. Einer der Dauersieger ist seit Beginn der Umfragen Nokia. Ihm sprechen Kunden in ganz Europa das größte Vertrauen aus, wenn es ums Thema Mobilfunk
geht.
Kunden dem Weltmarktführer die Treue. Die Bindung ist so
stark, dass Nokia-Nutzer in den vergangenen Jahren ihrem
Handy-Liebling sogar manchen Fehler oder manche Nachlässigkeit verziehen haben. Die Beziehung zwischen dem HandyHersteller und seinen Kunden fußt auf vier Erfolgskomponenten: Identität, Versprechen, Kontinuität und einer klaren Linie.
„Nokia steht für Innovation und für Einfachheit“, erklärt Karsten Schilly, Mitglied der Geschäftsführung der Nokia GmbH
in Deutschland und verantwortlich für die Customer Market
Operation, die Persönlichkeit der Marke. „Unsere Kunden
benutzen und tragen unsere Produkte sogar mit einem gewissen
Stolz.“ Seit Beginn des Handy-Booms konnte Nokia vielfach
durch technische Neuerungen glänzen und brachte zum Beispiel 1996 mit dem Communicator den ersten multifunktionalen Kleincomputer mit Telefonfunktion auf den Markt. Mit
dem im November vergangenen Jahres vorgestellten Nokia
N92 kommt nun die weltweit erste Mobileinheit mit integriertem DVB-H-Rekorder auf den Markt, mit dem das Fernsehen das Handy-Display erobert. Der Marktstart ist für Mitte
dieses Jahres geplant.
Vier Komponenten des Erfolgs
Ohne Zweifel ist Nokia die stärkste und stabilste Massenmarke
im globalen Geschäft mit Mobiltelefonen. Seit Jahren halten
„Historisch betrachtet gehört zu Nokia eine Aura der Flexibilität sowohl im Aufspüren von Trends als auch im Anpassen an
24
1585 AUSGABE 01/06
DOSSIER
Die vertrauenswürdigsten Marken Europas
Befragung von Konsumenten in 14 europäischen Ländern
Mobilfunkgeräte
Nokia
Hautpflege
Nivea
Kreditkarten
neue Entwicklungen“, bestätigt InterFrühstückscerealien
brand-Chef Häusler. Gleichzeitig emotionalisiere die einfache Bedienung
Kameras
der Geräte. Fortschritt und Vertrautheit
Küchengeräte
bilden also den Kern der Marke. Das
Waschmittel
kommuniziert auch die Werbung: Sie
Haarpflege
zeigt, wie Menschen Nokia-Produkte
im Alltag nutzen. „Mit Referaten über
Computer
Hardware oder Technik kann man nur
Kosmetik
wenige begeistern“, so Schilly, „wirkliche
Inspiration entsteht, wenn man sich
von einer Geschichte angesprochen fühlt.
Damit einher geht natürlich eine starke
Emotionalität der Marke Nokia.“
Und hinzu kommt das Versprechen, Menschen in einer zunehmend mobilen Welt erfolgreich zu verbinden: „Nokia –
Connecting People“ heißt der Slogan, der seit 1994 für die
Marke wirbt.
Visa
Kellogg’s
Canon
Miele
Ariel
Wella
Hewlett-Packard
Avon
0
1
2
3
4
Anzahl der Erstplatzierungen
Fortschritt und Vertrautheit
Die Eigenschaften und das Versprechen der Marke pflegt Nokia
konsequent, seit Jorma Ollila auf dem Chefposten sitzt. Er
übernahm 1992 die Leitung des heruntergewirtschafteten
Mischkonzerns, der neben Gummistiefeln und Toilettenpapier
auch Mobilfunkgeräte fabrizierte. Ollila erkannte das gewaltige Potenzial der Mobiltelefonie und reduzierte das wirre Sortiment auf eine Produktgruppe – Handys und nötiges Zubehör.
Zugleich verstärkte er die Forschung. Eigens zu diesem Zweck
gegründete Geschäftseinheiten wie das Nokia Research Center kümmern sich tagein, tagaus darum, neue Technologien zu
entwickeln und zu realisieren. Was den Finnen bis heute den
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
Quelle: Reader’s Digest European Trusted Brands 2006
Ruf des Branchenpioniers einbringt. Aktuell machen Handys
rund 80 Prozent des Umsatzes aus, Nokia führt auf dem umkämpften Weltmarkt mit 34 Prozent Anteil. Mitarbeiter in acht
Ländern fertigen die Mobiltelefone, die anschließend in 130
Nationen rund um den Erdball verkauft werden. Allein in Finnland beschäftigt Nokia derzeit mehr als 23.000 Menschen.
Stabiles Markenvertrauen lässt sich sogar in Zahlen ausdrücken.
Die Bereitschaft von Kunden, für eine bestimmte Marke mehr
Geld auszugeben, misst regelmäßig die Studie „The Best Global
Brands“. Sie wird seit 2001 jährlich von Interbrand Zintzmeyer
& Lux und dem Wirtschaftsmagazin „BusinessWeek“ veröffentlicht. Platz eins belegt Coca-Cola, gefolgt von Microsoft,
IBM, General Electric und Intel. Auf dem sechsten Platz liegt
mit einem Markenwert von 26 Milliarden Dollar Handy-Ikone
Nokia als bestes europäisches Unternehmen. Der Erfolg einer
Marke gibt Sicherheit. Er kann aber auch dazu führen, sich
zurückzulehnen. So verschliefen die Finnen trotz permanenter
1585 AUSGABE 01/06
25
Illustration: Ji-Young Ahn
DOSSIER
Forschung den Trend zum Klapp-Handy und vernachlässigten
lange das immer wichtigere Thema Design. Schließlich verließ Nokia sogar seine klare Produktlinie und versuchte sich in
Spielkonsolen. Allerdings vergeblich: Die Spielbox N-Gage
floppte. Die Folgen solcher Nachlässigkeiten spiegeln sich am
Kapitalmarkt, hier läuft es schon länger nicht mehr rund:
Nachdem sich die Nokia-Aktie in den 90er Jahren verdreizehnfacht hatte, stürzte der Kurs zwischenzeitlich von über 50 auf
zwölf Euro. Nicht nur im Vergleich zur Benchmark, dem Dow
Jones Euro Stoxx, sondern auch in Relation zu direkten Wettbewerbern wie Ericsson entwickelte sich die Nokia-Aktie
miserabel. Mittlerweile zeigt die Kurve aber wieder leicht nach
oben.
Führungswechsel als Chance
Wie sich die Verbindung zwischen Nokia und seinen Kunden
künftig entwickelt und ob die Anleger wieder Vertrauen fassen,
hängt jetzt wesentlich von den personellen Weichenstellungen des Unternehmens ab. Eine große Chance, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen und bestehendes zu festigen, bietet der bevorstehende Wechsel in der Konzernspitze: Im Juni
verlässt Mobilfunkpionier Ollila das Unternehmen. „Ich bin
fest von der Erneuerung auf allen Ebenen überzeugt“, äußert
sich der Noch-CEO, der künftig eine Top-Position beim Ölkonzern Shell übernehmen wird. Nachfolger Olli-Pekka Kallasvou, bisher Leiter der Handy-Sparte, zeigt sich zuversichtlich
und ambitioniert. „Mehr Geräteabsatz und stabile Gewinne“,
prognostiziert er für das laufende Jahr. Für weiteres Wachstum
des Marktanteils sollen künftig UMTS-Handys sowie multimediale Anwendungen sorgen, zum Beispiel Handy-TV. Nokia
werde „großartige Produkte und Lösungen entwickeln“, sagte
Die Markentheorie
Wodurch die kostbare und sogar monetär bewertbare Verbindung zwischen Kunden und Marken
entsteht, ist schwer zu erklären. Vertrauen ist ein
flüchtiges Gefühl, es hält nicht an. Was zählt,
sind Emotionen, die allerdings Resultat ausgeklügelter Marketingstrategien sind. Fachleute reduzieren diese auf wenige Grundsätze wie Kontinuität, eine klare Linie, eine Markenidentität sowie ein glaubwürdiges Markenversprechen. Die
Identität einer Marke gründet – ähnlich wie die
eines Menschen – auf dem äußeren Erscheinungsbild und den Eigenschaften des Produkts.
Harmoniert beides, generiert sich eine sympathische „Markenpersönlichkeit“, die den Kunden im
Gedächtnis bleibt. Eine Marke verspricht an erster Stelle Qualität. Darüber hinaus sichert sie
dem Verbraucher einen emotionalen Mehrwert
zu: Der Käufer identifiziert sich mit den Eigenschaften der Marke und sieht sich deshalb ein
wenig mehr so, wie er selbst gern sein möchte –
zum Beispiel sportlich, elegant oder erfolgreich.
Kallasvou der Finanzgemeinde in
New York bei einem Investorentreffen voraus.
Dem finnischen
Wirtschaftsmagazin „Talouselama“
verriet er: „Im
Mobilfunkbereich
wollen wir für
alle Produkte die
Nummer eins
werden.“ Dazu gehört auch das Geschäftsfeld Enterprise Solutions, das nun die
Amerikanerin Mary McDowell aus New York lenkt. Diese Sparte fokussiert sich auf Businessanwendungen für Manager und
Selbstständige. Nicht zuletzt soll das Design der Produkte das
Geschäft beflügeln. Dafür hat Nokia seit April mit Alastair
Curtis einen neuen Chefgestalter. Dem Marketing kommt bei
diesen ambitionierten Zielen eine zentrale Aufgabe zu. Dabei
setzen die Finnen weiter auf Print-, Online und Fernsehwerbung. Verstärkt engagieren sie sich jedoch im Sponsoring
von Sport- und Freizeitveranstaltungen. Neu: die Nokia-Flagship-Stores. Der erste eröffnete vergangenes Jahr in Moskau.
Hier können die Verbraucher nach Lust und Laune testen und
herumexperimentieren. Weitere Vorzeige-Shops folgen.
Damit zeigt Nokia Präsenz in den Prachtmeilen, bindet die Kunden so noch fester an sich. Der Kitt, auf den es ankommt,
heißt Vertrauen.
Informationen zur Studie von Reader’s Digest: www.rdtrustedbrands.com
26
1585 AUSGABE 01/06
GUIDE
Protagonist einer
Weltstadt:
Jung, gut ausgebildet
und unternehmerisch –
Christopher Morris bringt
alles mit, was man am
Finanzplatz London
braucht. Für ruhige
Momente wie diesen ist
selten Zeit. „In keiner
anderen Großstadt geht
es hastiger zu“, so der
Manager von Saxon
Financials.
GUIDE
1585 AUSGABE 01/06
27
In der schnellsten Stadt
der Welt zählen alte Werte
Ohne Vertrauen geht an den modernen Börsen nichts, meint Christopher Morris,
Director von Saxon Financials. „1585“ hat den Finanzprofi in seinem Londoner Büro
besucht. Eine Reise in eine rasante und rastlose Stadt, die den Spagat zwischen
Moderne und Tradition jeden Tag aufs Neue bewältigt.
A
us dem Lautsprecher der Londoner U-Bahn
schallt: „Liverpool Street“. Wenige Sekunden später
öffnen sich die Türen der „Tube“ und Heerscharen
von Pendlern verlassen an einem Dienstagmorgen
während der Rush hour den Bahnsteig der District
Line. Viele von ihnen pilgern zum Café Nero oder
zu Starbucks und erreichen ihr Büro mit einer Latte
Macchiato oder einem Espresso in der Hand. Das
hektische Gewusel der Angestellten in und vor der
Station verbreitet jene Londoner Geschäftigkeit,
die mein Gesprächspartner Christopher Morris als
besonders typisch für die City (sprich London)
empfindet. „In keiner anderen Großstadt laufen die
Leute schneller, bewegen sie sich hastiger“, so
sein Eindruck. „Für den typischen Londoner gehen
die anderen immer ein wenig zu langsam.“
28
1585 AUSGABE 01/06
Vielfalt:
Der Kulturmix ist einer
der Gründe für Londons
Dynamik und Wirtschaftskraft. In der
britischen Hauptstadt,
die annähernd auf das
Bruttoinlandsprodukt
von Australien kommt,
werden nach neuesten
Schätzungen bis zu
300 verschiedene Sprachen gesprochen.
Mit modernen Hochhäusern prägen Banken und
Versicherungen mehr
und mehr das Erscheinungsbild der britischen
Hauptstadt. Besonders
auffällig ist das vom
Stararchitekten Sir Norman Foster entworfene
Hauptquartier von Swiss
Re.
Zu keiner anderen europäischen Stadt passt der Satz
„Zeit ist Geld“ besser als zu London. Der beachtliche
wirtschaftliche Status der Stadt resultiert aus ihrer
überragenden Stellung im weltweiten Finanzgefüge.
Schätzungen gehen davon aus, dass mehr als 300.000
Beschäftigte in der Finanzbranche arbeiten – und
London zum größten Finanzplatz Europas machen.
GUIDE
In der Person Christopher Morris spiegelt sich die
Londoner City wider, mit ihrer hohen Dichte an Banken, Versicherungen, Handelshäusern und Finanzdienstleistern. Wie viele andere verließ er seine Heimat Yorkshire, mit einem Bachelor-Abschluss in der
Tasche, um nach London zu gehen. Er ist jung und
mit einem MBA der London School of Economics
außergewöhnlich qualifiziert, er besitzt Unternehmergeist, ist überzeugend, sympathisch, offen.
Das von Nick Collison gegründete Handelshaus
Saxon Financial residert in der Artillery Lane, einer
ruhigen Nebenstraße der Liverpool Street. Das
Wertangebot von Saxons besteht darin, dass seine
Kunden beim Handel auf elektronischen Märkten
stets einen Sprung voraus sind. Neben Eurex
ermöglicht Saxon den Handel an verschiedenen
Termin- und Kassamärkten. Mit Niederlassungen in
London, Dublin, Gibraltar, Madrid, New York,
Montreal und Singapur ist Saxon global vertreten.
Vertrauen ist für Christopher Morris der mit Abstand wichtigste Faktor des Business. „Solange Vertrauen im Geschäftsalltag herrscht, kann man für
alle Beteiligten eine Win-Win-Situation erhoffen.“
Das Vertrauen im Verhältnis zwischen Finanzmärkten – egal ob Derivate- oder Kassamarkt – und
Teilnehmern entstehe vor allem aus Chancengleichheit und Integrität. Hierbei hätten börsennotierte
Börsen durch die Corporate-Governance-Regelungen einen Tick Vorsprung vor anderen Organisationsformen. In der Handelswelt, wo es auf „Geldangelegenheiten“ entscheidend ankommt, seien
beide Parteien darauf angewiesen, einander zu vertrauen. Aus diesem gegenseitigen Vertrauensverhältnis entstünde auch die Verantwortung, die wesentlich ist, um eine dauerhafte berufliche Zusammenarbeit aufzubauen. Auf Saxon übertragen
resümmiert er: „Unsere Geschäftsentwicklung beruht auf dem Vertrauensfaktor.“
29
1585 AUSGABE 01/06
GUIDE
Seine wenige Freizeit verbringt Morris gerne beim
Joggen in den Royal Parks. Dort kann er sich zumindest für ein paar Stunden der Illusion hingeben,
dem urbanen Moloch zu entkommen. Zugleich gehört er zu der kleinen und mutigen Schar der Radfahrer. „Mit keinem anderen Transportmittel
komme ich in London schneller zehn Meilen voran“,
berichtet er. Hampstead Heath oder Primrose Hill
sind Lieblingsziele, wenn Freunde oder Familie ihn
besuchen. Eine touristisch wenig bekannte Perle
ist für ihn der Regent Canal, eine Wasserstraße, die
London den Hauch von Venedig verleiht. Am Hoxton Square gefällt ihm das Bohème-Image mit den
Galerien, Bars und dem künstlerischen Flair.
Zum Chill-out gehen Christopher und die Trader
von Saxon ins „Royal Exchange“, eine versteckte Bar
im ehemaligen Gebäude der Bank of England.
„Seine ungewöhnliche Atmosphäre verdankt London auch der multikulturellen Vielfalt“, sagt Morris
über seine Wahlheimat. Jüngste Schätzungen gehen
davon aus, dass in London mehr als 300 Sprachen
gesprochen werden. „Sie kriegen einen guten Eindruck davon, wenn Sie einen Tag in der Tube unterwegs sind“, fügt er schmunzelnd hinzu.
1585Quiz
London ist Finanzmetropole und Touristenmagnet zugleich. An der
„1585“ verlost einen zweitägigen Aufenthalt im One Aldwych. Be-
sichelförmigen Straße Aldwych zwischen der City und dem West-
antworten Sie folgende Frage und schicken Sie die Lösung bitte
end gelegen, hat sich das One Aldwych zum Klassiker unter Lon-
bis 5. Juni per E-Mail an: [email protected]
dons modernen Fünf-Sterne-Hotels entwickelt. „Not an inch of
chintz“ ist hier zu finden, dafür jede Menge zeitgenössische Ori-
Wie viele Sprachen werden schätzungsweise in London gespro-
ginalkunst und ein stimmiges Designkonzept. Ideal gelegen für
chen?
den Geschäftstermin in der City, den Besuch an der Börse oder
a) 50
b) 300
c) 1000
auch der Tate Modern zwischendurch. Information und Buchung:
www.onealdwych.com
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Mitarbeiter der Gruppe Deutsche Börse
und ihre Angehörigen dürfen nicht teilnehmen.
30
1585 AUSGABE 01/06
REVIEW
Kein Blatt vorm Mund
Mehr als 25 Jahre lang war Jeff Winter eine der schillerndsten Schiedsrichterfiguren im englischen
Fußball. In seinem Buch „Who’s the B*****d in the Black“ erzählt er über sein Leben, die mühevolle Vertrauensarbeit auf dem Spielfeld, seine Karriere und sein Verhältnis zu den Akteuren des Profifußballs:
Spieler, Trainer, Funktionäre.
F
ür Sir Alex Ferguson, Trainer von Manchester United, war
er auf dem Fußballplatz meist „fucking useless“. Steve Bruce,
Trainer des Erstligaclubs Birmingham City, bezeichnete ihn als
einen „absolute prat“, was frei übersetzt so viel wie „Vollidiot“
bedeutet. Und die Fans der Fußballclubs aus Blackburn und
Newcastle verbrüderten sich gegen ihn und sangen gemeinsam
„You don’t know what you’re doing!“ Die Rede ist in allen
Fällen von Jeff Winter, dem schillerndsten und kontroversesten
Schiedsrichter der englischen Football Association.
„Nicht unintelligent, aber er redet zu viel. Außerdem steht
er gerne im Mittelpunkt des Interesses“, stand auf seinem
Abschlussschulzeugnis. Es gibt schlechtere Voraussetzungen,
um eine Karriere als Schiedsrichter zu starten. Das erkannte
auch Tommy Harper von der North Riding Football Association,
als er den jungen Bankangestellten Winter dereinst fragte, ob
er Schiedsrichter werden wolle. Mit dem Spiel Yarm FC gegen
Cleveland Nomads (6:2) begann am 4. Februar 1979 die Karriere, die ihren Höhepunkt 25 Jahre später im FA Cup Finale zwischen Manchester United und Millwall erreichen sollte. Das
Vertrauen auf sich selbst und seine eigenen Entscheidungen, seine direkte, ehrliche Art und seine Fähigkeit, sich auch von
großen Namen nicht einschüchtern zu lassen, ließen Winter zu
einem der wichtigsten Schiedsrichter Englands werden.
Trotz der eingangs zitierten feindlichen Charakterisierungen:
Auf dem Platz verschaffte sich Winter durch sein resolutes
Auftreten den Respekt und das Vertrauen von Trainern und
Spielern. In den Reihen des Schiedsrichterverbands kam
diese Art nicht immer gut an. Doch Winter blieb sich treu: „Viele Schiedsrichter haben früh in ihrer Karriere gelernt, dass sie
schnell vorankommen können, wenn für ihr Spiel nur der richtige Schiedsrichterbeobachter eingeteilt wird. Anders gesagt:
Wenn man vorankommen wollte, genügte es nicht, nur die richtigen Entscheidungen auf dem Spielfeld zu treffen“, schreibt
er in seinem Buch. „Man kann mich naiv nennen, aber ich hatte
mich dafür entschieden, meine Sache als Schiedsrichter bei
jedem Spiel einfach immer so gut wie möglich zu machen. Die
Politik und Machenschaften hinter den Kulissen haben mich
zwar geärgert, aber ich habe versucht, mich davon nicht beeinflussen zu lassen.“ Selbst nach seinem Karriereende (er hatte
die Altersgrenze erreicht) hielt er sich an diesen Grundsatz – und
verspielte damit die Chance auf einen interessanten Job im
Schiedsrichterverband.
In seiner Autobiographie rechnet Winter nicht nur mit dem
Verband ab. Spieler, Trainer, Vereine – alle bekommen ihren
passenden Kommentar. Manchester United, davon ist Winter
überzeugt, glaubt, dass „sie über dem Gesetz stehen und das
Recht haben, Schiedsrichter zu schikanieren“. Über den Ex-Profi
und heutigen Trainer Gordon Strachan sagt er: „In der ersten
Liga gab es nur wenige problemlose Spiele. Und wenn Gordon
Strachan dabei war, gab es scheinbar gar keine problemlosen
Spiele.“
Den Entschluss, eine Autobiographie zu schreiben, fasste
Winter am Ende seiner aktiven Schiedsrichterkarriere. „Es
gab bereits die Schiedsrichterbücher von David Elleray und
Pierluigi Collina, aber beide sind ziemlich zahm. Ich wollte
etwas anderes machen.“
Herausgekommen ist ein sehr direktes, ehrliches Buch, in
dem Jeff Winter fast kein Blatt vor den Mund nimmt – auch
wenn einige Stellen dem Rotstift zum Opfer fielen: „Der Verlag
wies darauf hin, dass einiges in dem Buch ziemlich starker
Tobak sei. Somit sind letztendlich jede Menge guter Stellen unter
den Tisch gefallen.“
Trotz dieser Zensur hat Winter sein offenes Mundwerk behalten. Und verdient auch heute noch sein Geld damit: Er
arbeitet nicht nur als Buchautor, sondern auch als Radiokommentator und Festredner.
Jeff Winter: „Who’s the B*****d in
the Black? Confessions of a Premiership
Referee“;
Ebury Press, ISBN 0091909163, Preis:
ca. 31,50 Euro (18,99 Pfund)
Die Ikonen
der Wirtschaft ...
ur
Je CD n
9,95 ¤
Bestell-Nr.: HB 2021
Bestell-Nr.: HB 2023
Bestell-Nr.: HB 2027
Bestell-Nr.: HB 2029
Bestell-Nr.: HB 2030
Bestell-Nr.: HB 2038
Bestell-Nr.: HB 2039
Bestell-Nr.: HB 2040
Bestell-Nr.: HB 2041
Bestell-Nr.: HB 2042
Bestell-Nr.: HB 2043
Bestell-Nr.: HB 2044
Bestell-Nr.: HB 2045
Alle 12
C Ds
nur 79
,– ¤
Handelsblatt Audio Edition
Spannende Porträts von den größten
Persönlichkeiten der Wirtschaft,
mitreißend und kenntnisreich erzählt
von den Journalisten Deutschlands
größter Wirtschaftszeitung.
Gesprochen von Percy Hoven.
Mit der exklusiven Geschenkbox
sparen Sie über 40,– ¤ ...
Bestellen Sie jetzt per Telefon
0800.0002056 (gebührenfrei).
Noch schneller geht’s per Internet:
www.handelsblatt-shop.com
1585 AUSGABE 01/06
PORTRAIT
33
Der Himmelsstürmer
Thomas Reiter wechselt voraussichtlich im Juli für ein halbes
Jahr sein Zuhause: Weltall statt Oldenburg. Für das Leben
an Bord der Raumstation ISS muss der Astronaut aus Deutschland vor allem einem vertrauen: sich selbst.
Manchmal wäre ein wenig Unwissenheit nicht übel.
Mal angenommen, man sitzt im Space Shuttle und
rast mit 15-facher Schallgeschwindigkeit aufwärts.
Was geht einem durch den Kopf: Wie viele Einschläge waren es? Nur 25 wie beim letzten Mal?
Haben die vagabundierenden Brocken aus Eis und
Schaumstoff erneut Hitzekacheln zertrümmert?
Wie steht es um die empfindliche Tragflügelkante,
nicht erst seit 2005 wunder Punkt der Raumfähre
Discovery?
Nicht einmal Thomas Reiter weiß, was er wirklich
denken wird in jenen Minuten des Aufstiegs. Der
Countdown läuft für Mission STS-121 – und damit
für den 47-jährigen Astronauten. Im Juli – sofern
alles klappt – fliegt der zweifache Familienvater zur
Internationalen Raumstation ISS. Dort gehört er
als Bordingenieur ein gutes halbes Jahr zur Stammbesatzung. Als erster deutscher Langzeitastronaut
lebt, schwebt und arbeitet Thomas Reiter dann 390
Kilometer über der Grasnarbe.
Von 114 Einsätzen endeten zwei tödlich
Vertrauen ist alles:
Thomas Reiter wagt sich
an Bord eines 25 Jahre
alten Fluggeräts in das
Weltall. „Ich vertraue fest
darauf, dass der Shuttle
sicherer ist denn je.“
Nach mehrmaligem Verschieben ist STS-121 erst
der zweite Shuttle, der seit der Columbia-Katastrophe vom Februar 2003 den Weg nach oben wagt.
Der Auftrag wird zu einer Frage des Vertrauens.
Wer Reiter fragt, der hört: „Ich vertraue fest darauf,
dass es der sicherste Shuttle ist, den es je gab.“
Das Risiko sei „akzeptabel“. Er sagt aber auch: „Man
ist im Nachhinein fast überrascht, dass es so oft
gut gegangen ist.“ Von 114 Shuttle-Einsätzen endeten zwei tödlich.
Astronaut – ein Beruf ist das nicht. Es ist ein Männertraum, ein Mythos. Allein das Wort schmeckt
nach Abenteuer – und Thomas Reiter ist alles andere
als ein cooler Vertreter seines Standes: „Ich freue
mich riesig auf meinen zweiten Start“, sagt er begeistert. Reiter weiß, wie das ist mit 3.000 Tonnen
Schub im Rücken: „Du spürst eine wahnsinnige
Beschleunigung, das Vibrieren der Haupttriebwerke. Wir haben uns bei meinem ersten Start kurz
die Hand gegeben, um uns klar zu machen, dass es
wirklich losgeht.“ Viel Zeit zum Sinnieren blieb
nicht. „Ich dachte nur: Hey, jetzt bist du gleich im
Orbit. Das dauert ja kaum neun Minuten.“
2.864-mal um die Erde gekreist
Thomas Reiter ist ein europäischer Vorzeigeastronaut. 1,83 Meter groß, sportlich, uneitel. Wer ihn
durch die Scheibe des unbequemen Raumanzugs
lächeln sieht, wird angesteckt. Bei seinem bevorstehenden Einsatz kommt ihm die Erfahrung zu Gute: Schon vor über zehn Jahren, genau am 3. September 1995, hinterließ er im russischen Weltraumbahnhof Baikonur seinen Namen auf der Zimmertür
– das angeblich Glück bringende Kosmonautenritual vor dem Start. Mit einer Sojus-Rakete donnerte
er zur russischen Raumstation Mir. 2.864-mal umkreiste er mit dem altersschwachen russischen Außenposten die Erde, 179 Tage lebte er in der Schwerelosigkeit bis zum harten Aufprall in der kasachischen Steppe. Als Jahre später die Mir gezielt zum
Absturz gebracht wurde, fühlte sich Reiter, als
hätte er sein eigenes Auto in die Schrottpresse gefahren. Eine emotionale Angelegenheit.
34
1585 AUSGABE 01/06
Zeit der Einsamkeit:
Die Astronauten der ISS
verbringen sechs Monate
in der Isolation. Gesprächspartner sind
Rechner. Pumpen und
Konverter verströmen eine
mechanisch-ölige Note
in der Luft.
Nun steht ihm der Systemvergleich bevor: Der enge
russische Sojus-Dreisitzer, für den Reiter sogar
den Führerschein besitzt, gegen die amerikanische
Sorgenfähre, die seit 1981 im Verkehr ist. „Ich bin
gespannt auf den Vergleich, auch wenn ich im Shuttle in der ersten Phase leider keine so aktive Rolle
einnehme.“ Er ist darauf angewiesen, dass Discovery-Kommandant Steven Lindsay und die Hundertschaften in den Mission Control Centern in Florida
und Texas keine Fehler machen. Reiter voller Vertrauen: „Ich fühle mich im Shuttle nicht unsicherer
als in einer Sojus-Rakete.“ Natürlich: „Die Technik
ist alt, aber das soll nicht heißen, dass die nicht einigermaßen zuverlässig ist“, sagt Reiter optimistisch.
PORTRAIT
anderen Beruf suchen“, sagt der gelernte Jet-Pilot
und Oberst der Luftwaffe. Es helfe nicht, die Risiken
zu verdrängen. Im Gegenteil – ein Hasardeur im
All wäre eine fatale Fehlbesetzung. „Bei technischen
Systemen gibt es keine 100-prozentige Sicherheit.“
Worauf es bei einem Langzeitaufenthalt im All ankommt: die menschliche Fähigkeit, zu interpretieren. „Ein Roboter könnte die Probleme da oben
nicht annähernd lösen.“ Die jahrelang einstudierten Routinen und das instinktiv richtige Handeln.
Ohne das wird es nicht gehen in jener WG der
blassen Männer, die mit 28.000 Stundenkilometern
in 90 Minuten die Welt umrundet. Wäre nicht so
viel zu tun, könnten sie aus den Bullaugen jeden Tag
die Sonne 16-mal aufgehen sehen.
In 90 Minuten um die Welt
Es ist kein blinder Glaube in irgendeinen Zentralrechner, der jemanden wie Reiter den Mut zum Abheben in einem mittlerweile 25 Jahre alten Fluggerät gibt. Pioniergeist und Forscherdrang treiben ihn
an. „Aber sicher: Wenn ich kein grundsätzliches
Vertrauen in die Technik hätte, müsste ich mir einen
Ein halbes Jahr Niemandsland. Überleben in einem
Gewirr zusammengesteckter Blechtonnen. Wohin man auch schwebt: Überall surrende Laptops,
Ventilatoren, Pumpen und Konverter, die Tag und
Nacht eine mechanisch-ölige Note verströmen. Das
klingt nicht nur nach Faszination Technik. Es klingt
PORTRAIT
1585 AUSGABE 01/06
35
auch nach Entbehrung und Einsamkeit. Nach dehydrierten Shrimps mit Soße, die aus einem Päckchen
gelutscht werden. Nach feuchten Hygienetüchern
und dem Verlangen nach einer heißen Dusche. Reiters Astronautenkollege Reinhold Ewald sagt lakonisch: „Wir sind ja nicht zur Körperpflege da oben.
Eine Raumstation ist keine Vielfliegerlounge.“ Im
Gegenteil: Der Auftrag ist eben laut, anstrengend
und gefährlich. „Die bemannte Raumfahrt birgt
Gefahren, die kein Technikteam aus der Welt schaffen kann“, sagt Ewald. Das hat er 1997 bei seiner
20-Tage-Mission zur Mir am eigenen Leib erlebt. Damals explodierte eine Sauerstoffpatrone – und
die Crew musste plötzlich brennende Metallteile löschen, die in der Station umherflogen.
Auch Reiter glaubt, dass bis zu seiner geplanten
Rückkehr im November dort oben nicht alles glatt
laufen wird. Die Mir-Erfahrung hat ihn geprägt:
„Notlagen zu meistern, ist täglich Brot“, sagt der
Luft- und Raumfahrttechniker. Mit Lötkolben in
der Hand und Schraubenzieher im Mund hat er schon
ein Leck im Kühlkreislauf in Ordnung gebracht.
„Man muss dauernd improvisieren.“ Wenn ein „lebenserhaltendes System“ ausfällt, kann man schließlich nicht den Handwerker anrufen. Selbst ist der
Mann – von der Stromerzeugung über die Temperaturkontrolle bis zur Kommunikation und Trinkwasserbereitung. Jeder muss fit sein, bereit, dem anderen zu helfen.
Eine eingeschworene Gemeinschaft
„In der Station zählt nur das Team, nicht die Herkunft“, sagt Reiter. Für rund 30 Millionen Euro soll
die Europäische Raumfahrtagentur ESA den notorisch klammen Russen den Startplatz für Reiter abgekauft haben. Der Mann aus Oldenburg fühlt sich
dennoch nicht als zahlender Juniorpartner. Die weltweit etwa 160 aktiven Astronauten sind eine eingeschworene Gemeinschaft. In den zwei Jahren der
Intensiv-Vorbereitung pendelte Reiter wie alle ISSAspiranten permanent zwischen dem Sternenstädtchen bei Moskau, Houston und dem ESA-Astronautenzentrum Köln. Jeder kennt jeden. Ob man sich
immer mag, steht auf einem anderen Blatt. „Das
sind Profis, oft Soldaten – die müssen zusammen
können“, kommentiert ESA-Sprecher Jean Coisne.
„Die ISS ist 450 Tonnen internationale Partner-
schaft“, heißt es bei den beteiligten Raumfahrtorganisationen. 16 Nationen bauen seit November 1998
an dem Hightech-Arbeitsplatz für Astronautenteams: 1.200 Kubikmeter künstlicher Lebensraum,
angefüllt mit Luft aus Florida und Baikonur. Die
Station ist das Größte, was Menschen je im Orbit
platziert haben. Mit ihren Sonnensegeln soll die
ISS einmal 108 Meter Spannweite haben und 80 Meter lang sein. In alle Himmelsrichtungen werden
die büchsenartigen Module angedockt – ein gewaltiger internationaler Technikbaukasten. Kritiker sagen: ein Milliardengrab, das wohl nie richtig fertig
wird. Reiter hält dagegen: „Letztlich hat nur derjenige Erfolg, der sich nicht von Rückschlägen abhalten
lässt.“
Schlafsack in der Nische
Auf den ersten Blick herrscht auf der ISS ein Chaos
wie in einem umgekippten Wohnwagen. Wenn
Reiter wie ein Fisch durch die mit Technik ausstaffierte Grotte schwimmt, muss er aufpassen,
nirgendwo anzustoßen. Jedes Teil, das er mitreißt,
Intensives Training:
Ein Weltraumausflug ist
kein Spaziergang. Rund
zwei Jahre schuftete
Reiter in der Nähe von
Moskau, in Houston und
Köln für seinen OrbitTrip.
36
1585 AUSGABE 01/06
Big Business:
Für rund 30 Millionen
Euro soll die Europäische
Raumfahrtagentur ESA
den notorisch klammen
Russen den Startplatz
für Thomas Reiter abgekauft haben.
schwebt weg. Unauffindbar. Mit Glück hängt es in
einem Lüftungsfilter. Die Ausrüstung ist in weißen
Transportboxen untergebracht, die überall an den
Wänden festgezurrt sind. Essen lagert in Plastikboxen – rote für die russischen Rationen, blaue für
die amerikanischen. Mittendrin ein Keyboard, ein
Laufband, eine Mikrowelle. Vor den Versuchsschränken sind Fußschlaufen angebracht, mit denen
sich die Astronauten bei der Arbeit fixieren. Wer
das vergisst und eine Schraube anzieht, dreht sich
stattdessen selbst. Seinen Schlafsack hat Thomas
Reiter in einer Nische angebunden, damit er nicht
träumend durch die Station schwebt.
PORTRAIT
„Die Schwerelosigkeit ist ein wunderbares Gefühl“,
schwärmt Reiter. Besonders freut er sich auf einen
weiteren geplanten Außenbordeinsatz. Zwei Ausstiege in den freien Weltraum durfte er schon wagen. Nur mit einer weißen Nabelschnur mit der Station verbunden, sammelte er Meteoritenstaub aus
einem Kästchen an der Außenwand der Mir, das er
zuvor dort angebracht hatte. Jeder Handgriff einstudiert, jedes Fingerkrümmen im prallgepumpten
Raumanzug kostet enorme Kraft, sechs Kilo Wasser schwitzt Reiter aus. „Aber wenn man sich dann
einmal von der Station wegdreht und noch überall
Kontinente sieht, wunderschöne Wolkenformationen, dann denkt man: Das träumst du.“ Das Gefühl sei so unwirklich, kaum in Worte zu fassen,
sagt Reiter. „Überwältigend. Wie im Märchen.“
zu werden. Wie es denn sei, nach einem halben Jahr
Einsamkeit wieder an der Supermarktkasse angerempelt zu werden? Er muss lachen: „Ich habe noch
nie gedacht: Das kann ja wohl nicht wahr sein, jetzt
warst du im Weltraum und nun musst du auf der
Autobahn auch noch im Stau stehen.“ Im Gegenteil:
„Gerade bei einem Langzeitaufenthalt gibt es Phasen, wo man normale irdische Dinge vermisst.“
Anderthalb Kilo irdische Habe darf Reiter mitnehmen. Ein paar Fotos von seiner Frau Consuela und
den Söhnen Daniel und Sebastian. Sie packen ihm
auch ein kleines Überraschungspaket, das er erst oben
öffnen darf. Dazu elektronische Bücher über Philosophie, Geschichte und viel Musik – der Datenkompression sei Dank. Zwar sei auch bei einer Langzeitmission „fast jede Sekunde verplant“, sagt Reiter,
doch die Astronauten sind auch angewiesen, streng
ihre Ruhezeiten einzuhalten. „Reines Zuckerschlecken wird das nicht.“ Klar macht es mal Spaß, eine Salamischeibe durch die Luft segeln zu lassen und mit
dem Mund einzufangen. Aber er weiß es jetzt schon:
Das fantastische Gefühl, es wirklich nach oben geschafft zu haben, wird nicht ewig halten. „Irgendwann kommt eine Phase, da reicht ein grünes Kontrolllicht, und man denkt an Natur und Wald.“ Nicht
umsonst zählen auch psychologische Selbstversuche zum wissenschaftlichen Programm. „Wenn ich
mal Zeit haben sollte, genieße ich den Blick ins All
und auf die Erde“, kündigt er an. „Beim letzten Mal
habe ich mir fast Vorwürfe gemacht, nicht oft genug rausgeguckt zu haben.“
Das Gefühl hält nicht ewig
„Man setzt andere Prioritäten, Probleme erhalten
eine andere Wertigkeit“, sagte Thomas Reiter nach
Rückkehr von der Mir. Man fühle sich weniger als
Bürger eines bestimmten Landes, sondern als Weltbürger. Die Bodenhaftung verliert er nicht, keine
Sorge. Er erwartet nicht, nach Rückkehr wie die ersten Mondfahrer im Cabrio durch die Stadt gefahren
Stefan Merx, 38, schreibt als freier
Journalist in Köln für führende Zeitungen
und Magazine in Deutschland. Den
ersten Kontakt zur Raumfahrt
hatte er im Mission Control Center in
Houston – als Tourist.
www.aignermunich.com
Shops
Berlin: Kurfürstendamm 50, Tel. 030/88683668 • Bonn: Markt 38-40, Tel. 0228/654520
Düsseldorf: Königsallee 60, Tel. 0211/3230955 • Leipzig: Mädlerpassage/Grimmaische Straße 2-4, Tel. 0341/2115055
München: Theatinerstraße 45, Tel. 089/2907510 • Nürnberg: Kaiserstraße 41, Tel. 0911/223753
Stuttgart: Stiftstraße 14, Tel. 0711/2804122 • Salzburg: Alter Markt 7, Tel. +43/(0)662/849010
Wien: Kärntner Ring 5-7/Ringstrassengalerien, Tel. +43/(0)1/5126123
38
1585 AUSGABE 01/06
FOTOSTORY
Ausstellung der Besten: Die Bilder der vier Nominierten Adams, Barrada, Collins
und Soth sind jetzt in Berlin und bald in Frankfurt zu sehen.
Großer Mahner: Die kritischen Naturfotos von Robert Adams ziehen in den Bann,
wie dieser Baum im US-Bundesstaat Oregon.
Von Bäumen und Menschen
Robert Adams ist der Gewinner des Deutsche Börse Photography
Prize 2006. Seit mehr als 40 Jahren dokumentiert der Künstler aus
New Jersey mit seiner Kamera die Folgen der Industrialisierung.
D
er 1937 geborene Robert Adams erhält den Deutsche
Börse Photography Prize 2006 für die Ausstellung „Turning
Back: A Photographic Journal of Re-exploration“ im Haus der
Kunst München. Darin blickt er mit 164 ansehnlichen, aber
schonungslos entlarvenden Silber-Gelatine-Abzügen aus den
Jahren 1999 bis 2003 kritisch auf Abholzung, Industrialisierung und Besiedelung des amerikanischen Nordwestens. „Turning Back“, sagt Adams daher, „war ein Projekt, das für mich
mit sehr viel Verzweiflung verbunden war.“
Die fotografische Expedition beginnt im Gebiet früherer
Urwälder, die heute weitgehend zerstört sind, und führt
schließlich zu intakten Waldgebieten im Mittleren Westen –
ein Appell an einen rücksichtsvollen Umgang mit Natur und
Landschaft. Dass die Ausstellung mit dem Photography Prize
gewürdigt wird, interpretiert Robert Adams als Zeichen eines
Sinneswandels. „Der Preis macht mir bewusst, dass Menschen,
die sich um ihre Umwelt kümmern, wichtige Erfahrungen
teilen – beispielsweise die Freude, gesunde Bäume um sich zu
haben.“
Als am 22. März der Photography Prize in der Räumen der
Photographers’ Gallery in London zum zehnten Mal vergeben
wurde, vertrat Gerry Badger, Autor und langjähriger Freund,
den 70-jährigen, scheuen Künstler. Den Gewinn des Preises, für
den er bereits im Jahr 2004 nominiert war, kommentierte
Adams mit Freude und Dankbarkeit. Das Preisgeld von 30.000
Pfund spendet er der unabhängigen Organisation Human
Rights Watch, die weltweit für die Menschenrechte eintritt.
Eine Ausstellung mit Bildern jener Künstler, die in die engere Wahl gekommen waren – neben Robert Adams auch Yto
Barrada, Phil Collins und Alec Soth – gastiert vom 17. Mai bis
16. Juli im C/O Berlin und vom 7. September bis 22. Oktober
in der Neuen Börse in Frankfurt.
Vorsprung durch Technik www.audi.de/q7globe
Vom Erfinder des quattro®
Der Audi Q7. Mehr Fahrspaß mit
quattro und adaptive air suspension.
Neue Kraft entsteht – denn im Audi Q7 stecken die Gene jener Autos, die mit quattro
Rennsportgeschichte geschrieben haben. Ihre legendäre Überlegenheit bringt der
Audi Q7 jetzt auf die Straße. Und noch mehr: Durch das Zusammenspiel von herausragenden Audi Technologien setzt er neue Maßstäbe in seiner Klasse. Zum Beispiel
auf Wunsch mit adaptive air suspension: einer Luftfederung, die sich an verschiedene
Situationen anpassen lässt und so die Fahrdynamik steigert. Gemeinsam mit quattro
eine Kombination für mehr Fahrspaß.
Ab sofort bei Ihrem Audi Partner.
CORPORATE & INVESTMENT BANKING
I
ASSET MANAGEMENT
I
PRIVATE WEALTH MANAGEMENT
I
PRIVAT- UND GESCHÄFTSKUNDEN
Made in Germany.
Ihr Zugang zu den wichtigsten
Märkten der Welt.
Als eine der weltweit führenden Banken geben wir Ihnen die Stärke und
die Kompetenz, um für die Märkte der Welt gerüstet zu sein. Wir sind auf
der ganzen Welt zu Hause – auch an der Wall Street in New York.
Erwarten Sie die bessere Lösung.
www.deutsche-bank.de
Bank
of the
Year
2005
01/ 06
Die Deutsche Bank teilt Ihre Leidenschaft mit deutschen Produkten und
Dienstleistungen neue Wege zu gehen und die Chancen in ausländischen
Märkten aktiv zu nutzen.
5 Euro
Sie haben viel vor. Mit Ihren Ideen, Ihren Produkten, Ihren Investments,
Ihrem Unternehmen.
1585
Business Journal Deutsche Börse Group
Vertrauen
• An Märkten • Zwischen Menschen • Im Weltall