1585 - Business Journal Deutsche Börse Group
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1585 - Business Journal Deutsche Börse Group
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Neue Kraft entsteht – denn im Audi Q7 stecken die Gene jener Autos, die mit quattro Rennsportgeschichte geschrieben haben. Ihre legendäre Überlegenheit bringt der Audi Q7 jetzt auf die Straße. Und noch mehr: Durch das Zusammenspiel von herausragenden Audi Technologien setzt er neue Maßstäbe in seiner Klasse. Zum Beispiel auf Wunsch mit adaptive air suspension: einer Luftfederung, die sich an verschiedene Situationen anpassen lässt und so die Fahrdynamik steigert. Gemeinsam mit quattro eine Kombination für mehr Fahrspaß. Ab sofort bei Ihrem Audi Partner. 1585 AUSGABE 01/06 1585 3 Vertrauen Ohne den Faktor Vertrauen würden Waren- und Finanzmärkte nicht existieren. Auch die Gruppe Deutsche Börse ist nur erfolgreich, wenn uns unsere Kunden Vertrauen entgegenbringen. Grund genug für die Redaktion von „1585“, die erste Ausgabe diesem zentralen Thema zu widmen. Die Verantwortung für die Bildsprache haben wir in vertrauenswürdige Hände gelegt: Der Berliner Fotograf Sebastian Pfütze, Jahrgang 1970, hat alle Bildideen dieser Ausgabe entwickelt und umgesetzt. Seine Erfahrungen haben mit Vertrauen zu tun: „Ich hatte ungewöhnlich große Freiheiten. Die Verantwortung und Chance, ein ganzes Heft zu bebildern, ist etwas Besonderes.“ 06 FEATURE 14 REPORT 26 GUIDE 32 PORTRAIT Ökonomie des Vertrauens Adieu, Homo oeconomicus! Moderne Wissenschaftler beweisen, dass Menschen selbstloser sind als bisher vermutet. Das revolutioniert nicht nur die Wirtschaftswissenschaft, sondern auch die Waren- und Finanzmärkte. Die Wächter der Märkte Kapitalmärkte funktionieren nicht allein auf Vertrauensbasis. Doch wie viel Regulierung muss sein – und wann wird eine allzu strenge Finanzaufsicht schädlich? Die Debatte darüber beginnt gerade erst. Schnelle Stadt, alte Werte Blitzgescheite Köpfe wie Christopher Morris, Manager bei Saxon Financials, machen London zum Finanzmekka Europas. „1585“ besuchte ihn in Großbritanniens Hauptstadt – ein (Stadt-)Porträt mit attraktivem Gewinnspiel. Der Himmelsstürmer Voraussichtlich im Juli dieses Jahres fliegt Thomas Reiter für ein halbes Jahr zur Raumstation ISS ins Weltall. Team und Technik sind wichtig. Doch am Ende kommt es für Reiter nur auf eines an: das Vertrauen in die eigene Kraft. 04 12 20 22 30 38 NEWS /IMPRESSUM KOLUMNE Anthony Hilton über Corporate Governance INTERVIEW Jochen Sanio über das richtige Maß an Regulierung DOSSIER Die Magie der Marke Nokia REVIEW Die mühevolle Vertrauensarbeit eines Referees FOTOSTORY Robert Adams, Gewinner des Deutsche Börse Photography Prize 4 1585 AUSGABE 01/06 1 NEWS 2 3 1. MODERNE OTHELLOS Beim Thema Liebe und Ei- 3. VERTRAUENSWÜRDIGSTER SCHWEIZER Die fersucht sind die vermeintlich kühlen Schweden heißblütig. Nach meisten Europäer vertrauen am stärksten ihrem Staatsoberhaupt, einer aktuellen Umfrage eines schwedischen Mobilfunkanbieters spio- aber auch der Papst, Tennisspieler und Naturforscher setzten sich nieren etwa zwei Drittel der Schweden regelmäßig das Handy ihres durch. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „Reader’s Digest Eu- Partners aus und lesen dessen SMS. 25 Prozent der Befragten ge- ropean Trusted Brands 2006“. Zum sechsten Mal hat das Magazin ben zu, dabei von Eifersucht getrieben zu sein. Jeder zweite Handy- „Das Beste / Reader’s Digest“ in der europaweit größten repräsenta- Schnüffler schnappt sich das Mobiltelefon des Partners, wenn die- tiven Konsumentenstudie die vertrauenswürdigsten Institutionen, ser gerade unter der Dusche oder auf der Toilette ist. Besonders groß Marken und Personen in 14 Ländern Europas ermittelt (siehe dazu ist das Interesse an empfangenen und versendeten SMS des Lebens- den Beitrag ab Seite 22). In jedem Land außer Großbritannien konn- partners, wenn er oder sie zuvor alleine in der Kneipe oder im Res- ten die Befragten nur eine vertrauenswürdige Person benennen. taurant war. Gleichzeitig ergab die Studie auch, dass 86 Prozent der Einige Ergebnisse: 43 Prozent der Russen stimmten für Staats- und Schweden schon einmal einen Flirt per SMS hatten. Regierungschef Wladimir Putin. Roger Federer, den derzeit dominierenden Spieler im Herrentennis, nannten zwar nur 16 Prozent der 2. DIE BESTEN SUCHMASCHINEN Google und Ya- Schweizer – doch das genügte für Platz eins im nationalen Ranking. hoo liefern die zuverlässigsten Suchergebnisse im Internet. Das ist Die Polen vertrauen Papst Johannes Paul II auch über dessen Tod hi- die Meinung von 2.000 nordamerikanischen Internetnutzern, die En- naus am meisten. In Großbritannien wählten die Interviewten aus ei- de 2005 von Keynote Systems befragt wurden. Die Teilnehmer der ner Liste mit 100 Namen ihren Prominenten des Vertrauens: Die Studie haben im Auftrag des kalifornischen Unternehmens im Web größte Zahl der Stimmen entfiel auf den Naturforscher Sir David nach Themen und Bildern gesucht und die Resultate bewertet. Nach Attenborough. In Deutschland siegte Bundespräsident Horst Köhler. den Worten von Studienleiter Bonny Brown gibt es einen klaren Sie- Internet: www.rdtrustedbrands.com ger: „Google ist weiter der König der Internetsuche.“ In allen 13 Kategorien des Tests liegt Google vorn. Jedoch folgt Yahoo mit nur ge- 4. GUTE UNTERNEHMENSKULTUR In Sachen Ver- ringem Abstand. Gerade bei neuen Themen wie Bildern oder loka- haltensstandards und Transparenz zählt die Deutsche Börse AG zu len Angeboten ist Yahoo stark. Auf Platz drei landet Ask Jeeves, der den Top-Unternehmen in Deutschland. Das ist das Ergebnis zweier Suchdienst für Mitglieder des Online-Anbieters AOL. Der Vorjahres- Untersuchungen zum Thema Corporate Governance. Im Ranking der dritte, die Microsoft-Suchmaschine MSN, fällt auf Platz vier zurück. Fondsgesellschaft Union Investment belegt die Deutsche Börse mit Platz fünf geht an die Suchmaschine im öffentlichen AOL-Bereich. einer Gesamtnote von 1,75 hinter der Deutschen Telekom AG Platz Internet: www.keynote.com zwei unter den 30 DAX ®-Unternehmen. Der Notendurchschnitt aller 1585 AUSGABE 01/06 NEWS 5 Deutsche Börse AG auf Wachstumskurs Angaben in Millionen Euro 1750 Umsatz 1500 1250 1000 EBITA 750 250 0 2001 2002 2003 2004 2005 4 Quelle: Deutsche Börse AG 500 5 bewerteten Firmen liegt bei 2,75. In die Endnote ging zu gleichen sen, Steuern und Abschreibungen auf Geschäfts- und Firmenwerte Teilen ein, wie sehr die Gesellschaften die Aktionärsrechte achten, (EBITA) kräftig gesteigert (siehe Grafik oben). wie Vorstand sowie Aufsichtsrat organisiert sind und schließlich wie Internet: www.deutsche-boerse.com > Investor Relations > Berichte und Kennzahlen www.deutsche-boerse.com > Investor Relations > Corporate Governance transparent das Unternehmen arbeitet und informiert. Auch Betriebswirtschaftsprofessor Alexander Bassen von der Universität Hamburg bescheinigt eine vorbildliche Corporate Governance: Im Rating, das Bassen mit der Deutschen Vereinigung für Finanzanalyse & Asset 5. MENSCHEN WIE DU UND ICH Weltweit schwin- Management und dem Wirtschafts-Informationsdienstleister Hop- det das Vertrauen in staatliche Organisationen, Unternehmen und ih- penstedt erstellt hat, landet die Deutsche Börse AG sowohl bei den re Protagonisten. „Menschen wie du und ich“ dagegen genießen in- DAX ®-Firmen zwischen das größte Vertrauen – vor Ärzten und Wissenschaftlern. als auch im Gesamtranking von DAX ®, MDAX ® und TecDAX ®-Werten auf Platz vier. Das brachte das jüngste „Edelman Trust-Barometer“ zu Tage. An der Vorstand und Aufsichtsrat der Deutschen Börse haben in der Regie- nunmehr siebten Umfrage beteiligten sich fast 2.000 Entscheidungs- rungskommission zum Thema Corporate Governance von Beginn an träger aus elf Ländern. „Die Erosion des Vertrauens in institutionali- mitgearbeitet und den 2002 vorgestellten „Deutschen Corporate Go- sierte Informationsquellen ist weiter vorangeschritten“, kommentiert vernance Kodex“ in vollem Umfang anerkannt. Zu Letzterem geben Richard Edelman, President und CEO des nach eigenen Angaben Vorstand und Aufsichtsrat eine jährliche Entsprechenserklärung ab. weltweit größten unabhängigen PR-Netzwerkes. Unternehmen seien Die strenge Orientierung an den Interessen der Kapitalgeber spiegelt gut beraten, die eigene Glaubwürdigkeit mit Dialogangeboten an Kon- sich auch in der Umsatz- und Ergebnisentwicklung wider: Die Deut- sumenten, Mitarbeiter und andere Stakeholder zu stärken. sche Börse AG hat 2005 die Umsatzerlöse und das Ergebnis vor Zin- Internet: www.edelman.com IMPRESSUM Herausgeber: Deutsche Börse AG, Neue Börsenstraße 1, 60487 Frankfurt am Main, Internet: www.deutsche-boerse.com, E-Mail: [email protected] Chefredaktion Gruppe Deutsche Börse: Ulrich Meißner (V. i. S. d. P.), Heiner Seidel Verlag: corps. Corporate Publishing Services GmbH, Kasernenstraße 69, 40213 Düsseldorf Geschäftsführung corps: Holger Löwe, Wilfried Lülsdorf Redaktion: Florian Flicke (Ltg.), Daniel Ferling, Eva Grillo, Hermann Kutzer, Stefan Merx, Nicolas Nonnenmacher, Olaf Storbeck, Dorothee Vogt Objektleitung: Jan Leiskau Anzeigenleitung: Ralf Zawatzky, E-Mail: [email protected] Artdirection: formwechsel.de Fotografie: Sebastian Pfütze Repro: ORT Studios, Berlin Druck: Rademann, Lüdinghausen Bestellnummer: 1080-2082 Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Verwendung nur mit Genehmigung. ©2006 Gruppe Deutsche Börse 6 1585 AUSGABE 01/06 FEATURE „Kontrolle ist gut, Vertrauen besser“, lautet eine zentrale Erkenntnis der modernen Wirtschaftswissenschaften. Die Koryphäen des Fachs erforschen, wann selbst Egoisten Entgegenkommen verdienen und wie Unternehmen mit dem „V-Faktor“ ihre Gewinne steigern können. Die Ökonomie des Vertrauens W ährend Sie diesen Artikel lesen, wechseln bei eBay weltweit Waren im Wert von einer halben Million Dollar den Besitzer. Das Handelsvolumen des Internet-Auktionshauses liegt bei 1.511 Dollar pro Sekunde. Allein in Deutschland ersteigern eBay-Nutzer alle zwei Sekunden ein Buch und alle zwei Minuten einen Laptop. Elf Bagger werden täglich über den Internet-Marktplatz verkauft. Alltag zu Beginn des 21. Jahrhunderts, aber ökonomisch betrachtet dennoch ein kleines Wunder. Denn Millionen von Menschen überweisen täglich im Voraus Geld an wildfremde Personen – im guten Glauben daran, nicht übers Ohr gehauen zu werden. Sie kennen weder Identität noch Wohnsitz des Anbieters, und die Ware haben sie nur auf Fotos gesehen. Niemand garantiert, dass das Produkt wirklich in dem Zustand ist, wie bei eBay beschrieben, und keiner weiß, ob der Verkäufer es auch tatsächlich schickt. „In solch einem Marktumfeld ist Vertrauen ein entscheidender Faktor“, sagt Axel Ockenfels, Professor für Volkswirtschaftslehre an der renommierten Universität Köln. „Ökonomisch kann man sich für das Entstehen von Vertrauen kaum eine unfreundlichere Umgebung vorstellen als eine OnlineHandelsplattform“, betont der Wissenschaftler. Um die Anonymität zu überwinden, hat eBay daher mit Hilfe von Ökonomen wie Ockenfels ein ausgefeiltes Bewertungsverfahren entwickelt – Reputation als vertrauensbildende Maßnahme. FEATURE 1585 AUSGABE 01/06 Phänomen Internet: Jede Sekunde wechseln bei eBay weltweit Waren im Wert von 1.511 Dollar den Besitzer. Die OnlineKäufer und Verkäufer kennen sich nur aus dem World Wide Web – und vertrauen sich dennoch. 7 8 1585 AUSGABE 01/06 FEATURE Als einer der ersten Wirtschaftswissenschaftler hat Ockenfels die Relevanz des „V-Faktors“ erkannt. Seit Jahren erforscht er in Laborexperimenten, wann und warum Menschen sich gegenseitig vertrauen und welche Regeln und Institutionen Vertrauen fördern. Für seine Arbeit erhielt Ockenfels im Jahr 2005 den mit 1,55 Millionen Euro dotierten Leibnizpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Vorher hatte 17 Jahre lang kein Ökonom diesen höchst anerkannten deutschen Wissenschaftspreis erhalten. Tradiertes Bild vom Menschen Nicht nur bei eBay gilt: kein Vertrauen, kein Geschäft. Auch auf den modernen Arbeits- und Finanzmärkten ist Vertrauen ein wichtiges Gut. Selbst die ganz große Geld- und Wirtschaftspolitik ist darauf angewiesen. Erstaunlicherweise haben sich Wissenschaftler bis vor wenigen Jahren nur am Rande damit beschäftigt. In den althergebrachten ökonomischen Modellen war kein Platz für solch ein weiches Thema – Ökonomie, das war die „Wissenschaft des Misstrauens“, wie der Erfolgsautor und Management-Berater Reinhard Sprenger formuliert. Wirtschaftswissenschaftler sahen den Menschen traditionell als Fleisch gewordene Nutzenmaximierungsmaschine: egoistisch, rational, frei von jeder Moral und ausschließlich am eigenen Vorteil interessiert. Solch einem „Homo oeconomicus“ bringt man besser nicht zu viel Vertrauen entgegen. Er würde jeden Vertragspartner über den Tisch ziehen, sobald er einen Vorteil für sich darin sieht. Immerhin, unter bestimmten Umständen verhält sich sogar so ein egozentrisches „Wirtschaftssubjekt“ kooperativ und wirbt um Vertrauen – wenn die Beteiligten nicht nur ein einziges Mal, sondern mehrmals miteinander zu tun haben. Der israelische Spieltheoretiker Robert Aumann zeigte bereits 1959 mit anspruchsvollen mathematischen Modellen: Bei solchen „repea- ted games“ haben selbst rationale Egoisten starke Anreize zur Kooperation – obwohl sie kurzfristig betrachtet mit unkooperativem Verhalten besser fahren würden. Für diese Erkenntnis bekam der 75 Jahre alte Professor an der Hebrew University in Jerusalem im vergangenen Jahr den Ökonomie-Nobelpreis. „Altruistisches Verhalten und Rache erscheinen kurzfristig betrachtet rational“, betont Aumann. „Aber sie verlieren Sinn, wenn man die Sache aus der langfristigen Perspektive betrachtet.“ Der Mensch ist sozialer als vermutet Inzwischen dämmert es Ökonomen zudem: Das Menschenbild des Homo oeconomicus ist ein wenig realitätsfremd. Egozentrisches Verhalten ist in der Realität wesentlich weniger stark verbreitet, als Wirtschaftswissenschaftler unterstellen. Laborexperimente und Feldstudien zeigen: Menschen sind weit sozialer, als die Wissenschaft traditionell annimmt. Ihnen liegt viel an Fairness, sie haben einen Hang zu Kooperation und suchen nicht stets den eigenen Vorteil. „Die meisten Menschen FEATURE 1585 AUSGABE 01/06 9 Reputation entscheidet: Bewertungssysteme wie bei eBay machen auch größte Egoisten kooperationswillig. Doch einen hundertprozentigen Schutz vor Reinfällen bei OnlineKäufen bieten sie nicht. verhalten sich reziprok“, erläutert Professor Armin Falk, Direktor des Laboratoriums für Experimentelle Wirtschaftsforschung der Universität Bonn. „Das bedeutet: Sie belohnen faires Verhalten und bestrafen unfaires, selbst wenn dies für sie mit Kosten verbunden ist.“ Die Unternehmer hatten die Möglichkeit, ein Mindestmaß an Leistung festzulegen – oder sie konnten darauf vertrauen, dass die Mitarbeiter sich auch ohne Überwachung engagieren. Das bemerkenswerte Ergebnis: Arbeitgeber, die auf Kontrolle verzichteten, erhielten im Durchschnitt ein Drittel mehr als das Geforderte. Wer dagegen ein Minimum festlegte, bekam in aller Regel nicht mehr als die vorgegebene Leistung. Die von Aumann entdeckten strategischen Anreize im Zuge von „repeated games“ sind ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Ökonomie des Vertrauens. Ein anderer ist jene menschliche Nur ein Viertel der Beschäftigten agierte so, wie man es vom Neigung zu reziprokem Verhalten. Denn daraus folgt: Wenn Homo oeconomicus erwarten würde: Es missbrauchte das Vertrauen und arbeitete ohne Kontrolle gar nicht. Die Mehrheit ich einem Menschen Vertrauen entgegenbringe, besteht begründete Hoffnung darauf, dass er es nicht missbraucht. Umgekehrt der Arbeitnehmer dagegen verhielt sich reziprok: Sie erbrachte wird Misstrauen mit gleicher Münze heimgezahlt: Wer einem für ihr Gehalt freiwillig eine relativ hohe Arbeitsleistung. Sobald Menschen mit Argwohn begegnet, der Arbeitgeber aber auf Kontrolle provoziert dadurch mitunter Unehrsetzte, löste sich bei vielen der gute lichkeit. Der Soziologe Niklas LuhWille in Luft auf. Sie empfanden Wer einem Menschen mit mann sprach bereits 1968 von der die Kontrolle als Misstrauenssignal, Argwohn begegnet, provoziert „selbsterfüllenden Prophezeiung des auf das sie mit Dienst nach Vordessen Unehrlichkeit. Niklas Misstrauens“. schrift reagierten. Jeder Fünfte dagegen ließ sich überhaupt nicht Luhmann sprach von der davon beeinflussen, wie viel VerVertrauen fördert Leistung „selbsterfüllenden PropheWunschdenken? Realitätsferne Welttrauen oder Misstrauen die Gegenzeiung des Misstrauens“. verbesserungstheorien? Keineswegs. seite ihm entgegenbrachte und enDie Thesen haben realen Hintergagierte sich relativ stark. grund, zeigen zahlreiche Studien. So engagieren sich zum Beispiel Mitarbeiter, denen von ihren Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser – diese Erfahrung machten Chefs Vertrauen entgegengebracht wird, merklich stärker als auch Kindergärten in Israel, die eine Strafgebühr für Eltern einsolche, deren Arbeitseinsatz penibel kontrolliert wird. Das beführten, die ihren Nachwuchs zu spät abholten. Dadurch sank legt der Bonner Forscher Falk zusammen mit Michael Kosfeld die Unpünktlichkeit nicht etwa – sie stieg. Das zeigen die beivon der Universität Zürich in einer Studie, die demnächst im den US-Professoren Uri Gneezy (Chicago Graduate School of „American Economic Review“ erscheint, einer der weltweit anBusiness) und Aldo Rustichini (University of Minnesota) in gesehensten wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriften. einer viel beachteten Untersuchung. Selbst nach der Abschaffung Die Wissenschaftler haben in einem Laborexperiment einen des Säumniszuschlags blieb die Zahl der zu spät kommenden innerbetrieblichen Arbeitsmarkt simuliert – mit 100 VersuchsEltern auf dem höheren Niveau. teilnehmern. Eine Hälfte agierte als Arbeitnehmer, die andere als Arbeitgeber. Jeder Beschäftigte bekam ein Gehalt ausgezahlt Die Ökonomen erklären das Phänomen so: Die Strafgebühr und konnte selbst entscheiden, wie stark er sich in seinem Job habe das Normengefüge in der sozialen Beziehung zwischen engagiert, wie viel Stress er in Kauf nimmt und wie viel Freizeit Eltern und Kindergarten verändert. An sich sei es für die Eltern er hat. Da die Entlohnung unabhängig von der Leistung war, eine Frage des Anstands, pünktlich zu kommen – weil sonst ein Kindergärtner nach seinem Feierabend auf den Nachwuchs hatten die Arbeitnehmer einen Anreiz, so wenig wie möglich aufpassen muss. Durch die Strafgebühr habe die Verspätung zu arbeiten. 10 1585 AUSGABE 01/06 FEATURE Buchtipps „Vertrauen führt. Worauf es im Unternehmen wirklich ankommt“ von Reinhard K. Sprenger (Campus Verlag, 192 Seiten, 24,90 Euro): Manager sollten Vertrauen zum zentralen Führungsprinzip erklären, lautet die These des Management-Beraters und Erfolgsautors Reinhard Sprenger. einen Preis bekommen. Das zusätzliche Beaufsichtigen der Kinder verwandelte sich in eine Dienstleistung, die genauso bezahlt wird wie andere Angebote des Kindergartens. Unpünktlichkeit wurde aus Sicht der Eltern zu einem akzeptablen Verhalten. Faktor Vertrauen an der Börse „Freakonomics – Überraschende Antworten auf alltägliche Lebensfragen“ von Steven D. Levitt und Stephen J. Dubner (Riemann-Verlag, 288 Seiten, 18,95 Euro): Der Chicagoer Ökonomieprofessor Levitt und der US-Journalist Dubner untersuchen Fragen des alltäglichen Lebens mit den Instrumentarien der modernen Wirtschaftswissenschaften. Unter anderem gehen sie der Frage nach, wann Menschen ehrlich sind. Links „Distrust – The Hidden Cost of Control“ von Armin Falk und Michael Kosfeld, erscheint in: American Economic Review, online verfügbar als IZA Discussion Paper Nr. 1203 unter: ftp://ftp.iza.org/dps/dp1203.pdf „Trusting the Stock Market“ von Luigi Guiso, Paola Sapienza, Luigi Zingales, NBER Working Paper No. 11648, online verfügbar: http://gsbwww.chicagogsb.edu/fac/luigi.zingales/research/PSpapers/trusting_stock.pdf und die Hälfte aller US-Amerikaner direkt oder indirekt Aktien. In Deutschland dagegen gilt das nur für jeden Fünften, in Italien und Österreich sogar noch nicht einmal für jeden Zehnten. Gleichzeitig haben nur 7,2 Prozent aller Amerikaner und nur sechs Prozent aller Schweden überhaupt kein Vertrauen in große Unternehmen – in Deutschland und Italien sind es mehr als 17 Prozent. Nicht nur auf Arbeitsmärkten, auch an der Börse ist Vertrauen, das „Trust among Internet Traders: A Behavioral Economics Approach“ potenzielle Anleger anderen Menvon Gary E. Bolton, Elena Katok und Axel Ockenfels, erschienen in Analyse und Kritik (2004), online verfügbar: schen im Allgemeinen und Unhttp://ockenfels.uni-koeln.de/download/papers/trust_03022004.pdf ternehmen im Besonderen entgeOhne Regeln geht es nicht genbringen, ein zentraler Faktor. Ein klug konstruiertes Regelwerk „A Fine is a Price“ von Uri Gneezy und Aldo Rustichini, erschienen Auf ein Investment lässt sich nur kann sich zudem als Katalysator in: Journal of Legal Studies (2000), online verfügbar: http://www.econ.umn.edu/~arust/Fine.pdf ein, wer nicht fürchtet, dabei für Vertrauen erweisen – eBay ist ein Musterbeispiel dafür. Die den Kürzeren zu ziehen. „Für die menschliche Neigung zu fairem Entscheidung, Aktien zu kaufen, Verhalten allein genügt nicht, damit sich Kunden und Anbieter braucht man nicht nur eine Einschätzung über den erwarteten Ertrag und das Risiko, sondern auch den Glauben daran, dass auf anonymen Online-Marktplätzen vertrauen können. Ein die Informationen verlässlich sind und dass das Gesamtsystem deutsch-amerikanisches Forscherteam um Axel Ockenfels und fair ist“, lautet das Fazit der Studie eines Forscherteams von Gary Bolton (Penn State University) hat in Experimenten gezeigt: Damit eine solche Handelsplattform funktioniert, muss zwei renommierten US-Business-Schools, die jüngst als Worein Käufer mit mindestens 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit king Paper des National Bureau of Economic Research erschien. auf einen ehrlichen Anbieter stoßen. In einem anonymen Umfeld mit einmaligen Geschäftsbeziehungen ist die Wahrscheinlichkeit dafür aber nur etwa halb so groß. Luigi Guiso und Luigi Zingales (Chicago Graduate School of Business) sowie Paola Sapienza (Kellogg School of Management) fanden heraus: Menschen, die generell der Meinung sind, Der Ausweg aus dem Dilemma: richtig gesetzte Anreize wie man könne den meisten anderen trauen, besitzen mit 50 Prodas eBay-Bewertungssystem, bei dem sich die Nutzer gegenseitig benoten und Reputation aufbauen können. „Damit kann zent höherer Wahrscheinlichkeit Aktien. Sie legen zudem einen man auch für egoistische Akteure strategische Anreize schaffen, höheren Anteil ihres Vermögens in Aktien an. Mit zunehmendem Bildungsniveau nimmt der Einfluss dieses Faktors ab. sich vertrauenswürdig zu verhalten“, so Ockenfels. Für zusätz„Mehr Wissen und Informationen helfen, die Vertrauensprolichen Käuferschutz sorgt die kostenlose Kulanzleistung „Paybleme abzubauen“, so ihr ökonomisches Fazit. Pal“: Wenn die gekaufte Ware nicht versandt wurde oder erheblich von der Artikelbeschreibung abweicht, erstattet „PayPal“ dem Käufer das Geld – maximal 500 Euro oder britische Pfund. Mit dem Faktor Vertrauen lässt sich auch erklären, warum sich Fazit: Vertrauen ist gut und wichtig. Aber ganz ohne Kontrolle die Aktionärsquoten in verschiedenen Industrieländern so enorm unterscheiden: So besitzen zwei Drittel aller Schweden geht es wohl nicht. 2032: Unternehmer. Die NRW.BANK bringt Ihre Ideen auf den Weg. Mit Kapital. Mit Know-how. Mit Engagement. Für eine wachstumsstarke, stabile Wirtschaft in NordrheinWestfalen. Wir beraten Mittelstand und Existenzgründer. Wir unterstützen Kommunen in ihrem Finanzmanagement. Wir fördern den Wohnungsbau. Wir sind Partner unseres Landes. Damit aus kleinen Ideen große Unternehmen werden. Haben auch Sie Ideen? Dann fragen Sie nach uns – bei Ihrer Bank, Sparkasse oder in unseren Beratungszentren Rheinland 0211 91741-4800 und Westfalen 0251 91741-4800. www.nrwbank.de 12 1585 AUSGABE 01/06 KOLUMNE Die zwei Seiten der Corporate Governance Der britische Publizist Anthony Hilton sieht eine neue Wende in der Diskussion zwischen Eigentümern und Verwaltern von Unternehmen. N eulich sah ich einen Western, in dem der Held an einer Stelle sagt, dass Menschen eigentlich nur von ihren Freunden wirklich getäuscht werden können, weil sie ihre Feinde ja gar nicht nah genug an sich heranlassen. Für die Finanzmärkte scheint heutzutage genau dasselbe Prinzip zu gelten. Vorstände und Manager börsennotierter Unternehmen und ihre Aktionäre / Eigentümer sollten eigentlich auf derselben Seite stehen und gemeinsam am Erfolg ihres Unternehmens arbeiten. Doch derzeit wird mit Blick auf Corporate Governance eher davon ausgegangen, dass beide Seiten im Konflikt miteinander sind. Es scheint, als ob Aktionäre den Managern nicht mehr vertrauen und daher strikte Überwachungsmechanismen einführen möchten. Dies soll das Management davon abhalten, übermäßige Risiken einzugehen, um unangenehme Überraschungen zu vermeiden – so die Hoffnung der Aktionäre. In den USA und Europa werden derzeit Strukturen eingeführt, die die Befugnisse der Manager einschränken, um sicherzustellen, dass sie gegenüber den Aktionären ihrer Rechenschaftspflicht nachkommen. Zumindest in Großbritannien gilt es als selbstverständlich, dass Corporate Governance die Unternehmensleistung verbessert. Ich persönlich habe daran so meine Zweifel; es liegt bislang keine wissenschaftliche Studie vor, die diesen Zusammenhang „Es darf nicht sein, dass zu viele schlüssig beweist. Im Gegenteil: Es gibt Hinweise darauf, dass Governance-Regeln zu einer Scheu vor zu viele Governance-Regeln zu einer Scheu vor Risiken und damit einer Scheu vor größeren Investitionen führen – und dazu, Investitionen führen und sich die dass sich die talentiertesten Manager von Aktiengesellschaften talentiertesten Manager abwenden.“ abwenden, um in Privatunternehmen, außerhalb des Rampenlichts, zu arbeiten. Sollte sich dieser Trend fortsetzen und sollten die besten Managementtalente sich weigern, für Aktiengesellschaften zu arbeiten, so ließe sich sogar argumentieren, dass Corporate Governance die Situation verschlimmert. Aber es gibt noch einen zweiten, wichtigeren Grund zur Beunruhigung. Nach herrschender Meinung werden Führungskräfte als Interessenvertreter der Eigentümer angesehen. Ziel von Corporate Governance ist es, Manager für ihre Entscheidungen verantwortlich zu machen, um sicherzustellen, dass sie im Interesse der Eigentümer und nicht in ihrem eigenen handeln. Allerdings hat sich niemand die andere Seite des Aktienmarktmodells angeschaut, wo ein noch größeres Problem liegt. In einer Zeit, in der gepoolte Fonds und kollektive Anlagemodelle den individuellen, direkten Aktienbesitz verdrängen, sollten auch die Fondsmanager – die Leute, die das Geld KOLUMNE 1585 AUSGABE 01/06 13 Anthony Hilton: Seit 35 Jahren beobachtet der britische Journalist das nationale und internationale Wirtschaftsgeschehen. Sein Steckenpferd sind die Finanzmärkte. Hilton berichtete aus London und New York für „London Evening Standard“, „Times“ und „Sunday Times“. Aktuell ist er Wirtschaftsund Finanzkolumnist für die „City Pages“ des „Evening Standard“. „Die gegenseitige Kontrolle von Unternehmen und Fonds funktioniert nicht mehr reibungslos. Wir brauchen auch eine Governance für das Fondsmanagement.“ verwalten – als Vertreter des wahren Auftraggebers betrachtet werden, nämlich des wirtschaftlichen Eigentümers, des „kleinen Mannes“, dessen Ersparnisse bekanntermaßen in den Fonds stecken. Fondsgesellschaften sind dazu da, Geld zu verdienen, aber ihr Hauptziel ist es, einen Profit für sich selbst zu erzielen, nicht für ihre Kunden. In guten Zeiten geht beides Hand in Hand, aber die Erfahrung seit der Baisse 2001 zeigt, dass dies nicht immer der Fall ist – und das ist auch der Grund, warum die Öffentlichkeit den Anbietern von Anlageprodukten nicht mehr vertraut. So wie ein Großteil des Fondsmanagements strukturiert ist – mit Gebühren, die auf das Fondsvolumen erhoben werden, und saftigen Erfolgsprämien – schneiden Fondsmanager und ihre Unternehmen deutlich besser als ihre Kunden ab. Sie verdienen mehr damit, Gelder zu sammeln, als sie zu verwalten. Sie verfolgen eine Strategie des schnellen Umschlags und der kurzfristigen Profite, ohne dabei viel Rücksicht auf die hohen Transaktionskosten zu nehmen. Wirklich gestört jedoch erscheint das System, wenn Fondsmanager (zu oft fälschlicherweise als der Aktionär beschrieben) auf Vorstände treffen. Hier prallen zwei Gruppen von Interessenvertretern aufeinander, die beide theoretisch ihre langfristige Verantwortung von den Eigentümern ableiten, letztlich jedoch jeweils ihre eigenen kurzfristigen Ziele verfolgen. Dies allein könnte bereits dazu führen, dass das System in die Gefahr eines zu kurzfristigen Fokus gerät. Verschlimmert wird die Sache dadurch, dass es sich hierbei nicht mehr um einen Wettbewerb zwischen ebenbürtigen Partnern handelt. Während die Führungskräfte den Regeln der Corporate-Governance-Einschränkungen unterliegen, sind Fondsmanager keinerlei derartigen Beschränkungen unterworfen, so dass das System in eine gefährliche Schieflage gerät. Der Aktionärskapitalismus ist eine wunderbare Wirtschaftsform, aber nur wenn sämtliche Mechanismen der gegenseitigen Kontrolle reibungslos funktionieren. Dies ist derzeit nicht der Fall. Wir haben weitreichende Governance-Regeln für Manager – und zwar so weitreichend, dass sie Gefahr laufen, übers Ziel hinauszuschießen. Jetzt brauchen wir aber ähnliche Regeln für die Fondsmanagementbranche, damit sie wieder das Vertrauen ihrer Kunden verdient. 14 1585 AUSGABE 01/06 REPORT REPORT 1585 AUSGABE 01/06 BaFin: Die 1.600 Kontrolleure der deutschen Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht wachen über rund 2.150 Kreditinstitute, 750 Finanzdienstleister, 650 Versicherer sowie 6.300 Publikums- und Spezialfonds. Die Wächter der Märkte Die weltweiten Finanzmärkte befinden sich in einem dramatischen Wandel – und mit ihnen die Aufsichtsorgane wie die deutsche BaFin oder die britische FSA. Die Behörden wachen über den Handel und wollen so für Vertrauen am Markt sorgen. Doch in die Frage, wie viel Regulierung sein muss und sein darf, kommt neue Bewegung. Neue Märkte, neue Produkte, neue Akteure: Finanzmärkte sind nicht nur wegen ihrer täglichen Preisbewegungen so spannend, sondern auch weil sie sich selbst ständig verändern und weiterentwickeln. Kein Wunder, dass staatliche und andere Aufsichtsorgane darauf mit immer neuen Regeln reagieren, um einen angemessenen Ordnungsrahmen zu gewährleisten – nicht nur im Interesse des Anlegerschutzes und -vertrauens. Damit wächst aber die Gefahr, dass sich der langen, erfolgreichen Ära der Liberalisierung und Deregulierung von Märkten eine Zeit der Re-Regulierung anschließt, obwohl niemand an Wachstum behindernder Bürokratie interessiert sein kann, auch nicht die um Harmonisierung bemühte EU-Kommission. Wer die 80er Jahre aktiv miterlebt hat, erkennt heute deutlicher denn je die epochale Bedeutung des damaligen Zusammentreffens neuer Trends – weil eine Gegenbewegung droht. Schon zu Beginn jenes Jahrzehnts hatten die führenden Industrienationen als Lernprozess der 70er Jahre gemeinsam die Erkenntnis gewonnen, dass, nach Ende von Bretton Woods, Geldwertstabilität ein höchstrangiges Ziel aller sein muss. Außerdem begann die Welt auf vielen Gebieten zu begreifen, dass man zunehmend voneinander abhängig wird. Das schlug sich in größer werdenden Fortschritten bei der Liberalisierung des Welthandels nieder, GATT und WTO sind zwei Konsequenzen. Und mit den Gütermärkten als Vorbild begann in diesem Jahrzehnt auch eine weit reichende Öffnung und Deregulierung der Finanzmärkte, die deren weitere Internationalisierung entscheidend begünstigte – Eurobonds und Ende der Kapitalverkehrskontrollen sind hier zwei Stichworte. Big Bang auf vielen Feldern Besonders der „Big Bang“ in London im Jahr 1986 und die anschließende „Rest-Liberalisierung“ des DM-Kapitalmarkts durch die Deutsche Bundesbank wurden zu Trendsettern. Begleitet und gefördert wurde dieser Aufbruch von einer technologischen Revolution in der Informations- und Kommunikationsindustrie. Seither hat sich die Börsenlandschaft dramatisch verändert. Unter anderem durch den allgemeinen Trend der „Disintermediation“, die Einführung elektronischer Handelsplattformen, neue Terminmärkte, komplexere Finanzierungsund Anlageinstrumente, Marktsegmente für junge Unternehmen, die Umstellung auf die Gemeinschaftswährung Euro, die Konzentration von nationalen Börsen und den Beginn einer grenzüberschreitenden Konsolidierung der Börsen und Institutionen der Geschäftsabwicklung (Clearing & Settlement). Spätestens seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts ist die nationale in eine internationale Evolution übergegangen – das gilt für die Märkte und ihre Aufsicht gleichermaßen. Interessant auch, dass sich inzwischen der Fokus verändert hat: Amerikas 15 16 1585 AUSGABE 01/06 REPORT Strategie mit der Leitbörse New York steht nicht mehr allein im Mittelpunkt; die Securities and Exchange Commission (SEC) spielt nicht mehr die Rolle als gerne zitiertes, unkritisch bewundertes Vorbild. Vielmehr gewinnt Europa internationale Beachtung, nachdem hier besonders große Fortschritte bei der Modernisierung von Handel, Abwicklung und Organisation gemacht worden sind. Wie eng soll das Sicherheitsnetz sein? Neue Märkte brauchen neue Regeln, veränderte Märkte brauchen entsprechende Anpassungen des Regelwerks – das ist nicht zu bestreiten. Aber: Wie eng soll das Sicherheitsnetz geknüpft werden, wie weit kann dabei den Selbstregulierungskräften der organisierten Märkte vertraut werden, wie weit sollte der Gesetzgeber gehen? So wurde der Big Bang auch durch mehrere Wellen von Regulierung auf nationaler, EU- und internationaler Ebene begleitet. Einige der bedeutenden regulatorischen Begleitmaßnahmen zur Liberalisierung der Finanzmärkte sind die Marktmissbrauchsund Insiderregeln, einheitliche Wertpapierprospekte in der EU und bald eine einheitliche Grundlage der Regulierung von Börsen und Wertpapierhandelsfirmen in der EU durch die MiFID (Märkte in Finanzdienstleistungen-Richtlinie). Die Bedenken hinsichtlich einer heute drohenden Überregulierung werden immer öfter und lauter geäußert, kritische Stimmen zur Brüsseler Bürokratie nehmen zu. Deshalb wächst aus der Industrie der Druck auf die EU, in den inzwischen eingeschlagenen Kurs beschleunigt auch die Finanzmärkte einzubeziehen: „Less red-tape = more growth: Commission tables package for better regulation“. Mit diesem vor einem Jahr vorgelegten Papier der Kommission keimt bei den Beteiligten und Betroffenen wenigstens die Hoffnung auf, dass der Bürokratismus gestoppt und der Amtsschimmel vertrieben (less red-tape) sowie die Notwendigkeit neuer und die Qualität bestehender Regeln überprüft (better regulation) werden könnten; ein Prozess, der seitens der Deutschen Börse aktiv begleitet wird. Dafür gibt es gute Gründe. Der wichtigste: Die national wie international bereits reformierten, aktuell gültigen Rules and Regulations zeigen längst Wirkung. Ihnen ist es auch mitentscheidend zu verdanken, dass das Bild „Börse lebt von Lug und Trug“, wie es in der Öffentlichkeit vor Jahren als Folge von Pleiten, Pech und Pannen sowie spektakulären Unternehmensskandalen gezeichnet wurde, in den Archiven verschwunden ist. Wer jedoch ständig den Stempel „Anlegerschutz“ in der Hand hält, dem reichen die Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten immer noch nicht aus. So wird von manchen Medien das alte Etikett „zahnloser Tiger“, das man dem Mitte der 90er Jahre gegründeten Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel (BAWe) aufgeklebt hatte, auf die nachfolgende Allfinanz-Aufsichtsbehörde BaFin einfach übertragen (siehe auch Interview mit BaFin-Präsident Jochen Sanio). Derartige Vergleiche sind allzu oberflächlich, übersehen sie doch vor allem die präventive Funktion der Aufsicht. Langjährige Beobachter zeichnen dagegen ein anderes Bild, das die Veränderung anschaulich wiedergibt: Die Herde der Schafe (Marktteilnehmer) ist viel größer geworden, damit gibt es naturgemäß auch mehr schwarze Schafe. Früher hat man sich als eine Herde von weißen Schafen bezeichnet und die Aufsicht als den bösen Wolf. Heute bekennt man sich zur Existenz von schwarzen Schafen und zur Notwendigkeit, diese auszusortieren. Ob es in den vergangenen Jahren trotz der modernisierten Aufsicht in Deutschland und international „zu viele“ Betrügereien an den Finanzmärkten gegeben hat, mag eine Frage des Standpunkts sein – Zahl und Volumen sind gemessen an Wachstum und Größe der Märkte jedenfalls überschaubar. Dreigliedriges Aufsichtssystem in Deutschland Für die EU-Länder wird der regulatorische Rahmen des Finanzsystems zunehmend auf europäischer Ebene festgelegt – durch unmittelbar geltende Verordnungen oder durch Richtlinien, die in nationales Recht umzusetzen sind. Die Börsenaufsicht erfolgt bis zum Inkrafttreten der MiFID 2007 allerdings noch großenteils in nationaler Regie. In Deutschland zum Beispiel findet erst seit 1995 eine Wertpapieraufsicht auf Bundesebene statt. Bis zum 2. Finanzmarktförderungsgesetz – ein historischer Wendepunkt – gab es ein klares und besonders von ausländischen Marktteilnehmern beklagtes Defizit, weil ein Insiderrecht zuvor ebenso fehlte wie eine zentrale Institution als Ansprechpartner (BAWe). Gegenwärtig werden die regulativen Auf- REPORT 1585 AUSGABE 01/06 17 gaben in einem dreigliedrigen System durch Bund, Länder und die Selbstverwaltungseinrichtungen der jeweiligen Börsen wahrgenommen. Diese Arbeitsteilung ist immer wieder einmal Gegenstand von Diskussionen, Kritiker fordern eine Konzentration. Seit Frühjahr 2002 obliegt die Wertpapieraufsicht auf Bundesebene der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), einer dem Bundesfinanzministerium unterstellten Allfinanz-Aufsichtsbehörde, in der auch das BAWe aufgegangen ist. Die Rechts- und Marktaufsicht über die Börsen – und damit über den Handel – fällt nach wie vor in den Aufgabenbereich der jeweiligen Länder. Hinzu kommen die Selbstverwaltungsinstanzen der Börsen, die eine von der Landesaufsicht zu genehmigende Börsenordnung erlassen und eine Handelsüberwachungsstelle (HÜSt) einrichten müssen. Gerade diese HÜSt ist selbst für kritische Betrachter ein wichtiges, Vertrauen schaffendes Qualitätsmerkmal deutscher Börsen auch im internationalen Vergleich, beweist diese Form einer Handelsüberwachung mit gesetzlichem Rahmen doch tagtäglich, was Selbstregulierungskräfte zu leisten vermögen. Im Zuge der EU-Richtlinien verschiebt sich das Gleichgewicht zunehmend zur BaFin. So migrierte beispielsweise die Prospektprüfung von den Börsen hin zur BaFin als zentrale „competent authority“ der EU-Ebene. Die BaFin sieht sich dabei gelegentlich der Kritik ausgesetzt. „Regulierung setzt in Deutschland noch zu sehr an formalen Kriterien an, wie beispielsweise an der Produkthülle. Besser wäre es, Regulierung konsequent qualitativ auszurichten und damit am Risiko beziehungsweise am Schutzbedürfnis des Anlegers“, fordert Stefan Seip, Hauptgeschäftsführer des BVI Bundesverbands Investment und Asset Management e.V. in Frankfurt. Doch es gibt auch Lob. „Seit einem Jahr holt Deutschland auf. Wir haben den Eindruck, dass die BaFin die Branchenentwicklung und Standortsicherung, neben dem klassischen Ziel des Anlegerschutzes, verstärkt als Teil ihrer Aufgabe ansieht“, so Wolfgang Mansfeld, Vorstandsmitglied bei Union Investment. FSA auf dem Weg zur Allfinanz-Aufsicht Auch die Finanzregulierung in Großbritannien hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten sehr gewandelt. Mit dem so genannten „Big Bang“ sollte für Europas Finanzplatz Nummer eins ein moder- Starker Wächter: Wertpapiere und Asset Management beaufsichtigt die BaFin in Frankfurt am Main. Von Bonn aus überwacht sie Banken und Versicherungen. 18 1585 AUSGABE 01/06 REPORT neres und stärker wettbewerblich orientiertes Regulierungssystem geschaffen werden – parallel zu anderen, das Marktgeschehen unmittelbar betreffenden Liberalisierungsmaßnahmen wie der Öffnung für neue Marktteilnehmer und der Freigabe der Gebühren. Der im Frühjahr 1988 in Kraft getretene Financial Services Act von 1986 war aber nur ein Anfang. Dazu die Deutsche Bundesbank in einer vergleichenden Betrachtung in ihrem Monatsbericht vom Januar 2006: „Auf Grund offensichtlicher ernsthafter Aufsichtsdefizite kam es im Mai 1997 zu weiteren tief greifenden Änderungen. Das Prinzip der Selbstregulierung wurde aufgegeben und stattdessen die Einführung einer statutarischen Regulierung beschlossen.“ Kontrolleur Computer: Dank moderner Hardund Software kommen die Finanzaufseher bei BaFin oder FSA Insidergeschäften und anderen illegalen Börsen-Deals auf die Schliche. So wurde die „Financial Services Authority“ (FSA) als Nachfolgerin des Securities and Investment Boards (SIB) gegründet und gliederte die darunter hängenden Selbstregulierungsinstitutionen SFA, PIA etc. mit ein. Ein Jahr danach ging auch die Verantwortung für die Beaufsichtigung des Bankensystems von der Bank of England an die FSA über. Inzwischen ist diese auch für die Regulierung des Hypothekarmarkts und das allgemeine Versicherungsgeschäft zuständig. Die FSA entwickelt sich somit immer stärker zu einer Allfinanz-Aufsicht. „Better regulation“ ist für die FSA kein Langfristziel, sondern wird konkret: Erst Anfang Dezember 2005 kündigte sie Maßnahmen zur Entbürokratisierung und Kostensenkung für die Unternehmen an – manche Vorschriften sollen gelockert oder vereinfacht und überflüssige Regeln abgeschafft werden. Die britischen Regulierer residieren im Herzen Londons, im Zentrum der Geldmacht, das fördert den Austausch zwischen Behörde und Finanzdienstleistern. Luxemburg mit dem Nischenvorteil Beim Aufstieg des Finanzplatzes Luxemburg haben seine professionellen Aufseher eine wichtige Rolle gespielt, wenn auch oft von der Öffentlichkeit unbemerkt. „Man muss nicht täglich von sich reden machen, um gute Arbeit zu leisten“ – so lautet ein Leitspruch von Jean-Nicolas Schaus, dem Generaldirektor der Commission de Surveillance du Secteur Financier (CSSF). Deren Zuständigkeitsbereich ist weit gefasst: Banken, Investmentfonds, Makler, Vermögensverwalter, sonstige Finanzdienstleister und der Börsenhandel. Finanziert wird die Institution aus Beiträgen der am Platz ansässigen Finanzinstitute. REPORT Die Regulatoren bemühen sich erklärtermaßen darum, die Nischenvorteile des Finanzplatzes zu erhalten, damit dieser neue Geschäftsfelder anziehen kann. Traditionell ist der Finanzmarkt des kleinen Großherzogtums international und wettbewerbsorientiert. Und der Aufsicht wird bescheinigt, dass sie stets offene Ohren für Verbesserungsvorschläge aus dem Markt hat. Umso mehr fürchtet sie aber deshalb die Gefahr einer Überregulierung auf europäischer Ebene: „Bei uns funktionieren Märkte und Aufsicht bestens, weil wir auch marktkonforme Regeln bevorzugen“, betonte ein Luxemburger Offizieller selbstbewusst. Die Schnelligkeit von Prospektbilligungen in Luxemburg ist ein Indiz hierfür. 1585 AUSGABE 01/06 Selbstverwaltungsorgan die Aufsicht über die elektronische Börse Nasdaq und die (außerbörslichen) OTC-Märkte. Wie geht es weiter? Dazu die Deutsche Bundesbank resümierend: „Angesichts der Globalisierung der Finanzmärkte kann Regulierung schon lange nicht mehr allein aus nationaler Perspektive betrieben werden. Denn der Wettbewerb der Finanzplätze geht mit dem Wettbewerb der Regulierungssysteme einher. Um in dieser Standortkonkurrenz bestehen zu können, dürften Niveau beziehungsweise Regulierung in verschiedenen Wirtschaftsräumen sich tendenziell angleichen.“ USA: Selbstregulierung mit klaren Vorgaben Von Amerika kommen nach wie vor wichtige Trends für alle Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Die Finanzmärkte machen da keine Ausnahme. Deshalb empfehlen erfahrene Aufsichtsexperten in Europa das genaue Verfolgen der Entwicklungen rund um die Wall Street, weil diese gerne mit einiger Verzögerung auch von der EU-Kommission adaptiert werden – trotz der kritischer gewordenen Haltung der Wertpapierindustrie gegenüber dem Vorbild Amerika. Traditionell wird am US-Wertpapiermarkt das Prinzip der Selbstregulierung betont, doch hat diese schon seit den 30er Jahren, also nach der Börsenund Bankenkrise, klare Rahmenvorgaben erhalten. Leitmotiv für die Marktaufsicht ist es, sicherzustellen, dass einem Investor alle Informationen über das emittierende Unternehmen und über die Märkte zur Verfügung stehen, die dieser zum eigenverantwortlichen Treffen seiner Anlageentscheidungen benötigt. Zwar wird hier zu Lande öffentlich fast nur über die SEC und ihre regulatorische Stärke gesprochen. Tatsächlich kennt Amerika aber eine Vielzahl von involvierten Instanzen. Neben der SEC und ihrer „Terminmarkt-Schwester“ Commodity Futures Trading Commission (CFTC), von denen die Rahmenvorgaben kommen, sind die US-Börsen selbstregulierende Organisationen (SROs). In ihrer Verantwortung liegt die Festlegung der speziellen Regeln und Vorschriften, nach denen die Marktteilnehmer arbeiten. Neben den registrierten Börsen spielt die National Association of Securities Dealers (NASD) eine wichtige Rolle, denn sie hat als Interessenverbände der Finanzindustrie loben in diesem Zusammenhang ausdrücklich den von der Europäischen Kommission eingeschlagenen Weg, im Bereich des Kapitalmarktrechts für die nächsten Jahre den erreichten Rechtsstand zu konsolidieren und nur noch auf ausgewählten Feldern zu ergänzen. Andererseits wird auf die schädlichen – auch für die Investoren selbst schädlichen – Folgen einer überzogenen Harmonisierung hingewiesen. So moniert der Bundesverband deutscher Banken in Berlin: „Strukturell weisen die nationalen Märkte weiterhin deutlichere Unterschiede auf, als es in einem wirklich integrierten Markt zu erwarten wäre.“ Dies zu ändern, dürfte schwierig werden, denn dafür bedarf es eines echten Konsenses zur Schaffung einheitlicher Strukturen in der EU. Auf dem Weg zu „better regulation“ kommen alle Beteiligten in Europa daher nicht umhin, Antworten auf folgende Fragen zu finden: • Einheitliche Aufsicht in der EU oder nicht? • Vertiefte internationale Kooperation über die EU hinaus oder Fokus auf die EU? • Mehr Richtlinien und Regulierung im Sinne einer Vereinheitlichung oder weiterhin Wettbewerb der Rahmenbedingungen? Hermann Kutzer, dessen journalistische Laufbahn 1969 bei der Nachrichtenagentur vwd begann, ist seit 1976 für die Verlagsgruppe Handelsblatt tätig. Im Range eines Chefredakteurs fungiert der Börsenexperte vor allem als TVKommentator und Finanzkolumnist. 19 20 1585 AUSGABE 01/06 INTERVIEW „Eine Portion Misstrauen schadet nie“ Interview mit Jochen Sanio, Präsident der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) Das vergangene Börsenjahrzehnt war rasant, aber auch mit vielen Skandalen verbunden. Verdient der deutsche Wertpapiermarkt heute mehr das Vertrauen der Anleger als vor zehn Jahren? Anleger sollten dem deutschen Wertpapiermarkt heute mehr Vertrauen entgegenbringen als vor zehn Jahren. Damals steckte die Wertpapieraufsicht noch in den Kinderschuhen. Wichtige Aufgaben waren ihr gerade erst übertragen worden. Ich denke zum Beispiel an das Verbot von Insiderhandel und an die Pflicht von Ad-hoc-Mitteilungen. Heute erfüllt die Wertpapieraufsicht der BaFin diese Aufgaben sehr wirkungsvoll, und sie hat außerdem noch einige neue Kompetenzen hinzubekommen. Welche sind das? Die BaFin überwacht etwa das Verbot von Marktmanipulation und die Durchführung von Übernahmeverfahren, sie ist in die Bilanzkontrolle eingebunden und beaufsichtigt Finanzdienstleistungsinstitute. Entscheidend ist auch, dass wir mittlerweile sehr viel intensiver mit unseren Kollegen im Ausland zusammenarbeiten, vor allem mit denen in Europa. Das alles ändert aber nichts daran, dass Anleger für das, was sie tun, selbst verantwortlich sind. Wachsamkeit und eine gesunde Portion Misstrauen schaden nie. Werden inzwischen nicht zu viele gesetzliche und andere Regelwerke erarbeitet, so dass nach der Deregulierung der 80er Jahre eine Re-Regulierung mit einer Überregulierung droht? Diese Sorge ist teilweise berechtigt – auch und gerade in der Wertpapieraufsicht. Neue, komplexe Finanzprodukte schießen wie Pilze aus dem Boden, und der regulatorische Rahmen muss bei dieser Entwicklung Schritt halten. Andernfalls würden wir Aufseher den Entwicklungen des Marktes hinterherhinken und eines unserer Hauptziele, nämlich die Integrität der Märkte, aus den Augen verlieren. Doch der Weg, immer detailliertere und damit um- fangreichere Regeln zu schaffen, Regeln, die selbst für Fachleute kaum noch durchschaubar sind, ist eine Sackgasse. Die BaFin setzt sich deshalb in Übereinstimmung mit dem neuen Motto der Europäischen Kommission, „better regulation“, für eine strikt prinzipienbasierte Regulierung ein. Was bedeutet das konkret? Diese Art der Regulierung ermöglicht flexible Lösungen im Einzelfall. Was wir unter prinzipienbasierter Aufsicht verstehen, haben wir in der Bankenaufsicht mit unseren neuen „Mindestanforderungen an das Risikomanagement“ (MaRisk) gezeigt. Mit ihrer schlanken Gestalt machen die MaRisk „bella figura“. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Herausforderungen für die Wertpapieraufsicht durch die Globalisierung? Geschäfte über nationale Grenzen hinweg, international aufgestellte Finanzmarktakteure – wir stünden auf verlorenem Posten, wenn wir keine einheitlichen Standards hätten und wenn wir in der Institutsund Marktaufsicht nicht mit unseren ausländischen Kollegen kooperieren würden. Eine Organisation, die sich schon seit Jahren auf diesem Gebiet große Verdienste erworben hat, ist die Organization of Securities Commissions (IOSCO). Sie entwickelt die internationalen Standards, die wir als Basis für unseren prinzipienbasierten Regulierungsansatz brauchen, und sorgt gleichzeitig für bessere und effiziente grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Einzelfall. Die IOSCO hat heute rund 180 Mitglieder, und alle wichtigen Aufsichtsbehörden dieser Welt sind dort vertreten. Der Spagat zwischen globalem und nationalem Interesse fällt sicher nicht immer leicht. Die Kunst besteht darin, die Standards so zu fassen, dass sie die operative Tätigkeit der nationalen Aufsichtsbehörden weltweit auf ein vernünftiges Mindestniveau heben, ohne dabei den Aufsehern INTERVIEW 1585 AUSGABE 01/06 21 die Möglichkeit zu nehmen, den Besonderheiten ihrer Märkte gerecht zu werden. Ein Blick auf die Homepage der IOSCO lohnt sich für alle, die wissen möchten, über welche Themen die Aufsichtsbehörden im internationalen Kontext aktuell diskutieren (www.iosco.org). Wie schon der Vorläufer BAWe wird die BaFin von Beobachtern immer wieder mit einem zahnlosen Tiger verglichen. Sollte Ihre Behörde deshalb gestärkt werden, oder kommt es mehr auf ein konsequenteres Vorgehen der Justiz an? Die BaFin ist kein zahnloser Tiger. Allein im vergangenen Jahr haben wir 98 Verfahren wegen Verstößen gegen die kapitalmarktrechtlichen Pflichten mit der Verhängung einer Geldbuße beendet. Der gesetzliche Bußgeldrahmen, in dem wir uns bewegen müssen, sieht Geldbußen von bis zu einer Million Euro vor. Doch wir können nicht wild um uns schießen. Wenn wir darüber entscheiden, wie hoch eine Geldbuße ausfällt, richten wir uns nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, wie sie im Gesetz über Ordnungswidrigkeiten niedergelegt sind. So müssen wir berücksichtigen, ob vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln vorliegt und welche Bedeutung die Ordnungswidrigkeit hat. 2005 haben wir außerdem 34 Anzeigen an Staatsanwaltschaften erstattet. In diesen Fällen hatten wir klare Anhaltspunkte für Insiderhandel oder Marktmanipulation entdeckt. Was aus solchen Anzeigen wird, entscheidet allein die Justiz, darauf haben wir keinen Einfluss. Jochen Sanio: Seit ihrer Gründung im Jahr 2002 ist Jochen Sanio Präsident der BaFin in Bonn und Frankfurt am Main. Zuvor leitete der 59-Jährige die Vorgängerbehörde Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen. Der Jurist ist zudem Mitglied im Committee of European Securities Regulators (CESR) der EU-Kommission in Paris. Sanio wurde im niedersächsischen Hameln geboren, ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. 22 1585 AUSGABE 01/06 DOSSIER DOSSIER 1585 AUSGABE 01/06 23 Vom Gummistiefel zum Handy: Anfang der 90er Jahre setzte der frühere Gemischtwarenladen Nokia alles auf eine Karte: Mobiltelefone. Heute dominieren die Finnen ein Drittel des Weltmarkts. Die Magie der Marke Vertrauen ist der Kitt, der Menschen an Marken bindet. Nur einer glaubwürdigen Marke halten Kunden die Treue. Nokia ist dafür ein Paradebeispiel. Seit Jahren erreicht der Handy-Konzern Spitzenwerte in Sachen Konsumentenvertrauen. Was ist das Erfolgsgeheimnis dieser Marke? „Nichts ist erfolgreicher als Erfolg. Dem Marktführer kommt oft Vertrauen zu, gerade weil er Marktführer ist“, erklärt Jürgen Häusler, CEO des internationalen Beratungsunternehmens Interbrand Zintzmeyer & Lux, ein besonders wertvolles Gut für Markenhersteller – Vertrauen. Denn diese besondere Verbindung zwischen Kunden und Herstellern garantiert dauerhaften Absatz der Produkte, schützt vor Marktschwankungen, wirkt also gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie ein Fels in der Brandung. Zahlreiche Untersuchungen machen den Stellenwert von Marken transparent: So befasste sich der Verlag Reader’s Digest jüngst in der Untersuchung „European Trusted Brands“ zum sechsten Mal mit dem Thema Markenvertrauen in Europa. Dafür befragte Reader’s Digest rund 26.000 Menschen in 14 Ländern West- und Osteuropas. Einer der Dauersieger ist seit Beginn der Umfragen Nokia. Ihm sprechen Kunden in ganz Europa das größte Vertrauen aus, wenn es ums Thema Mobilfunk geht. Kunden dem Weltmarktführer die Treue. Die Bindung ist so stark, dass Nokia-Nutzer in den vergangenen Jahren ihrem Handy-Liebling sogar manchen Fehler oder manche Nachlässigkeit verziehen haben. Die Beziehung zwischen dem HandyHersteller und seinen Kunden fußt auf vier Erfolgskomponenten: Identität, Versprechen, Kontinuität und einer klaren Linie. „Nokia steht für Innovation und für Einfachheit“, erklärt Karsten Schilly, Mitglied der Geschäftsführung der Nokia GmbH in Deutschland und verantwortlich für die Customer Market Operation, die Persönlichkeit der Marke. „Unsere Kunden benutzen und tragen unsere Produkte sogar mit einem gewissen Stolz.“ Seit Beginn des Handy-Booms konnte Nokia vielfach durch technische Neuerungen glänzen und brachte zum Beispiel 1996 mit dem Communicator den ersten multifunktionalen Kleincomputer mit Telefonfunktion auf den Markt. Mit dem im November vergangenen Jahres vorgestellten Nokia N92 kommt nun die weltweit erste Mobileinheit mit integriertem DVB-H-Rekorder auf den Markt, mit dem das Fernsehen das Handy-Display erobert. Der Marktstart ist für Mitte dieses Jahres geplant. Vier Komponenten des Erfolgs Ohne Zweifel ist Nokia die stärkste und stabilste Massenmarke im globalen Geschäft mit Mobiltelefonen. Seit Jahren halten „Historisch betrachtet gehört zu Nokia eine Aura der Flexibilität sowohl im Aufspüren von Trends als auch im Anpassen an 24 1585 AUSGABE 01/06 DOSSIER Die vertrauenswürdigsten Marken Europas Befragung von Konsumenten in 14 europäischen Ländern Mobilfunkgeräte Nokia Hautpflege Nivea Kreditkarten neue Entwicklungen“, bestätigt InterFrühstückscerealien brand-Chef Häusler. Gleichzeitig emotionalisiere die einfache Bedienung Kameras der Geräte. Fortschritt und Vertrautheit Küchengeräte bilden also den Kern der Marke. Das Waschmittel kommuniziert auch die Werbung: Sie Haarpflege zeigt, wie Menschen Nokia-Produkte im Alltag nutzen. „Mit Referaten über Computer Hardware oder Technik kann man nur Kosmetik wenige begeistern“, so Schilly, „wirkliche Inspiration entsteht, wenn man sich von einer Geschichte angesprochen fühlt. Damit einher geht natürlich eine starke Emotionalität der Marke Nokia.“ Und hinzu kommt das Versprechen, Menschen in einer zunehmend mobilen Welt erfolgreich zu verbinden: „Nokia – Connecting People“ heißt der Slogan, der seit 1994 für die Marke wirbt. Visa Kellogg’s Canon Miele Ariel Wella Hewlett-Packard Avon 0 1 2 3 4 Anzahl der Erstplatzierungen Fortschritt und Vertrautheit Die Eigenschaften und das Versprechen der Marke pflegt Nokia konsequent, seit Jorma Ollila auf dem Chefposten sitzt. Er übernahm 1992 die Leitung des heruntergewirtschafteten Mischkonzerns, der neben Gummistiefeln und Toilettenpapier auch Mobilfunkgeräte fabrizierte. Ollila erkannte das gewaltige Potenzial der Mobiltelefonie und reduzierte das wirre Sortiment auf eine Produktgruppe – Handys und nötiges Zubehör. Zugleich verstärkte er die Forschung. Eigens zu diesem Zweck gegründete Geschäftseinheiten wie das Nokia Research Center kümmern sich tagein, tagaus darum, neue Technologien zu entwickeln und zu realisieren. Was den Finnen bis heute den 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 Quelle: Reader’s Digest European Trusted Brands 2006 Ruf des Branchenpioniers einbringt. Aktuell machen Handys rund 80 Prozent des Umsatzes aus, Nokia führt auf dem umkämpften Weltmarkt mit 34 Prozent Anteil. Mitarbeiter in acht Ländern fertigen die Mobiltelefone, die anschließend in 130 Nationen rund um den Erdball verkauft werden. Allein in Finnland beschäftigt Nokia derzeit mehr als 23.000 Menschen. Stabiles Markenvertrauen lässt sich sogar in Zahlen ausdrücken. Die Bereitschaft von Kunden, für eine bestimmte Marke mehr Geld auszugeben, misst regelmäßig die Studie „The Best Global Brands“. Sie wird seit 2001 jährlich von Interbrand Zintzmeyer & Lux und dem Wirtschaftsmagazin „BusinessWeek“ veröffentlicht. Platz eins belegt Coca-Cola, gefolgt von Microsoft, IBM, General Electric und Intel. Auf dem sechsten Platz liegt mit einem Markenwert von 26 Milliarden Dollar Handy-Ikone Nokia als bestes europäisches Unternehmen. Der Erfolg einer Marke gibt Sicherheit. Er kann aber auch dazu führen, sich zurückzulehnen. So verschliefen die Finnen trotz permanenter 1585 AUSGABE 01/06 25 Illustration: Ji-Young Ahn DOSSIER Forschung den Trend zum Klapp-Handy und vernachlässigten lange das immer wichtigere Thema Design. Schließlich verließ Nokia sogar seine klare Produktlinie und versuchte sich in Spielkonsolen. Allerdings vergeblich: Die Spielbox N-Gage floppte. Die Folgen solcher Nachlässigkeiten spiegeln sich am Kapitalmarkt, hier läuft es schon länger nicht mehr rund: Nachdem sich die Nokia-Aktie in den 90er Jahren verdreizehnfacht hatte, stürzte der Kurs zwischenzeitlich von über 50 auf zwölf Euro. Nicht nur im Vergleich zur Benchmark, dem Dow Jones Euro Stoxx, sondern auch in Relation zu direkten Wettbewerbern wie Ericsson entwickelte sich die Nokia-Aktie miserabel. Mittlerweile zeigt die Kurve aber wieder leicht nach oben. Führungswechsel als Chance Wie sich die Verbindung zwischen Nokia und seinen Kunden künftig entwickelt und ob die Anleger wieder Vertrauen fassen, hängt jetzt wesentlich von den personellen Weichenstellungen des Unternehmens ab. Eine große Chance, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen und bestehendes zu festigen, bietet der bevorstehende Wechsel in der Konzernspitze: Im Juni verlässt Mobilfunkpionier Ollila das Unternehmen. „Ich bin fest von der Erneuerung auf allen Ebenen überzeugt“, äußert sich der Noch-CEO, der künftig eine Top-Position beim Ölkonzern Shell übernehmen wird. Nachfolger Olli-Pekka Kallasvou, bisher Leiter der Handy-Sparte, zeigt sich zuversichtlich und ambitioniert. „Mehr Geräteabsatz und stabile Gewinne“, prognostiziert er für das laufende Jahr. Für weiteres Wachstum des Marktanteils sollen künftig UMTS-Handys sowie multimediale Anwendungen sorgen, zum Beispiel Handy-TV. Nokia werde „großartige Produkte und Lösungen entwickeln“, sagte Die Markentheorie Wodurch die kostbare und sogar monetär bewertbare Verbindung zwischen Kunden und Marken entsteht, ist schwer zu erklären. Vertrauen ist ein flüchtiges Gefühl, es hält nicht an. Was zählt, sind Emotionen, die allerdings Resultat ausgeklügelter Marketingstrategien sind. Fachleute reduzieren diese auf wenige Grundsätze wie Kontinuität, eine klare Linie, eine Markenidentität sowie ein glaubwürdiges Markenversprechen. Die Identität einer Marke gründet – ähnlich wie die eines Menschen – auf dem äußeren Erscheinungsbild und den Eigenschaften des Produkts. Harmoniert beides, generiert sich eine sympathische „Markenpersönlichkeit“, die den Kunden im Gedächtnis bleibt. Eine Marke verspricht an erster Stelle Qualität. Darüber hinaus sichert sie dem Verbraucher einen emotionalen Mehrwert zu: Der Käufer identifiziert sich mit den Eigenschaften der Marke und sieht sich deshalb ein wenig mehr so, wie er selbst gern sein möchte – zum Beispiel sportlich, elegant oder erfolgreich. Kallasvou der Finanzgemeinde in New York bei einem Investorentreffen voraus. Dem finnischen Wirtschaftsmagazin „Talouselama“ verriet er: „Im Mobilfunkbereich wollen wir für alle Produkte die Nummer eins werden.“ Dazu gehört auch das Geschäftsfeld Enterprise Solutions, das nun die Amerikanerin Mary McDowell aus New York lenkt. Diese Sparte fokussiert sich auf Businessanwendungen für Manager und Selbstständige. Nicht zuletzt soll das Design der Produkte das Geschäft beflügeln. Dafür hat Nokia seit April mit Alastair Curtis einen neuen Chefgestalter. Dem Marketing kommt bei diesen ambitionierten Zielen eine zentrale Aufgabe zu. Dabei setzen die Finnen weiter auf Print-, Online und Fernsehwerbung. Verstärkt engagieren sie sich jedoch im Sponsoring von Sport- und Freizeitveranstaltungen. Neu: die Nokia-Flagship-Stores. Der erste eröffnete vergangenes Jahr in Moskau. Hier können die Verbraucher nach Lust und Laune testen und herumexperimentieren. Weitere Vorzeige-Shops folgen. Damit zeigt Nokia Präsenz in den Prachtmeilen, bindet die Kunden so noch fester an sich. Der Kitt, auf den es ankommt, heißt Vertrauen. Informationen zur Studie von Reader’s Digest: www.rdtrustedbrands.com 26 1585 AUSGABE 01/06 GUIDE Protagonist einer Weltstadt: Jung, gut ausgebildet und unternehmerisch – Christopher Morris bringt alles mit, was man am Finanzplatz London braucht. Für ruhige Momente wie diesen ist selten Zeit. „In keiner anderen Großstadt geht es hastiger zu“, so der Manager von Saxon Financials. GUIDE 1585 AUSGABE 01/06 27 In der schnellsten Stadt der Welt zählen alte Werte Ohne Vertrauen geht an den modernen Börsen nichts, meint Christopher Morris, Director von Saxon Financials. „1585“ hat den Finanzprofi in seinem Londoner Büro besucht. Eine Reise in eine rasante und rastlose Stadt, die den Spagat zwischen Moderne und Tradition jeden Tag aufs Neue bewältigt. A us dem Lautsprecher der Londoner U-Bahn schallt: „Liverpool Street“. Wenige Sekunden später öffnen sich die Türen der „Tube“ und Heerscharen von Pendlern verlassen an einem Dienstagmorgen während der Rush hour den Bahnsteig der District Line. Viele von ihnen pilgern zum Café Nero oder zu Starbucks und erreichen ihr Büro mit einer Latte Macchiato oder einem Espresso in der Hand. Das hektische Gewusel der Angestellten in und vor der Station verbreitet jene Londoner Geschäftigkeit, die mein Gesprächspartner Christopher Morris als besonders typisch für die City (sprich London) empfindet. „In keiner anderen Großstadt laufen die Leute schneller, bewegen sie sich hastiger“, so sein Eindruck. „Für den typischen Londoner gehen die anderen immer ein wenig zu langsam.“ 28 1585 AUSGABE 01/06 Vielfalt: Der Kulturmix ist einer der Gründe für Londons Dynamik und Wirtschaftskraft. In der britischen Hauptstadt, die annähernd auf das Bruttoinlandsprodukt von Australien kommt, werden nach neuesten Schätzungen bis zu 300 verschiedene Sprachen gesprochen. Mit modernen Hochhäusern prägen Banken und Versicherungen mehr und mehr das Erscheinungsbild der britischen Hauptstadt. Besonders auffällig ist das vom Stararchitekten Sir Norman Foster entworfene Hauptquartier von Swiss Re. Zu keiner anderen europäischen Stadt passt der Satz „Zeit ist Geld“ besser als zu London. Der beachtliche wirtschaftliche Status der Stadt resultiert aus ihrer überragenden Stellung im weltweiten Finanzgefüge. Schätzungen gehen davon aus, dass mehr als 300.000 Beschäftigte in der Finanzbranche arbeiten – und London zum größten Finanzplatz Europas machen. GUIDE In der Person Christopher Morris spiegelt sich die Londoner City wider, mit ihrer hohen Dichte an Banken, Versicherungen, Handelshäusern und Finanzdienstleistern. Wie viele andere verließ er seine Heimat Yorkshire, mit einem Bachelor-Abschluss in der Tasche, um nach London zu gehen. Er ist jung und mit einem MBA der London School of Economics außergewöhnlich qualifiziert, er besitzt Unternehmergeist, ist überzeugend, sympathisch, offen. Das von Nick Collison gegründete Handelshaus Saxon Financial residert in der Artillery Lane, einer ruhigen Nebenstraße der Liverpool Street. Das Wertangebot von Saxons besteht darin, dass seine Kunden beim Handel auf elektronischen Märkten stets einen Sprung voraus sind. Neben Eurex ermöglicht Saxon den Handel an verschiedenen Termin- und Kassamärkten. Mit Niederlassungen in London, Dublin, Gibraltar, Madrid, New York, Montreal und Singapur ist Saxon global vertreten. Vertrauen ist für Christopher Morris der mit Abstand wichtigste Faktor des Business. „Solange Vertrauen im Geschäftsalltag herrscht, kann man für alle Beteiligten eine Win-Win-Situation erhoffen.“ Das Vertrauen im Verhältnis zwischen Finanzmärkten – egal ob Derivate- oder Kassamarkt – und Teilnehmern entstehe vor allem aus Chancengleichheit und Integrität. Hierbei hätten börsennotierte Börsen durch die Corporate-Governance-Regelungen einen Tick Vorsprung vor anderen Organisationsformen. In der Handelswelt, wo es auf „Geldangelegenheiten“ entscheidend ankommt, seien beide Parteien darauf angewiesen, einander zu vertrauen. Aus diesem gegenseitigen Vertrauensverhältnis entstünde auch die Verantwortung, die wesentlich ist, um eine dauerhafte berufliche Zusammenarbeit aufzubauen. Auf Saxon übertragen resümmiert er: „Unsere Geschäftsentwicklung beruht auf dem Vertrauensfaktor.“ 29 1585 AUSGABE 01/06 GUIDE Seine wenige Freizeit verbringt Morris gerne beim Joggen in den Royal Parks. Dort kann er sich zumindest für ein paar Stunden der Illusion hingeben, dem urbanen Moloch zu entkommen. Zugleich gehört er zu der kleinen und mutigen Schar der Radfahrer. „Mit keinem anderen Transportmittel komme ich in London schneller zehn Meilen voran“, berichtet er. Hampstead Heath oder Primrose Hill sind Lieblingsziele, wenn Freunde oder Familie ihn besuchen. Eine touristisch wenig bekannte Perle ist für ihn der Regent Canal, eine Wasserstraße, die London den Hauch von Venedig verleiht. Am Hoxton Square gefällt ihm das Bohème-Image mit den Galerien, Bars und dem künstlerischen Flair. Zum Chill-out gehen Christopher und die Trader von Saxon ins „Royal Exchange“, eine versteckte Bar im ehemaligen Gebäude der Bank of England. „Seine ungewöhnliche Atmosphäre verdankt London auch der multikulturellen Vielfalt“, sagt Morris über seine Wahlheimat. Jüngste Schätzungen gehen davon aus, dass in London mehr als 300 Sprachen gesprochen werden. „Sie kriegen einen guten Eindruck davon, wenn Sie einen Tag in der Tube unterwegs sind“, fügt er schmunzelnd hinzu. 1585Quiz London ist Finanzmetropole und Touristenmagnet zugleich. An der „1585“ verlost einen zweitägigen Aufenthalt im One Aldwych. Be- sichelförmigen Straße Aldwych zwischen der City und dem West- antworten Sie folgende Frage und schicken Sie die Lösung bitte end gelegen, hat sich das One Aldwych zum Klassiker unter Lon- bis 5. Juni per E-Mail an: [email protected] dons modernen Fünf-Sterne-Hotels entwickelt. „Not an inch of chintz“ ist hier zu finden, dafür jede Menge zeitgenössische Ori- Wie viele Sprachen werden schätzungsweise in London gespro- ginalkunst und ein stimmiges Designkonzept. Ideal gelegen für chen? den Geschäftstermin in der City, den Besuch an der Börse oder a) 50 b) 300 c) 1000 auch der Tate Modern zwischendurch. Information und Buchung: www.onealdwych.com Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Mitarbeiter der Gruppe Deutsche Börse und ihre Angehörigen dürfen nicht teilnehmen. 30 1585 AUSGABE 01/06 REVIEW Kein Blatt vorm Mund Mehr als 25 Jahre lang war Jeff Winter eine der schillerndsten Schiedsrichterfiguren im englischen Fußball. In seinem Buch „Who’s the B*****d in the Black“ erzählt er über sein Leben, die mühevolle Vertrauensarbeit auf dem Spielfeld, seine Karriere und sein Verhältnis zu den Akteuren des Profifußballs: Spieler, Trainer, Funktionäre. F ür Sir Alex Ferguson, Trainer von Manchester United, war er auf dem Fußballplatz meist „fucking useless“. Steve Bruce, Trainer des Erstligaclubs Birmingham City, bezeichnete ihn als einen „absolute prat“, was frei übersetzt so viel wie „Vollidiot“ bedeutet. Und die Fans der Fußballclubs aus Blackburn und Newcastle verbrüderten sich gegen ihn und sangen gemeinsam „You don’t know what you’re doing!“ Die Rede ist in allen Fällen von Jeff Winter, dem schillerndsten und kontroversesten Schiedsrichter der englischen Football Association. „Nicht unintelligent, aber er redet zu viel. Außerdem steht er gerne im Mittelpunkt des Interesses“, stand auf seinem Abschlussschulzeugnis. Es gibt schlechtere Voraussetzungen, um eine Karriere als Schiedsrichter zu starten. Das erkannte auch Tommy Harper von der North Riding Football Association, als er den jungen Bankangestellten Winter dereinst fragte, ob er Schiedsrichter werden wolle. Mit dem Spiel Yarm FC gegen Cleveland Nomads (6:2) begann am 4. Februar 1979 die Karriere, die ihren Höhepunkt 25 Jahre später im FA Cup Finale zwischen Manchester United und Millwall erreichen sollte. Das Vertrauen auf sich selbst und seine eigenen Entscheidungen, seine direkte, ehrliche Art und seine Fähigkeit, sich auch von großen Namen nicht einschüchtern zu lassen, ließen Winter zu einem der wichtigsten Schiedsrichter Englands werden. Trotz der eingangs zitierten feindlichen Charakterisierungen: Auf dem Platz verschaffte sich Winter durch sein resolutes Auftreten den Respekt und das Vertrauen von Trainern und Spielern. In den Reihen des Schiedsrichterverbands kam diese Art nicht immer gut an. Doch Winter blieb sich treu: „Viele Schiedsrichter haben früh in ihrer Karriere gelernt, dass sie schnell vorankommen können, wenn für ihr Spiel nur der richtige Schiedsrichterbeobachter eingeteilt wird. Anders gesagt: Wenn man vorankommen wollte, genügte es nicht, nur die richtigen Entscheidungen auf dem Spielfeld zu treffen“, schreibt er in seinem Buch. „Man kann mich naiv nennen, aber ich hatte mich dafür entschieden, meine Sache als Schiedsrichter bei jedem Spiel einfach immer so gut wie möglich zu machen. Die Politik und Machenschaften hinter den Kulissen haben mich zwar geärgert, aber ich habe versucht, mich davon nicht beeinflussen zu lassen.“ Selbst nach seinem Karriereende (er hatte die Altersgrenze erreicht) hielt er sich an diesen Grundsatz – und verspielte damit die Chance auf einen interessanten Job im Schiedsrichterverband. In seiner Autobiographie rechnet Winter nicht nur mit dem Verband ab. Spieler, Trainer, Vereine – alle bekommen ihren passenden Kommentar. Manchester United, davon ist Winter überzeugt, glaubt, dass „sie über dem Gesetz stehen und das Recht haben, Schiedsrichter zu schikanieren“. Über den Ex-Profi und heutigen Trainer Gordon Strachan sagt er: „In der ersten Liga gab es nur wenige problemlose Spiele. Und wenn Gordon Strachan dabei war, gab es scheinbar gar keine problemlosen Spiele.“ Den Entschluss, eine Autobiographie zu schreiben, fasste Winter am Ende seiner aktiven Schiedsrichterkarriere. „Es gab bereits die Schiedsrichterbücher von David Elleray und Pierluigi Collina, aber beide sind ziemlich zahm. Ich wollte etwas anderes machen.“ Herausgekommen ist ein sehr direktes, ehrliches Buch, in dem Jeff Winter fast kein Blatt vor den Mund nimmt – auch wenn einige Stellen dem Rotstift zum Opfer fielen: „Der Verlag wies darauf hin, dass einiges in dem Buch ziemlich starker Tobak sei. Somit sind letztendlich jede Menge guter Stellen unter den Tisch gefallen.“ Trotz dieser Zensur hat Winter sein offenes Mundwerk behalten. Und verdient auch heute noch sein Geld damit: Er arbeitet nicht nur als Buchautor, sondern auch als Radiokommentator und Festredner. Jeff Winter: „Who’s the B*****d in the Black? Confessions of a Premiership Referee“; Ebury Press, ISBN 0091909163, Preis: ca. 31,50 Euro (18,99 Pfund) Die Ikonen der Wirtschaft ... ur Je CD n 9,95 ¤ Bestell-Nr.: HB 2021 Bestell-Nr.: HB 2023 Bestell-Nr.: HB 2027 Bestell-Nr.: HB 2029 Bestell-Nr.: HB 2030 Bestell-Nr.: HB 2038 Bestell-Nr.: HB 2039 Bestell-Nr.: HB 2040 Bestell-Nr.: HB 2041 Bestell-Nr.: HB 2042 Bestell-Nr.: HB 2043 Bestell-Nr.: HB 2044 Bestell-Nr.: HB 2045 Alle 12 C Ds nur 79 ,– ¤ Handelsblatt Audio Edition Spannende Porträts von den größten Persönlichkeiten der Wirtschaft, mitreißend und kenntnisreich erzählt von den Journalisten Deutschlands größter Wirtschaftszeitung. Gesprochen von Percy Hoven. Mit der exklusiven Geschenkbox sparen Sie über 40,– ¤ ... Bestellen Sie jetzt per Telefon 0800.0002056 (gebührenfrei). Noch schneller geht’s per Internet: www.handelsblatt-shop.com 1585 AUSGABE 01/06 PORTRAIT 33 Der Himmelsstürmer Thomas Reiter wechselt voraussichtlich im Juli für ein halbes Jahr sein Zuhause: Weltall statt Oldenburg. Für das Leben an Bord der Raumstation ISS muss der Astronaut aus Deutschland vor allem einem vertrauen: sich selbst. Manchmal wäre ein wenig Unwissenheit nicht übel. Mal angenommen, man sitzt im Space Shuttle und rast mit 15-facher Schallgeschwindigkeit aufwärts. Was geht einem durch den Kopf: Wie viele Einschläge waren es? Nur 25 wie beim letzten Mal? Haben die vagabundierenden Brocken aus Eis und Schaumstoff erneut Hitzekacheln zertrümmert? Wie steht es um die empfindliche Tragflügelkante, nicht erst seit 2005 wunder Punkt der Raumfähre Discovery? Nicht einmal Thomas Reiter weiß, was er wirklich denken wird in jenen Minuten des Aufstiegs. Der Countdown läuft für Mission STS-121 – und damit für den 47-jährigen Astronauten. Im Juli – sofern alles klappt – fliegt der zweifache Familienvater zur Internationalen Raumstation ISS. Dort gehört er als Bordingenieur ein gutes halbes Jahr zur Stammbesatzung. Als erster deutscher Langzeitastronaut lebt, schwebt und arbeitet Thomas Reiter dann 390 Kilometer über der Grasnarbe. Von 114 Einsätzen endeten zwei tödlich Vertrauen ist alles: Thomas Reiter wagt sich an Bord eines 25 Jahre alten Fluggeräts in das Weltall. „Ich vertraue fest darauf, dass der Shuttle sicherer ist denn je.“ Nach mehrmaligem Verschieben ist STS-121 erst der zweite Shuttle, der seit der Columbia-Katastrophe vom Februar 2003 den Weg nach oben wagt. Der Auftrag wird zu einer Frage des Vertrauens. Wer Reiter fragt, der hört: „Ich vertraue fest darauf, dass es der sicherste Shuttle ist, den es je gab.“ Das Risiko sei „akzeptabel“. Er sagt aber auch: „Man ist im Nachhinein fast überrascht, dass es so oft gut gegangen ist.“ Von 114 Shuttle-Einsätzen endeten zwei tödlich. Astronaut – ein Beruf ist das nicht. Es ist ein Männertraum, ein Mythos. Allein das Wort schmeckt nach Abenteuer – und Thomas Reiter ist alles andere als ein cooler Vertreter seines Standes: „Ich freue mich riesig auf meinen zweiten Start“, sagt er begeistert. Reiter weiß, wie das ist mit 3.000 Tonnen Schub im Rücken: „Du spürst eine wahnsinnige Beschleunigung, das Vibrieren der Haupttriebwerke. Wir haben uns bei meinem ersten Start kurz die Hand gegeben, um uns klar zu machen, dass es wirklich losgeht.“ Viel Zeit zum Sinnieren blieb nicht. „Ich dachte nur: Hey, jetzt bist du gleich im Orbit. Das dauert ja kaum neun Minuten.“ 2.864-mal um die Erde gekreist Thomas Reiter ist ein europäischer Vorzeigeastronaut. 1,83 Meter groß, sportlich, uneitel. Wer ihn durch die Scheibe des unbequemen Raumanzugs lächeln sieht, wird angesteckt. Bei seinem bevorstehenden Einsatz kommt ihm die Erfahrung zu Gute: Schon vor über zehn Jahren, genau am 3. September 1995, hinterließ er im russischen Weltraumbahnhof Baikonur seinen Namen auf der Zimmertür – das angeblich Glück bringende Kosmonautenritual vor dem Start. Mit einer Sojus-Rakete donnerte er zur russischen Raumstation Mir. 2.864-mal umkreiste er mit dem altersschwachen russischen Außenposten die Erde, 179 Tage lebte er in der Schwerelosigkeit bis zum harten Aufprall in der kasachischen Steppe. Als Jahre später die Mir gezielt zum Absturz gebracht wurde, fühlte sich Reiter, als hätte er sein eigenes Auto in die Schrottpresse gefahren. Eine emotionale Angelegenheit. 34 1585 AUSGABE 01/06 Zeit der Einsamkeit: Die Astronauten der ISS verbringen sechs Monate in der Isolation. Gesprächspartner sind Rechner. Pumpen und Konverter verströmen eine mechanisch-ölige Note in der Luft. Nun steht ihm der Systemvergleich bevor: Der enge russische Sojus-Dreisitzer, für den Reiter sogar den Führerschein besitzt, gegen die amerikanische Sorgenfähre, die seit 1981 im Verkehr ist. „Ich bin gespannt auf den Vergleich, auch wenn ich im Shuttle in der ersten Phase leider keine so aktive Rolle einnehme.“ Er ist darauf angewiesen, dass Discovery-Kommandant Steven Lindsay und die Hundertschaften in den Mission Control Centern in Florida und Texas keine Fehler machen. Reiter voller Vertrauen: „Ich fühle mich im Shuttle nicht unsicherer als in einer Sojus-Rakete.“ Natürlich: „Die Technik ist alt, aber das soll nicht heißen, dass die nicht einigermaßen zuverlässig ist“, sagt Reiter optimistisch. PORTRAIT anderen Beruf suchen“, sagt der gelernte Jet-Pilot und Oberst der Luftwaffe. Es helfe nicht, die Risiken zu verdrängen. Im Gegenteil – ein Hasardeur im All wäre eine fatale Fehlbesetzung. „Bei technischen Systemen gibt es keine 100-prozentige Sicherheit.“ Worauf es bei einem Langzeitaufenthalt im All ankommt: die menschliche Fähigkeit, zu interpretieren. „Ein Roboter könnte die Probleme da oben nicht annähernd lösen.“ Die jahrelang einstudierten Routinen und das instinktiv richtige Handeln. Ohne das wird es nicht gehen in jener WG der blassen Männer, die mit 28.000 Stundenkilometern in 90 Minuten die Welt umrundet. Wäre nicht so viel zu tun, könnten sie aus den Bullaugen jeden Tag die Sonne 16-mal aufgehen sehen. In 90 Minuten um die Welt Es ist kein blinder Glaube in irgendeinen Zentralrechner, der jemanden wie Reiter den Mut zum Abheben in einem mittlerweile 25 Jahre alten Fluggerät gibt. Pioniergeist und Forscherdrang treiben ihn an. „Aber sicher: Wenn ich kein grundsätzliches Vertrauen in die Technik hätte, müsste ich mir einen Ein halbes Jahr Niemandsland. Überleben in einem Gewirr zusammengesteckter Blechtonnen. Wohin man auch schwebt: Überall surrende Laptops, Ventilatoren, Pumpen und Konverter, die Tag und Nacht eine mechanisch-ölige Note verströmen. Das klingt nicht nur nach Faszination Technik. Es klingt PORTRAIT 1585 AUSGABE 01/06 35 auch nach Entbehrung und Einsamkeit. Nach dehydrierten Shrimps mit Soße, die aus einem Päckchen gelutscht werden. Nach feuchten Hygienetüchern und dem Verlangen nach einer heißen Dusche. Reiters Astronautenkollege Reinhold Ewald sagt lakonisch: „Wir sind ja nicht zur Körperpflege da oben. Eine Raumstation ist keine Vielfliegerlounge.“ Im Gegenteil: Der Auftrag ist eben laut, anstrengend und gefährlich. „Die bemannte Raumfahrt birgt Gefahren, die kein Technikteam aus der Welt schaffen kann“, sagt Ewald. Das hat er 1997 bei seiner 20-Tage-Mission zur Mir am eigenen Leib erlebt. Damals explodierte eine Sauerstoffpatrone – und die Crew musste plötzlich brennende Metallteile löschen, die in der Station umherflogen. Auch Reiter glaubt, dass bis zu seiner geplanten Rückkehr im November dort oben nicht alles glatt laufen wird. Die Mir-Erfahrung hat ihn geprägt: „Notlagen zu meistern, ist täglich Brot“, sagt der Luft- und Raumfahrttechniker. Mit Lötkolben in der Hand und Schraubenzieher im Mund hat er schon ein Leck im Kühlkreislauf in Ordnung gebracht. „Man muss dauernd improvisieren.“ Wenn ein „lebenserhaltendes System“ ausfällt, kann man schließlich nicht den Handwerker anrufen. Selbst ist der Mann – von der Stromerzeugung über die Temperaturkontrolle bis zur Kommunikation und Trinkwasserbereitung. Jeder muss fit sein, bereit, dem anderen zu helfen. Eine eingeschworene Gemeinschaft „In der Station zählt nur das Team, nicht die Herkunft“, sagt Reiter. Für rund 30 Millionen Euro soll die Europäische Raumfahrtagentur ESA den notorisch klammen Russen den Startplatz für Reiter abgekauft haben. Der Mann aus Oldenburg fühlt sich dennoch nicht als zahlender Juniorpartner. Die weltweit etwa 160 aktiven Astronauten sind eine eingeschworene Gemeinschaft. In den zwei Jahren der Intensiv-Vorbereitung pendelte Reiter wie alle ISSAspiranten permanent zwischen dem Sternenstädtchen bei Moskau, Houston und dem ESA-Astronautenzentrum Köln. Jeder kennt jeden. Ob man sich immer mag, steht auf einem anderen Blatt. „Das sind Profis, oft Soldaten – die müssen zusammen können“, kommentiert ESA-Sprecher Jean Coisne. „Die ISS ist 450 Tonnen internationale Partner- schaft“, heißt es bei den beteiligten Raumfahrtorganisationen. 16 Nationen bauen seit November 1998 an dem Hightech-Arbeitsplatz für Astronautenteams: 1.200 Kubikmeter künstlicher Lebensraum, angefüllt mit Luft aus Florida und Baikonur. Die Station ist das Größte, was Menschen je im Orbit platziert haben. Mit ihren Sonnensegeln soll die ISS einmal 108 Meter Spannweite haben und 80 Meter lang sein. In alle Himmelsrichtungen werden die büchsenartigen Module angedockt – ein gewaltiger internationaler Technikbaukasten. Kritiker sagen: ein Milliardengrab, das wohl nie richtig fertig wird. Reiter hält dagegen: „Letztlich hat nur derjenige Erfolg, der sich nicht von Rückschlägen abhalten lässt.“ Schlafsack in der Nische Auf den ersten Blick herrscht auf der ISS ein Chaos wie in einem umgekippten Wohnwagen. Wenn Reiter wie ein Fisch durch die mit Technik ausstaffierte Grotte schwimmt, muss er aufpassen, nirgendwo anzustoßen. Jedes Teil, das er mitreißt, Intensives Training: Ein Weltraumausflug ist kein Spaziergang. Rund zwei Jahre schuftete Reiter in der Nähe von Moskau, in Houston und Köln für seinen OrbitTrip. 36 1585 AUSGABE 01/06 Big Business: Für rund 30 Millionen Euro soll die Europäische Raumfahrtagentur ESA den notorisch klammen Russen den Startplatz für Thomas Reiter abgekauft haben. schwebt weg. Unauffindbar. Mit Glück hängt es in einem Lüftungsfilter. Die Ausrüstung ist in weißen Transportboxen untergebracht, die überall an den Wänden festgezurrt sind. Essen lagert in Plastikboxen – rote für die russischen Rationen, blaue für die amerikanischen. Mittendrin ein Keyboard, ein Laufband, eine Mikrowelle. Vor den Versuchsschränken sind Fußschlaufen angebracht, mit denen sich die Astronauten bei der Arbeit fixieren. Wer das vergisst und eine Schraube anzieht, dreht sich stattdessen selbst. Seinen Schlafsack hat Thomas Reiter in einer Nische angebunden, damit er nicht träumend durch die Station schwebt. PORTRAIT „Die Schwerelosigkeit ist ein wunderbares Gefühl“, schwärmt Reiter. Besonders freut er sich auf einen weiteren geplanten Außenbordeinsatz. Zwei Ausstiege in den freien Weltraum durfte er schon wagen. Nur mit einer weißen Nabelschnur mit der Station verbunden, sammelte er Meteoritenstaub aus einem Kästchen an der Außenwand der Mir, das er zuvor dort angebracht hatte. Jeder Handgriff einstudiert, jedes Fingerkrümmen im prallgepumpten Raumanzug kostet enorme Kraft, sechs Kilo Wasser schwitzt Reiter aus. „Aber wenn man sich dann einmal von der Station wegdreht und noch überall Kontinente sieht, wunderschöne Wolkenformationen, dann denkt man: Das träumst du.“ Das Gefühl sei so unwirklich, kaum in Worte zu fassen, sagt Reiter. „Überwältigend. Wie im Märchen.“ zu werden. Wie es denn sei, nach einem halben Jahr Einsamkeit wieder an der Supermarktkasse angerempelt zu werden? Er muss lachen: „Ich habe noch nie gedacht: Das kann ja wohl nicht wahr sein, jetzt warst du im Weltraum und nun musst du auf der Autobahn auch noch im Stau stehen.“ Im Gegenteil: „Gerade bei einem Langzeitaufenthalt gibt es Phasen, wo man normale irdische Dinge vermisst.“ Anderthalb Kilo irdische Habe darf Reiter mitnehmen. Ein paar Fotos von seiner Frau Consuela und den Söhnen Daniel und Sebastian. Sie packen ihm auch ein kleines Überraschungspaket, das er erst oben öffnen darf. Dazu elektronische Bücher über Philosophie, Geschichte und viel Musik – der Datenkompression sei Dank. Zwar sei auch bei einer Langzeitmission „fast jede Sekunde verplant“, sagt Reiter, doch die Astronauten sind auch angewiesen, streng ihre Ruhezeiten einzuhalten. „Reines Zuckerschlecken wird das nicht.“ Klar macht es mal Spaß, eine Salamischeibe durch die Luft segeln zu lassen und mit dem Mund einzufangen. Aber er weiß es jetzt schon: Das fantastische Gefühl, es wirklich nach oben geschafft zu haben, wird nicht ewig halten. „Irgendwann kommt eine Phase, da reicht ein grünes Kontrolllicht, und man denkt an Natur und Wald.“ Nicht umsonst zählen auch psychologische Selbstversuche zum wissenschaftlichen Programm. „Wenn ich mal Zeit haben sollte, genieße ich den Blick ins All und auf die Erde“, kündigt er an. „Beim letzten Mal habe ich mir fast Vorwürfe gemacht, nicht oft genug rausgeguckt zu haben.“ Das Gefühl hält nicht ewig „Man setzt andere Prioritäten, Probleme erhalten eine andere Wertigkeit“, sagte Thomas Reiter nach Rückkehr von der Mir. Man fühle sich weniger als Bürger eines bestimmten Landes, sondern als Weltbürger. Die Bodenhaftung verliert er nicht, keine Sorge. Er erwartet nicht, nach Rückkehr wie die ersten Mondfahrer im Cabrio durch die Stadt gefahren Stefan Merx, 38, schreibt als freier Journalist in Köln für führende Zeitungen und Magazine in Deutschland. Den ersten Kontakt zur Raumfahrt hatte er im Mission Control Center in Houston – als Tourist. www.aignermunich.com Shops Berlin: Kurfürstendamm 50, Tel. 030/88683668 • Bonn: Markt 38-40, Tel. 0228/654520 Düsseldorf: Königsallee 60, Tel. 0211/3230955 • Leipzig: Mädlerpassage/Grimmaische Straße 2-4, Tel. 0341/2115055 München: Theatinerstraße 45, Tel. 089/2907510 • Nürnberg: Kaiserstraße 41, Tel. 0911/223753 Stuttgart: Stiftstraße 14, Tel. 0711/2804122 • Salzburg: Alter Markt 7, Tel. +43/(0)662/849010 Wien: Kärntner Ring 5-7/Ringstrassengalerien, Tel. +43/(0)1/5126123 38 1585 AUSGABE 01/06 FOTOSTORY Ausstellung der Besten: Die Bilder der vier Nominierten Adams, Barrada, Collins und Soth sind jetzt in Berlin und bald in Frankfurt zu sehen. Großer Mahner: Die kritischen Naturfotos von Robert Adams ziehen in den Bann, wie dieser Baum im US-Bundesstaat Oregon. Von Bäumen und Menschen Robert Adams ist der Gewinner des Deutsche Börse Photography Prize 2006. Seit mehr als 40 Jahren dokumentiert der Künstler aus New Jersey mit seiner Kamera die Folgen der Industrialisierung. D er 1937 geborene Robert Adams erhält den Deutsche Börse Photography Prize 2006 für die Ausstellung „Turning Back: A Photographic Journal of Re-exploration“ im Haus der Kunst München. Darin blickt er mit 164 ansehnlichen, aber schonungslos entlarvenden Silber-Gelatine-Abzügen aus den Jahren 1999 bis 2003 kritisch auf Abholzung, Industrialisierung und Besiedelung des amerikanischen Nordwestens. „Turning Back“, sagt Adams daher, „war ein Projekt, das für mich mit sehr viel Verzweiflung verbunden war.“ Die fotografische Expedition beginnt im Gebiet früherer Urwälder, die heute weitgehend zerstört sind, und führt schließlich zu intakten Waldgebieten im Mittleren Westen – ein Appell an einen rücksichtsvollen Umgang mit Natur und Landschaft. Dass die Ausstellung mit dem Photography Prize gewürdigt wird, interpretiert Robert Adams als Zeichen eines Sinneswandels. „Der Preis macht mir bewusst, dass Menschen, die sich um ihre Umwelt kümmern, wichtige Erfahrungen teilen – beispielsweise die Freude, gesunde Bäume um sich zu haben.“ Als am 22. März der Photography Prize in der Räumen der Photographers’ Gallery in London zum zehnten Mal vergeben wurde, vertrat Gerry Badger, Autor und langjähriger Freund, den 70-jährigen, scheuen Künstler. Den Gewinn des Preises, für den er bereits im Jahr 2004 nominiert war, kommentierte Adams mit Freude und Dankbarkeit. Das Preisgeld von 30.000 Pfund spendet er der unabhängigen Organisation Human Rights Watch, die weltweit für die Menschenrechte eintritt. Eine Ausstellung mit Bildern jener Künstler, die in die engere Wahl gekommen waren – neben Robert Adams auch Yto Barrada, Phil Collins und Alec Soth – gastiert vom 17. Mai bis 16. Juli im C/O Berlin und vom 7. September bis 22. 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