Zimmer - Hugendubel
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Zimmer - Hugendubel
SIMONA VINCI Zimmer 411 Buch Ein Hotelzimmer in Rom, unweit des Pantheon: Hier, in Zimmer 411 des Albergo Nazionale, sitzt eine Frau und schreibt einen Brief: Sie schreibt einen Brief an den Mann, den sie einst leidenschaftlich geliebt hat, und lässt die Beziehung vor ihrem geistigen Auge noch einmal Revue passieren. Oft haben sich die beiden hier in Zimmer 411 getroffen, Nächte von haltloser Leidenschaft haben sie miteinander verbracht, gierig und atemlos, um ihr unersättliches Begehren zu stillen. Es ist nicht weniger als alles, was sie voneinander wollen, und ihre Liebe duldet keine Kompromisse – auch wenn sie darüber zu verlöschen droht. Und tatsächlich kommt der Tag, an dem sie erkennen müssen, dass sie gescheitert sind: an Mauern, die sie errichteten, ohne es zu wollen, an einem Meer von Unverständnis, das zu überbrücken ihnen nicht gelang. Und sie wissen, dass sie aufbrechen müssen, um neues Glück an einem anderen Ort zu suchen. Eindringlich und unter die Haut gehend erzählt Simona Vinci von der unbezähmbaren Kraft, aber auch von der Fragilität dessen, was Mann und Frau miteinander verbindet – und davon, was es heißt, mit aller Hingabe zu lieben. Autorin Simona Vinci wurde 1970 geboren. Für ihre schriftstellerische Tätigkeit wurde sie mit dem renommierten Premio Elsa Morante ausgezeichnet. Simona Vinci lebt in Budrio bei Bologna. Simona Vinci Zimmer 411 Roman Aus dem Italienischen von Verena von Koskull Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Stanza 411« bei Giulio Einaudi Editore, Turin Zert.-Nr. SGS-COC-001940 Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100 Das fsc-zertifizierte Papier Holmen Book Cream für dieses Buch liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden. 1. Auflage Taschenbuchausgabe April 2010 Copyright © der Originalausgabe 2006 by Simona Vinci Copyright der deutschsprachigen Erstveröffentlichung 2008 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: James Gritz / getty images / Mina Chapman / Corbis WI · Herstellung: Str. Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-442-47158-4 www.goldmann-verlag.de Sittsamkeit muss mit der Liebe einhergehen. Was offen auszusprechen sich nicht schickte, das hat mir die Liebe zu schreiben auferlegt. Was auch immer Amor befiehlt, das kann man nicht gefahrlos geringschätzen. Er ist mächtig und übt sogar über die Götter, die Herren der Welt, sein Recht. OVID, Heroides, Phaedra an Hippolytus Was kann die Lektüre eines Briefes schon schaden? Es steht vielleicht auch etwas drin, was dich erfreuen könnte. Mit Schriftzeichen werden auch geheime Botschaften über Land und Meer befördert. Selbst ein Feind liest den Brief, den er vom Feind erhalten hat. OVID, Heroides, Phaedra an Hippolytus Für V. T. Dieser Brief wird Dir von vornherein nicht schmecken. Er wird Dir von Anfang an gegen den Strich gehen. Er wird Dich verstören. Du wirst ihn dennoch bis zu Ende lesen müssen. Weil er die Wahrheit sagt. Zugegeben, es ist meine Wahrheit, aber ist eine Wahrheit erst einmal heraus, betrifft sie irgendwie jeden. Er wird Dir gegen den Strich gehen, aber das macht nichts: Was kann Dir die Lektüre eines Briefes schon schaden? Dies ist ein Hotelzimmer. Albergo Nazionale, Piazza di Montecitorio, Rom. Das Zimmer hat die Nummer 411. Und das ist mein Körper, reflektiert in einem Spiegel. Nicht in dem langen, schmalen Innenspiegel des Wandschranks, in dem ich mich jeden Tag betrachte. Dieser hier ist riesig, eine regelrechte Tür, die zudem das Spiegelbild einer anderen reflektierenden Oberfläche zurückwirft. Das Licht kommt von hinten, so sehe ich meinen Körper nur als Schattenriss. Das, was ich sehe, ist eine Frau. Eine Frau, nichts weiter. Ist sie schön? Oder ist sie hässlich? Ich bemühe mich um einen unvoreingenommenen Blick – soweit man denn einen unvoreingenommenen Blick auf sich selbst werfen kann –, ich reinige ihn, befreie ihn von den Rückständen, den Fragen, den Unsicherheiten und Komplexen, die ich wie jeder andere auch seit der Pubertät mit mir herumschleppe – länger noch, seit der Kindheit. Das, was ich im Badezimmerspiegel dieses Vier9 Sterne-Hotelzimmers sehe, ist ein Frauenkörper. So betrachtet, in diesem Licht, das die Einzelheiten ausblendet und nur die Silhouette klar umreißt, erscheint er zierlich. Schlanke Beine, dünne Schenkel, die sich nicht berühren. Als ich noch ein Mädchen war, taten sie das eine Zeit lang, und im Sommer litt ich Höllenqualen: Ich schwitzte, und zwischen den Schenkeln, die gegeneinander scheuerten, bildete sich eine rote Stelle. Sie brannte. Und ich hasste meine Schenkel. Genauso wie ich meinen dicken, bleichen Bauch in den gerippten Baumwollunterhosen hasste, deren Gummibund einen Striemen über dem Nabel hinterließ. Als Kind war ich klapperdürr. Auf den Fotos sehe ich aus wie eine kleine Spinne, mit rundem Bauch und dünnen Ärmchen und Beinchen, vorspringenden Schlüsselbeinen und knochigen Hüften. Von einem Tag auf den anderen habe ich mich dann in einen dicklichen Teenager verwandelt. Jetzt erscheint mir der Kopf für diesen hölzernen, zerbrechlichen, hageren, gleichwohl unvollkommenen Körper zu groß. Der Bauch ist flach, mit einer leichten Wölbung, einer sanften Hautwoge, aus der die Beckenknochen regelrecht hervorbrechen. An manchen Tagen finde ich diese Knochen entsetzlich, dann wieder streichele ich sie heimlich unter den Kleidern, und es gibt mir Sicherheit, ihre Spitzheit zu spüren, die in einer allzu festen Umarmung schmerzhaft sein kann. 10 Der Busen ist weder klein noch groß. Die Warzenhöfe sind groß und rosa, die Brustwarzen zu dick. Der Busen ist das hässlichste an diesem Körper, der Teil, den ich vom ersten Tag an gehasst habe. Ich muss an einen anderen Spiegel denken, das Licht kommt von links, das Licht eines Sommernachmittags. Ich bin dreizehn Jahre alt und stehe missmutig vor dem runden Spiegel im blauen Badezimmer meiner Mutter. Ich mustere mich von vorn, von hinten, von schräg, von der Seite. Auf einmal sind da diese beiden seltsamen Auswüchse, die meine Brust in zwei Hälften teilen, sie entstellen. Ich kann mich nicht erinnern, mir wie viele andere Mädchen je einen Busen gewünscht zu haben. Ich glaube, bis dahin hatte ich noch nicht einmal daran gedacht, dass mir einer wachsen würde. Aber dann war er plötzlich da: ein unerwünschtes Geschenk, ein Sack voll staubiger Kohlen statt Bonbons und Schokolade, statt Belohnungen. Du warst ein böses Mädchen, sagt der Spiegel, und das hast du jetzt davon. Seit jenem Tag sehe ich zu, mein schändliches Geheimnis, mit dem ich geschlagen bin, möglichst zu vertuschen, es möglichst klein zu machen, flach zu drücken, mit Schichten von Stoff zu verhüllen, damit niemand davon weiß. Aber ich mache mir etwas vor. Die anderen wissen Bescheid: Verstecken ist zwecklos. 11 Man kann sich niemals verstecken, doch das habe ich erst jetzt begriffen. Zimmer 411. Albergo Nazionale, Rom. Vor dem weit geöffneten Fenster über der Piazza di Montecitorio, die zu dieser nächtlichen Stunde bis auf die Männer vom Wachschutz und ein paar vereinzelte Passanten, zumeist betrunkene Touristen, vollkommen verlassen ist, strahlt ein kalter Mond. Februarmond. Ich bin hier und warte auf Dich. Mein Körper besteht aus Knochen. Muskeln. Sehnen. Er hat bläuliche Adern, ein Netz von Flussläufen, die mich durchziehen. Graue Adern, weich hervortretende Wulste. Ein geheimnisvoller Gobelin, der sich nur aus der Nähe erschließt, von Kleidern befreit. In den Adern Blut. Und darunter noch – man stelle sich das Skalpell des Chirurgen vor, das Schicht um Schicht durchschneidet, sie eine nach der anderen gekonnt durchtrennt – liegen die Organe. Unter der linken Brust – minimal größer als die rechte und deswegen umso verhasster – liegt das Herz. Unter dem Brustbein der Magen. Links die Milz, rechts Leber und Gallenblase und weiter unten der Darm, der Uterus, die Eierstöcke. Es ist noch alles da. Nichts fehlt. Ich bin noch komplett. 12 Meiner Mutter haben sie zuerst die Galle und dann den Uterus wegoperiert. Einer Bekannten von mir eine Brust. Einer anderen beide. Einem Jungen haben sie die halbe Lunge weggeschnitten. Einem anderen eine Niere. Und wieder einem anderen ein Stück Darm. Vor ein paar Monaten habe ich in einer Zeitungsbeilage das Foto einer Frau mit nur einer Brust gesehen. Die andere, so stand in dem Begleittext, war ihr wegen eines Tumors amputiert worden. Ich habe die Seite herausgerissen, um sie aufzuheben. Es ist eine Schwarzweißaufnahme, und die Frau lächelt nicht mit dem Mund, sondern mit den Augen. Eine Frau um die fünfzig und noch sehr attraktiv: blondes Haar, volle Lippen, ein wunderschönes Gesicht. Anstelle der amputierten Brust ist eine lange, wulstige, halbkreisförmige Narbe zu sehen, und darüber und daran entlang das Tattoo eines blühenden Zweiges. Der Stolz in diesen Augen: Ich lebe, ich kann noch lieben und geliebt werden. Die aus der Schlacht davongetragenen Male sind, wie bei den alten Kriegern, der wertvollste Schmuck. Ich habe dem Tod ins Auge geblickt, ich habe mich dem Feind entgegengeworfen und bin zurückgekehrt. Ich bin noch da. Auch verstümmelte Körper überleben. Verstümmelt von innen. Verstümmelt von außen. Das Herz schlägt weiter. Die lebenserhaltenden Funktionen tun ihren 13 Dienst. Es braucht nichts, fast nichts oder nur ganz wenig, um zu überleben. Ich bin in diesem Zimmer nicht allein. Ein Mann ist da. Leise bewegt er sich jenseits der geschlossenen Tür, die ich mit dem Finger streife. Ich kann das Geräusch seiner Schritte innerhalb des begrenzten Raums hören, in dem die Wegstrecken von vornherein festgelegt sind: vom Schrank zum Bett, vom Bett zum Schreibtisch, vom Schreibtisch zum Fenster. Das Rascheln von Buchseiten zwischen seinen Fingern. Das trockene Schnappen eines Feuerzeugs. Ich weiß nichts über ihn. Über Dich. Ich habe keine Ahnung, wie Deine Mutter heißt, wie Dein Glied aussieht, wie Deine Haut unter den Kleidern riecht, ich weiß nicht, wie Du im Bett bist, ob Du zu den Guten oder den Bösen gehörst, ob Du das Meer oder die Berge magst, ob Du mit Messer und Gabel umgehen kannst oder gut erzogen bist – einer Dame die Wagentür aufhältst und schließt, ihr beim Betreten des Restaurants den Vortritt lässt, die Weinflasche am Fuß anfasst und durch eine kurze abschließende Drehung 14 des Handgelenks verhinderst, dass auch nur ein Tropfen danebengeht –, ich weiß noch nicht einmal, was in dem kleinen schwarzen Rucksack drin ist, den Du immer mit Dir herumträgst. Dieser Mann bist Du. Mir kommt es vor, als sei in diesem Satz jedweder mögliche andere Satz enthalten, als mache diese Tatsache jede andere Bestimmung zunichte. Im weißen, funkelnden Bad meines Hotelzimmers mache ich mich an die Ausführung der Handgriffe, die mich voll und ganz der Gattung Frau zuschreiben. Ein festgefügter, der Optimierung und Pflege dienender Bewegungsablauf. Mit teilnahmsloser Genauigkeit, die nichts Liebevolles, Fürsorgliches hat und eher der Routine eines Kochs gleicht, der Sahne in einen Windbeutel spritzt oder mit einer gekonnten Handbewegung einen Auflauf auf eine Platte stürzt, kümmere ich mich um meinen Körper. Jeder Zentimeter Haut wird inspiziert. Ich putze mir die Zähne, vor allem im hinteren Mundraum, schrubbe sogar die Zunge, nachdem ich sie herausgestreckt und eingehend im Spiegel betrachtet habe. Mit der Pinzette zupfe ich mir ein paar unsichtbare Augenbrauenhärchen aus. Ich wasche mich gründlich, beachte jeden Zwischenraum, creme den ganzen 15 Körper ein, reibe Deo unter die Achseln, sprühe einen Hauch Parfüm in die Leistenfalten, versehe die Fußnägel mit einer zweiten Schicht Klarlack und warte, bis er getrocknet ist. Jetzt ist mein Körper fertig: plastifiziert und geschminkt wie ein Toter im Leichenschauhaus. Dem voran ging die Enthaarung von Beinen, Armen, Achseln, Oberlippen und Augenbrauen, die Glykolsäure-Gesichtsmaske, Pediküre und Maniküre, Friseur und Solarium. Wäre auch nur ein einziger Schritt ausgeblieben, hätte ich es nicht bis hierher geschafft. Dabei ist mir – wie uns allen – vollkommen klar, dass Männer all das kaum wahrnehmen. Nur wir Frauen mustern unseren Körper mit diesem Metzgerblick und zerlegen ihn im Geiste in Einzelteile: Schulter-Keule-HaxeBauchspeck-Würstchen. Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel. Mein Herz schlägt heftig gegen die Rippen. Jetzt muss ich dieses Bad verlassen und mich Deinem Blick preisgeben. Möglichst unbefangen auftreten, nicht zu nervös, aber auch nicht zu selbstsicher. Ich bin eine Frau, verzeih mir. In Zimmer 411 gibt es nur wenige Dinge. Einen Koffer. Meinen. Deinen schwarzen Rucksack. Unsere Kleidung 16 von heute, in den Schrank oder über die Stuhllehne gehängt. Wir sind zu zweit. Du bist ein Mann. Und ich bin eine Frau. Es ist das erste Mal, dass ich so denke. Von den anderen, denen, die es vor Dir gab, dachte ich immer: Jungen. Von mir, auf sie bezogen: Mädchen. Du hast helle Augen. Eine wunderschöne Farbe. Märzhimmel, klar, aber noch kalt. Seltsame Tage, die unversehens Schnee bringen können. Hellblau. Aber auch grau. Durchsichtig. Manchmal machen sie Angst. Sie werden nie warm. In Zimmer 411 stehen zwei zusammengeschobene Betten. Creme- und pistazienfarbene Bettwäsche. Die Tapete Ton in Ton. Blassgrüner und elfenbeinfarbener Stuck an der Decke. Ein Schreibtisch. Ein großer Spiegel. Viel Platz. Ein Fenster, das auf die Piazza hinausgeht. Die Piazza ist riesig. Von Absperrungen begrenzt. Die Stadt ist Rom. Unweit von hier steht das Pantheon. 17 In diese Stadt komme ich ausschließlich aus beruflichen Gründen. Ich verlaufe mich nach wie vor, auch wenn es immer die gleichen Wege sind. Den Bauwerken, der Geschichte und den Mythen gegenüber völlig gleichgültig, kämpfe ich mich mit gesenktem Blick zwischen den Touristen hindurch. Ich steige in Taxis und Straßenbahnen, benutze Autos und Mopeds, wenn mich jemand mitnimmt. Ich überquere die Straßen und stoße mit menschlichen Körpern zusammen, die vor den Schaufenstern stehen. Kaum habe ich alles erledigt, sehe ich zu, dass ich fortkomme: zu viele Touristen, zu viele Monumente, zu viel Geschichte, zu viele Mythen. Zu viel Lärm und zu viel Licht. Seit Jahren schon haste ich, die Tasche gegen die Brust gepresst, die Via Nazionale Richtung Stazione Termini hinauf in der Hoffnung, den nächstbesten Bus zu erwischen, der mich zu einem Zug bringt, zu einem Eurostar, mit dem ich in zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten zurückkehre in die Reglosigkeit, den Nebel, die Stille, in die Eiseskälte und Bruthitze des Ortes in der Poebene, aus dem ich stamme, den ich hasse und von dem ich einfach nicht loskomme. Wenn ich es bestimmen könnte, würde ich niemals so ein Hotel aussuchen. Ich liebe das Grün der Bäume, das Abseits, hier aber bin ich mitten im Zentrum – laut Plan in der exakten Stadtmitte –, umdrängt von dieser Me18 tropole, die sich endlos um mich herum ausbreitet mit ihren fast drei Millionen Einwohnern und den Tausenden von Touristen auf Durchreise, den Autos, Straßenbahnen, Mopeds, Palazzi, Villen, Kirchen, Geschäften, Straßen, Boulevards, Kreuzungen, Unterführungen, Parks, kleinen und großen Plätzen, Treppen, Bäumen, Grünanlagen, dem Beton, dem Glas, dem Asphalt, den Ziegeln, Stromdrähten, Rohrleitungen, Gullys, dem Abfall, den Ratten und Glasfaserkabeln, und habe Angst. Ich spüre, wie sie mich erdrückt, diese unüberschaubare Masse an Dingen, die sich bewegen, im Verborgenen wimmeln, in den Himmel wachsen und rascheln, schaben, fressen, verwesen, Lärm machen. Nur im Pantheon fühle ich mich sicher und geschützt, als befände ich mich im Auge des Sturms, genau dort, wo die widerstreitenden Kräfte einander aufheben und sich schließlich verflüchtigen. Das Furcht einflößende Pantheon mit seiner von sechzehn grauen und roten Säulen getragenen Vorhalle, acht Monolithen aus grauem, und weitere acht – vier in der zweiten und vier in der dritten Reihe – aus rotem ägyptischem Granit. Eigentlich ist der Farbunterschied kaum wahrnehmbar, sie sehen alle gleich aus, und den Behauptungen des Reiseführers zum Trotz rede ich mir 19 jedes Mal hartnäckig ein, dass sich alle geirrt haben und es allein am Spiel des Lichts liegt, dass einige ein wenig blasser erscheinen. Da ist sie, die riesige Bronzetür, eine der drei antiken Türen Roms, ein schlichter, erhabener Eingang, von dem aus nur wenige Schritte ins Innere des Tempels führen. Kaum betrete ich das Pantheon, versagt mir jedes Mal die Stimme, es verschlägt mir die Sprache. Ich schaue empor, getroffen vom Licht, das durch das Auge des Tempels fällt, und betrachte den Himmel. Reglos stehe ich im Zentrum dieses magischen Kreises, kneife die Lider zusammen, und die Touristen verschwinden, alles verschwindet, ich höre nichts mehr, weder das Rascheln ihrer Plastiktüten noch die Schritte, Stimmen und Kommentare, das Kindergeschrei höre ich nicht, und auch nicht das Klicken und Piepen der Fotoapparate. Alles hält inne. Japaner und Deutsche, Koreaner, Franzosen, Amerikaner, alle stehen da, mit offenem Mund, den Kopf im Nacken, die Stirn von einem milchigen Lichtstrahl geküsst, der sie blendet und verwirrt. Ich weiß nicht, weshalb ich Dir davon schreibe. Von einem historischen Gebäude. Einem Tempel. Einem Ort. Einem dieser Orte, deren geheimnisvolle Energien wir einfach nicht benennen und in Worte fassen können, zumindest ich nicht. Vielleicht ist es nur Schönheit. Nichts als reine Ästhetik. Architektonisches und technisches Genie. Oder vielleicht liegt es daran, dass die Liebe einem Tempel gleicht: Es ist das erste Mal, dass ich ihn betrete. Ich stehe direkt unter seinem zyklopischen Auge, durch das das Licht der Welt fällt. Zu Beginn war das Pantheon allen Göttern geweiht, und von allen Göttern waren Venus und Mars die Königin und der König. Venus-Aphrodite, die Liebesgöttin, geboren aus der Berührung der Wellen mit dem abgeschnittenen Glied des Uranos, das ins Meer fiel: eine Geburt aus Blut und Meereswasser. Venus, die Urania, Schutzherrin der Gärten, der Liebe, der Fruchtbarkeit, der Kinder, der Jungfrauen, der ruhigen See, der Sehnsucht. Sie wird die Frau des Vulcanus, des Hinkenden, doch ihre wahre Liebe gilt Mars. Mars oder Ares, der Kriegsgott, Schutzherr des Frühlings und der Jugend. Zwei gegensätzliche und komplementäre Kräfte: »Wie in der Liebe, so im Krieg«. Aus den Umarmungen von Venus und Mars gingen – zu Recht und im Grunde völlig naheliegend – fünf Kinder hervor, fünf wie die Finger an einer Hand und die Zehen an einem Fuß, fünf wie die Sinne: Eros, Anteros (also das andere, das Gegenstück, die dunkle Seite) sowie Furcht, Grauen und Harmonie. Und sind nicht genau das die möglichen Begegnungsspielarten zwischen Mann und Frau? 22 Ein verbrauchter, doch immer noch heller Mond steht am Himmel, direkt vor diesem halb geschlossenen Fenster. Ich stelle mir vor, wie es wäre, genau jetzt in der Mitte des Pantheons zu stehen. Nachts, in vollkommener Einsamkeit, in der die Touristenhorden endlich stumm, verschwunden, vertrieben sind. Dort im Dunkeln zu stehen, unter dem Auge des Tempels, und den Mond zu betrachten. Zum ersten Mal sind wir allein in einem Raum. Bisher sind wir nur zusammen spazieren gegangen. Um uns herum war die Stadt, waren die Straßen. Zwei Flüsse. Es war nicht diese Stadt. Wenn wir die Straße überquerten, hast Du mich bei der Hand genommen. Wir sind lange gegangen, zweimal. Zwei Nachmittage, insgesamt fünf Stunden. Jetzt, umgeben von Mauern, habe ich solche Angst, dass ich wünschte, Du würdest verschwinden. Sofort und für immer. Ich sage Dir, dass ich seit sechs Jahren mit demselben Mann schlafe. 23 UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE Simona Vinci Zimmer 411 Roman eBook ISBN: 978-3-89480-428-2 Goldmann Erscheinungstermin: März 2009 Ein Hotelzimmer in Rom. Ein heißer Sommer. Eine großartige Liebesgeschichte. Eine Frau sitzt in einem Zimmer des Albergo Nazionale in Rom und schreibt einen Brief: Sie schreibt einen Brief an den Mann, den sie einst leidenschaftlich geliebt hat. Oft haben sich die beiden hier in Zimmer 411 getroffen, um eine Nacht miteinander zu verbringen und das Rätsel der Liebe zu ergründen. Doch ihre Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft hat sich nicht erfüllt, und die Beziehung scheitert – an einem Meer von Missverständnissen, das zu überbrücken ihnen nicht gelingt, an Wunschbildern, die der andere zu erfüllen nicht bereit ist. Eindringlich und unter die Haut gehend erzählt Simona Vinci von Liebe und Abschied, von der unbezähmbaren Kraft, aber auch von der Fragilität dessen, was Mann und Frau miteinander verbindet.