Zimmer - Hugendubel

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Zimmer - Hugendubel
SIMONA VINCI
Zimmer 411
Buch
Ein Hotelzimmer in Rom, unweit des Pantheon: Hier, in Zimmer 411 des Albergo Nazionale, sitzt eine Frau und schreibt
einen Brief: Sie schreibt einen Brief an den Mann, den sie einst
leidenschaftlich geliebt hat, und lässt die Beziehung vor ihrem
geistigen Auge noch einmal Revue passieren. Oft haben sich die
beiden hier in Zimmer 411 getroffen, Nächte von haltloser Leidenschaft haben sie miteinander verbracht, gierig und atemlos,
um ihr unersättliches Begehren zu stillen. Es ist nicht weniger
als alles, was sie voneinander wollen, und ihre Liebe duldet keine Kompromisse – auch wenn sie darüber zu verlöschen droht.
Und tatsächlich kommt der Tag, an dem sie erkennen müssen,
dass sie gescheitert sind: an Mauern, die sie errichteten, ohne es
zu wollen, an einem Meer von Unverständnis, das zu überbrücken ihnen nicht gelang. Und sie wissen, dass sie aufbrechen
müssen, um neues Glück an einem anderen Ort zu suchen.
Eindringlich und unter die Haut gehend erzählt Simona Vinci
von der unbezähmbaren Kraft, aber auch von der Fragilität dessen, was Mann und Frau miteinander verbindet – und davon,
was es heißt, mit aller Hingabe zu lieben.
Autorin
Simona Vinci wurde 1970 geboren. Für ihre schriftstellerische
Tätigkeit wurde sie mit dem renommierten Premio Elsa Morante ausgezeichnet. Simona Vinci lebt in Budrio bei Bologna.
Simona Vinci
Zimmer
411
Roman
Aus dem Italienischen
von Verena von Koskull
Die Originalausgabe erschien 2006
unter dem Titel »Stanza 411«
bei Giulio Einaudi Editore, Turin
Zert.-Nr. SGS-COC-001940
Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100
Das fsc-zertifizierte Papier Holmen Book Cream für dieses Buch
liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.
1. Auflage
Taschenbuchausgabe April 2010
Copyright © der Originalausgabe 2006
by Simona Vinci
Copyright der deutschsprachigen Erstveröffentlichung 2008
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv:
James Gritz / getty images / Mina Chapman / Corbis
WI · Herstellung: Str.
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-442-47158-4
www.goldmann-verlag.de
Sittsamkeit muss mit der Liebe einhergehen.
Was offen auszusprechen sich nicht schickte,
das hat mir die Liebe zu schreiben auferlegt.
Was auch immer Amor befiehlt, das kann man
nicht gefahrlos geringschätzen. Er ist mächtig
und übt sogar über die Götter, die Herren der
Welt, sein Recht.
OVID, Heroides, Phaedra an Hippolytus
Was kann die Lektüre eines Briefes schon
schaden? Es steht vielleicht auch etwas drin, was
dich erfreuen könnte. Mit Schriftzeichen werden
auch geheime Botschaften über Land und Meer
befördert. Selbst ein Feind liest den Brief, den er
vom Feind erhalten hat.
OVID, Heroides, Phaedra an Hippolytus
Für V. T.
Dieser Brief wird Dir von vornherein nicht schmecken.
Er wird Dir von Anfang an gegen den Strich gehen. Er
wird Dich verstören. Du wirst ihn dennoch bis zu Ende
lesen müssen. Weil er die Wahrheit sagt. Zugegeben, es
ist meine Wahrheit, aber ist eine Wahrheit erst einmal
heraus, betrifft sie irgendwie jeden.
Er wird Dir gegen den Strich gehen, aber das macht
nichts: Was kann Dir die Lektüre eines Briefes schon
schaden?
Dies ist ein Hotelzimmer.
Albergo Nazionale, Piazza di Montecitorio, Rom.
Das Zimmer hat die Nummer 411.
Und das ist mein Körper, reflektiert in einem Spiegel.
Nicht in dem langen, schmalen Innenspiegel des Wandschranks, in dem ich mich jeden Tag betrachte. Dieser
hier ist riesig, eine regelrechte Tür, die zudem das Spiegelbild einer anderen reflektierenden Oberfläche zurückwirft. Das Licht kommt von hinten, so sehe ich
meinen Körper nur als Schattenriss. Das, was ich sehe,
ist eine Frau. Eine Frau, nichts weiter.
Ist sie schön?
Oder ist sie hässlich?
Ich bemühe mich um einen unvoreingenommenen
Blick – soweit man denn einen unvoreingenommenen
Blick auf sich selbst werfen kann –, ich reinige ihn, befreie ihn von den Rückständen, den Fragen, den Unsicherheiten und Komplexen, die ich wie jeder andere
auch seit der Pubertät mit mir herumschleppe – länger
noch, seit der Kindheit.
Das, was ich im Badezimmerspiegel dieses Vier9
Sterne-Hotelzimmers sehe, ist ein Frauenkörper. So
betrachtet, in diesem Licht, das die Einzelheiten ausblendet und nur die Silhouette klar umreißt, erscheint
er zierlich. Schlanke Beine, dünne Schenkel, die sich
nicht berühren. Als ich noch ein Mädchen war, taten
sie das eine Zeit lang, und im Sommer litt ich Höllenqualen: Ich schwitzte, und zwischen den Schenkeln, die
gegeneinander scheuerten, bildete sich eine rote Stelle.
Sie brannte. Und ich hasste meine Schenkel. Genauso
wie ich meinen dicken, bleichen Bauch in den gerippten Baumwollunterhosen hasste, deren Gummibund
einen Striemen über dem Nabel hinterließ. Als Kind
war ich klapperdürr. Auf den Fotos sehe ich aus wie
eine kleine Spinne, mit rundem Bauch und dünnen
Ärmchen und Beinchen, vorspringenden Schlüsselbeinen und knochigen Hüften. Von einem Tag auf den anderen habe ich mich dann in einen dicklichen Teenager verwandelt. Jetzt erscheint mir der Kopf für diesen
hölzernen, zerbrechlichen, hageren, gleichwohl unvollkommenen Körper zu groß. Der Bauch ist flach, mit einer leichten Wölbung, einer sanften Hautwoge, aus der
die Beckenknochen regelrecht hervorbrechen. An manchen Tagen finde ich diese Knochen entsetzlich, dann
wieder streichele ich sie heimlich unter den Kleidern,
und es gibt mir Sicherheit, ihre Spitzheit zu spüren, die
in einer allzu festen Umarmung schmerzhaft sein kann.
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Der Busen ist weder klein noch groß. Die Warzenhöfe
sind groß und rosa, die Brustwarzen zu dick. Der Busen ist das hässlichste an diesem Körper, der Teil, den
ich vom ersten Tag an gehasst habe. Ich muss an einen
anderen Spiegel denken, das Licht kommt von links,
das Licht eines Sommernachmittags. Ich bin dreizehn
Jahre alt und stehe missmutig vor dem runden Spiegel im blauen Badezimmer meiner Mutter. Ich mustere mich von vorn, von hinten, von schräg, von der
Seite. Auf einmal sind da diese beiden seltsamen Auswüchse, die meine Brust in zwei Hälften teilen, sie entstellen. Ich kann mich nicht erinnern, mir wie viele andere Mädchen je einen Busen gewünscht zu haben. Ich
glaube, bis dahin hatte ich noch nicht einmal daran gedacht, dass mir einer wachsen würde. Aber dann war
er plötzlich da: ein unerwünschtes Geschenk, ein Sack
voll staubiger Kohlen statt Bonbons und Schokolade,
statt Belohnungen. Du warst ein böses Mädchen, sagt
der Spiegel, und das hast du jetzt davon. Seit jenem Tag
sehe ich zu, mein schändliches Geheimnis, mit dem ich
geschlagen bin, möglichst zu vertuschen, es möglichst
klein zu machen, flach zu drücken, mit Schichten von
Stoff zu verhüllen, damit niemand davon weiß. Aber
ich mache mir etwas vor. Die anderen wissen Bescheid:
Verstecken ist zwecklos.
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Man kann sich niemals verstecken, doch das habe ich
erst jetzt begriffen.
Zimmer 411. Albergo Nazionale, Rom. Vor dem weit
geöffneten Fenster über der Piazza di Montecitorio, die
zu dieser nächtlichen Stunde bis auf die Männer vom
Wachschutz und ein paar vereinzelte Passanten, zumeist
betrunkene Touristen, vollkommen verlassen ist, strahlt
ein kalter Mond. Februarmond.
Ich bin hier und warte auf Dich.
Mein Körper besteht aus Knochen. Muskeln. Sehnen.
Er hat bläuliche Adern, ein Netz von Flussläufen, die
mich durchziehen. Graue Adern, weich hervortretende
Wulste. Ein geheimnisvoller Gobelin, der sich nur aus
der Nähe erschließt, von Kleidern befreit. In den Adern
Blut. Und darunter noch – man stelle sich das Skalpell
des Chirurgen vor, das Schicht um Schicht durchschneidet, sie eine nach der anderen gekonnt durchtrennt –
liegen die Organe. Unter der linken Brust – minimal
größer als die rechte und deswegen umso verhasster –
liegt das Herz. Unter dem Brustbein der Magen. Links
die Milz, rechts Leber und Gallenblase und weiter unten der Darm, der Uterus, die Eierstöcke. Es ist noch
alles da. Nichts fehlt. Ich bin noch komplett.
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Meiner Mutter haben sie zuerst die Galle und dann
den Uterus wegoperiert. Einer Bekannten von mir eine
Brust. Einer anderen beide. Einem Jungen haben sie die
halbe Lunge weggeschnitten. Einem anderen eine Niere.
Und wieder einem anderen ein Stück Darm.
Vor ein paar Monaten habe ich in einer Zeitungsbeilage das Foto einer Frau mit nur einer Brust gesehen. Die
andere, so stand in dem Begleittext, war ihr wegen eines
Tumors amputiert worden. Ich habe die Seite herausgerissen, um sie aufzuheben. Es ist eine Schwarzweißaufnahme, und die Frau lächelt nicht mit dem Mund, sondern mit den Augen. Eine Frau um die fünfzig und noch
sehr attraktiv: blondes Haar, volle Lippen, ein wunderschönes Gesicht. Anstelle der amputierten Brust ist eine
lange, wulstige, halbkreisförmige Narbe zu sehen, und
darüber und daran entlang das Tattoo eines blühenden
Zweiges. Der Stolz in diesen Augen: Ich lebe, ich kann
noch lieben und geliebt werden. Die aus der Schlacht davongetragenen Male sind, wie bei den alten Kriegern, der
wertvollste Schmuck. Ich habe dem Tod ins Auge geblickt, ich habe mich dem Feind entgegengeworfen und
bin zurückgekehrt. Ich bin noch da.
Auch verstümmelte Körper überleben. Verstümmelt
von innen. Verstümmelt von außen. Das Herz schlägt
weiter. Die lebenserhaltenden Funktionen tun ihren
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Dienst. Es braucht nichts, fast nichts oder nur ganz wenig, um zu überleben.
Ich bin in diesem Zimmer nicht allein.
Ein Mann ist da. Leise bewegt er sich jenseits der geschlossenen Tür, die ich mit dem Finger streife. Ich kann
das Geräusch seiner Schritte innerhalb des begrenzten
Raums hören, in dem die Wegstrecken von vornherein festgelegt sind: vom Schrank zum Bett, vom Bett
zum Schreibtisch, vom Schreibtisch zum Fenster. Das
Rascheln von Buchseiten zwischen seinen Fingern. Das
trockene Schnappen eines Feuerzeugs.
Ich weiß nichts über ihn.
Über Dich.
Ich habe keine Ahnung, wie Deine Mutter heißt, wie
Dein Glied aussieht, wie Deine Haut unter den Kleidern riecht, ich weiß nicht, wie Du im Bett bist, ob Du
zu den Guten oder den Bösen gehörst, ob Du das Meer
oder die Berge magst, ob Du mit Messer und Gabel umgehen kannst oder gut erzogen bist – einer Dame die
Wagentür aufhältst und schließt, ihr beim Betreten des
Restaurants den Vortritt lässt, die Weinflasche am Fuß
anfasst und durch eine kurze abschließende Drehung
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des Handgelenks verhinderst, dass auch nur ein Tropfen danebengeht –, ich weiß noch nicht einmal, was in
dem kleinen schwarzen Rucksack drin ist, den Du immer mit Dir herumträgst.
Dieser Mann bist Du.
Mir kommt es vor, als sei in diesem Satz jedweder
mögliche andere Satz enthalten, als mache diese Tatsache jede andere Bestimmung zunichte.
Im weißen, funkelnden Bad meines Hotelzimmers mache ich mich an die Ausführung der Handgriffe, die
mich voll und ganz der Gattung Frau zuschreiben. Ein
festgefügter, der Optimierung und Pflege dienender
Bewegungsablauf. Mit teilnahmsloser Genauigkeit, die
nichts Liebevolles, Fürsorgliches hat und eher der Routine eines Kochs gleicht, der Sahne in einen Windbeutel spritzt oder mit einer gekonnten Handbewegung einen Auflauf auf eine Platte stürzt, kümmere ich mich
um meinen Körper. Jeder Zentimeter Haut wird inspiziert. Ich putze mir die Zähne, vor allem im hinteren
Mundraum, schrubbe sogar die Zunge, nachdem ich sie
herausgestreckt und eingehend im Spiegel betrachtet
habe. Mit der Pinzette zupfe ich mir ein paar unsichtbare Augenbrauenhärchen aus. Ich wasche mich gründlich, beachte jeden Zwischenraum, creme den ganzen
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Körper ein, reibe Deo unter die Achseln, sprühe einen
Hauch Parfüm in die Leistenfalten, versehe die Fußnägel mit einer zweiten Schicht Klarlack und warte, bis er
getrocknet ist. Jetzt ist mein Körper fertig: plastifiziert
und geschminkt wie ein Toter im Leichenschauhaus.
Dem voran ging die Enthaarung von Beinen, Armen,
Achseln, Oberlippen und Augenbrauen, die Glykolsäure-Gesichtsmaske, Pediküre und Maniküre, Friseur
und Solarium. Wäre auch nur ein einziger Schritt ausgeblieben, hätte ich es nicht bis hierher geschafft. Dabei
ist mir – wie uns allen – vollkommen klar, dass Männer
all das kaum wahrnehmen. Nur wir Frauen mustern
unseren Körper mit diesem Metzgerblick und zerlegen ihn im Geiste in Einzelteile: Schulter-Keule-HaxeBauchspeck-Würstchen.
Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel. Mein Herz
schlägt heftig gegen die Rippen. Jetzt muss ich dieses
Bad verlassen und mich Deinem Blick preisgeben. Möglichst unbefangen auftreten, nicht zu nervös, aber auch
nicht zu selbstsicher.
Ich bin eine Frau, verzeih mir.
In Zimmer 411 gibt es nur wenige Dinge. Einen Koffer.
Meinen. Deinen schwarzen Rucksack. Unsere Kleidung
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von heute, in den Schrank oder über die Stuhllehne gehängt.
Wir sind zu zweit.
Du bist ein Mann.
Und ich bin eine Frau.
Es ist das erste Mal, dass ich so denke. Von den anderen, denen, die es vor Dir gab, dachte ich immer: Jungen. Von mir, auf sie bezogen: Mädchen.
Du hast helle Augen. Eine wunderschöne Farbe. Märzhimmel, klar, aber noch kalt. Seltsame Tage, die unversehens Schnee bringen können. Hellblau. Aber auch
grau. Durchsichtig. Manchmal machen sie Angst. Sie
werden nie warm.
In Zimmer 411 stehen zwei zusammengeschobene
Betten. Creme- und pistazienfarbene Bettwäsche. Die
Tapete Ton in Ton. Blassgrüner und elfenbeinfarbener Stuck an der Decke. Ein Schreibtisch. Ein großer
Spiegel. Viel Platz. Ein Fenster, das auf die Piazza hinausgeht. Die Piazza ist riesig. Von Absperrungen begrenzt. Die Stadt ist Rom. Unweit von hier steht das
Pantheon.
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In diese Stadt komme ich ausschließlich aus beruflichen Gründen. Ich verlaufe mich nach wie vor, auch
wenn es immer die gleichen Wege sind. Den Bauwerken, der Geschichte und den Mythen gegenüber völlig gleichgültig, kämpfe ich mich mit gesenktem Blick
zwischen den Touristen hindurch. Ich steige in Taxis
und Straßenbahnen, benutze Autos und Mopeds, wenn
mich jemand mitnimmt. Ich überquere die Straßen und
stoße mit menschlichen Körpern zusammen, die vor den
Schaufenstern stehen. Kaum habe ich alles erledigt, sehe
ich zu, dass ich fortkomme: zu viele Touristen, zu viele
Monumente, zu viel Geschichte, zu viele Mythen. Zu
viel Lärm und zu viel Licht. Seit Jahren schon haste ich,
die Tasche gegen die Brust gepresst, die Via Nazionale
Richtung Stazione Termini hinauf in der Hoffnung, den
nächstbesten Bus zu erwischen, der mich zu einem Zug
bringt, zu einem Eurostar, mit dem ich in zwei Stunden
und fünfundvierzig Minuten zurückkehre in die Reglosigkeit, den Nebel, die Stille, in die Eiseskälte und Bruthitze des Ortes in der Poebene, aus dem ich stamme, den
ich hasse und von dem ich einfach nicht loskomme.
Wenn ich es bestimmen könnte, würde ich niemals so
ein Hotel aussuchen. Ich liebe das Grün der Bäume, das
Abseits, hier aber bin ich mitten im Zentrum – laut Plan
in der exakten Stadtmitte –, umdrängt von dieser Me18
tropole, die sich endlos um mich herum ausbreitet mit
ihren fast drei Millionen Einwohnern und den Tausenden von Touristen auf Durchreise, den Autos, Straßenbahnen, Mopeds, Palazzi, Villen, Kirchen, Geschäften,
Straßen, Boulevards, Kreuzungen, Unterführungen,
Parks, kleinen und großen Plätzen, Treppen, Bäumen,
Grünanlagen, dem Beton, dem Glas, dem Asphalt, den
Ziegeln, Stromdrähten, Rohrleitungen, Gullys, dem Abfall, den Ratten und Glasfaserkabeln, und habe Angst.
Ich spüre, wie sie mich erdrückt, diese unüberschaubare Masse an Dingen, die sich bewegen, im Verborgenen wimmeln, in den Himmel wachsen und rascheln,
schaben, fressen, verwesen, Lärm machen.
Nur im Pantheon fühle ich mich sicher und geschützt,
als befände ich mich im Auge des Sturms, genau dort,
wo die widerstreitenden Kräfte einander aufheben und
sich schließlich verflüchtigen.
Das Furcht einflößende Pantheon mit seiner von sechzehn grauen und roten Säulen getragenen Vorhalle,
acht Monolithen aus grauem, und weitere acht – vier in
der zweiten und vier in der dritten Reihe – aus rotem
ägyptischem Granit. Eigentlich ist der Farbunterschied
kaum wahrnehmbar, sie sehen alle gleich aus, und den
Behauptungen des Reiseführers zum Trotz rede ich mir
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jedes Mal hartnäckig ein, dass sich alle geirrt haben und
es allein am Spiel des Lichts liegt, dass einige ein wenig blasser erscheinen. Da ist sie, die riesige Bronzetür,
eine der drei antiken Türen Roms, ein schlichter, erhabener Eingang, von dem aus nur wenige Schritte ins Innere des Tempels führen. Kaum betrete ich das Pantheon, versagt mir jedes Mal die Stimme, es verschlägt
mir die Sprache. Ich schaue empor, getroffen vom Licht,
das durch das Auge des Tempels fällt, und betrachte den
Himmel. Reglos stehe ich im Zentrum dieses magischen
Kreises, kneife die Lider zusammen, und die Touristen
verschwinden, alles verschwindet, ich höre nichts mehr,
weder das Rascheln ihrer Plastiktüten noch die Schritte,
Stimmen und Kommentare, das Kindergeschrei höre ich
nicht, und auch nicht das Klicken und Piepen der Fotoapparate. Alles hält inne. Japaner und Deutsche, Koreaner, Franzosen, Amerikaner, alle stehen da, mit offenem Mund, den Kopf im Nacken, die Stirn von einem
milchigen Lichtstrahl geküsst, der sie blendet und verwirrt.
Ich weiß nicht, weshalb ich Dir davon schreibe. Von
einem historischen Gebäude. Einem Tempel. Einem
Ort. Einem dieser Orte, deren geheimnisvolle Energien
wir einfach nicht benennen und in Worte fassen können, zumindest ich nicht. Vielleicht ist es nur Schönheit.
Nichts als reine Ästhetik. Architektonisches und technisches Genie. Oder vielleicht liegt es daran, dass die
Liebe einem Tempel gleicht: Es ist das erste Mal, dass
ich ihn betrete. Ich stehe direkt unter seinem zyklopischen Auge, durch das das Licht der Welt fällt.
Zu Beginn war das Pantheon allen Göttern geweiht,
und von allen Göttern waren Venus und Mars die Königin und der König.
Venus-Aphrodite, die Liebesgöttin, geboren aus der
Berührung der Wellen mit dem abgeschnittenen Glied
des Uranos, das ins Meer fiel: eine Geburt aus Blut und
Meereswasser. Venus, die Urania, Schutzherrin der Gärten, der Liebe, der Fruchtbarkeit, der Kinder, der Jungfrauen, der ruhigen See, der Sehnsucht. Sie wird die Frau
des Vulcanus, des Hinkenden, doch ihre wahre Liebe
gilt Mars. Mars oder Ares, der Kriegsgott, Schutzherr
des Frühlings und der Jugend. Zwei gegensätzliche und
komplementäre Kräfte: »Wie in der Liebe, so im Krieg«.
Aus den Umarmungen von Venus und Mars gingen –
zu Recht und im Grunde völlig naheliegend – fünf Kinder hervor, fünf wie die Finger an einer Hand und die
Zehen an einem Fuß, fünf wie die Sinne: Eros, Anteros
(also das andere, das Gegenstück, die dunkle Seite) sowie Furcht, Grauen und Harmonie. Und sind nicht genau das die möglichen Begegnungsspielarten zwischen
Mann und Frau?
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Ein verbrauchter, doch immer noch heller Mond steht
am Himmel, direkt vor diesem halb geschlossenen
Fenster. Ich stelle mir vor, wie es wäre, genau jetzt in
der Mitte des Pantheons zu stehen. Nachts, in vollkommener Einsamkeit, in der die Touristenhorden endlich
stumm, verschwunden, vertrieben sind. Dort im Dunkeln zu stehen, unter dem Auge des Tempels, und den
Mond zu betrachten.
Zum ersten Mal sind wir allein in einem Raum. Bisher
sind wir nur zusammen spazieren gegangen. Um uns
herum war die Stadt, waren die Straßen. Zwei Flüsse. Es
war nicht diese Stadt. Wenn wir die Straße überquerten,
hast Du mich bei der Hand genommen. Wir sind lange
gegangen, zweimal. Zwei Nachmittage, insgesamt fünf
Stunden. Jetzt, umgeben von Mauern, habe ich solche
Angst, dass ich wünschte, Du würdest verschwinden.
Sofort und für immer.
Ich sage Dir, dass ich seit sechs Jahren mit demselben
Mann schlafe.
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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Simona Vinci
Zimmer 411
Roman
eBook
ISBN: 978-3-89480-428-2
Goldmann
Erscheinungstermin: März 2009
Ein Hotelzimmer in Rom. Ein heißer Sommer. Eine großartige Liebesgeschichte.
Eine Frau sitzt in einem Zimmer des Albergo Nazionale in Rom und schreibt einen Brief: Sie
schreibt einen Brief an den Mann, den sie einst leidenschaftlich geliebt hat. Oft haben sich die
beiden hier in Zimmer 411 getroffen, um eine Nacht miteinander zu verbringen und das Rätsel
der Liebe zu ergründen. Doch ihre Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft hat sich nicht erfüllt,
und die Beziehung scheitert – an einem Meer von Missverständnissen, das zu überbrücken
ihnen nicht gelingt, an Wunschbildern, die der andere zu erfüllen nicht bereit ist. Eindringlich und
unter die Haut gehend erzählt Simona Vinci von Liebe und Abschied, von der unbezähmbaren
Kraft, aber auch von der Fragilität dessen, was Mann und Frau miteinander verbindet.