Justiz und Gerechtigkeit bei Dürrenmatt

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Justiz und Gerechtigkeit bei Dürrenmatt
 N OVEMBER 09 Justiz und Gerechtigkeit bei Dürrenmatt Überlegungen zu „Das Versprechen“ und den zwei Filmen Maturaarbeit von Oriane Chastonay, 3M3 Betreuerin: Annegret Veuthey Gymnasium Auguste Piccard Lausanne Zusammenfassung Friedrich Dürrenmatt ist ein Schweizer Schriftsteller, der im 20. Jahrhundert lebte. 1957 hat er ein Drehbuch über die Untersuchung nach einem Mord geschrieben. Aus diesem Drehbuch entstand der Film „Es geschah am hellichten Tag“. Dürrenmatt wollte diese Geschichte vertiefen. Er schrieb den Roman, „Das Versprechen“, in dem er die Gesellschaft, besonders die Justiz, analysiert und kritisiert. 2001 wurde ein neuer Film, „The Pledge“, auf der Basis des Romans „Das Versprechen“ gedreht. Meine Arbeit betrifft diese drei Werke. Sie ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil ist theoretisch, er erklärt die Begriffe Recht, Justiz und Gerechtigkeit. Der zweite Teil enthält die Analyse der Justiz und der Gerechtigkeit im Buch „Das Versprechen“ und in den Filmen „Es geschah am hellichten Tag“ und „The Pledge“. Das Recht ist ein Ordnungssystem, das einen klaren Rahmen für eine Gesellschaft bildet. Die Justiz interpretiert das Recht. Sie stützt sich auf das Resultat der Untersuchung der Polizei. In den drei Werken verurteilt die Justiz einen unschuldigen Verdächtigen. Die Vorurteile der Polizei gegen den Verdächtigen, der Zufall, der die Untersuchung erschwert ‐
oder erleichtert ‐ und die Gesetze, die für allgemeine Situationen verfasst wurden, führen zu dem Irrtum der Justiz. Die Gerechtigkeit hat eine subjektive Bedeutung. Sie ist eine moralische Idee, die für jeden unterschiedlich ist. In den drei Werken gibt es eine Kluft zwischen Justiz und Gerechtigkeit. Die Hauptfigur ‐ ein Kommissar ‐ ist mit der Entscheidung der Justiz nicht einverstanden. Er fährt unabhängig von der Polizei mit der Untersuchung fort. Er beginnt von neuem mit einer Suche nach der Gerechtigkeit. In „Es geschah am hellichten Tag“ findet er den Mörder; die Gerechtigkeit wird erreicht. Aber in den zwei anderen Werken findet der Kommissar den Mörder nicht. Seine Suche nach der Gerechtigkeit wurde nicht erreicht. Er wird verrückt. Der Leser / Zuschauer weiss aber, wer der Mörder ist. Dieser stirbt. So wurde in gewisser Weise die Gerechtigkeit erreicht. Dürrenmatt zeigt uns, dass die Gerechtigkeit etwas Relatives ist. Sie ist von der Beobachtungsebene abhängig. So ist die Gerechtigkeit für eine Gesellschaft unerreichbar. Jede Gesellschaft sollte sich mit diesem Spannungsfeld auseinandersetzen. 1
Inhaltverzeichnis 1. EINLEITUNG 3 2. RECHT, GERECHTIGKEIT UND JUSTIZ 4 2.1. IN DER RECHTSPHILOSOPHIE 4 2.2. BEI DÜRRENMATT 6 3. „DAS VERSPRECHEN“, „ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG“ UND „THE PLEDGE“ IN GROSSEN ZÜGEN 8 3.1. DIE GESCHICHTE 8 3.2. DREI VERSIONEN 9 3.3. ZWEI MEDIEN: EIN BUCH UND ZWEI FILME 10 4. JUSTIZ IN „DAS VERSPRECHEN“, „ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG“, „THE PLEDGE“ 11 4.1. JUSTIZ: EINE FEHLERQUELLE 11 4.2. PROFIL DES VERMUTLICHEN TÄTERS 11 4.3. VERHALTEN DER POLIZEI (UND DER DORFBEWOHNER) 12 4.4. ZUFALL UND GESETZE 14 5. GERECHTIGKEIT IN „DAS VERSPRECHEN“, „ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG“, „THE PLEDGE“ 14 5.1. DIE FIGUR DES KOMMISSARS AM ANFANG DER GESCHICHTE 15 5.2. DIE WENDE 16 5.3. DIE FIGUR DES KOMMISSARS NACH DER WENDE 19 5.4. GERECHTIGKEIT: EIN UNERREICHBARES ZIEL 21 6. SCHLUSSFOLGERUNG 23 7. LITERATURVERZEICHNIS 25 2
1. Einleitung Ich habe mich immer für das Recht interessiert. Letztes Jahr habe ich das Bundesgericht in Lausanne besucht. Und ich hatte mich gefragt, wie die Leute nach einer Audienz leben. Einige sind wahrscheinlich mit der Entscheidung des Gerichts einverstanden. Aber was ist mit den anderen, die die Entscheidung des Gerichts ungerecht finden? Das Thema, das ich für meine Maturaarbeit gewählt habe, ist „Friedrich Dürrenmatt: Justiz und Gerechtigkeit“. Mit diesem Thema konnte ich über diese Frage und andere im Bereich des Rechtes nachdenken und schreiben. Für meine Arbeit habe ich zuerst die Wörter Recht, Justiz und Gerechtigkeit definiert. Das war interessant, weil es auf Französisch nur ein Wort ‐justice‐ für die zwei Begriffe „Justiz“ und „Gerechtigkeit“ gibt. Um diese Begriffe zu definieren, habe ich in der Rechtsphilosophie und bei Dürrenmatt Recherchen gemacht. Was ist das Recht? Was ist die Justiz? Was ist die Gerechtigkeit? Stimmen die zwei letzten Begriffe überein? Wenn ja, wann und unter welchen Bedingungen? Wenn nein, wann und unter welchen Bedingungen? In seinem Buch „Das Versprechen“ ‐ das über die Untersuchung nach einem Mord erzählt ‐ schreibt Dürrenmatt über Justiz und Gerechtigkeit. Zudem gibt es zwei Filme, die auf der Basis des Buches gedreht wurden. Ich habe diese drei Werke analysiert. Ich habe zuerst den Aspekt der Justiz angeschaut, besonders anhand der Analyse der Arbeit und der Schlussfolgerungen der Polizei. Welches ist das Ziel der Polizei, Justiz oder Gerechtigkeit? Wie handelt sie? Was wurde erreicht? Was waren die Konsequenzen davon? Dann habe ich mich mit dem Begriff Gerechtigkeit befasst und in der Hinsicht die Hauptfigur des Kommissars analysiert. Was will er erreichen? Warum arbeitet er anders als seine Kollegen? Erreicht er sein Ziel? 3
2. Recht, Gerechtigkeit und Justiz 2.1. In der Rechtsphilosophie Mehrere Philosophen vom Altertum bis heute haben sich für die Ethik‐ und für die Staatsphilosophie interessiert. Sie stellten sich viele Fragen, die mit Recht, Gerechtigkeit und Justiz zusammenhängen. Zum Beispiel: Wie soll man das Zusammenleben organisieren? Wer soll die Gesetze schreiben, und wie? Wer soll die Gesetze in Kraft setzen, und wie? Wer soll über die Delikte das Urteil sprechen? Gibt es universelle Gesetze oder universelle Rechte, die stärker als die Staatsgesetze, ‐rechte sind? Usw. Die Antwort ist für jeden Philosophen unterschiedlich. Man kann jedoch zwei Sichtweisen beobachten. Einerseits findet man die Rechtspositivisten und andererseits die Naturrechtstheoretiker. Für die Rechtspositivisten sind die geltenden Gesetze der einzige Massstab. „Der Positivismus [ist] in der Tat mit seiner Überzeugung „Gesetz ist Gesetz“ [...] gar nicht in der Lage, aus eigener Kraft die Geltung von Gesetzen zu begründen.“1 Gemäss ihrer Auffassung ist das Recht auf jeden Fall „gerecht“. Für die Naturrechtstheoretiker ist es ganz anders. Ein Gesetz ist nur gerecht, wenn es mit der moralischen Weltordnung im Einklang ist. „Recht ist Wille zur Gerechtigkeit.“2 In diesem Fall kann das Recht manchmal „ungerecht“ sein. Ich möchte jetzt für die Begriffe Recht, Gerechtigkeit und Justiz eine erste Definition geben. Recht Recht kann so definiert werden: „Das Recht ist ein System zur Ordnung des Zusammenlebens in einer Gemeinschaft, das in Gesetzesform festgelegt ist. Es besteht aus Normen und Anweisungen darüber, was zu tun (geboten) und zu unterlassen 1
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Radbruch Gustav; in: Assmann Lothar et al., S. 58 Radbruch Gustav; in: Assmann Lothar et al., S. 58 4
(verboten) ist. [...] Seine Einhaltung kann durch entsprechende Organe überwacht (Polizei, Steuerfahndung) und erzwungen (Gericht, Justizvollzuganstalt) werden.“ 3 In einem gewissen Zeitpunkt und in einem gewissen Raum gilt dieses System für alle Leute. Es bildet einen anerkannten und klaren Rahmen. Gerechtigkeit Es gibt mehrere Definitionen für das Wort „Gerechtigkeit“. Zuerst ist Gerechtigkeit das Prinzip, nach dem jedem Menschen das Gleiche zusteht (Grundsatz von Recht und Gleichheit). Im Bereich des Rechtes versteht man Gerechtigkeit als die gleichen Gesetze, die für alle gelten. Die Gerechtigkeit hat jedoch auch eine subjektive Bedeutung. Man versteht Gerechtigkeit als individuelle Tugend. Man beruft sich auf eine gerechte oder ungerechte Weise, auch wenn man nicht belohnt bzw. bestraft wird. Die Norm ist für jeden unterschiedlich. Die Gerechtigkeit ist in diesem Fall eine individuelle Norm, die nur von sich selbst (nicht von den Gesetzen, nicht von dem Staat,...) abhängig ist. Der Begriff Gerechtigkeit enthält eine gewisse Dynamik: Dies erlaubt uns das Recht, die Rechtspflege, die Polizei, die Gerichte, die Justiz in Frage zu stellen und der Gesellschaft gegenüber kritisch zu sein. Justiz Justiz ist die institutionalisierte Rechtspflege. „ Das Wort „Justiz“ impliziert zudem den Anspruch, Gerechtigkeit zu garantieren, was eine der grundlegenden Legitimationen von Herrschaft darstellt, nämlich das Menschen sich der Hoffnung hingaben und –geben, vor einem als legitim akzeptierten Gericht Gerechtigkeit zu finden.“4 Die Justiz interpretiert das Recht. Es gibt einen möglichen Spielraum zwischen dem Recht und der Justiz. In diesem Spielraum kann die Gerechtigkeit eine Rolle spielen. Die Rechtspositivisten sind mit den Gesetzen immer zufrieden. Das Recht ist gemäss ihrer Vorstellung gerecht und genügend. Sie brauchen den Begriff Gerechtigkeit nicht. Für die Naturrechtstheoretiker aber hat dieser Begriff ein grosses Interesse. 3
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Kriesel Peter et al., S. 94
Griesebner Andrea et al., S. 12 5
Von diesem Standpunkt aus möchte ich Dürrenmatts Vorstellung dieser Begriffe untersuchen. 2.2. Bei Dürrenmatt Um die Begriffe „Recht“, „Gerechtigkeit“ und „Justiz“ bei Dürrenmatt kennen zu lernen, habe ich seine Rede „Monstervortrag über Recht und Gerechtigkeit“5 gelesen. In dieser Rede erzählt er eine einfache Parabel, die sich immer wieder verändert: Ein Beobachter sieht zwei Vorfälle und ein Erklärer beobachtet die ganze Szene. Durch die Geschichte wird sich der Beobachter verändern. Mit dieser unendlichen Parabel begreift man einige Aspekte bezüglich der Gerechtigkeit gemäss Dürrenmatt. Am Anfang der Rede ist der Beobachter ein Prophet. Er ruft Allah (den Erklärer) und sagt: „Die Welt ist ungerecht. Ein Dieb kommt ungestraft davon, und ein Unschuldiger wird erschlagen!“. Allah [...] antwortet: „Du Narr! Was verstehst du von meiner Gerechtigkeit! [...]“ 6. Man sieht, dass Allah nicht „Was verstehst du von der Gerechtigkeit“, sondern „von meiner Gerechtigkeit“ sagt. Sogar Allah nimmt an, dass seine Gerechtigkeit nicht absolut und universell ist. Das zeigt uns, dass gemäss Dürrenmatt die Gerechtigkeit einen subjektiven Wert hat. Sie ist nicht für alle gleich, sondern von jedem Individuum abhängig. Ein anderes Element spricht für die Subjektivität der Gerechtigkeit. In dieser Geschichte ist „nicht gleichgültig, wer beobachtet. Einen Beobachter „an sich“ gibt es nicht, ein Beobachter beobachtet, interpretiert oder handelt nach seiner Beschaffenheit.“7 Jeder sieht, verurteilt, evaluiert nach seiner Sichtweise. Der zweite Beobachter ist ein Wissenschaftler. Er wendet die Begriffe „Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nur zögernd an. Sie sind ihm wissenschaftlich als mehr politische oder moralische, ja religiöse Begriffe leicht suspekt. Er bezeichnet die Vorfälle [...] höchstens 5
Dürrenmatt Friedrich 1969 Dürrenmatt Friedrich 1969, S. 11 7
Dürrenmatt Friedrich, 1969, S. 12 6
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als Rechtsbrüche [...].“8 Die Gerechtigkeit ist gemäss Dürrenmatt kein wissenschaftlicher Begriff. Die Gerechtigkeit ist eine moralische Idee. Sie hat mit Religion, Politik und Moral zu tun. Dann kommen andere Beobachter. Um das Vergehen zu verurteilen, wird von einigen das Wort „gesetzwidrig“ benutzt und von anderen das Wort „ungerecht“. So spricht der klassische Bürger von Gesetzwidrigkeit und der sozialistische Bürger von Ungerechtigkeit. Der erste ist mit der Gesellschaftsordnung und mit den Gesetzen zufrieden. Der zweite findet, dass die Gesellschaftsordnung ungerecht ist. Es gibt ein Vergehen, weil der Reichtum ungerecht verteilt ist. Dieser Bürger möchte die Gesellschaft mit anderen Regeln verbessern. Am Ende der Parabel spricht Dürrenmatt direkt mit seinem Publikum. Er erklärt den Begriff Gerechtigkeit. Unter diesem Wort versteht er zwei Ideen. Einerseits das Recht des Einzelnen, er selbst zu sein. Das ist die Freiheit. „Sie ist der besondere Begriff der Gerechtigkeit.“9 Sie betrifft das Individuum und ist eine „emotionale Idee“. Anderseits das Recht der Gesellschaft, die Freiheit von jedem zu garantieren. „Dieses Recht nennen wir Gerechtigkeit, sie ist der allgemeine Begriff der Gerechtigkeit, eine logische Idee.“10 Sie betrifft die Gesellschaft. Diese zwei Ideen widersprechen sich meistens. Die Gerechtigkeit ist unerreichbar. So Dürrenmatt: „Es gibt keine gerechte Gesellschaftsordnung, weil der Mensch, sucht er Gerechtigkeit, mit Recht jede Gesellschaftsordnung als ungerecht, und sucht er Freiheit, mit Recht jede Gesellschaftsordnung als unfrei empfinden muss.“11 Kurz, für Dürrenmatt ist die Gerechtigkeit subjektiv, nicht wissenschaftlich und für eine Gesellschaft nicht erreichbar. 8
Dürrenmatt Friedrich, 1969, S. 18 Dürrenmatt Friedrich, 1969, S. 41 10
Dürrenmatt Friedrich, 1969, S. 41 11
Dürrenmatt Friedrich, 1969, S. 88 9
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3. „Das Versprechen“, „Es geschah am hellichten Tag“ und „The Pledge“ in grossen Zügen 3.1. Die Geschichte Ein junges Mädchen wurde grausam ermordet. Der verantwortliche Kommissar wird am nächsten Tag seine Arbeitstelle verlassen. Am Anfang nimmt er an der Untersuchung teil. Ein Verdächtiger wird identifiziert. In allen Szenarien hat der Verdächtige das Profil eines Aussenseiters. Die Untersuchung wird an einen anderen Polizisten delegiert. Dieser ist überzeugt, dass der Verdächtige schuldig ist. Er vernachlässigt die Untersuchung und übt Druck auf den Verdächtigen aus. Dieser begeht Selbstmord. Für die Polizei ist der Fall erledigt. Für den Kommissar war der Verdächtige unschuldig. Er fühlt sich für diesen Tod verantwortlich. Er hat der Mutter des Opfers versprochen, den Mörder zu finden. Unabhängig von der Polizei führt er die Untersuchung weiter. Den Täter zu finden wird zur Obsession. Er hat nur dieses eine Ziel. Drei ähnliche Verbrechen an drei ähnlichen Mädchen wurden in früheren Jahren in der Gegend begangen. Der Kommissar glaubt, die Logik des Mörders verstanden zu haben. Er denkt, dass er den Mörder nur mit einem lebendigen Köder fassen kann. Deshalb kauft er eine Tankstelle an der Strasse, die der vermutliche Mörder benutzt. Er freundet sich mit einer Frau an, deren Tochter den Opfern ähnlich sieht. Sie werden zusammen leben. Das lebendige Köder: das Mädchen ist blond, sechs‐ bis achtjährig. In „Es geschah am hellichten Tag“ [Stunde 1:33] In „The Pledge“ [Stunde 1:33] 8
3.2. Drei Versionen Diese Geschichte gilt für die drei Medien. Nur das Ende ist jedesmal anders. Hier eine Zusammenfassung der verschiedenen Abläufe. „Das Versprechen“ Der Kommissar versteht, dass das Mädchen einen Mann im Wald treffen wird. Er und seine alten Kollegen überwachen während einer ganzen Woche den Wald. Am Ende der Woche ist niemand gekommen. Die Polizei verlässt den Ort, aber der Kommissar wartet weiter und wird dabei verrückt. Einige Jahre später möchte eine alte Frau mit dem Kommandanten der Kantonspolizei sprechen. Ihr Mann war für die drei Todesfälle der Gegend verantwortlich. Er hat die drei Mädchen getötet. Er wollte auch das vierte Mädchen töten, aber an diesem Tag hatte er einen Autounfall. Er ist gestorben und er erreichte den Wald nie. „Es geschah am hellichten Tag“ Eines Tages kommt das Mädchen mit Schokolade nach Hause. Es hat sie im Wald von einem „Zauberer“ bekommen. Der Kommissar versteht, dass der „Zauberer“ der Mörder ist. Er verlangt, dass die Frau und ihre Tochter wieder im Dorf wohnen. Er kauft eine Stoffpuppe und setzt sie in den Wald. Da wartet er auf den „Zauberer“, der tatsächlich kommt und vom Kommissar und der Polizei verhaftet wird. „The Pledge“ Der Kommissar identifiziert mehrere Verdächtige. Eines Tages erzählt ihm das Mädchen von einem „Zauberer“, dem es begegnet ist. Es hat sich mit ihm am nächsten Tag verabredet. Der Kommissar bittet die Polizei um Unterstützung. Der „Zauberer“ kommt aber nicht. Der Zuschauer erfährt, dass er einen Autounfall gehabt hat. Der Kommissar weiss das nicht und er verliert den Verstand. 9
3.3. Zwei Medien: ein Buch und zwei Filme 1957 wurde Friedrich Dürrenmatt gebeten, eine Filmerzählung über Sexualverbrechen an Kindern zu schreiben. Dieses Drehbuch ergab den Film „Es geschah am hellichten Tag“12. Ziel des Filmes war, das Publikum „vor dieser leider immer häufigeren Gefahr zu warnen“13. Der Film entspricht Dürrenmatts Intentionen, aber er hat festgestellt, dass die Film‐ und Romanmöglichkeiten verschieden sind. Der Film hatte ein pädagogisches Ziel. Dürrenmatt konnte mit diesem Medium keine Kritik der Gesellschaft machen, während der Roman diese vertiefte Analyse ermöglicht. Er schreibt im Nachwort seines Romans, dass „[er sich] nach der Fertigstellung des Drehbuches noch einmal an die Arbeit machte. [Er] griff die Fabel aufs neue auf und dachte sie weiter, jenseits des Pädagogischen“ 14. Im Jahre 2001 wurde auf Grund dieser Geschichte ein neuer Film („The Pledge“15) gedreht. Das Buch und der erste Film finden in der Schweiz in den fünfziger Jahren (1957) statt. Der zweite Film findet in Amerika und zur Zeit seiner Entstehung (2001) statt. Obwohl meine Arbeit nicht auf die Erzählstruktur des Buches und der Filme ausgerichtet ist, ist es interessant, die Erzählstruktur in Bezug auf Justiz und Gerechtigkeit anzuschauen. Im Roman hat Dürrenmatt eine Rahmenerzählung mit zwei neuen Figuren, dem ehemaligen Kommandanten der Kantonspolizei Zürich, im Amt zur Zeit des Mordes, und einem Schriftsteller, hinzugefügt. Der Kommandant, als Ich‐Erzähler, erzählt dem Schriftsteller die ganze Geschichte dieses Falles. Er macht Kommentare über den Kommissar, die Polizei, die Justiz, das Recht, usw. Diese Rahmenerzählung erlaubt es dem Autor, sich vom Fall zu distanzieren. Es schafft Abstand und erlaubt eine viel klarere Sichtweise der Problematik. Hier kann man eine Parallele zwischen dem Kommandanten der Kantonspolizei und Allah aus Dürrenmatts Parabel ziehen. Der Kommandant wird hier, wie Gott, zum Erklärer. 12
Vajda Ladislao, 1958 Dürrenmatt Friedrich, 1969, Nachwort 14
Dürrenmatt Friedrich, 1969, Nachwort 15
Penn Sean, 2001 13
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4. Justiz in „Das Versprechen“, „Es geschah am hellichten Tag“, „The Pledge“ In dieser Geschichte stimmen die Justiz – bedingt durch die Untersuchung der Polizei – und die Gerechtigkeit des Kommissars nicht überein. Der Kommissar ist mit der Justiz nicht einverstanden, wodurch eine Kluft zwischen Justiz und Gerechtigkeit entsteht. Diese Kluft bringt eine gewisse Spannung, auf der die ganze Geschichte beruht. 4.1. Justiz: Eine Fehlerquelle In den drei Versionen kommt die Arbeit der Polizei im Dienst der Justiz auf falsche Schlussfolgerungen. Der Polizist, der für diesen Fall verantwortlich ist, verurteilt einen Unschuldigen, der Selbstmord begeht. Mit dem Selbstmord wird der Fall erledigt, aber irrtümlicherweise. Die Justiz scheint gesiegt zu haben, aber die Gerechtigkeit wird nicht erreicht. Diese Kluft zwischen Justiz und Gerechtigkeit bringt den Irrtum zur Geltung. Der Irrtum ist unter anderem -
mit den Vorurteilen der Kriminalpolizisten gegen den vermutlichen Täter, -
mit dem Zufall, der die Untersuchung entweder erschwert oder erleichtert, -
mit den Merkmalen der Gesetze in Verbindung zu bringen. 4.2. Profil des vermutlichen Täters Das Profil des vermutlichen Täters wird anhand physischer, beruflicher, sozialer Merkmale folgendermassen beschrieben. In „Das Versprechen“ „Der Mann war [...] klein, fettig, ungesund [...]“16 „Es war [...] ein Hausierer namens Von Gunten.“17 Er hat schon mit der Justiz zu tun gehabt: „Der Mann war vorbestraft. Sittlichkeitsdelikt an einer Vierzehnjährigen.“18 16
Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.40 Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.16 18
Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.16 17
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In „Es geschah am hellichten Tag“ Der vermutliche Täter ist dick, gross, nicht gepflegt und ungeschickt. Er spricht mit einem fremden Akzent. Er ist auch Hausierer. Er ist in der Gegend fremd. In „The Pledge“ Der Mann ist gross, hat lange Haare, ist geistig behindert, seine Ausdrucksweise ist nicht klar. Er ist ein Indianer, ein Trapper. Der Verdächtige in „Es geschah am hellichten Tag“ [Minute 1:47] Der Verdächtige in „The Pledge“ [Minute 24:00] Synthese In den drei Fällen hat der vermutliche Täter ein ähnliches Profil. Er sieht nicht gut aus. Er scheint nicht brillant. Er besitzt weder einen Platz in der Gesellschaft, noch einen guten Job. Er ist ein Aussenseiter. 4.3. Verhalten der Polizei (und der Dorfbewohner) Der verantwortliche Polizist und die Dorfbewohner haben gegen den Verdächtigen Vorurteile. „[Die Bauern] hielten ihn für den Täter; Hausierer sind immer verdächtig.“19 Schon bevor sie ihm zugehört haben, sind sie überzeugt, dass er schuldig ist. „Mörder! Sauhund! Diese Bestie! Dieses Ungeheuer! [...] Jacquier [der Verdächtige] ist der Mörder“20. In „The Pledge“ ist der Verdächtige das Objekt der Vorurteile des verantwortlichen Polizisten gegenüber den Indianern. Hier sieht man eine Zeichnung, die er gemacht hat, als der Indianer im Verhörsaal war. 19
Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.28 Vajda Ladislao, 1958, Minuten 11‐12 20
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Der Indianer (Aufzeichnung eines Polizisten) in „The Pledge“ [Minute 22:51] Dieses Bild illustriert die Vorurteile der Polizei. Der verantwortliche Polizist ist nicht objektiv. Das Ziel des Verhörs ist, ein Schuldgeständnis zu bekommen. Die Wahrheit ist nicht wichtig. So sagt er: „Der Kerl will immer noch nicht gestehen“21; „Ich weiss, dass Sie den Mord begangen haben. Aber ich weiss auch, dass Sie ebenso erschrocken über die Tat sind wie ich, wie wir alle. Es ist einfach über Sie gekommen, Sie wurden auf einmal wie ein Tier, Sie überfielen und töteten das Mädchen, ohne dass Sie wollten und ohne dass Sie anders konnten.“22 Er interpretiert das Recht mit seinen Vorurteilen. Er hat keinen Respekt vor dem Menschen. Er zweifelt an jedem Wort des Verdächtigen. Manchmal duzt er ihn. In „The Pledge“ nennt der Polizist den Verdächtigen „Häuptling“23 und er gibt ihm sogar einen Beinamen: „Toby“24. Das Verhör hat sich nicht in der Legalität abgespielt. „Das Verhör hatte über zwanzig Stunden gedauert. Das war natürlich nicht erlaubt [...]“25. Das Verhör wurde nicht professionell, gegen die Prinzipien der Ethik und gegen die Rechte des Verdächtigen durchgeführt. Das Schuldgeständnis bedeutet unter diesen Umständen nichts. Die Schlussfolgerungen der Polizei stimmen mit der Wahrheit und mit der Gerechtigkeit nicht überein. Es entsteht eine Kluft zwischen Justiz und Gerechtigkeit. 21
Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.52 Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.58 23
Penn Sean, 2001, Minute 24:02 24
Penn Sean, 2001, Minute 27:34 u.a. 25
Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.61 22
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Warum hat der Polizist trotzdem alles gemacht, um das Schuldgeständnis zu bekommen? Persönlich bringt ihm das Schuldgeständnis nichts. Er ist schon vor dem Verhör überzeugt, dass der Verdächtige schuldig ist. Die Dorfbewohner sind davon überzeugt; der Polizist braucht es ihnen nicht zu beweisen. Aber die Geschichte findet in einem Rechtsstaat statt. Die Anschuldigungen müssen Bedingungen respektieren. In unserem Fall gibt es keine Beweise, nur Vermutungen und Vorurteile. Das Schuldgeständnis ist das einzige Element, das eine sichere Basis für den Polizisten ist. Mit dem Schuldgeständnis erfüllt der Polizist die Voraussetzungen des Rechtsstaats; er schützt sich vor der Missbilligung der Öffentlichkeit. 4.4. Zufall und Gesetze Der Zufall spielt bei Untersuchungen eine sehr wichtige Rolle. Man weiss nie alles. Es gibt eine Unzahl an Elementen, die man nicht kennt. Ob und wann man sie kennen lernt, hat eine Auswirkung auf den Ablauf der Untersuchung. „Die Störfaktoren, die uns ins Spiel pfuschen, sind so häufig, dass allzu oft nur das reine Berufsglück und der Zufall zu unseren Gunsten entscheiden. Oder zu unseren Ungunsten.“26 Die Gesetze wurden für allgemeine Situationen verfasst. Sie helfen den Richtern, die Verdächtigen zu verurteilen. In der Realität gibt es nie zwei identische Fälle. Es gibt einige Gesetze für eine Menge Fälle. „Unsere Gesetze fussen nur auf Wahrscheinlichkeit, auf Statistik, nicht auf Kausalität, treffen nur im allgemeinen zu, nicht im besonderen. Der Einzelne steht ausserhalb der Berechnung.“27 Die Irrtumsmöglichkeiten werden wegen des Zufalls und wegen der Merkmale der Gesetze noch grösser. 5. Gerechtigkeit in „Das Versprechen“, „Es geschah am hellichten Tag“, „The Pledge“ Der Kommissar ist die Hauptfigur der Geschichte im Buch und in den zwei Filmen. Diese Figur verändert sich im Laufe der Erzählung. In den folgenden Abschnitten werde ich die 26
Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.12 Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.12‐13 27
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Evolution des Profils des Kommissars skizzieren – besonders seine Vorstellung der Justiz und der Gerechtigkeit. 5.1. Die Figur der Kommissars am Anfang der Geschichte Der Kommissar ist in den drei Szenarien fast gleich. In „Das Versprechen“ und im Film „Es geschah am hellichten Tag“ sind die zwei Figuren des Kommissars sehr nah. Aber im Film „The Pledge“ ist sie leicht verschieden (siehe unten). Am Anfang ist der Kommissar ein guter Polizist. Er ist peinlich genau. Er besitzt ein grosses Berufsethos. Er ist eine distanzierte Person. Er verwickelt sich selten persönlich in die Fälle, die er ermittelt. So sagt der Kommandant der Kantonspolizei in „Das Versprechen“ über den Kommissar: „Er war ein einsamer Mensch, stets sorgfältig gekleidet, unpersönlich, formell, beziehungslos, der weder rauchte noch trank, aber hart und unbarmherzig sein Metier beherrschte, ebenso verhasst wie erfolgreich. [...] Er war ein Mann der Organisation, der den Polizei‐Apparat wie einen Rechenschieber handhabte. [...] Er hatte nichts im Kopf als seinen Beruf, den er als ein Kriminalist von Forma, doch ohne Leidenschaft ausübte.“28 Der Kommissar arbeitet ohne Emotionen. Man sieht es gut im Film „Es geschah am hellichten Tag“, denn als die Polizisten den Körper des Mädchens entdecken, drehen sich alle um, ausser der Kommissar. „Ein Polizist blickt nie weg“29 sagt er. In diesem erschütternden Augenblick bleibt der Kommissar professionell. Seine Stimme ist sehr kalt, trocken und scharf. Er zeigt überhaupt kein Mitgefühl. Im Film „The Pledge“ reagiert er ähnlich. Seine einzigen Wörter sind: „Die Knöpfe. Sag im Labor, dass sie die Knöpfe nach Fingerabdrücken absuchen sollen. Die Knöpfe des Mantels und des Kleides.“30 Der Kommissar arbeitet ohne Vorurteile. Er sucht die Wahrheit und will „Unrecht vermeiden“31. Er glaubt fest an das Polizeisystem. Er ist der Ansicht, dass „ein Riesenapparat [der Polizei] zur Verfügung [steht], [um] die Wahrheit zu ermitteln.“32 28
Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.14 Vajda Ladislao, 1958, Minute 7:08 30
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Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.33 32
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Dank des Polizeisystems kann die Wahrheit aufgedeckt und die Justiz an den Tag gebracht werden. Alles scheint ihm klar. Nie war ihm ein Fall zu schwer. Er stellt das Polizeisystem und die Justiz nicht in Frage. Justiz ist für ihn gerecht. Seine Stellung ist wahrscheinlich die der Rechtspositivisten. Justiz gleicht Gerechtigkeit. Er wendet Recht und Gesetze an, ohne sich irgendwelche Gedanken zu machen. Es gibt keinen Platz für die Gerechtigkeit. Man kann eine Parallele zwischen dem Kommissar und dem Wissenschaftler aus Dürrenmatts Parabel ziehen. Für den Wissenschaftler sind politische, religiöse und moralische Begriffe suspekt. Für den Kommissar sind Emotionen und Vorstellungen der Leute suspekt. Beide schliessen einige Aspekte der Menschen und der Gesellschaft aus. Beide verwickeln sich nicht persönlich in die Fälle. Der Wissenschaftler glaubt an die wissenschaftliche Methode und der Kommissar an das Polizeisystem. Im Film „The Pledge“ ist der Kommissar nicht so kühl. Er ist weniger unpersönlich. Er hat eine grosse Erfahrung und besitzt eine gute Intuition. Er ist auch gewissenhaft, aber er denkt nicht nur an seinen Beruf. Er hat ein Hobby: Fischen. Er scheint bei seinen Kollegen beliebt zu sein. 5.2. Die Wende Die Persönlichkeit und das Verhalten des Kommissars verändern sich radikal. In der Erzählung erscheint die Wende sehr rasch und plötzlich. Es ist interessant, den Augenblick und den Grund des Wandels zu analysieren. Wann? Der Kommissar ist am Ende seiner Tätigkeit bei der Polizei. In beiden Versionen von Dürrenmatt („Das Versprechen“ und „Es geschah am hellichten Tag“) wird er die Kantonspolizei verlassen, um einen neuen Dienst in Jordanien anzutreten. In „The Pledge“ wird er pensioniert. Der Mord des Mädchens ist sein letzter Fall vor seinem Rücktritt. Er befindet sich an einem Bruchpunkt seiner Karriere. Brüche sind oft für Introspektion günstig. In „The Pledge“ sieht man, dass er über seine Karriere nachdenkt. Er schaut mehrere Fotos von sich als junger Polizist an33. 33
Penn Sean, 2001, Minute 7:10 16
Warum? Es gibt mehrere Elemente, die die Wende erklären. Erstens hat der Kommissar seinen Job schon fast verlassen. Der verantwortliche Polizist für diesen Fall ist einer seiner Kollegen. Dieser ist jünger und hat weniger Erfahrung als der Kommissar. Er ist opportunistisch und geht gemäss seiner Vorurteile gegen den einzigen Verdächtigen vor. Der Kommissar ist mit seinem Kollegen nicht einverstanden. Er findet, dass der Neue nicht gut arbeitet. Dieser entzieht dem Verdächtigen sein Geständnis. Der Verdächtige begeht Selbstmord. Justiz ist vollbracht. Dem Kommissar scheint diese Justiz ungerecht. Es gibt eine Meinungsverschiedenheit zwischen der Polizei, der Justiz und dem Kommissar. Aus dieser Meinungsverschiedenheit stammt die Suche des Kommissars nach Gerechtigkeit. Zweitens fühlt er sich nicht nur als Polizist, sondern auch als Mensch verantwortlich. In jedem Szenario sieht man ihn zweimal als Mensch. Zuerst verspricht er bei seiner Seele den Eltern des Mädchens, den Mörder zu finden. Er engagiert sich mit Gefühl. Er empfindet Mitleid. Hier das Gespräch mit der Mutter in „Das Versprechen“: „“Wer ist der Mörder?“ fragte [die Mutter] mit einer Stimme, die so ruhig und sachlich war, dass Matthäi [der Kommissar] erschrak. „Das werde ich schon herausfinden, Frau Moser“ Die Frau schaute ihn nun an, drohend, gebietend. „Versprechen Sie das?“ „Ich verspreche es, Frau Moser“ [...] „Bei Ihrer Seligkeit?“ Der Kommissar stutzte. „Bein meiner Seligkeit“, sagte er endlich.“34 Dieses Gespräch ist fast Wort für Wort das gleiche in „Es geschah am hellichten Tag“ und in „The Pledge“. In „The Pledge“ sieht man noch besser, dass sein Versprechen wichtig für ihn und ehrlich ist. Er wartet zwölf Sekunden, bevor er sein Versprechen abgibt.35 Man bemerkt, dass der Kommissar sagt: „Das werde ich schon herausfinden“. Er hätte sagen können: „Die Polizei wird den Mörder schon finden“. 34
Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.26 Penn Sean, 2001, Minute 20:55‐21:07 35
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Dann ist der Verdächtige überzeugt, dass ihm nur der Kommissar helfen kann. Der Verdächtige bittet den Kommissar um Hilfe. In dieser „Rolle“ fühlt er sich unersetzbar. Das dritte Element ist entscheidend in Dürrenmatts Versionen. Daher stammt die Wende des Kommissars. Worum handelt es sich? Es geht um etwas sehr Gewöhnliches, das einfache Sehen von Kindern, die so alt sind wie das kleine Mädchen. In „Das Versprechen“ ist das Gespräch zwischen dem Kommissar Matthäi und dem Kommandanten (der Ich‐Erzähler), als der Kommissar die Untersuchung im Rahmen der Polizei wieder führen möchte, sehr aufschlussreich. Da sein Wunsch nicht realisierbar ist, wird er privat arbeiten. „“Als ich durch Mägendorf kam, auf meinem Wege zum Flugplatz36, waren dort Kinder“ sagte Matthäi leise. „Was wollen Sie damit sagen?“ „Im Leichenzug lauter Kinder.“ „Das ist doch nur natürlich.“ „Und auch beim Flugplatz waren Kinder, ganze Schulklassen.“ „Nun?“ Ich betrachtete Matthäi verwundert. „Angenommen, ich habe recht angenommen, der Mörder des Gritli Moser lebt noch, wären dann nicht andere Kinder in Gefahr?“ fragte Matthäi. „Gewiss“, entgegnete ich ruhig. „Wenn diese Möglichkeiten der Gefahr besteht“, fuhr Matthäi eindringlich fort, „ist es Pflicht der Polizei, die Kinder zu schützen und ein neues Verbrechen zu verhüten.“ „Deshalb sind Sie also nicht abgeflogen“, fragte ich langsam, „um die Kinder zu schützen.“ „Deshalb “, antwortete Matthäi.“37 Im Film „Es geschah am hellichten Tag“ wird dieses Element anders dargestellt. Die Kamera verweilt auf Kinderbildern während der Beerdigung und am Flughafen38. So versteht der Zuschauer, dass der Kommissar jedes Kind als potentielles Opfer betrachtet. 36
Um nach Jordanien zu fliegen Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.69‐70 38
Vajda Ladislao, 1958, Minuten 36:09‐36:13/36:20‐36:24 37
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So wird der kühle, distanzierte und rationale Kommissar eine andere Person: „Der Mann war wie verändert, wie ausgewechselt, als hätte er über Nacht einen anderen Charakter bekommen.“39 5.2. Die Figur des Kommissars nach der Wende Äusserlich sieht man, dass der Kommissar nicht derselbe ist. Er beginnt viel zu trinken und zu rauchen. Er handelt nicht so wie früher. Er kritisiert sogar sein früheres Verhalten. „Ich wollte mich nicht mit der Welt konfrontieren, ich wollte sie wie ein Routinier zwar bewältigen, aber nicht mit ihr leiden. Ich wollte gegenüber überlegen bleiben, den Kopf nicht verlieren und sie beherrschen wie ein Techniker. [...] Und dann liess ich die alte Gleichgültigkeit wieder in mir aufsteigen [...]. Das war so scheusslich.“40 Ab jetzt engagiert er sich für den Fall nicht nur beruflich sondern auch persönlich. Die Suche nach der Wahrheit mit Hilfe der Justiz befriedigt ihn nicht mehr. Er glaubt nicht an die Schuld des Verdächtigen, und er muss sein Versprechen halten. Er lehnt die Meinung der Polizei ab und entwickelt seine eigene Meinung. Seine Meinung scheint ihm richtig im Gegensatz zum Resultat der Justiz. Er wird seiner eigenen Norm folgen. Die Gerechtigkeit wird sein Ziel. Er will den Mörder finden. Seine Suche nach der Gerechtigkeit ist wichtiger als alles andere. Um die Gerechtigkeit zu erreichen, nützt er nicht nur die traditionelle Methode, sondern auch spezielle Mittel. Während er mit Jungen vom Fischen redet, findet er seine Mittel. „Zum Fischen muss man vor allem zweierlei kennen: den Ort und den Köder. [...] Sie müssen nun zuerst überlegen, wo sich der Fisch am liebsten aufhält. [...] [E]inen Raubfisch [...] müssen Sie mit etwas Lebendigem fangen.“41 Nach diesem Gespräch sucht der Kommissar nach einem geeigneten Ort. Er zieht in eine Tankstelle, bei einer Hauptstrasse, die wahrscheinlich vom Mörder oft befahren wird. Dann sucht er seinen lebendigen Köder: das kleine Mädchen. Er lädt das Mädchen und seine Mutter ein. Sie werden in der Tankstelle wohnen. 39
Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.76 Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.87‐88 41
Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.108 40
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Diese Mittel sind fraglich. Sie sind ungerecht und unethisch. Für den Kommissar spielt das keine Rolle. Sein Zweck heiligt seine Mittel. Das Gespräch zwischen dem Polizeikommandanten und dem Kommissar erläutert den Wahnsinn des Kommissars. „“Begehen Sie da nicht eine Teufelei?“ [...] “Möglich“ gab er zur Antwort [...] “Aber glauben Sie nicht, dass ihre Methode zu gewagt ist?“ [...] “Es gibt keine andere Methode“ erklärte er [...]“42 Der Kommissar fühlt sich mit seinem Köder verbunden. Er wird wie ein Vater für das Mädchen. Er liest ihr Geschichten vor43, er hilft ihr bei ihren Hausaufgaben44, usw. Die gewöhnlichen Grenzen zwischen dem Privat‐ und dem Berufsleben fallen. Alles ist vermischt. Die Suche nach Gerechtigkeit wird für den Kommissar eine Obsession. Er lebt nur noch dafür. „[E]r hatte nur eines im Sinn, das Erscheinen des Mörders. Es gab ihn für nichts als diesen Glauben an sein Erscheinen, nichts als diese Hoffnung, nur diese Sehnsucht, nur diese Erfüllung.“45 „Er wartete und wartete. Unbeirrbar, unablenkbar.“46 Sein Leben ist diese Suche. Am Anfang ist er begeistert und enthusiastisch. Er denkt nach, hat eine Menge Projekte und viele Ideen, um sein Ziel zu erreichen. Die Zeit vergeht, ohne dass er den Mörder findet. Er verliert die Hoffnung, er lässt sich gehen, er macht nichts mehr ausser warten. Er wird apathisch. Zeitweise gibt es spezielle Ereignisse, zum Beispiel spricht das Mädchen mit einem grossen Mann. Das regt den Kommissar auf, er ist auf der Lauer. Aber sein Anregungszustand verschwindet schnell. Er ist wieder wie ein Lumpen. Von hier an gibt es zwei Entwicklungen. Im Film „Es geschah am hellichten Tag“ ist das Ende gut. Der Mörder wird verhaftet. Die Gerechtigkeit wurde gemäss des Kommissars und der Polizei erreicht. Der Kommissar geniesst seinen Erfolg. Er erhält die Annerkennung der Polizei und der Mutter des kleinen Mädchens. Man hat den Eindruck, dass er vor Wahnsinn verschont wurde. 42
Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.109‐110 Penn Sean, 2001, Stunde 1:40 44
Vajda Ladislao, 1958, Stunde 1:14 45
Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.113 46
Dürrenmatt Friedrich, 1985, S.114 43
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Im Buch „Das Versprechen“ und im Film „The Pledge“ ist das Ende schlecht. Der Mörder wird nicht verhaftet. Der Kommissar wartet und wartet. Er verliert den Verstand und wird alkoholabhängig. Hier gibt es noch einen Unterschied zwischen dem Buch „Das Versprechen“ und dem Film „The Pledge“. In „The Pledge“ verliert der Kommissar alles. Die Mutter des Mädchens ‐ seine Partnerin ‐ und das Mädchen verlassen die Tankstelle. Er verliert also seine „Familie“. Die Polizei hält ihn für verrückt. Sie glauben, dass der Kommissar mit dieser Zauberergeschichte gesponnen hat. Er wird wahnsinnig. Seiner Meinung nach hat er die Gerechtigkeit nicht erreicht. Jedoch wird die Gerechtigkeit vom äusseren Standpunkt aus erreicht. Der Zuschauer sieht einen Autounfall. Der Mörder stirbt karbonisiert in seinem Auto. In „Das Versprechen“ wird der Kommissar auch verrückt. Er lebt mit der Frau und dem Mädchen im Elend. Für den Leser wurde die Gerechtigkeit allerdings erreicht, er erfährt die Wahrheit. Jahre später erfährt der Kommandant durch vertrauliche Mitteilungen einer alten Frau, dass der Mörder (ihr Mann) vor seinem vierten Mord in einem Autounfall gestorben ist. Er ist nie im Wald angekommen. Der Kommandant versteht, dass der Kommissar Recht hatte. Es ist jedoch zu spät, um den Kommissar zu retten. Sein Wahnsinn ist unheilbar. Seine Suche nach Gerechtigkeit wird nie erfüllt. 5.3. Gerechtigkeit: Ein unerreichbares Ziel Während ich die Gerechtigkeit in dieser Geschichte analysierte, habe mich gefragt, ob die Resultate mit der Analyse des Buches „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht nebst einem helvetischen Zwischenspiel“ übereinstimmten. Gemäss Dürrenmatts Monstervortrag ist die Gerechtigkeit subjektiv und für eine Gesellschaft unerreichbar. In „Das Versprechen“ und in „The Pledge“ weiss der Leser/Zuschauer am Ende, wer der Mörder ist. Dieser stirbt. In gewisser Weise wird dann die Gerechtigkeit erreicht. Die Gerechtigkeit wird aber gemäss dem Kommissar nicht erreicht, weil er die Wahrheit nie erfährt. Hier sieht man, dass die Idee der Gerechtigkeit von der Ebene, auf der man sich befindet, abhängt. Diese Ansicht wird auch im „Monstervortrag“ ausgedrückt. Allah und der Prophet hatten nicht die gleiche Meinung über die Gerechtigkeit, weil ihre Kenntnisse der Fakten verschieden waren. Allah befindet sich, wie der Polizeikommandant, der Leser 21
und der Zuschauer, auf einer höheren Ebene: Sie befinden sich auf der Ebene des Beobachters. Aber was den Verdächtigen ‐ den Hausierer oder den Indianer ‐ betrifft, ist es in keiner Weise gerecht. Wegen eines Justizfehlers ist er gestorben. Aus globaler Sicht wird die Gerechtigkeit nicht erreicht. In den drei Werken so wie im „Monstervortrag“ wird die Gerechtigkeit also nicht erreicht. Die Idee der Unerreichbarkeit der Gerechtigkeit wird in „Das Versprechen“ und in „The Pledge“ sogar stärker ausgedrückt: Während der Kommissar nach Gerechtigkeit sucht, verliert er die Vernunft. 22
6. Schlussfolgerung Recht, Justiz und Gerechtigkeit wurden anhand der Rechtsphilosophie definiert. Die Überlegungen über die Gerechtigkeit wurden mit Hilfe der Lektüre des „Monstervortrag“ vertieft. Das Recht ist ein Ordnungssystem, das für alle in einer gewissen Zeit und in einem gewissen Raum gilt. Die Justiz interpretiert das Recht. Mit seinem Polizei‐ und Rechtsapparat überwacht sie die Beachtung des Rechtes. Die Gerechtigkeit aber ist eine subjektive, emotionale Idee über Recht und Justiz. Diese Idee kann für jeden unterschiedlich sein. Dieser Begriff bringt eine gewisse Dynamik: Er erlaubt eine persönliche Meinung, die die Justiz und das Recht analysieren und kritisieren kann. Die Justiz kann auf einen falschen Schluss kommen. Die Vorurteile der Polizei, der Zufall und der allgemeine Charakter der Gesetze sind Elemente, die zu einem falschen Schluss führen können. In diesem Fall können die Opfer unterschiedlich reagieren. Sie können sich unterwerfen, sie können Widerstand leisten oder ihre Kräfte verlieren und falsche Geständnisse abgeben; verzweifeln können sie auch oder, wie der Verdächtige der Geschichte, sich das Leben nehmen. Wenn Sie Unrechte beobachten würden, wie würden Sie reagieren? Sie könnten die Entscheidung der Justiz als gerecht empfinden. Alles würde dann für Sie in Ordnung sein. Es ist auch möglich, dass Sie die Entscheidung der Justiz als ungerecht empfinden würden. Dann würden sie vielleicht, wie der Kommissar der Geschichte, die Wahrheit entdecken wollen und Ihre eigene Suche nach Gerechtigkeit beginnen. Aber Achtung, passen Sie auf! Dürrenmatt warnt Sie. Manche Methoden, um Ihr Ziel zu erreichen, können unmenschlich und unethisch sein. Wenn Sie im Leben nur ein einziges Ziel haben, kann es Sie zum Wahnsinn führen. Und jetzt noch meine Einschätzung. Am Anfang hätte ich lieber ein praxisorientiertes Thema machen wollen. Eigentlich habe ich diese theoretische Arbeit interessant gefunden. Ich finde den Begriff Gerechtigkeit 23
komplex. Er eröffnet einen Raum, in dem man denken, analysieren, kritisieren kann. Einen Raum, der denkende und aktive Menschen und Bürger fördert. Zudem hat es mir gefallen, die Figur des Kommissars im Detail zu analysieren. In wenigen Stunden verändert sich seine Psychologie total. Das hat mich fasziniert. Ich frage mich, ob eine solche Wende bei jedem geschehen kann. 24
7. Literaturverzeichnis Bücher 1. DÜRRENMATT Friedrich, Das Versprechen (Requiem auf den Kriminalroman), Diogenes, 1985. 2. ASSMANN Lothar, BERGMANN Reiner, HENKE Roland W., SCHULZE Matthias, SEWING Eva‐
Maria, Zugänge zur Philosophie 1, Cornelsen, 2007. 3. DÜRRENMATT Friedrich, Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht nebst einem helvetischen Zwischenspiel (eine kleine Dramaturgie der Politik), Die Arche, 1969. 4. DÜRRENMATT Friedrich, Justiz, Diogenes Verlag, 1985. 5. GRIESEBNER Andrea, SCHEUTZ Martin, WEIGL Herwig (Hrsg), Justiz & Gerechtigkeit. Historische Beiträge (16.‐19. Jahrhundert), Studienverlag, 2002. 6. KRIESEL Peter, ROLF Bernd, WIESEN Brigitte, Ethik / Praktische Philosophie, Ernt Klett Verlag, 2007. Filme -
VAJDA Ladislao, Es geschah am hellichten Tag, 1958 -
PENN Sean, The Pledge, 2001 Quelle des Umschlagsbildes -
http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Lexikon/EUGlossar/E/__Bilder/justitia9
17437,layoutVariant=Poster.html (4. August 2009) 25