ERICH KÄSTNER in der „Kinderzeitung von Klaus und Kläre“

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ERICH KÄSTNER in der „Kinderzeitung von Klaus und Kläre“
ERICH KÄSTNER
in der „Kinderzeitung von Klaus und Kläre“
Heike Nieder
Einleitung
Ich habe von Anton erzählt, obwohl er dem Emil Tischbein so ähnlich ist, weil ich glaube, von dieser Sorte Jungen kann man gar nicht genug erzählen, und Emile und Antone
können wir gar nicht genug kriegen! Vielleicht entschließt ihr euch, so wie sie zu werden? Vielleicht werdet ihr, wenn ihr sie lieb gewonnen habt, wie diese Vorbilder, so fleißig, so anständig, so tapfer und so ehrlich?1
Bereits im „Kleine[n] Nachwort“ seines Romans „Pünktchen und Anton“ formuliert
Erich Kästner das Hauptprogramm seines jugendliterarischen Schreibens. Was er
1931 noch beiläufig als Aufforderung an seine Leser artikuliert, findet später immer
öfter auch Eingang in seine öffentlichen Reflexionen über die Aufgaben des Jugendschriftstellers. So erklärt er in seiner Rede auf der Internationalen Tagung für das
Jugendbuch in Zürich im Jahr 1953: „Die Jugend braucht Vorbilder, wie sie Milch,
Brot und Luft braucht. Und sie braucht frische Milch, frisches Brot und frische
Luft“.2
Die Vermittlung von „frischen“ Vorbildern ist demnach die Hauptaufgabe jedes verantwortungsbewussten Jugendschriftstellers. Damit ist das Vorbild für Kästner einer
jener Werte, die es zu beschwören gilt, um „eine freundlichere Welt“ zu schaffen:
Und er [der Jugendschriftsteller, Anm. d. Verf.] weiß, daß es [...] doch noch ein paar echte Werte gibt: das Gewissen, die Vorbilder, die Heimat, die Ferne, die Freundschaft, die
Freiheit, die Erinnerung, die Phantasie, das Glück und den Humor. 3
Kästner selbst hat sich an diese seine Maximen gehalten und versucht, der Jugend
mit seinen Kinderbüchern Vorbilder zu liefern. Diese Vorbilder entsprechen seinem
„gelungenen Entwurf vom Menschen“.4 Emil und Anton sind da nur zwei Beispiele.
Betrachtet man sich die Figuren in Kästners Literatur für Kinder, bekommt man
demnach einen Eindruck davon, wie Kästners „gelungener Mensch“ auszusehen hat.
So ist es nicht verwunderlich, dass die literaturwissenschaftliche Forschung den Figuren in den von Kästner verfassten Romanen für Kinder bereits mehrfach Be-
1
Kästner: Pünktchen und Anton. Werke VII, S. 545.
2
Kästner: Jugend, Literatur und Jugendliteratur. Werke VI, S. 604.
3
Ebd., S. 610.
4
Ebd.
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achtung geschenkt hat.5
Anders verhält es sich mit den frühsten publizistischen Arbeiten Erich Kästners für
Kinder. Seitdem Helga Bemmann 1983 ihre Kästner-Biografie „Humor auf Taille.
Erich Kästner – Leben und Werk“ veröffentlicht hat, ist die publizistische Tätigkeit
Erich Kästners für das Leipziger Familienmagazin „Beyers für Alle“ und dessen Kinderbeilage bekannt. Er veröffentlichte hier Erzählungen, Gedichte sowie eine große
Anzahl von Artikeln, die mit „Klaus und Kläre“ – oder nur mit „Klaus“ oder nur mit
„Kläre“ – unterzeichnet sind. Die Redaktion der Zeitung etabliert damit zwei Kinderfiguren, die angeblich an der Herausgabe der Kinderbeilage mitbeteiligt sind. Klaus
und Kläre sind Geschwister und wenden sich stets in Briefform an die Leser. In der
Forschung gilt es als relativ gesichert, dass diese Texte in Wahrheit auf die Autorschaft Kästners zurückzuführen sind.6 Zu einer Analyse dieser Artikel ist es bisher
noch nicht gekommen. Meine Magisterarbeit, die die Grundlage dieses Vortrags ist,
will diese Lücke schließen und einen Anfang machen.
Da sich Erich Kästner in erster Linie als ein Jugendschriftsteller versteht, der seine
Leser mit seinen Büchern erziehen will und dieses Ziel, nämlich die Vermittlung bestimmter Werte und Verhaltensweisen, durch die Schaffung von Vorbildern zu erreichen versucht, liegt es nahe, sich die Figuren Klaus und Kläre näher anzuschauen.
In den rund 190 Texten, die von 1926 bis 1932 mit „Klaus und Kläre“ – oder nur mit
einem der beiden Namen – unterschrieben sind, entwickeln diese beiden Figuren
ein eigenes Profil. Mit meiner Magisterarbeit legte ich eine Figurenanlayse vor, die
zeigt, mit welchen Werten und Eigenschaften Erich Kästner Klaus und Kläre ausstattet und welche Techniken der Figurencharakterisierung er benutzt, um diese
Werte und Eigenschaften zu vermitteln. Da es sich bei Klaus und Kläre um eine
Jungen- und eine Mädchenfigur handelt, war es darüber hinaus interessant, die
geschlechtsspezifischen Charakterisierungsmerkmale herauszuarbeiten. Geht
Kästner hier konform mit dem gängigen Jungen- und Mädchenideal seiner Zeit, ist
er demgegenüber eher rückschrittlich oder progressiv? Im Folgenden werde ich kurz
das von mir verwendete Analyseinstrumentarium vorstellen. Im Anschluss daran
werde ich einen Teil der Ergebnisse skizzieren.
5
Vgl. Angress: Erich Kästners Kinderbücher kritisch gesehen; Bäumler: Die aufgeräumte Wirklichkeit des
Erich Kästner; Beutler: Erich Kästner; Drouve: Erich Kästner.
6
Vgl. Bemmann: Humor auf Taille; Brons: Erich Kästner, un écrivain journaliste; Karrenbrock: Erich
Kästners kinderliterarische Anfänge; Ott: Die Sache mit Emil; Reck: Bibliographie; Schuhmann: Nachwort; Zonneveld: Erich Kästner als Rezensent.
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Analyse der Figuren Klaus und Kläre
1977 veröffentlichte Manfred Pfister sein Werk „Das Drama“. Der Autor liefert hier
ein umfassendes Analyseinstrumentarium für Dramenfiguren. In Teilen sind die
Ausführungen Manfred Pfisters auch auf nichtdramatische Texte anwendbar. So
übertrug Hans-Werner Ludwig in seinem 1982 erschienenen „Arbeitsbuch Romananalyse“ das von Pfister eingeführte Instrumentarium auf Prosatexte.7 Bei beiden
Werken handelt es sich um Standartwerke, die bis heute oft zitiert8, empfohlen9 und
neu aufgelegt wurden.10 Aus diesem Grund wählte ich das von Pfister bzw. Ludwig
gesetzte Analyseinstrumentarium als heuristisches Instrument für die Figurencharakterisierung von Klaus und Kläre.
Pfister teilt die Charakterisierungstechniken für eine Dramenfigur in zwei Hauptgruppen auf. Als „figural“ bezeichnet er jede Charakterisierung, die von der Dramenfigur selbst ausgeht, als „auktorial“ bezeichnet er diejenige Charakterisierung, die
den impliziten Autor zum Sender hat.11 Als nächstes unterscheidet Pfister zwischen
„expliziten“ und „impliziten“ Klassifizierungskriterien. „Damit kommen wir zu vier
Klassen von Techniken der Figurencharakterisierung: explizit-figurale, implizitfigurale, explizit-auktoriale und implizit-auktoriale“.12
Die explizit-figuralen Charakterisierungstechniken bezeichnet Pfister als „durchgehend sprachlich“.13 Sie werden umgesetzt im Eigenkommentar, in dem eine Figur
explizit ihr Selbstverständnis artikuliert, und im Fremdkommentar, in dem eine Figur explizit durch eine andere charakterisiert wird.14 Beide, sowohl Eigenkommentar
als auch Fremdkommentar, treten entweder in Form eines Dialoges oder in Form
eines Monologes auf.
Im Gegensatz zu den explizit-figuralen Charakterisierungstechniken sind die impli-
7
Vgl. Ludwig: Problemfeld V: Figur und Handlung. S. 141-144.
8
Vgl. z. B. Fricke/Zymner: Einübung in die Literaturwissenschaft; Greiner: Einführung in das Drama;
Platz-Waury: Drama und Theater.
9
Vgl. z. B. Jeßing: Arbeitstechniken des literaturwissenschaftlichen Studiums; Schneider: Einführung in
die moderne Literaturwissenschaft.
10
Manfred Pfisters „Das Drama“ erschien 2003 in der 11. Auflage im UTB-Verlag. Hans-Werner Ludwigs
„Arbeitsbuch Romananalyse“ erschien 1998 in der 6. Auflage im Gunter Narr Verlag.
11
Vgl. Pfister: Das Drama. S. 251.
12
Ebd.
13
Ebd.
14
Vgl. ebd.
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zit-figuralen Charakterisierungstechniken „nur zum Teil sprachlich“.15 Die sprachliche implizit-figurale Charakterisierung wird realisiert durch die Stimmqualität
einer Figur, ihr sprachliches Verhalten und ihre stilistische Textur.16
Außersprachlich charakterisiert sich eine Figur durch ihr Aussehen, ihr Verhalten,
ihre Bekleidung, ihre Requisiten und das Interieur, in dem sie sich bewegt.17
Der implizite Autor hat nach Pfister zwei Möglichkeiten der expliziten Figurencharakterisierung: die Beschreibung einer Figur im Nebentext sowie die Verwendung sprechender Namen.18 Als implizit-auktoriale Charakterisierungstechniken
erwähnt Pfister die Korrespondenz- und Kontrastrelationen einer Figur zu ihren
Mitfiguren sowie implizit charakterisierende Namen.19 Seine Ausführungen veranschaulicht Pfister anhand eines „Verzweigungsdiagramms“ (Anhang, Abb. 1).20
Hans-Werner Ludwig betont, dass die „Übertragung von Charakterisierungstechniken des Dramas auf narrative Texte [...] nur noch beschränkt möglich“ sei, da
„das Drama als aufgeführtes sowohl auf sprachlicher als auch auf nicht-sprachlicher
Kommunikation beruh[e]“, während „der gesamte narrative Text sprachlich vermittelt“ sei.21
Dementsprechend modifiziert er das Modell Manfred Pfisters, indem er bestimmte,
von Pfister gesetzte Beschreibungskriterien weglässt. Für die übernommenen verwendet er zum Teil andere, in der Erzähltextanalyse gebräuchliche Begrifflichkeiten.
Ludwig selbst benutzt zur Veranschaulichung seiner Modifizierung kein Verzweigungsdiagramm. Dennoch seien hier zum direkten Vergleich auch seine Ausführungen schematisch dargestellt – siehe Anhang, Abb. 2.
Bei den „Klaus und Kläre“-Texten handelt es sich weder um Dramatik noch um Prosa im klassischen Sinne. Dennoch beinhalten diese Artikel Elemente beider Gattungen. Somit ist das Pfister-Modell – auch nicht das von Ludwig modifizierte – nicht
eins zu eins auf die „Klaus und Kläre“-Texte übertragbar. Anders als bei Pfister und
Ludwig spielt für die Behandlung der „Klaus und Kläre“-Texte der Leserbezug eine
wichtige Rolle. Zudem fehlt bei den „Klaus und Kläre“-Texten die explizit-auktoriale
15
Pfister: Das Drama. S. 257.
16
Vgl. ebd. S. 259.
17
Ebd. S. 257.
18
Vgl. ebd. S. 262.
19
Vgl. ebd. S. 263.
20
Pfister: Das Drama. S. 251.
21
Ludwig: Problemfeld V: Figur und Handlung. S. 143.
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Erzählinstanz. Es war also notwendig, für die Analyse der Figuren Klaus und Kläre
das ,Pfister-Ludwig-Modell‘ erneut zu modifizieren. Schematisch dargestellt sehen
die von mir vorgenommenen Veränderungen wie im Anhang, Abb. 3, aus.
Die Differenzierung zwischen Eigenkommentar und implizit-figuraler Charakterisierung gestaltete sich zunächst als etwas schwierig, da es ja Klaus und Kläre selbst
sind, die Auskunft über ihr Verhalten, ihre Handlungen etc. geben. Dennoch fand
sich im Laufe der Analyse eine sinnvolle Aufteilung dieser beiden Kategorien.
Als Eigenkommentar wertete ich: Allgemeine Äußerungen Klaus’ und Kläres zu einem Thema, Aussagen, in denen sich Klaus und Kläre selbst charakterisieren sowie
Ratschläge an die Leser, aus denen sich Rückschlüsse auf Werte und Einstellungen
Klaus’ und Kläres ziehen lassen, denn es ist anzunehmen, dass das, was Klaus und
Kläre von ihren Lesern erwarten, auch für sie selbst gilt.
Als implizit-figural wertete ich: Klaus’ und Kläres Schreibstil, Verhalten Klaus’ und
Kläres ihren Lesern gegenüber, Verhalten anderen Figuren gegenüber, Handeln
Klaus’ und Kläres, ihr Äußeres (Karikaturen Klaus’ und Kläres auf der ersten Seite
der Kinderzeitung im ersten Heft von Beyers für Alle) sowie ihre Erziehung (Erzählungen Klaus’ und Kläres über ihre Eltern, Lehrer, sonstige Verwandte).
Zur Verdeutlichung meiner Interpretation im Folgenden zwei Beispiele:
In Heft 34 der „Kinderzeitung von Klaus und Kläre“ beschreibt Kläre, wie man eine
Perlenkette webt. Sehr ausführlich erklärt sie den Fallekindern die einzelnen Arbeitsabläufe. Diese Erläuterungen Kläres habe ich in die Kategorie „implizit-figural“
eingeordnet, denn es handelt sich um die Beschreibung einer Handlung, die Kläre
schon des Öfteren durchgeführt hat. Aus dieser Handlungsbeschreibung lässt sich
für Kläre die Eigenschaft „kreativ“ bzw. „handwerklich begabt“ ableiten. In Bezug
auf die Leser wird durch die Erläuterungen zudem ein Verhalten Kläres deutlich: Sie
möchte ihnen etwas beibringen, ist also aufmerksam und hilfsbereit.
Nachdem Kläre ihre Erklärungen abgeschlossen hat, schreibt sie weiter:
Ich habe mehrere Ketten. Die eine passt zu meinem blauen Kleid. [...] Dann habe ich eine knallrote Perlenkette [...]. Und dann habe ich noch eine mit Wachsperlen“.22
Diese Äußerungen habe ich der Kategorie Eigenkommentar zugeordnet, denn Kläre
beschreibt hier keine Handlungen, sondern gibt Auskunft über ihren Besitz. Dieser
Besitz lässt auf das Modebewusstsein Kläres schließen.
Das zweite Beispiel bezieht sich auf einen Ratschlag, den Klaus und Kläre einer ihrer
22
Kinderzeitung von Klaus und Kläre 2 (1929), Heft 34, S. 203.
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Leserinnen geben. In Heft 38 der „Kinderzeitung von Klaus und Kläre“ schreiben sie
auf den Leserbrief von Marietta Freund:
Wir haben Deine Karte bekommen. Wenn Deine Freundin ihr Täschchen verloren hat, in
dem sie Dein Armband verwahrte, so hatte sie ja doch einen großen Verlust. Wir meinen, Du solltest es nicht annehmen, wenn sie es ersetzen will.23
Die Tatsache, dass Klaus und Kläre ihre Leser beratschlagen, habe ich als implizitfigurale Charakterisierung gewertet, denn in solchen Leserbriefantworten äußert
sich ein Verhalten Klaus’ und Kläres in Bezug auf ihre Leser, nämlich ihre Hilfsbereitschaft.
Doch diese Textpassage enthält noch mehr, nämlich einen Eigenkommentar Klaus’
und Kläres, da sich aus diesem Ratschlag Rückschlüsse auf Werte und Einstellungen
der beiden Figuren ziehen lassen: Klaus und Kläre appellieren an die Großzügigkeit
und die Milde ihrer Leserin. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass „Großzügigkeit“
und „Verzeihen können“ zu den Werten Klaus’ und Kläres gehören.
Fazit
Die Frauenrechtlerin Alice Rühle-Gerstel schreibt 1932:
Die Erziehung hat also ihre erste Aufgabe: die Mädchen zur Bejahung ihrer Rolle, zum
Selbstvertrauen zu befähigen, schlecht angepackt. […] Die zweite Aufgabe der Erziehung,
die Vorbereitung auf die Lebensaufgaben, erscheint teils als geglückt, teils als misslungen, je nachdem, was man als Lebensaufgaben der Frau ansieht: die Ausfüllung des
ihr von alters her abgesteckten Platzes, die Erduldung des über sie verhängten Lebens,
eine blasse Kopierung des Idealbegriffs der Weiblichkeit? Dann wäre die Erziehung
geglückt. Oder aber eine selbstvertrauende, verantwortliche und gemeinschaftssinnige
Auseinan-dersetzung mit dem Leben? Dann muß man sie als misslungen bezeichnen.24
Rühle-Gerstel bezeichnet die Mädchenerziehung ihrer Zeit als missglückt, da sie den
Mädchen kein Selbstvertrauen, keine Verantwortung und keinen Gemeinschaftssinn
vermittle. Bei der Analyse kam heraus, dass die Figur Kläre jedoch genau diese von
Rühle-Gerstel vermissten Eigenschaften besitzt. Sie entspricht somit keinesfalls dem
Typ Mädchen, das heranzuziehen in der Absicht vieler damaliger Mädchenschulpädagogen lag.25
Kläre hat eine Reihe von Eigenschaften, die damals als ,spezifisch-männlich‘ an-
23
Kinderzeitung von Klaus und Kläre 2 (1929), Heft 38, S. 236.
24
Rühle-Gerstel: Die Frau und der Kapitalismus. S. 59.
25
Vgl. Deutsche Mädchenbildung. Zeitschrift für das gesamte höhere Mädchenschulwesen 2 (1926), S.
193-199, 337-344, 431-443.; Deutsche Mädchenbildung. Zeitschrift für das gesamte höhere Mädchenschulwesen 3 (1927), S. 245-249, 388-392, 408-414.
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gesehen wurden. Sie ist selbstbewusst26, selbständig27, kritik- und kompromissfähig28 – um nur einige wichtige ,männliche‘ Tugenden Kläres zu nennen. Doch es
lag keinesfalls in der Absicht Kästners, nur die weiblichen Leser der Kinderzeitung
durch die Figur Kläre mit geschlechtsuntypischen Wesenszügen zu konfrontieren.
Denn auch Klaus verfügt über geschlechtsuntypische Eigenschaften, wie beispielsweise die der Hilfsbereitschaft. Zahlreiche Pädagogen höherer Mädchenschulen bezeichneten diese in den 20er Jahren als eine hauptsächlich weibliche Tugend. Sie
begründeten diese Behauptung mit der „große[n] angeborene[n] Liebeskraft“29 der
Frau.
Wollte Erich Kästner also weg vom traditionellen Rollenverständnis hin zur absoluten Gleichheit der Geschlechter? Wobei „Gleichheit“ hier nicht im Sinne von
,gleichberechtigt‘ sondern im Sinne von ,wesensgleich‘ zu verstehen ist. Die Antwort
lautet nein. Denn nicht umsonst verfügen sowohl Klaus als auch Kläre über genügend Eigenschaften, die die gängige Aufgabenteilung zwischen Mann und Frau
manifestieren. Kläre interessiert sich fürs Nähen und Kochen30, Klaus hat die
Hosentaschen voller Krimskrams31 und benutzt sein sauberes Taschentuch, um
einen Teerklumpen zu verwahren.32
Zu vermuten ist also, dass Kästner keine Wesensgleichheit zwischen Mann und Frau
anstrebte, wohl aber deren Gleichberechtigung. Denn Kläre ist als Mädchen eine
selbstbewusste, eigenverantwortlich handelnde, engagierte Persönlichkeit, die als
Erwachsene auf keinen Mann angewiesen sein wird.
Doch Kästners Anliegen war es nicht in erster Linie, für eine Gleichberechtigung der
Geschlechter einzutreten. Die Werte, die Klaus und Kläre vermitteln sollen, können
auch unter einem anderen Oberbegriff zusammengefasst werden: Anständigkeit.
Klaus und Kläre sind durch und durch ,anständig‘, perfekte Vorbilder also für die
26
Vgl. Kinderzeitung von Klaus und Kläre 1 (1928), Heft 18, S. 69: Sowohl Klaus als auch Kläre vertreten
gegenüber einem Erwachsenen, nämlich Onkel Emil-Kurt, ganz offen ihre Meinung.
27
Die gesamte Mitarbeit in der Redaktion der Kinderzeitung kann als Ausdruck von Selbständigkeit und
Eigenverantwortlichkeit gewertet werden.
28
Vgl. Kinderzeitung von Klaus und Kläre 3 (1930), Heft 59, S. 297: Klaus und Kläre fordern ihre Leser
auf, sie zu kritisieren und Verbesserungsvorschläge zu machen.; Kinderzeitung von Klaus und Kläre 3
(1930), Heft 68, S. 476: Klaus und Kläre fordern ihre Leser auf, sich an einer Abstimmung zu beteiligen.
29
Bartels: Das weibliche Charakterideal und die Schule. S. 248.
30
Vgl. z. B. Kinderzeitung von Klaus und Kläre 3 (1930), Heft 60, S. 411: „Am liebsten helfe ich bei der
Bäckerei.“
31
Vgl. Kinderzeitung von Klaus und Kläre 1 (1928), Heft 8, S. 31.
32
Vgl. ebd.
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Erich Kästner in der „Kinderzeitung von Klaus und Kläre“
kleinen Leser und Leserinnen der Kinderzeitung. Doch was heißt ,anständig‘ im
Kästnerschen Sinne? Aufschluss darüber gibt eine Aussage Kästners über sich selbst.
In seiner Rede „Kästner über Kästner“ bezeichnet er sich als einen „Urenkel der
deutschen Aufklärung“.33 Helmuth Kiesel meint daher, dass die Tugendvorstellungen Kästners „in der Tradition des bürgerlichen Tugendkanons“34 stünden.
Auch Kurt Beutler vertritt diese Ansicht. Er spricht allgemeiner von „einer liberalen
Konzeption des Erziehungsziels“35 in den „Umweltromanen“ Erich Kästners. So verfügten die Hauptfiguren dieser Romane – zum Beispiel Emil, Anton oder Martin aus
„Das fliegende Klassenzimmer“ – über eine Reihe von „bürgerlich-humanitären“36
sowie „klassisch-antiken Tugenden“.37 Beutler nennt zum Beispiel ihren Fleiß, die
Ordentlichkeit und Sauberkeit ihres häuslichen Milieus, ihre Aktivität, ihre Besonnenheit, ihre Bescheidenheit, ihren Stolz, ihre Offenheit, ihre innere Sicherheit,
ihr Selbstvertrauen, ihre Freundschaftsfähigkeit, ihre Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit.38
Anständig im Kästnerschen Sinne ist demzufolge jeder, der diese „liberalen“ Tugenden besitzt. Daraus folgt, dass es, um ein ,anständiger‘ Mensch zu werden, nötig ist,
sowohl Eigenschaften zu besitzen, die in den 20er Jahren als ,spezifisch-weiblich‘
galten – zum Beispiel Fleiß oder Ordentlichkeit –, als auch Eigenschaften, die als
,spezifisch-männlich‘ angesehen wurden – wie beispielsweise Mut, Aktivität, Selbständigkeit.
Das erklärt, warum Klaus und Kläre beide sowohl über ,spezifisch-weibliche‘ als
auch über ,spezifisch-männliche‘ Eigenschaften verfügen. Sie stehen damit in Gesellschaft mit den Kinderfiguren aus Erich Kästners „Umweltromanen“.
Literatur:
Primärtexte:
Zeitschriften
1.
33
Kinderzeitung von Klaus und Kläre 1 (1928), Heft 8, S. 31.
Kästner: Kästner über Kästner. Werke II. S. 326.
34
Kiesel: Erich Kästner. S. 116.
35
Beutler: Erich Kästner. S. 268.
36
Ebd. S. 262.
37
Ebd. S. 265.
38
Vgl. Beutler: Erich Kästner. S. 199.
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2.
Kinderzeitung von Klaus und Kläre 1 (1928), Heft 18, S. 69
3.
Kinderzeitung von Klaus und Kläre 2 (1929), Heft 34, S. 203.
4.
Kinderzeitung von Klaus und Kläre 2 (1929), Heft 38, S. 236.
5.
Kinderzeitung von Klaus und Kläre 3 (1930), Heft 59, S. 297
6.
Kinderzeitung von Klaus und Kläre 3 (1930), Heft 60, S. 411
7.
Kinderzeitung von Klaus und Kläre 3 (1930), Heft 68, S. 476
Gesammelte Werke:
1.
K ÄSTNER , ERICH : Der Karneval des Kaufmanns. Gesammelte Texte aus der Leipziger Zeit1923-1927. Herausgegeben von Klaus Schuhmann. Leipzig 2004
2.
D ERS .: Werke. Band II. Chanson, Kabarett, Kleine Prosa. Herausgegeben von Franz
Josef Görtz und Hans Sarkowicz. München 1998.
3.
D ERS .: Werke. Band VI. Publizistik. Herausgegeben von Franz Josef Görtz und
Hans Sarkowicz. München 1998.
4.
D ERS .: Werke. Band VII. Romane für Kinder I. Herausgegeben von Franz Josef
Görtz und Hans Sarkowicz. München 1998.
Sekundärliteratur:
1.
A NGRESS , R UTH K.: Erich Kästners Kinderbücher kritisch gesehen. In: L ÜTZELER , P.
M. (Hrsg.): Zeitgenossenschaft. Festschrift für Egon Schwarz zum 65. Frankfurt a.
M. 1987. S. 91-102.
2.
B ARTELS , B EATE : Das weibliche Charakterideal und die Schule. In: Deutsche Mädchenbildung. Zeitschrift für das gesamte höhere Mädchenschulwesen 3 (1927), S.
245-249.
3.
B ÄUMLER , M ARIANNE : Die aufgeräumte Wirklichkeit des Erich Kästner. Köln 1984.
4.
B EMMANN , H ELGA : Humor auf Taille. Erich Kästner – Leben und Werk. Berlin-Ost
1983.
5.
B EUTLER , K URT : Erich Kästner. Eine literaturpädagogische Untersuchung. Marburg
1966.
6.
B RONS , P ATRICIA : Erich Kästner, un écrivain Journaliste. Bern 2002.
7.
Drouve, Andreas: Erich Kästner. Moralist mit doppeltem Boden. Marburg 1993.
8.
F RICKE, H ARALD / ZYMNER , R ÜDIGER : Einübung in die Literaturwissenschaft: Parodieren geht über studieren. 4. Auflage. Paderborn 2000.
9.
G REINER , N ORBERT : Figur. In: G REINER , N ORBERT
Drama. Bd. 2. München und Wien 1982. S. 10-67.
U. A.
(Hrsg.): Einführung in das
10. J EßING, B ENEDIKT : Arbeitstechniken des literaturwissenschaftlichen Studiums.
Stuttgart 2001.
11. K ARRENBROCK , H ELGA : Erich Kästners kinderliterarische Anfänge. In: Kinder- und
Jugendliteraturforschung 5 (1998/99), S. 29-40.
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ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007
Erich Kästner in der „Kinderzeitung von Klaus und Kläre“
12. K IESEL , H ELMUTH : Erich Kästner. München 1981.
13. L UDWIG , HANS -WERNER : Problemfeld V: Figur und Handlung. In: L UDWIG , HANS W ERNER (Hrsg.): Arbeitsbuch Romananalyse. 6. Auflage. Tübingen 1998. S. 106144.
14. L UTZ, HILDEGARD : Schule und Erziehung der weiblichen Jugend. In: Deutsche
Mädchenbildung. Zeitschrift für das gesamte höhere Mädchenschulwesen 2 (1926),
S. 433-443.
15. M ANG, R ICHARD L E: Gedanken zur Mädchenbildung. In: Deutsche Mädchenbildung.
Zeitschrift für das gesamte höhere Mädchenschulwesen 2 (1926), S. 193-199.
16. O EHLINGER , GRETE : Gedanken über die weibliche Psyche und die Bildung der weiblichen Jugend. In: Deutsche Mädchenbildung. Zeitschrift für das gesamte höhere
Mädchenschulwesen 2 (1926), S. 337-344.
17. O TT , U LRICH : Die Sache mit Emil: Ein strapazierfähiger Junge. In: Marbacher Magazin 86 (1999). S. 8-18.
18. P FISTER , M ANFRED : Das Drama. München 1977.
19. P LATZ-W AURY , E LKE : Drama und Theater. 5. Auflage. Tübingen 1999.
20. R ECK, A LEXANDER : Bibliographie der Beiträge Erich Kästners im Familienmagazin
Beyers für Alle und in der Kinderzeitung von Klaus und Kläre (1926-1932). In:
Kinder- und Jugendliteraturforschung 5 (1998/99), S. 41-49.
21. R ÜHLE -GERSTEL, A LICE : Die Frau und der Kapitalismus. Eine psychologische Bilanz
(1932). Erstmals erschienen 1932 unter dem Titel „Das Frauenproblem der Gegenwart. Eine psychologische Bilanz“. Frankfurt a. M. 1972.
22. S CHNEIDER , JOST : Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. Bielefeld 1998.
23. S CHUHMANN , K LAUS : Nachwort. In: K ÄSTNER , E RICH : Der Karneval des Kaufmanns.
Gesammelte Texte aus der Leipziger Zeit 1923-1927. Herausgegeben von Klaus
Schuhmann. Leipzig 2004. S. 451-473.
24. T ILING , M AGDALENE VON : Die psychologische Bedeutung der häuslichen Betätigungen für das Mädchen im Entwicklungsalter. In: Deutsche Mädchenbildung.
Zeitschrift für das gesamte höhere Mädchenschulwesen 3 (1927), S. 408-414.
25. Z ONNEVELD , J OHAN : Erich Kästner als Rezensent 1923- 1933. Frankfurt a. M. 1991
(Siehe die Anhänge auf den nächsten Seiten!
ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007
→)
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ANHANG – Abb. 1
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ANHANG – Abb. 2
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401
ANHANG – Abb. 3
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KUBIN UND DAS WELTBILD DER „ANDEREN SEITE“:
der Kosmische Mensch als coincidentia oppositorum
Mihai A. Stroe
Im vorliegenden Aufsatz wollen wir synthetisch Kubins philosophisches Weltbild
(das Bild der „anderen Seite“, in der die Quintessenz des Menschen sichtbar wird als
das alchemistische coincidentia oppositorum), von einer literar-vergleichenden, interdisziplinär-wissenschaftlichen Perspektive her beschreiben und analysieren. In
diesem Sinne verstand Kubin die Wirklichkeit, ebenso wie Heraklit und Blake, als
Krieg der Gegensätze. Die ontische Lösung, die Kubin für seine dramatischen Entdeckungen fand, war die Annahme, daß Gott in sich alles enthält. Dieselbe Antwort
haben auch Meyrink, Blake und Novalis gegeben: Das Bild des Zwitters ist das Idealbild des Menschlichen. Das wurde für Kubin zu einer Art homo cosmicus des idealen, paradoxen Traumlandes.
Die ersten Berichte über die Arbeit an einem Roman datieren aus dem Jahre 1907,
was der Korrespondenz zwischen Meyrink und Alfred Kubin zu entnehmen ist. Meyrink machte den Vorschlag, jeder solle den anderen inspirieren, indem er selbst die
Kapitel eines Romans schrieb und Kubin sie mit Illustrationen versehen solle. Aber
bald endete diese Zusammenarbeit, weil Meyrink, nach Kubins Worten, in eine „unfruchtbare Periode“ geriet, die jahrelang andauerte. Die Folge war, dass Kubin durch
seine eigenen Illustrationen dazu inspiriert wurde, selbst ein Buch zu schreiben. Es
entstand der Roman Die Andere Seite (1909), ein nicht alltägliches Werk im Stil der
„Schwarzen Romantik“1 (oder der „negativen Romantik“). Für Kubin bestand ausserdem kein Hemmnis, die dem Golem zugedachten Bilder für den eigenen Roman
zu verwenden, da beide Romane die Räume des Grauens schildern2.
Kubins Roman Die Andere Seite löste eine Mode von utopisch-phantastischen Weltuntergangsromanen aus3. Wie Clemens Ruthner bemerkt, gibt es eine explizite Intertextualität und Intermedialität, welche die Gedankenwelt Meyrinks mit Alfred
Kubins Zeichnungen vernetzt und die Erstlingsromane beider Autoren in eine Palimpsest-Relation zueinander setzt, wo die Textur des einen quasi unter den Federstrichen des anderen durchschimmert: nach Beginn der Niederschrift des Golem um
1
Frans Smit, Gustav Meyrink, Auf der Suche nach dem Übersinnlichen, S. 110.
2
Mohammad Qasim, Gustav Meyrink, Eine monographische Untersuchung, S. 130.
3
Clemens Ruthner, „Jenseits der Moderne“, S. 71. Siehe auch Meyrinks Werke: Der Golem, Das Grüne
Gesicht und Walpurgisnacht.
Mihai A. Stroe
1907 wurde Kubin beauftragt, Kapitel für Kapitel nach Fertigstellung zu illustrieren4.
Als Meyrinks Schaffensprozess stockte, verwendete Kubin 1908 die Zeichnungen zur
Illustration seines Romans Die Andere Seite. Nach Andreas Geyer realisierte Kubin
mit seinem Roman das ursprüngliche Romanprojekt Meyrinks, während dieser wegen des langen Schaffensprozesses den Golem radikal umkonzipierte (er wurde eigentlich zu einem anderen Text).
So ist Die Andere Seite eine Proto- oder Urfassung des Golem, wiewohl sie viele von
Kubins latenten und schon früher geäußerten Motiven aufgreift5. Beide Texte erzählen die ekstatischen Wege eines Helden zu sich selbst (was als die Jungsche Individuation verstanden werden kann), die sich von den Zeitwirren nicht beirren lassen
und nach dem Fatalitätsprinzip einer verifizierten Legende funktionieren6. Kubins
Die Andere Seite (1909) ist der erste deutschsprachige phantastische Roman im 20.
Jahrhundert; der Ort der Handlung im Roman ist das Innere Asiens, und die Zeit in
ihm scheint stillzustehen. Das Ganze baut im Gewand eines Traumszenarios eine
phantastische Parabel vom Untergang7 auf. Kubins Phantasmen sind, nach Osinski,
eine innere psychische Wirklichkeit8. Die geistige Stimmung von Kubins Roman hat
in diesem Sinne viel Ähnlichkeit mit der des Golem. Die Stadt Perle in Kubins Roman wie das Prager Ghetto in Meyrinks Roman sind Orte des Grauens, des Verfalls,
der langsamen Zerstörung, und sie sind zahlreich mit abnormen Menschen bevölkert.
Ein Thema beider Romane ist die Veränderbarkeit der Persönlichkeit (d.h. auch die
Tendenz zur Individuation). Die Auseinandersetzungen mit dem Problem der Dimension des Bewusstseins enden in beiden Romanen mit dem visionär geschauten
Bild eines Hermaphroditen, der in sich wie Gott ist und alles enthält, das Männliche
und das Weibliche, das Himmlische und das Chthonische, das Bewusste und das
Unbewusste. Das ist die ontische Lösung, die Kubin vorgeschlagen hat, nachdem er
seine dramatische Entdeckung zu verstehen begann: Kubin sah wie Heraklit und
4
Clemens Ruthner, „Jenseits der Moderne“, S. 72.
5
Id.
6
J. J. Pollet, „Essai sur la litterature fantastique du XX-e siècle (1900-1930)“, S. 347 ff. (apud Clemens
Ruthner, „Jenseits der Moderne“, S. 72)
7
Clemens Ruthner, „Jenseits der Moderne“, S. 87.
8
Kubins Phantastik aber, glaubt Osinski, hat mit Poesie als einem Vermittlungsprinzip zwischen Wirklichkeitsebenen nichts zu tun (cf. Jutta Osinski, „Poesie und Wahn, Aspekte des Phantastischen in romantischen Texten“, S. 26); die Ablösung des Phantastischen von einer poetischen Darstellung der Wirklichkeit ist, nach Osinski, nicht mehr romantisch (id.). Das ist die „schwarze“ Romantik, die „negative“ Romantik.
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Kubin und das Weltbild der ‘anderen Seite’: der Kosmische Mensch als coincidentia oppositorum
Blake die Wirklichkeit als Krieg der Gegensätze. Dieselbe Lösung haben auch Meyrink, Blake und Novalis geboten: das Bild des Zwitters ist für sie das Idealbild des
Menschen. Das wurde für Kubin eine Art homo cosmicus des idealen, wenn auch
paradoxen und gegensätzlichen, Traumlandes.
Schödel hat in diesem Zusammenhang auf das Motiv des Tores hingewiesen: durch
ein Tor erfolgt bei Kubin der Eintritt in die Traumwirklichkeit, und Ähnliches findet
sich bei Meyrink, der sich die architektonische Anlage des Prager Ghettos mit seinen
Durchhäusern und unterirdischen Gängen für den Golem zunutze machen konnte9.
Kubins Reise nach Traumland bedeutet auch eine „unterirdische“ Reise ins Unbewusste, während derer der Held auch Gefahr laufen kann, sich zu verirren:
Ich verirrte mich und gelangte in einen augenscheinlich ganz unbenutzten Teil des Souterrains... Auf einmal stolperte ich über ein paar glitschige Stufen und stand nun gänzlich im Dunkeln. Tiefe Nacht und eisige Kellerluft – oben hörte ich irgendwo eine Tür
zufallen!10.
Meyrinks Das Grüne Gesicht enthält eine weitere wichtige Entsprechung zu Kubins
Die Andere Seite: den Untergang einer Welt, der von geistigen Verirrungen und
Verwirrungen hervorgerufen ist11. Die Welt des Prager Ghettos stellt außerdem nicht
nur einen geographischen Ort dar, sondern gleichzeitig eine Traumwelt, eine Innenwelt12. Dasselbe kann man von Kubins Perle sagen: es ist eine Traumwelt, eine psychische Innenwelt, die Welt der Archetypen. In diesem Sinne sagt Kubin: „Es gibt
überhaupt nur Altes, man lebt wie Großvater im Vormärz und pfeift auf den Fortschritt“13. Eben wegen dieser Ähnlichkeit ließen sich, wie Sigrid Mayer unterstreicht,
Kubins Zeichnungen zu Meyrinks Roman ohne Schwierigkeiten in seinen eigenen
Traumroman übertragen14. Die Identität dieser Zeichnungen bleibt aber unsicher, da
sie sich überdies auf ein sehr frühes Stadium des Meyrinkschen Romans beziehen;
so lässt sich nicht genau feststellen, welche Aspekte dieses Textes Kubin besonders
zur graphischen Gestaltung herausgefordert haben. Es scheint aber, nach Mayer, als
habe er die atmosphärischen Züge des Werkes, in denen die Dinge ein unheimliches
Eigenleben annehmen, der Darstellung von Individuen vorgezogen: z.B. das metallbeschlagene Buch Ibbur, das gleichsam aus sich selbst heraus lebendig wird und Visionen hervorbringt, die Häuser im Prager Judenviertel, die ein seltsames Eigen-
9
Manfred Lube, Gustav Meyrink, Beiträge zur Biographie, S. 116.
10
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 91.
11
Manfred Lube, Gustav Meyrink, Beiträge zur Biographie, S. 116.
12
Sigrid Mayer, Golem: Die literarische Rezeption eines Stoffes, S. 198.
13
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 72.
14
Sigrid Mayer, Golem: Die literarische Rezeption eines Stoffes, S. 215.
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leben führen (Kubin entwickelt diese Idee15), die Steine, die lebendige Gestalt annehmen wollen, die Einwohner des Ghettos, soweit sie als Typen, nicht als
Individuen beschrieben werden16, und das Eingeschlossensein (Kubins Held ist ja im
Traumland eingesperrt17), das uns an die berühmten Carceri d’invenzione (Gefängnisse der Phantasie) (1745) von Piranesi erinnern.
Diese Elemente beeindruckten Kubin am meisten, und sie strukturieren bis zu einem gewissen Grade sein Denksystem. Meyrinks Traumroman hat auf diese Weise
Kubins Die Andere Seite beeinflusst, so wie er auch z.B. Jorge Luis Borges auf die
Spur der Golemsage geführt hat18. Wie Meyrink, scheint auch Kubin zu glauben, die
Menschheit im allgemeinen habe keinen Fortschritt gemacht, denn Claus Patera,
die wichtigste Gestalt im Roman Die Andere Seite, „der absolute Herr des Traumreichs“19, „hegt einen ... tiefen Widerwillen gegen alles Fortschrittliche... gegen alles
Fortschrittliche, namentlich auf wissenschaftlichen Gebiete“20 (das ist merklich ein
anti-romantisches Bild). Claus Patera ist also genau der Gegensatz zum Bild des deus
otiosus: „Patera ist zu viel beschäftigt, überladen mit Arbeit“21. Außerdem hat Patera
Züge eines Patibilis Deus und einer mythischen Gestalt: er „glich [...] eher einem
griechischen Gott als einem lebenden Menschen. Über den Zügen lag ein tiefer
15
„Diese Häuser, das waren die starken, wirklichen Individuen. Stumm und doch wieder vielsagender
standen sie da. Ein jedes hatte so eine bestimmte Geschichte, ... Diese Häuser wechselten sehr mit ihren
Launen. Manche haßten sich, eiferten gegenseitig aufeinander. Es gab garstige Brummbären unter ihnen
wie die Molkerei da gegenüber; andere schienen frech und hatten ein loses Maul ... das Haus, wo wir
wohnten, war eine vergrämte alte Tante ... die Häuser einer Straße repräsentieren etwas wie eine Familie“, Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 68-69.
16
Ebd.
17
„Nur der Umstand, daß es mir noch immer nicht gelungen war, Patera zu besuchen, verzögerte unsere
Abreise. Ohne seine spezielle Erlaubnis war an ein Fortkommen überhaupt nicht zu denken. Zehn Gesuche von mir lagen im Archiv“ (Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 89). Das Selbst im Unbewussten (das
identifiziere ich mit Kubins Patera) überwacht, korrigiert, geleitet das Ich. Kubins Reise nach Traumland
bedeutet einen descensus ad inferos, eine „unterirdische“ Reise ins Unbewusste, in dem der Held eingesperrt zu sein scheint (es gibt, wie bei Meyrink, viele Elemente, die auf das Eingeschlossensein hindeuten): „Ich verirrte mich und gelangte in einen augenscheinlich ganz unbenutzten Teil des Souterrains... Auf einmal stolperte ich über ein paar glitschige Stufen und stand nun gänzlich im Dunkeln.
Tiefe Nacht und eisige Kellerluft – oben hörte ich irgendwo eine Tür zufallen! ... <Fort von hier – nur fort
von hier!> war mein einziger Gedanke“ (Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 91; siehe auch im Golem die
Episode, in der der Held in die Dunkelheit eines aus einem Keller mündenden Schachtes absteigt, Gustav
Meyrink, Der Golem, S. 104; und die Illustration auf Seite 105).
18
Sigrid Mayer, Golem: Die literarische Rezeption eines Stoffes, S. 220.
19
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 13.
20
Ibid., S. 11.
21
Ibid., S. 23.
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Kubin und das Weltbild der ‘anderen Seite’: der Kosmische Mensch als coincidentia oppositorum
Schmerz“22. „In den tiefen grünlichen Schatten seiner Augen lag übermenschliches
Leiden“23. Gleichfalls ist der Mensch in seinem jetzigen Zustand für Kubin ein Bild
des Schmerzes und Irrtums:
Zwei Beine – Knochenröhren – tragen meine ganze Welt, eine Welt des Schmerzes und
Irrtums! Das Entsetzlichste ist der Leib.24
In diesem Sinne ist auch für Blake der Leib ein Hindernis für die Seele (wie bei Fichte): „The Natural Body is an Obstruction to the Soul or Spiritual Body“25. Patera ist
aber mit dem Bild der Meduse verbunden: „Seine Gestalt richtete sich völlig auf, wie
eine Medusenmaske hing das Haupt über mir“26; in diesem Sinne ist die Meduse das
missgestaltete Bild des Selbst27. Bei Kubin, wie bei Blake, erscheinen diese negativen
Formen wegen der Eingeschlossenseinsperspektive: von dieser Perspektive ist alle
Wirklichkeit bis zu einem gewissen Grade als missgestaltet wahrgenommen: die Abwesenheit der Freiheit verstört alle psychische und ontische Wahrnehmung. Patera
ist auf diese Weise eine polymorphe Gestalt:
Das Mienenspiel wechselte chamäleonartig – ununterbrochen – tausend – nein hunderttausendfach. Blitzschnell glich dieses Antlitz nacheinander einem Jüngling – einer
Frau – einem Kind – und einem Greis... Jetzt erschienen Tiergesichter: das Antlitz eines
Löwen, ... ein Schakal – es wandelte sich in einen wilden Hengst – wurde vogelartig –
dann wie eine Schlange28; Patera war überall, ich sah ihn im Auge des Freundes wie des
Feindes, in Tieren, Pflanzen und Steinen. Seine Einbildungskraft pochte in allem, was da
war: Der Herzschlag des Traumlandes.29
Diese Polymorphie weist auf die Natur des griechischen Gottes Zeus hin, der die integrale Kraft, die Kraft des Apollinischen, aber auch des Dionysischen hat; die Polymorphie weist aber auch auf die Tatsache hin, dass Kubin in Patera alle GötterArchetypen und seelischen Kräfte mit hinein schließen wollte. Außerdem spricht
Kubin von dem sexuellen Archetypus, dem Männlichen und dem Weiblichen, und
von dem Wandlungsarchetyp, der die drei fundamentalen Archetypen enthält: puer
– das Kind, den Vater, und senex – den alten Weisen. Diese Bilder sind somit im
Bild Pateras eingeschlossen, der auf diese Weise vielmehr eine Art Bild des kollektiven Unbewussten darstellt, wie etwa Meyrinks Golem, als Bild des Selbst, d.h. des
22
Ibid., S. 110.
23
Ibid., S. 189.
24
Ibid., S. 186.
25
William Blake, „Annotations to Berkeley’s Siris“ (1820), BW, S. 775.
26
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 110.
27
Jean Chevalier und Alain Geerbrant, Dicţionar de Simboluri, Bd. 2, S. 105.
28
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 110.
29
Ibid., S. 137.
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inneren Meisters (im Sinne C. G. Jungs). Vielleicht sind die Züge des inneren Meisters, die man im Bild Pateras bemerken kann, ein Anlass für Kubin, von diesem Bild
ein zweideutiges Symbol zu schaffen: ein einheitliches Symbol des Selbst und gleichzeitig des kollektiven und individuellen Unbewussten. Überdies scheint mir das Bild
Pateras mit dem von Blakes Urizen verbunden: wie Urizen, ist Patera eine göttlichpsychische Struktur, die eine Welt aus Verzweiflung geschaffen hat:
ich war verzweifelt, da baute ich mir aus den Trümmern meines Gutes ein Reich. – Ich
bin der Meister.30
Allerdings ist das Schaffen aus Trümmern ein alchemistischer Prozess; und dasselbe
ist bei Blake zu finden in Urizen und den anderen Zoa. Kubin verkündigt dementsprechend mit dem Bild Pateras, wie Blake mit den vier Zoa als dramatischen psychischen-kosmischen Kräften, eine Philosophie der existenziellen Verzweiflung, aber
auch einen möglichen Weg zur ontischen Undeterminiertheit des Geistes, dem Ziel
aller romantischen Bestrebung, wie Novalis verkündet hatte.
Bei Blake sind besonders Urizen (das negative Bild eines Zoa) und Los (das integrative Bild eines Zoa, das alles in sich enthält) die dramatischsten kosmischen Gestalten. Bei Kubin ist der negative Archetyp des Schattens der reiche Amerikaner
Herkules Bell: er ist auf einem schwarzen Hengst31 (Symbol des Chthonischen) dargestellt und verkörpert das Bild des Widersachers, „den geschworenen Feind
Pateras“32, d.h. eben die Funktion des Schattens in Jungs System; er ist das Bild des
Rebellen, der das Chaos auslösen will (genau wie Urizen), um eine Revolution zu
machen (genau wie Blakes Orc), durch die die Beseitigung Pateras ermöglicht sei33
(Blakes Urizen wird ja von Los – der Imagination oder Einbildungskraft – verkettet).
Bell behauptet in seiner „Proklamation“ u.a.:
Ihr seid einer Massenhypnose verfallen!34 ... Der Bann ist abzuschütteln! Ihr braucht nur
ernsthaft zu wollen und ihr seid frei! Schart euch um mich, bildet Bataillone und stürmt
den dreimal verfluchten Palast35 ... Ich setze einen Preis von einer Million Gulden auf
das Haupt dieses Satans ... Der Palast ist zusammengeflickt aus Trümmern von Stätten,
die der Schauplatz blutiger Verschwörungen und Revolutionen waren. Patera ging beim
Sammeln bis auf die ältesten Zeiten zurück36. Bruchstücke vom Escorial, von der Bastil-
30
Ibid., S. 111.
31
„Jeden Nachmittag galoppierte er auf einem schwarzen Hengst durch die lange Gasse“, Alfred Kubin,
Die Andere Seite, S. 147.
32
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 145.
33
Siehe Herkules Bells Proklamation (Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 153 u. ff.).
34
Das ist m.E. Bells Bezeichnung für Religion.
35
Pateras Palast; das „dreimal“ weist auf die christliche Dreifaltigkeit hin.
36
Das ist ein Hinweis auf den Gott des Alten Testaments; siehe Blakes Ancient of Days, d.h. Gott des
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Kubin und das Weltbild der ‘anderen Seite’: der Kosmische Mensch als coincidentia oppositorum
le, von altrömischen Arenen wurden zu seinem Bau verwandt, Steinblöcke ... vom Vatikan und vom Kreml sind auf sein Anstiften gestohlen ... Wo es menschliches Unglück
gab, dahin streckte euer Meister seine Fühler ... / Bürger! Nun, da ich euch die Augen
geöffnet habe37, schließt sie nicht wieder! Noch einmal fordere ich euch alle auf, den
Sturz dieser Bestie zu beschleunigen ... Hüte sich jeder vor dem Schlaf! Das ist die Zeit,
in welcher der Herr euch knechtet!38 In der Ohnmacht des Schlafes seid ihr ihm ausgeliefert, da bläst er euch seine tückischen Ideen ein, erneuert und verstärkt er täglich
seinen infernalischen Bann und zerstört euren Willen ... / Die große Welt da draußen hat
einen Riesenschritt dem Lichte der Zukunft entgegen getan! Ihr seid zurückgefallen und
hockt in einem Sumpf ... Nieder mit Patera! sei euer Schlachtruf! / Werdet alle Söhne
Luzifers!39.
Dieser Diskurs hat Ähnlichkeit mit den Diskursen von Miltons Satan, der die Verbände von gefallenen rebellierenden Engeln gegen Gott aufhetzt. Kubins Bell ist
deswegen „romantisch“: er verkündet die Ideale der Französischen Revolution:
„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, und dazu „Gesellschaft, Wissenschaft,
Recht“40. Kubin erklärt:
Jahrelang trieb sich der Sonderling [Herkules Bell] auf allen Meeren und in allen Gegenden der Welt herum, um das Traumreich zu suchen ... / Zwar protestierten die chinesischen Gesandten bei allen Mächten gegen diese offenkundige Verletzung der Grenze
des himmlischen Reiches, doch da war es bereits zu spät und die bezopften Herren mußten sich zurückziehen. / Man kannte zwar die Lage des Traumreiches ziemlich genau
nach Karte, zur Vorsorge sollte der Bote des Amerikaners die Truppen führen41; Ganze
Nächte wälzte er sich im Bett und zergrübelte sein Hirn nach einer Rache an dem Unsichtbaren.42
Das erinnert eben an die Reisen Satans in Miltons Dichtung, um die Erde und das
Paradies zu finden. Kubin aber erzeugt ein ironisches Bild von Herkules Bell:
Die Proklamationen verfehlten ihren Zweck, denn noch während des Lesens gähnten die
Leute.43
Außerdem deutet der Name Bell auf das lateinische bellum – Krieg hin, so dass er
eigentlich den Kampf/Krieg zwischen dem Guten und Bösen versinnbildlichen kann,
auch wenn Kubins Herkules Bell als Bild des Widersachers unwirksam ist. Das Kubinsche Traumreich ist, wie Meyrinks Prager Ghetto, im eigenen System eingesperrt:
Alten Testaments, der zornige Gott der Rache (cf. lex talionis als das Gesetz der Bestrafung).
37
Siehe den biblischen Satan, der die Augen Adams und Evas „öffnet“.
38
Anspielung auf die prophetischen Träume, die der biblische Gott seinen Auserwählten schenkt.
39
Alfred Kubin, Die Andere Seite, SS. 154-156.
40
Ibid., S. 156.
41
Ibid., SS. 161-163.
42
Ibid., S. 166.
43
Ibid., S. 168.
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Das Reich wird durch eine Umfassungsmauer von der Umwelt abgegrenzt und durch
starke Werke gegen alle Überfälle geschützt. Ein einziges Tor ermöglicht den Ein- und
Austritt und macht die schärfste Kontrolle über Personen und Güter leicht.44
„Die schärfste Kontrolle“, von der Kubin spricht, definiert die unbesiegbare Exaktheit der mechanistischen, deterministischen und prädeterministischen Weltanschauung:
Wie aus Urzeiten kam diese Frage her, vor Billionen von Jahren mußten diese Worte gesprochen worden sein, und jetzt erst brachte ich sie hervor, heute hörte man sie hier.45
Das ist ein Beweis dafür, dass man bei Kubin die Keime des archetypischen Denksystems, der archetypischen Hypothese finden kann. Das erinnert uns an Novalis’
Idee, dass das, was wir jetzt, in der Gegenwart, machen, wir auch schon lange vorher
getan haben. Kubin behauptet tatsächlich, dass „jeder Mensch, der bei uns Aufnahme findet, durch Geburt oder ein späteres Schicksal dazu prädestiniert ist“46. Die
ontische Sperre also ist auf temporaler (das Prädestinieren-Prädeterminieren) wie
auf räumlicher Ebene aktiv (der Zustand des psychischen Eingeschlossenseins; im
Traumland spricht man von einem psychischen Raum, von einer psychischen Architektonik). Die Architektur des Traumreiches und von Perle, der Hauptstadt des
Traumreiches, hat viel Ähnlichkeit mit Meyrinks Prager Ghetto: beide scheinen das
kollektive Unbewusste darzustellen.
[D]er Himmel... war ewig trübe; nie schien die Sonne, nie waren bei Nacht der Mond oder Sterne sichtbar. Ewig gleichmäßig hingen die Wolken bis tief zur Erde herab... das
blaue Firmament war uns allen verschlossen47; überall lebende Schatten und Gespenster. / Immer wieder war es die undefinierbare Substanz, man roch und fühlte sie
schließlich mit dem ganzen Körper ... die Stadt war wie gewöhnlich tot, leer, träge48.
Die Kubinsche Einsperrung, die eine klare Dualität festsetzt, ist Meyrinks obsessiver
menschlicher Zustand des Eingeschlossenseins: der Mensch ist in der zyklischen
Materialität eingesperrt (wie dies etwa bei Blakes Urizen der Fall ist), und muss sich
befreien, indem er die geistige Linearität der sakralen Geschichte wahrnimmt und
erlebt. Darum spricht Meyrink immer von Sackgassen, von labyrinthischen Wegen,
vom Fenster ohne Zugang, die uns an Piranesis Carceri erinnern (so auch bei Kubin:
„Hier war kein weiterer Ausgang, hier war das Ende“49): all diese Bilder sind Symbole des zyklischen-kreisförmigen Eingeschlossenseins.
44
Ibid., S. 11. Siehe auch Gustav Meyrink, Das Grüne Gesicht, S. 109.
45
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 190.
46
Ibid., S. 12.
47
Ibid., S. 51.
48
Ibid., S. 84. Kubin bezeichnet das Traumland als „gespenstisches Reich“ (ibid., S. 129).
49
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 109.
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Kubin und das Weltbild der ‘anderen Seite’: der Kosmische Mensch als coincidentia oppositorum
Im oben zitierten Beispiel beschreibt Kubin den Weg des Helden bis zu Pateras
Zimmer: es ist ein psychischer Aufstieg:
Immer höher hinan stieg ich ... Um mich war alles totenstill... Ich öffnete riesige weiße
Flügeltüren und durchwanderte eine Flucht von großen Gemächern... Als ich die endlose
Reihe von Hallen und Gemächern durchschnitten hatte, gelangte ich in eine unabsehbare Galerie, die scheinbar zurückführte... Ganz am Ende war ein niedriges Pförtchen,
das ich vorsichtig öffnete... Das Zwielicht machte dieses Zimmer undeutlich... Hier war
kein weiterer Ausgang, hier war das Ende... Hier war nichts – es war so still wie in einer
Gruft.50
Diese komplizierte Architektur Kubins ist mit den labyrinthischen Beschreibungen
Meyrinks und der komplizierten Geographie der inneren psychischen Welt des Menschen, so wie sie die Romantiker beschrieben, verbunden. Außerdem, wie oben bemerkt, steht diese Struktur wahrscheinlich auch mit der, die Piranesi in seinem
Werk geschaffen hat, in Verbindung. Piranesis Carceri d’inventione (1745) wurde
den englischen und französischen Romantikern zum Sinnbild der Verstörung des
Ich im phantasmagorischen Raum, so wurde Piranesi zum romantischen Mythos51.
In den Interieurs der Gefängnisse der Phantasie gibt es riesige Gewölbefluchten,
und ein Gewirr von Treppen, Galerien (so wie bei Meyrink und Kubin) und Brücken
durchzieht gigantische, hohe Räumlichkeiten52 (wie etwa auch in Kubins Beschreibung von Pateras Riesengebäude). Bei Piranesi enden Treppen und Aufgänge
abrupt (wie in Kubins oben zitierter Beschreibung), Balken stehen abgeschnitten im
Raum. So wurden die <Carceri> zum phantastischen Palast-Modell für Coleridges
Kubla Khan, und sie stellen bis zu einem gewissen Grad die Verstörung der Wahrnehmung dar. Piranesi gab in diesem Sinne das Prinzip der Zentralperspektive auf:
es gibt bei ihm mehrere Blickpunkte; er schachtelte verschiedene perspektivische
Ebenen aufs Blatt, so dass der Blick des Beobachters an keinem Punkt zur Ruhe
komme (so Hölderlins romantische lebendige Ruhe und unendliche Perspektive),
das Auge gleitet beständig vom gerade Gesehenen ab, Balken, Treppen, Gewölbe
verwirren sich untereinander und gestalten einen Irrgarten, der ein haltloses
Schweifen des Blickes erzeugt, das die typische phantastische Unsicherheit dar53
stellt
Dieses . Phänomen der Unsicherheit als numinoses Element erscheint auch bei Kubin; für Kubin ist die Gewissheit-Ungewissheit-Dialektik/-Dualität vollständig:
50
Ibid., S. 109.
51
Cf. L.G. Keller, Piranèse et le romantique francais. Le mythe des escaliers en spirale, apud Sabine
Kleine, Häßliche Träume, Literarische Phantastik und das anti-ästhetische Projekt der Moderne, S. 25.
52
Cf. Alex. Kupfer, Piranesis <Carceri>. Enge und Unendlichkeit in den Gefängnissen der Phantasie,
apud Sabine Kleine, op. cit., S. 25.
53
Sabine Kleine, op. cit., SS. 25-28.
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Es gibt keine Gewißheiten, denen nicht Ungewißheiten gegenüberständen! Das Gewirr
ist endlos.54
Das abrupte Enden der Treppen und Aufgänge sind auch mit Meyrinks Motiv des
Zimmers ohne Zugang verbunden. Es gibt aber einen Unterschied: bei Meyrink wird
dieses Zimmer erreicht nur nach dem Abstieg in die Dunkelheit eines aus einem Keller mündenden Schachtes, wohingegen bei Kubin sie vom Helden nach einem Aufstieg erreicht wird. In diesem Sinne, findet man ja bei Piranesi das Motiv des Aufstiegs, der abrupt endet. Das bedeutet Folgendes: Meyrink spricht im wesentlichen
vom kollektiven Unbewussten, zu dem man durch ein Hineinsinken in das nächtlich
Sakrale gelangt; Kubin, auf der anderen Seite, spricht von dem Abstieg ins Traumland als das kollektive Unbewusste, aber nach diesem Abstieg findet der Aufstieg bis
zum Selbst statt: das ist eben das Ziel des Kubinschen Werkes. Der Archetyp des
Aufstiegs tritt auch bei Meyrink auf: am Ende begegnet man dem Bild des Hermaphroditen, wie bei Kubin. Das ist das Ziel des alchemistischen Werkes, und das ist
Kubins philosophisches Weltbild der „anderen Seite“: die Quintessenz des Menschen
ist die alchemistische coincidentia oppositorum.
Auf jeden Fall weisen Meyrinks Bild des „Zimmers ohne Zugang“ und Kubins „Hier
war kein weiterer Ausgang, hier war das Ende“ auf die Unmöglichkeit hin, vom
menschlichen Standpunkt die absolute Erkennbarkeit zu erreichen: für den Menschen wird es immer eine kognitive Grenze geben; die Tiefe der göttlichen und die
der psychischen Geheimnisse sind letztendlich unergründlich. Dadurch erfüllen paradoxerweise sowohl Meyrink als auch Kubin das romantische Programm: auf kognitiver und ontischer Ebene muss das Streben des Menschen nach dem Absoluten
ewig sein.
Im Zustand des Meyrinkschen Eingeschlossenseins kämpfen auch die Helden Kubins, der den paradoxen Zustand der dualen Wirklichkeit versteht:
Normalleben und Traumwelt sind vielleicht Gegensätze und eben diese Verschiedenheit
macht eine Verständigung so schwer.55
Die Verschiedenartigkeit, die Grenze, die Differenziertheit ist für Kubin die Ursache
des menschlichen Dramas: Geist und Materie sind so weit voneinander entfernt,
dass der Mensch eine lange Reise nach Innen durchmachen muss (so Novalis: „Nach
Innen geht der geheimnissvolle Weg“), um die Verbindung mit dem Göttlichen wiederherzustellen. So sagt Kubin:
zum Wesen des Traummenschen gehört es ja gerade, dass er in die Tiefe strebt. Alles ist
auf ein möglichst durchgeistigtes Leben angelegt.56
54
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 187.
55
Ibid., S. 12.
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Kubin und das Weltbild der ‘anderen Seite’: der Kosmische Mensch als coincidentia oppositorum
Das ist paradoxerweise ein romantisches Programm: das Grundelement der romantischen Theorie ist Schlegels Idee, dass „romantisch“ die Neigung zu einem „unendlichen Sinn“ bedeutet57. Schlegels unendlicher Sinn ist ein anderer Ausdruck für Kubins In-die-Tiefe-Streben.
Kubin versteht aber die gegensatzlose Natur des Traumlandes als hyper-schnelle
Abwechslung von oppositiven Zuständen (so ein ähnliches Phänomen in der Mystik:
dieser Prozess weist auf den Zustand des individuierten-vergöttlichten Menschen
hin, für den das Göttliche und das Irdische im Bewusstsein unendlich schnell alternieren58):
Der Wechsel von Glück und Unglück, Armut und Reichtum war ein viel rascherer wie in
der übrigen Welt. Fortwährend überstürzten sich die Geschehnisse.59
Das bedeutet, dass im Traumland, so wie in Blakes Beulah, die Assimilierungsprozesse des Bewusstseins, d.h. des Zentrums der Psyche, bis zum Extrem gesteigert
sind (daher die Sinnesschärfe, die für solche Denksysteme wie Kubins, Meyrinks, E.
A. Poes oder Blakes charakteristisch ist): im onirischen Gebiet assimiliert das Selbst
die Inhalte des Unbewussten, und das heißt Individuation. Kubin erläutert hinsichtlich der Natur des Traumlandes:
Hier waren Einbildungen einfach Realitäten. Das wunderbare dabei war nur, wie solche
Vorstellungen in mehrere Köpfen zugleich auftraten.60
Dieses Phänomen weist allerdings auf Jungs Entdeckung hin: das kollektive Unbewusste, durch das alle Menschen verbunden sind.
Als ordnendes Prinzip gilt für Kubin eine „starke Hand“ (die Hand des unsichtbaren
Patera). Diese ist Jungs Bild des Selbst. Das Ich wird vom Unbewussten her (vom
Selbst) überwacht, korrigiert61, geleitet und befruchtet62: diese Funktionen versucht
auch Kubins Patera zu übernehmen. Patera ist also das Bild des Selbst im Un-
56
Ibid., S. 12.
57
Cf. Fr. Schlegel, Jugendschriften, II, 370-372, 364, apud Arthur O. Lovejoy, <Schiller and the Genesis
of Romanitcism, Part II>, S. 140.
58
Sergiu Al.-George, Limbă şi gîndire in cultura indiană, SS. 187-188.
59
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 60.
60
Ibid., S. 62.
61
Diese Funktion spiegelt sich im folgenden Zitat wider: „Pateras Art blieb unergründlich, ebenso
unverständlich wie die Macht, die uns im Traumlande zu Marionetten machte ... Woher beasaß er diese
maßlosen Energien?“ (Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 134). Dieses Phänomen weist auf die Tatsache
hin, dass das Unbewusste über numinose Kräfte verfügt, die das Bewusstsein verschlingen kann. Das ist
die negative Richtung im Individuationsprozess.
62
Willy Obrist, Archetypen, S. 205.
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413
Mihai A. Stroe
bewussten:
Fortwährend überstürzten sich die Geschehnisse. Aber ging auch alles noch so sehr
drunter und drüber, man fühlte eine starke Hand. Hinter den scheinbar unbegreiflichsten Zuständen witterte man ihre verborgene Kraft. Sie war die geheimnisvolle
Ursache, daß sich dabei alles halten konnte und nicht ins Bodenlose stürzte63. Es war
das große Schicksal, das über uns allen wachte64. Eine ungeheuerliche, bis ins Verborgene dringende Gerechtigkeit65, glich alle Ereignisse immer wieder aus. War ein
Mensch verzweifelt, sah er vor Not keinen Ausweg mehr, so sandte er sein innerstes
Gebet66 an diese Adresse. Jene schrankenlose Macht, voll furchtbarer Neugier, ein
Auge67, das in jede Ritze drang, war überall gegenwärtig68; nichts entging ihm. Im
Glauben daran war der Traummensch ernst, alles übrige war vergänglich.69
Kubins Philosophie wird vom Friseur des Traumstaates zusammengefasst:
Kant, das ist der große Fehler ... So einfach segelt man um das Ding an sich nicht herum!
Vor allem ist die Welt ein ethisches Problem ... der Raum wirbt um die Zeit; der Vereinigungspunkt, die Gegenwart, ist der Tod; oder ... die Gottheit ... Mitten hineingestellt,
das große Wunder der Fleischwerdung: das Objekt. Dieses wiederum nichts anderes als
die Außenseite des Subjekts.70.
Kubin betrachtet also Raum und Zeit als mit dem männlichen und dem weiblichen
63
Die zentripetale Kraft des Selbst im Unbewussten.
64
Diese Funktion des Selbst im Unbewussten hat G. C. Jung entdeckt (deswegen bezeichnete er das
Selbst als inneren Meister).
65
Siehe die Idee des tao, artha, themis, rita: alle bedeuten Gesetz, das himmlische Vorbild der Gerechtigkeit, nach dem die menschliche Gerechtigkeit aufgebaut ist. Das Gesetz ist eine ursprüngliche Hierophanie, die in illo tempore Offenbarung der Normen der Existenz. Dem Gesetz gehorchen bedeutet
leben in Übereinstimmung mit den Archetypen (Mircea Eliade, Mitul Eternei Reîntoarceri, S. 36ff.). Jung
zeigt, rita bedeutet für die Inder stabile Ordnung, göttliches Gesetz, Recht, Wahrheit, moralisches Gesetz:
das sind Pateras Funktionen in Kubins Roman. Für die Chinesen bedeutet tao Prinzip, Naturkraft, Lebenskraft, gesetzmäßige Naturprozesse, Welt, Ursache der Pänomene, Recht, Güte, moralische Ordnung
der Welt, Gott (stofflich wie Rita-Brahman-Atman), Kraft der Seele, primitiver Begriff von Energie (Wuwei bedeutete nichts machen, nicht agieren, denn machen war nicht der Weg, der zu dao führte) (C. G.
Jung, Tipuri Psihologice, SS. 226-237). Diese sind auch Pateras Attribute. Durand unterstreicht außerdem, dass Rita der Inder, tao der Chinesen und moira der Griechen Versinnbildlichungen sind, die den
vorwissenschaftlichen Begriff von kosmos vorbereiten, sowie den modernen wissenschaftlichen Begriff
vom Weltall, der sich auf die Idee des Gesetzes und auf die Bewusstmachung einer logischen Vernunft des
Universums stützt (Gilbert Durand, Structurile Antropologice, S. 298).
66
Das innerste Gebet deutet auf den Begriff vom inneren Meister hin.
67
Das Auge des Bewusstseins (das ordnende Selbst), wie z.B. der ägyptische Gott Horus als Sohn von
Osiris und Isis.
68
Das ist die Omnipotenz des Selbst im Unbewussten, das das Ich als Kind betrachtet, das spirituell
wachsen muss (der Pfad der Individuation ist dem Menschen innewohnend).
69
Alfred Kubin, Die Andere Seite, SS. 60-61.
70
Ibid., S. 67.
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Kubin und das Weltbild der ‘anderen Seite’: der Kosmische Mensch als coincidentia oppositorum
Prinzip vergleichbar. In diesem Sinne können, nach Jungs tiefenpsychologischer
Theorie, alle Phänomene durch den Archetypus der sexuellen Zweizahl, das Männliche und das Weibliche, dargestellt werden. Jung behauptete, dass der ursprüngliche Gegensatz zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen, d.h. den höchsten
Gegenteilen, symbolischerweise alle möglichen Gegenteile darstellt, weil die Wirklichkeit eine dialektische Tiefenstruktur hat.
Blake glaubte in diesem Sinne, dass der Geist gleichwertig mit dem Männlichen und
dem Zeitlichen ist, und die Materie-Erde mit dem Weiblichen und dem Räumlichen.
Für Kubin ist der Vereinigungspunkt zwischen Raum und Zeit, d.h. die Gegenwart,
der Tod oder die Gottheit. Diese Auffassung enthält Nietzsches Nihilismus (die Entsprechung, die Kubin zwischen Tod und dem Göttlichen feststellt, aber auch seine
Bemerkung: „Lieber gar nicht existieren, als ein Narr unter Narren sein“71; diese letzte Idee weist auf Erasmus’ Denken hin). Das aber weist auch auf eine romantische
Notwendigkeit hin: wenn die Vereinigung (alchemistische Hochzeit) völlig ist, ist das
Ergebnis Tod.
Ebenso sprechen Schlegel und Schiller von der unaufhörlichen „Annäherung zu einer unendlichen Größe“72. Diese Idee stammt paradoxerweise aus Kants Ethik: das
moralische Ideal (und Kubin spricht von der Welt als einem ethischen Problem) ist
ein ewiges Suchen nach einem Ziel, das ewig unerreichbar ist. Fichte hat diese Idee
in ein metaphysisches Prinzip umgewandelt; Fichte stellte die Natur der ganzen Existenz als unendliches, unlöschbares Trachten nach einem Absoluten Ich dar. Die
physische Welt war, in Fichtes Anschauung, anfänglich ein Hindernis eben für die
Tätigkeit der physischen Welt selbst. Aber die physische Welt triumphiert allmählich, doch stets, über dieses Hindernis73. Die Romantik spricht also vom Unendlichen, vom Werden, vom unerreichbaren Ideal, von der unendlichen Sehnsucht.
Diese Elemente sind in Kubins Ansicht eingeschlossen, da, wenn er Vereinigung
dem Tod gleichsetzt, er auch die romantische Notwendigkeit des ewigen Strebens
nach Vereinigung und des ewigen Unerreichbarseins der absoluten Vereinigung verkündet; sonst würde alles in diesem absoluten Vereinigungspunkt wieder in einen
präkosmogonischen Zustand versetzt (das absolute Null). Blake: „Without Contra-
71
Ibid., S. 126.
72
Arthur O. Lovejoy, <Schiller and the Genesis of Romanticism, Part II>, S. 141.
73
Bloom bemerkt, Blake betrachte die Erde als „Hindernis, nicht Tätigkeit“ (hindrance, not action), das
beseitigt wird, so dass der Dichter nicht mehr mit seinen Augen, sondern durch seine Augen sieht (cf.
Harold Bloom, „John Clare: The Wordsworthian Shadow“, in The Visionary Company, 1962, apud Mark
Storey, Hrsg., John Clare, The Critical Heritage, S. 438). Der Dichter, anders gesagt, vergeistigt die Welt
(er projiziert das Gottesbild und das Bild des Paradieses auf das Weltbild).
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415
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ries is no progression“74; Heraklit: „der Krieg ist der Vater aller Dinge“. So muss die
Wirklichkeit auch nach Kubin ein ständiges Fluktuieren sein, damit sie nicht sterbe.
Nur durch dieses ständige Fluktuieren kann es Leben geben, da im Fluktuationszustand75, also in der „Spaltungsepoche“ (dem „Übergangszeitalter“ der
Romantiker), von der die Chaos-Theorie spricht, die chaotischen Attraktoren auftreten, die den Übergang von einem stabilen System zu einem anderen ermöglichen,
sie ermöglichen also selbst die Bewegung. Außerdem ist die Fruchtbarkeit des
Menschen nichts anderes als der Urtrieb (die psychische Energie) des Dings an sich,
sich in der materiellen Welt zu manifestieren: „Die Liebe des Fleisches ist nichts als
der Wille des Dings an sich, in die Zeitlichkeit einzudringen“76.
Das Menschenbild Kubins enthält aber auch eine traditionelle christliche Dimension: der Mensch muss eben wie Bunyans Christian „die Last des lebendigen Fleisches
schleppen“77. Der Schmerz verbindet den Menschen mit dem Göttlichen, denn durch
Schmerz wird der Mensch zum Schöpfer, also gottgleich:
im nächsten Jahre produzierte ich unter dem Drucke des Schmerzes78 meine besten Sachen. Ich betäubte mich im Schaffen.79
Kubins Held scheint im Traumland die Rhythmen des Lebens assimiliert zu haben:
Hier versuchte ich unmittelbar neue Formgebilde nach geheimen mir bewusst gewordenen Rhythmen zu schaffen ... Ich verzichtete auf alles bis auf den Strich und
entwickelte in diesen Monaten ein seltsames Liniensystem80. Ein fragmentarischer Stil,
mehr geschrieben wie gezeichnet drückte es [...] die geringsten Schwankungen meiner
Lebensstimmung aus. – <Psychographik>81 nannte ich dieses Verfahren.82
Das Fragmentarische weist natürlich auf das Romantische hin. Außerdem glaubt
Kubin zweifellos wie Blake:
Die Welt ist Einbildungskraft, Einbildung – Kraft.83
74
William Blake, The Marriage of Heaven and Hell, Tafelbild 3, BW, S. 149.
75
Man kann auch von einem Fluktuationszustand im Vereinigungspunkt sprechen, wenn die Vereinigung
immer danach strebt, absolut zu werden, aber dieses Ziel nie absolut erreicht, wie die Lehre der Romantiker verkündigt.
76
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 219.
77
Ibid., S. 126.
78
Kubins Held spricht von dem Schmerz, den das Eingeschlossensein hervorbringt.
79
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 128.
80
Siehe Blakes Ontologie der Linie: das ist ein archetypisches Schaffensystem.
81
William Blakes Methode kann auch als Psychographieren bezeichnet werden.
82
Alfred Kubin, Die Andere Seite, SS. 128-129.
83
Ibid., S. 136.
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Kubin und das Weltbild der ‘anderen Seite’: der Kosmische Mensch als coincidentia oppositorum
I know that This World Is a / World of Imagination & Vision. I see Every thing I paint In
This / World, but Every body does not see alike ... To Me This World is all One continued
/ Vision of Fancy or Imagination.84
Die Welt ist für Kubin wie „ein teppichähnliches Farbenwunder85, die überraschendsten Gegensätze alle in einer Harmonie aufgehend86 [...] In der Finsternis87
umrauschte mich eine Orgelsymphonie von Tönen, worin sich pathetische und zarte
Naturlaute zu verständlichen Akkorden ergänzten [...]“88. Der Mensch ist „wie das
Zentrum eines elementaren Zahlensystems“89, ein „schwankender Gleichgewichtspunkt von Kräften90 – ein Gedankengang“91. „In mir war ein Tribunal, das alles beobachtete“92. Die menschliche Psyche ist, wie Pateras Natur, polymorph, und diese
Struktur erinnert uns an Peter Ouspenskys Bild der zusammengesetzten menschlichen Psyche: Ouspenskys unzählige Ichs, welche nur Komponenten des großen
Ichs sind:
Kubin: „Da fand ich ... , dass mein Ich aus unzähligen <Ichs> zusammengesetzt war, von
denen immer eines hinter dem andern auf der Lauer stand“.
Bis zu einem gewissen Grad ist in diesem Zusammenhang Kubins Denksystem mit
Blakes identisch: Blake spricht auch von psychischen Kräften, die gegeneinander
kämpfen, und durch ihren Kampf die Fragmentierung des Menschen verursachen.
Die Erlösung des Menschen und des Kosmos im allgemeinen bedeutet eben das „goldene“, d.h. lebendige, Gleichgewicht des Fragmentierten wieder gewinnen. Für Kubin, wie für Blake, ist die menschliche Psyche unergründlich, auch wenn fragmentiert:
Jedes folgende [Ich] erschien mir größer und verschlossener; die letzten entschwanden
meinem Begreifen im Schatten. Jedes dieser Ichs hatte seine eigenen Ansichten. So war
zum Beispiel vom Gesichtspunkt des organischen Lebens die Auffassung des Todes als
84
Cf. William Blake, „Letter To Dr. Trustler, 23 August 1799“, BW, S. 793.
85
Siehe die kosmogonische Funktion der Farbe bei Novalis, aber auch Tennysons Idee der Welt als „teppichähnliches Farbenwunder“ im Gedicht „The Lady of Shalott“.
86
Das ist offensichtlich eine Heraklitische-Blakesche Weltanschauung.
87
D.h. im Unbewussten/Traumland.
88
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 136.
89
Diese Anschauung beweist noch einmal, wie ich bereits bemerkte, dass die archetypische Hypothese
bei Kubin präsent ist.
90
Siehe die Chaos-Theorie und Prigogines Wissenschaft der schwankenden dissipativen Systeme: alles
entwickelt sich nach dem folgenden archetypischen Schema: Unordnung-Ordnung-Unordnung-höhere
Ordnung, usw., ad infinitum. Für Details siehe Mihai A. Stroe, Romantismul german şi englez. Ştiinţa
arhetipurilor, ipoteza interfinitudinii şi numărul de aur.
91
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 136.
92
Ibid., S. 137. Das Tribunal ist das Bild des Bewusstseins.
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Mihai A. Stroe
Ende richtig, auf einer höheren Stufe der Erkenntnis gab es den Menschen überhaupt
nicht, da konnte nichts zu Ende sein.93
Kubin nimmt eigentlich vorweg, was die Chaos-Theorie entdeckt hat (alles entwickelt sich nach dem archetypischen Schema: Unordnung-Ordnung-Unordnunghöhere Ordnung, ad infinitum, d.h. Chaos/Leere – Kosmos/Fülle – Chaos/Leere –
höhere Fülle/höherer Kosmos, usw.). Seine kosmogonische Auffassung fasst er zusammen:
Das Nichts war starr und wollte nicht, dann fing die Einbildungskraft94 an zu summen
und zu schwirren95, und in allen Skalen formte, tönte, roch und färbte es sich – da war
die Welt da. Aber das Nichts fraß alles Geschaffene wieder auf, da wurde die Welt matt,
fahl, das Leben verrostete, verstummte und zerfiel, war wieder tot – nichts – ; und wieder fing’s von vorne an. So war’s erklärlich, warum sich alles ineinander fügte, ein Kosmos möglich war. Das alles war furchtbar mit Schmerz durchwebt96. Je höher man
wuchs, desto tiefer mußte man wurzeln97. Will ich Freuden, dann will ich zugleich
Leid98. Nichts – oder alles. In der Einbildungskraft und dem Nichts mußte der Urgrund99 liegen; vielleicht waren sie eins.100
Im dritten Teil des Romans schildert Kubin den Untergang des Traumreiches. Zuerst führt er das Bild des Widersachers (Herkules Bell) ein, und dann beschreibt er,
wie eine Tierinvasion im Traumland durchgeführt wird, so dass die Traumstadt zum
„Tierparadies“101 wird (so im berühmten Film „Jumanji“). Die Invasion der Tiere
bedeutet im Jungschen Sinne das Eindringen des Unbewussten in das Bewusstsein:
Perle schlief. Dieser Zustand vollständiger Bewußtlosigkeit mag sechs Tage gedauert haben [...] In dieser Zeit soll in der ganzen Stadt ein einziger Mensch nicht oder doch nur
ganz kurz geschlafen haben: der Amerikaner![...] das Merkwürdigste war, daß Tiere gegen Schlafsucht unempfindlich blieben [...] Die Traumstadt wachte auf und fand sich –
93
Ibid., S. 137.
94
Siehe Blake, die Imagination als kosmische ursprüngliche Allmacht, als Los oder Jesus Christus.
95
Das phonische Element als kosmogonische Urkraft hat Kubin wahrscheinlich aus der indischen Philosophie entlehnt.
96
Der kosmogonische Schmerz weist auf das Bild des patibilis deus hin (wie bei Blake): der Schöpfer
opfert sich schon seit Anbeginn der Welt; siehe die christliche Tradition: das Lamm wurde seit Anbeginn
der Welt geopfert. Ohne Opfer kann es keine Schöpfung geben, Schöpfung heisst Schmerz, Opfer.
97
Dieses Phänomen deutet auf die archetypische Hypothese hin.
98
Diese Dialektik der Freude und des Schmerzes ist für Blake fundamental.
99
Eine ähnliche Weltanschauung bei Blake; der Unterschied ist der folgende: für Blake gibt es kein Nichts
(das erscheint nur als Reflex der Negierung in dem, was Blake als Udan Adan bezeichnet, d.h. the lake of
spaces), das Leben kann nicht verlöschen, und dazu gab es seit jeher die Unsterblichen, the Immortals:
diese bestehen seit immer und sind nicht kreiert, sie sind himmlische Überwesen.
100
Alfred Kubin, Die Andere Seite, SS. 137-138. Die Einheit des Nichts und des Göttlichen ist Jakob
Böhmes apophatische Doktrin.
101
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 171.
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Kubin und das Weltbild der ‘anderen Seite’: der Kosmische Mensch als coincidentia oppositorum
in einer Art Tierparadies. Während unseres langen Schlummers hatte sich eine andere
Welt derartig ausgebreitet, daß wir in ernstester Gefahr schwebten, verdrängt zu werden,
die Tierwelt102; Es war rätselhaft, woher dieser überschwengliche Reichtum an Tieren
kam. Sie waren eigentlich Herren der Stadt und hielten sich augenscheinlich auch dafür.103
In diesem Sinne hatte Jung gewarnt, dass eine Invasion des Unbewussten immer ein
überwältigender Prozess ist. (Kubin bemerkt: „Kein menschliches Wesen konnte
sich dem elementaren Trieb entziehen.“104) Während solch einer Invasion kann das
Bewusstsein buchstäblich ertränkt werden, da die archetypischen Kräfte des Unbewussten ganz groß und unvorhersagbar sind. Kubin beschreibt dieses Phänomen:
„der große Tempel war in dem See verschwunden [...] Die Leiche des ehrwürdigen
Oberpriesters spülten die Wellen ans Land, alles übrige fand im Traumsee sein
Grab“105.
Die Kubinschen Tiere stellen auf diese Weise psychische Urkräfte dar, die lange Zeit
geschlafen haben; sie sind schwach differenzierte, ursprüngliche, primitive, vitale
Kräfte, die die Wurzel des Unbewussten darstellen. Sie sind der Kode des Unbewussten: „die Flügel der oft prächtigen Insekten, Nachtfalter, Käfer, zeigten
Flecken, die vergessene Buchstaben sein mussten. Mir fehlte der Schlüssel dazu.“106
Die Kubinsche Invasion des Unbewussten ist destruktiv und führt zum Untergang
des Traumlandes, nicht zur Individuation:
Im Gegensatz zu diesem animalischen Reichtum schwand das Pflanzenleben immer
mehr, alles war abgenagt, zerstampft, ohne Vegetation ... Die Erde dampfte, als wollte sie
noch mehr Kreaturen ausspeien ... Das Unheimlichste war ein rätselhafter Prozeß, der
mit dem Überhandnehmen der Tiere begann; unaufhaltsam und immer rascher zunahm
und die Ursache zum völligen Untergang des Traumreiches wurde. – Die Zerbröckelung.
– Sie ergriff alles. Die Bauten aus so verschiedenem Material ... war der Vernichtung geweiht. Gleichzeitig traten in allen Mauern Sprünge auf, wurde das Holz morsch, rostete
alles Eisen, trübte sich das Glas, zerfielen die Stoffe. Kostbare Kunstschätze verfielen
unwiderstehlich der innern Zerstörung ... / Eine Krankheit der leblosen Materie107; der
Geist mußte wo anders hausen!...108
Dieser Prozess entspricht der katagenetischen Dynamik, die die Chaos-Theorie entdeckt hat (die folgende vektoriale Richtung: Ordnung→Unordnung, oder Kos-
102
Ibid., SS. 170-171.
103
Ibid., S. 176.
104
Ibid., S. 197.
105
Ibid., SS. 200-201.
106
Ibid., S. 183.
107
Ibid., S. 177.
108
Ibid., S. 198.
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mos→Chaos). Dabei verkörpert Herkules Bell das Prinzip der ZwietrachtDisharmonie: Bell operiert, anders gesagt, anhand der chaotischen Attraktoren. Diese Attraktoren enthalten ursprüngliche, primitive psychische Kräfte:
Das Krachen zerbrechender Äste kam deutlich herüber, manchmal sah ich lange Hälse
oder Rüssel und konnte den Gedanken an vorweltliche, monströse Geschöpfe nicht los
werden.109
Auch die Tatsache, dass Herkules Bell Pateras Platz im Palast mit Gewalt nimmt,
weist darauf hin, dass die Invasion des Unbewussten bei Kubin nicht zur Individuation führt:
ein Lachen der Hölle riß mich in die Höhe. ... Im grell strahlenden Raum stand an der
Stelle Pateras der Amerikaner vor mir.110
Der Untergang des Traumlandes bedeutet für Kubin das Herrschen der Dämmerung, die Abwesenheit des Lichtes:
Im Traumreich herrschte ewige Dämmerung.111
Nachdem sich die Tiere (als primitive, archetypische Kräfte, als Urtriebe) manifestiert, und mit sich viel Zerstörung gebracht haben, verschwinden sie wieder (so ist
die Natur der Archetypen; cf. C. G. Jung): jetzt beginnt das wahre Ende des Traumreiches, eine Art Apokalypse (wie in Blakes Vier Zoa, IX, oder in John Clares „The
Dream“ - „Der Traum“; in Blakes Apokalypse, aber, siegt das Licht – also die allmächtige undeterminierte Ordnung des Geistes, während Clares Traum, wie Kubins,
mehr von der katagenetischen Dimension der Wirklichkeit zu enthüllen scheint):
Die großen Tiere waren nun alle verschwunden ... Womit sollte man jetzt seinen Hunger
stillen112?! Die Herden und Insektenschwärme hatten Felder und Gärten verwüstet. Alle
Vorräte wurden schlecht, Eier, gesalzenes und geräuchertes Fleisch verdarben; es stand
eine Hungersnot bevor.113
Die Verwüstung weist auf die Aufhebung aller Grenzen hin, die Beseitigung aller Differenziertheit, das Eintreten des Chaos:
Es war nicht mehr möglich, die Nacht vom Tage zu unterscheiden ... Da alle Uhren eingerostet und stehen geblieben waren, fehlte uns jede Zeitberechnung; daher ist es mir
auch unmöglich anzugeben, wie lange sich der Zustand der Auflösung hinauszog.114.
109
Ibid., S. 184.
110
Ibid., S. 190.
111
Ibid., S. 197.
112
Das weist darauf hin, dass die Urtriebe eine große ontische Energie (die des Libido) in sich enthalten,
die die Psyche ernährt: ohne sie kann die Psyche nicht überleben, denn sie stellt ihre Wurzel dar.
113
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 201.
114
Ibid., S. 201.
420
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Kubin und das Weltbild der ‘anderen Seite’: der Kosmische Mensch als coincidentia oppositorum
In diesem Zustand der Verwesung („bifurcation epoch“ der Chaos Theorie; die Epoche, in der sich am meisten die chaotischen Attraktoren manifestieren) erscheint
Herkules Bell als der absolute Herrscher (das Prinzip der Disharmonie, des Krieges,
des Chaos):
Der Amerikaner trat überall als Herr der Stadt auf.115
Diese Apokalypse manifestiert sich auch im Menschen durch das graduelle Verschließen aller Sinne: das Sehvermögen ist gestört, das Sprachvermögen ist verloren.
Die Menschen sind fast alle nackt (das weist auf den primitiven psychischen Zustand
des Menschen, bevor die Schlange ihm die Augen „geöffnet“ hat), und alles wird zu
Chaos, was uns an die Situation in Aldous Huxleys Roman Brave New World (1932)
erinnert:
Der große Platz glich einer gigantischen Kloake [...] Königreich des Todes [...] so schob
sich die Phalanx des Untergangs unaufhaltsam vorwärts. Greller Lichtschein flackerte
und belegte diese Apotheose Pateras.116
Kubin gibt hier eine zweifellos Blakesche Beschreibung des Unterganges, und zwar
mit einer heftigen Direktheit, die man vielleicht nur noch in Blakes Vier Zoa, IX, und
in der Bibel finden kann. Nach dem Untergang des Traumreichs verschwinden aber
die Wolken, und
Bald wurde es heller, eine große, glänzende Scheibe war am Himmel, unzählige glimmernde Pünktchen überdeckten das dunkel-blaue Firmament. ... Es waren der Mond
und die Sterne.... Seit drei Jahren hatte ich diesen Anblick entbehrt, fast vergessen hatte
ich diese große Welt über uns und ich mußte mich dem Eindruck dieses unendlich hohen Himmels eine Weile willenlos hingeben ... Die weite Wolkenbank, der Himmel des
Traumreichs, hatte sich gesenkt.117
Jetzt hat der Held eine Vision und versteht, dass er einen Traum hat, wie im Golem
(und eben wie in Clares „The Dream“), in dem eine vergangene Zeit wiederbelebt
wird:
es war ein Flecken, in dem ich meine Kindheit verlebt habe. Jeder dieser Menschen war
mir gut bekannt, in einem Paar entdeckte ich mit freudigem Schreck meine Eltern ... Ich
wunderte mich nicht, daß die meisten Menschen da unten längst gestorben waren, sondern wollte mich gerade in diese wirklich gewordene Vergangenheit begeben.118
Nun wird Patera zu einem kosmogonischen Prinzip, wie der indische Purusha, der
kosmische Mensch. Patera ähnelt in diesem Sinne dem Bild Poseidons-Neptuns, und
agiert wie der indische Schiwa (der Zerstörer) oder wie der Gott des Alten Testa115
Ibid., S. 204.
116
Ibid., S. 230.
117
Ibid., SS. 234-235.
118
Ibid., S. 237.
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ments:
Jetzt entwickelte er sich ins Grenzenlose, grub einen Vulkan aus, an welchem noch ein
schneckenförmig gewundener Granitdarm der Erde hing. Dieses gigantische Instrument
setzte er an seine Lippen – es dröhnte, daß das Weltall erzitterte119. Aufgerichtet stand er
da, seine oberen Körperteile reichten in die Wolken, sein Fleisch war wie aus Hügeln zusammengesetzt – Er schien von Wut erfüllt! [...] Er watete in ein Meer, das ihm kaum bis
zu den Hüften reichte, aber austrat und die ganze Erde überschwemmte. Mit seinen ungeheueren Armen ruderte er in den Gewässern und fing Schiffe und zappelnde Meerungeheuer. Zerquetscht warf er alles wieder von sich. Er zertrat die Gebirge [...] Er
wollte alles vernichten.120
Das ist ein romantisches Bild, durch das Kubin seinen Platz unter Künstlern wie William Blake, Philipp Otto Runge, Francisco Goya, Caspar David Friedrich, James Barry, oder Heirich Füßli gewinnt. Es handelt sich hier paradoxerweise um das Vernichten des Chaotischen-Negativen, eine Art gesteigerte putrefactio-nigredo. Es ist
also ein kreatives Vernichten: „Jetzt kam in einen gewaltigen Gebirgszug, der sich
von West nach Ost erstreckte, Bewegung. Ich sah, daß es der schlafende Amerikaner
war. Patera warf sich der Länge nach auf diesen Feind; während sie rangen, kochte
das Meer in haushohen Wellen auf.“121 Dabei assimiliert das Selbst/Bewusstsein den
Archetyp des Schattens:
Patera und der Amerikaner verkrallten sich zu einer unförmlichen Masse, der Amerikaner war gänzlich in Patera hineingewachsen.122
119
Das ist ein Bild, das an die skandinavische Mythologie erinnert (die Romantiker waren von dieser
Mythologie besonders beeinflusst). Siehe z.B. die Episode, in der der Gott Heimdallr, der Gott des Lichtes,
der „glänzendste der Asen“, mit Gjallarhorn, dem heiligen Horn, das Ragnarökr, d.h. die Götterdämmerung, ankündigen sollte. So etwas scheint Kubins Patera hier zu machen: wie Gjallarhorn von allen
gehört wird, so scheint Pateras gigantisches Blasinstrument, das aus einem Vulkan geschaffen wurde,
kosmische Kraft zu haben: „es dröhnte, daß das Weltall erzitterte“. (Siehe Victor Kernbach, Dicţionar de
mitologie generală, S. 215; Herder Lexikon, Germanische und keltische Mythologie, SS. 69 und 84; John
Grant, An Introduction to Viking Mythology, S. 116). Ein ähnliches Bild in Blakes Vier Zoa: „Tharmas
stay’d his flight & stood in stern defiance, / Communing with the Spectre who rejoic’d along the vale. /
Round his loins a girdle glow’d with many colour’d fires, / In his hand a knotted Club whose knots like
mountains frown’d / Desart among the stars, them withering with its ridges cold. / Black scales of iron
arm the dread visage; iron spikes instead / Of hair shoot from his orbed scull; his glowing eyes / Burn like
two furnaces; he call’d with Voice of Thunder“ (William Blake, The Four Zoas, 6, 302-309, BW, S. 319).
120
Alfred Kubin, Die Andere Seite, SS. 237-238.
121
Ibid., S. 238.
122
Ibid., S. 238. Siehe bei Blake die Episode, in der Orc und die Ketten, mit denen Los ihn gefesselt hat,
eins werden: „Lo, the young limbs had strucken root into the rock, & strong / Fibres had from the Chain
of Jealousy inwove themselves / In a swift vegetation round the rock & round the Cave / And over the
immortal limbs of the terrible fiery boy [Orc]. / In vain they strove now to unchain, In vain with bitter
tears / To melt the chain of Jealousy; not Enitharmon’s death, / Nor the Consummation of Los could ever
melt the chain / Nor unroot the infernal fibres from their rocky bed, / Nor all Urthona’s strength, nor all
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Kubin und das Weltbild der ‘anderen Seite’: der Kosmische Mensch als coincidentia oppositorum
Das Bild der zwei ist eine deutliche Versinnbildlichung des Unbewussten:
Dieses gestaltlose Wesen besaß eine Proteusnatur, Millionen kleiner, wechselnder Gesichter bildeten sich an seiner Oberfläche, schwatzten, sangen und schrien durcheinander und zogen sich wieder zurück.123
Proteus ist allerdings das Symbol des Unbewussten, das sich tausendförmig manifestiert.124 Das Erscheinen des Bildes des Adlers (Verkörperung der höchsten uranischen Gottheit, des himmlischen Feuers, der Sonne, somit des Bewusstseins, des
Selbst; es ist auch ein Attribut von Zeus und Christus, es ist das primitive und kollektive Symbol des Vaters125) weist darauf hin, dass es hier um das Assimilieren des
Unbewussten handelt, dass diese Episode ein Kampf zwischen den entgegen gesetzten psychischen Kräften ist: das Selbst (Patera) „verschlingt“, d.h. assimiliert, den
negativen Archetyp des Schattens:
Aber auf einmal kam Ruhe in das Ungeheuer [...] Die Augen, groß wie Weltteile, hatten
den Blick eines hellsehend gewordenen Adlers. Jetzt [...] alterte vor mir um Millionen
Jahre [...] Plötzlich zerstob das Haupt, ich starrte in ein unbestimmtes grelles Nichts.
[...] Jetzt sah ich [...] den Amerikaner, welcher nun selber die furchtbare Größe Pateras
hatte [...] Dann schmolz dieses Ungeheuer.126
Das Ungeheuer aber verschwindet nicht: es wird zu einer Schlange, die kleiner werdend „in einem der unterirdischen Gänge des Traumstaates“127 verschwindet. Die
Schlange ist aber mit der Fruchtbarkeitskraft verbunden (das Chthonische, so wie
z.B. die Titanen, verfügt über riesenhafte vitale Kräfte): so befruchtet sie die Wirklichkeit:
Die Luft stand in Weißglut. Bunte Blitze zuckten und kreuzten sich vielfach. Da war es,
als entständen auf Sekunden prachtvoll gefärbte sonnige Welten mit Blumen und Geschöpfen, wie ich sie nie auf Erden gesehen habe. Ein sprühendes, ungebärdiges Leben
sauste durcheinander an meiner Seele vorbei. Denn nicht mehr mit dem Auge sah ich
das128 [...] ich selbst ging auf in diesen Welten, nahm teil am Schmerz und an der Freude
zahlloser Wesen [...] Weiche knochenlosen Massen entstanden, weiblich im Ausdruck129.
the power of Luvah’s Bulls, / Tho’ they each morning drag the unwilling Sun out of the deep, / Could uproot the infernal chain, for it had taken root / Into the iron rock & grew a chain beneath the Earth / Even
to the Center, wrapping round the Center; & the limbs / Of Orc entering with fibres became one with him,
a living Chain / Sustained by the Demon’s life“ (William Blake, The Four Zoas, 5, 156-170, BW, S. 309).
123
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 238.
124
Jean Chevalier und Alain Geerbrant, Dicţionar de Simboluri, Bd. 3, S. 131.
125
Ibid., Bd. 3, S. 475.
126
Alfred Kubin, Die Andere Seite, 1999, S. 239.
127
Ibid., S. 239.
128
Kubin beschreibt also jetzt psychische Ereignisse. Er beschreibt die Welt der inneren Vision.
129
Das sind die präkosmogonischen Gewässer, die weiblicher Natur sind: sie drücken die Leere, die Dunkelheit, das Präkosmische, Chaotische, Chthonische aus.
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Mihai A. Stroe
Es durchpeitschte sie ein intensiver Formungsdrang130; prickelnd glühten Lichtpunkte
auf, tausend Harmonien durchfuhren die Räume. Diese wieder flossen ineinander zu einem unteilbaren, wässerigen, leuchtenden Schleim131. Wo eben noch ein Meer gerauscht
hatte, gefror eine Eiskruste, die zerplatzt, geometrische Figuren nach allen Seiten warf. /
Ich gehörte dazu ... Nach Ereignissen, die zeitlos, ewig waren132, nach Spannungen eines
immer eruptiver werdenden Wandels, schlug alles ins Gegenteil um. Auf das Gebären
folgte ein Drang nach einem Mittelpunkt – und im Nu war er erreicht ... Aus einem matten Verstehen wurde eine Kraft, eine Sehnsucht. ... es wurde dunkel. – In klaren, regelmäßigen Schwingungen versank das All in einen Punkt. / Ich wußte nichts mehr.133
Im obigen Zitat findet man einen Versuch Kubins, eine Kosmogonie zu beschreiben,
die in einer Art „Big Crunch“ endet; offensichtlich gibt es hier die Keime der ChaosTheorie (die abwechselnden Spannungen der gegensätzlichen Zustände, die abwechselnden Tendenzen und Schwankungen) und der Theorie des plötzlichen ontischen evolutionären Sprungs: das Neue entsteht blitzartig:
Da war es, als entständen auf Sekunden prachtvoll gefärbte sonnige Welten mit Blumen
und Geschöpfen, wie ich sie nie auf Erden gesehen habe.
Nach der kreativen Ausdehnung folgt das Aktivieren der zentripetischen Kräfte der
pünktlichen Attraktoren, und auch dieses Phänomen ist blitzartig:
Auf das Gebären folgte ein Drang nach einem Mittelpunkt – und im Nu war er erreicht.
Das ist ein anderer Ausdruck des Mythos der ewigen Rückkehr (le mythe de l’éternel
retour), die zyklische Dynamik der Ordnung-Unordnung-Dialektik. Der Endzustand
in diesem Bild ist das Erreichen des Omegapunktes (der kosmologische „Big
Crunch“), von dem Ken Wilber spricht:
In klaren, regelmäßigen Schwingungen versank das All in einen Punkt.
Die regelmäßigen Schwingungen deuten auf die archetypische Natur dieser Transformation hin. Da aber Kubin von einem Versinken und nicht von einem Aufstieg
130
Siehe bei Blake den selben Formungsdrang, der eine Art kosmogonisches Prinzip ist, ein Mitwirken
der pünktlichen und chaotischen Attraktoren (ohne die Gegensätze kann es nach Blake kein Leben, keine
Wirklichkeit und keinen Fortschritt geben). „Urizen wept in the dark deep anxious his Scaly form / To
reassume the human [form]“ (William Blake, The Four Zoas, 9, 162-163, BW, S. 361). In Blakes System
strebt alles danach, eine Form zu gewinnen.
131
Dieses Bild erinnert uns an Coleridges berühmtes Gedicht The Rime of the Ancient Mariner.
132
Siehe bei Blake die kosmogonischen Etappen: jede dauert eine ganze Epoche: „In a horrible dreamful
slumber, like the linked chain / A vast spine writh’d in torment upon the wind, / Shooting pain’d ribbs,
like a bending Cavern, / And bones of solidness froze over all his nerves of joy. / A first age passed, a state
of dismal woe. // From the Caverns of his jointed spine, down sunk with fright / A red round globe, hot
burning, deep deep down into the Abyss, / Panting, conglobing, trembling, shooting out ten thousand
branches / Around his solid bones, & a second age passed over“, usw. (William Blake, The Four Zoas, 4,
218-226, BW, S. 303).
133
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 240.
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Kubin und das Weltbild der ‘anderen Seite’: der Kosmische Mensch als coincidentia oppositorum
spricht, kann der Prozess, den er beschreibt, eigentlich das folgende bedeuten: das
Unbewusste verschlingt das Bewusstsein. In diesem Fall wäre Kubins Endpunkt
nicht der Wilbersche Omegapunkt (der Punkt, von dem sich die Ewigkeit unwiderstehlich entfaltet, der ewige Anfang: die Erlösung der Wirklichkeit), sondern das
Ende einer kosmischen Epoche („Big Crunch“), nach dem ein neuer Anfang folgt,
eine neue Welt sich zu entwickeln beginnt.
Da Kubin aber erklärt, dass es hier um ein Versinken handelt (und er fügt hinzu:
„Ich wußte nichts mehr“ und „die Träume wollten meinen Geist überwuchern. / Ich
verlor in ihnen meine Identität“134), scheint mir, dass dieser Prozess die Tatsache
darstellt, dass das Unbewusste das Bewusstsein verschlungen hat. Es ist eine Art
Sintflut, eine Reinigung der Schöpfung (ein alchemistisches nigredo):
Wir beide waren übrigens nicht die einzigen, die die Katastrophe überstanden hatten.135
Dazu gibt Kubin im Epilog eine Erklärung für alles, die ein Beweis dafür ist, dass
Kubins Denksystem auf der archetypischen Hypothese ruht:
ich bin der Meinung, daß diese Traumbilder aufs engste verkettet waren mit Erlebnissen
meiner Ahnen, deren seelische Erschütterungen sich vielleicht organisch geprägt und
vererbt haben136. Noch tiefere Traumschichten137 öffneten sich mir im Aufgehen in Tierexistenzen, ja im bloßen Hindämmern in Urelementen. Diese Träume waren Abgründe,
denen ich mich willenlos preisgegeben sah [...] Die Wirklichkeit schien mir eine widerwärtige Karikatur auf den Traumstaat [...] An mein eigenes Sterben dachte ich wie an die
größten, himmlischen Freuden, die ewige Hochzeitsnacht wäre dann angebrochen138
Wie Blake und Heraklit, versteht Kubin die Wirklichkeit als Krieg der Gegensätze:
Als ich mich dann wieder ins Leben wagte, entdeckte ich, daß mein Gott nur eine Halbherrschaft hatte. Im Größten und im Geringsten teilte er mit einem Widersacher, der
Leben wollte. Die abstoßenden und anziehenden Kräfte, die Pole der Erde mit ihren
Strömungen, die Wechsel der Jahreszeiten, Tag und Nacht, schwarz und weiß – das sind
Kämpfe. / Die wirkliche Hölle liegt darin, daß sich dies widersprechende Doppelspiel in
uns fortsetzt.139
Die ontische Lösung, die Kubin für seine dramatischen Entdeckungen findet, ist die
Annahme, dass Gott in sich alles enthält, das Gute und das Böse, das Licht und die
134
Ibid., S. 250.
135
Ibid., S. 248.
136
Siehe Jung: die großen Ereignisse des Menschen formen die archetypischen Kanäle der Psyche: diese
sind die Kodes des unbewussten Lebens der Psyche. Siehe auch die Kontroverse um Rupert Sheldrakes
Theorie der morphogenetischen Felder.
137
Gleichfalls spricht Jung von der verschichteten Struktur der Psyche (daher die Bezeichnung Tiefenpsychologie).
138
Alfred Kubin, Die Andere Seite, S. 250-251.
139
Ibid., S. 251.
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Dunkelheit, den Anfang und das Ende, das Himmlische und das Chthonische, das
Bewusste und das Unbewusste, das Männliche und das Weibliche:
Der Demiurg ist ein Zwitter.140
Dieselbe Antwort haben Meyrink, Blake und Novalis gegeben: das Bild des Zwitters,
d.h. das des Kosmischen Menschen als coincidentia oppositorum, ist das Gottesbild
und das Idealbild des Menschen.
Literatur:
1.
SERGIU AL-GEORGE, Limbă şi gândire în cultura indiană, Editura Ştiinţifică şi Enciclopedică, Bucureşti, 1976.
2.
Blake Complete Writings with variant readings, Geoffrey Keynes (editor), Oxford University Press, Oxford, New York, 1979 (Abkürzung: BW). Zitate von folgenden Werken:
The Marriage of Heaven and Hell (1793); The Four Zoas (1797); „Letter To Dr. Trustler,
23 August 1799“; ‘Annotations to Berkeley’s Siris’ (1820).
3.
HAROLD BLOOM, „John Clare: The Wordsworthian Shadow“, in Harold Bloom, The Visionary Company. A Reading of English Romantic Poetry, revised and enlarged edition,
Cornell University Press, Ithaca, NY, & London, 1971, SS. 444-456.
4.
JEAN CHEVALIER & ALAIN GEERBRANT, Dicţionar de simboluri, 3 Bde., Artemis, Bucureşti,
1994 [Dictionnaire des symboles, Mythes, rêves, coutumes, gestes, formes, figures, couleurs, nombres, Éditions Robert Laffont, Paris, 1969].
5.
S. T. COLERIDGE, The Major Works, H.J. Jackson (Hrsg), Oxford University Press, Oxford, 2000 [1985].
6.
GILBERT DURAND, Structurile antropologice ale imaginarului, Introducere în arhetipologia
generală, univers enciclopedic, Bucureşti, 1998 [Les structures anthropologiques de
l’imaginaire, Dunod, Paris, 1992/1960].
7.
MIRCEA ELIADE, Mitul eternei reîntoarceri, Arhetipuri şi repetare, univers enciclopedic,
Bucureşti, 1999 [Le mythe de l’éternel retour, Éditions Gallimard, 1957].
8.
JOHN GRANT, An Introduction to Viking Mythology, Grange Books, London, 1997.
9.
HERDER LEXIKON, Germanische und keltische Mythologie, Herder, Freibung, Basel, Wien,
1990.
10. C. G. JUNG, Tipuri psihologice, Humanitas, Bucureşti, 1997 [Psychologische Typen, Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau, 1971/ 1921].
11. L. G. KELLER, Piranèse et le romantique francais. Le mythe des escaliers en spirale, Paris,
Corti, 1966, Dissertation an der Univ. Zürich, 1966.
12. VICTOR KERNBACH, Dicţionar de mitologie generală, Editura Ştiinţifică şi Enciclopedică,
Bucureşti, 1989.
13. SABINE KLEINE, Häßliche Träume, Literarische Phantastik und das anti-ästhetische Projekt der Moderne, Schriftenreihe und Materialien der Phantastischen Bibliothek Wetzlar,
Bd. 36.
14. ALFRED KUBIN, Die Andere Seite, Ein phantastischer Roman, Rowohlt, Bonn, 1999.
140
Ibid., S. 251. Siehe z.B. Jung, der behauptet, das Weibliche müsse irgendwie innerhalb der Gottheit
verborgen sein.
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Kubin und das Weltbild der ‘anderen Seite’: der Kosmische Mensch als coincidentia oppositorum
15. ALEX. KUPFER, Piranesis <Carceri>. Enge und Unendlichkeit in den Gefängnissen der
Phantasie, Stuttgart, Zürich, Belser, 1992.
16. ARTHUR O. LOVEJOY, „Schiller and the Genesis of Romanticism, Part I, II“, in Modern
Language Notes, 35/1920, January, no 1, SS. 1-10 und 136-146.
17. MANFRED LUBE, Gustav Meyrink, Beiträge zur Biographie und Studien zu seiner Kunsttheorie, Dissertationen der Universität Graz, dbv-Verlag für die Technische Universität
Graz, 1980.
18. SIGRID MAYER, Golem: Die literarische Rezeption eines Stoffes, Utah Studies in Literature
and Linguistics, Nr. 2, Herbert Lang, Bern und Frankfurt/M, 1975.
19. GUSTAV MEYRINK, Der Golem, Ullstein, Berlin, 1998.
20. DERS., Das grüne Gesicht, Ullstein, Berlin, 1998.
21. WILLY OBRIST, Archetypen, Natur- und Kulturwissenschaften bestätigen C. G. Jung, Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau, 1990.
22. JUTTA OSINSKI, „Poesie und Wahn, Aspekte des Phantastischen in romantischen Texten“,
Schriftenreihe und Materialien der Phantastischen Bibliothek Wetzlar, Bd. 15.
23. J. J. POLLET, „L“ image de Gustav Meyrink dans les lettres allemandes“, in Etudes Germaniques, 1977/32, SS. 30-39.
24. MOHAMMAD QASIM, Gustav Meyrink, Eine monographische Untersuchung, Akademischer Verlag Hans-Dieter Heintz, Stuttgart, 1981.
25. CLEMENS RUTHNER, „Jenseits der Moderne, Abriß und Problemgeschichte der deutschsprachigen Phantastik 1890-1930“, Schriftenreihe und Materialien der Phantastischen
Bibliothek Wetzlar, Bd. 15.
26. FRANS SMIT, Gustav Meyrink, Auf der Suche nach dem Übersinnlichen, Langen Müller,
München, Wien, 1988.
27. MARK STOREY (Hrsg.), John Clare, The Critical Heritage, Routledge, London and New
York, 1995
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FRIEDRICH DÜRRENMATTS KOMÖDIE DIE PHYSIKER
Zum Verhältnis von Wissenschaft und Verantwortung
Al-Ali Mahmoud
Im vorliegenden Aufsatz wird deshalb gezeigt, dass der Stückschreiber Friedrich
Dürrenmatt in der Komödie Die Physiker1 seinen Zuschauern nicht nur eine ganz
bestimmte Ethik schildert, sondern auch implizit ein Gesellschaftsbild und deshalb
Gesellschaftskritik auf der Bühne zum Ausdruck bringt,2 um somit Erkenntnisse zu
vermitteln und auf das Denken und Handeln seines Theaterpublikums Einfluss zu
nehmen: Die Menschheit sei noch nicht soweit, um mit der Naturwissenschaft
Schritt zu halten, d. h., den Entwicklungsprozess zum Guten zu lenken und die Erweiterung des Wissens zum Wohl der Menschheit zu nutzen. Sie befindet sich in einer Übergangssituation. Die überlieferten menschenverachtenden Systeme behaupten sich noch, doch stellt sich in grotesken Spiegelungen ihre Fragwürdigkeit
und Brüchigkeit dar. Neue Wertekategorien, neue Handlungsweisen müssen
gefunden werden, um die instabile Weltsituation zu begreifen und zu bewältigen.
Die Begriffe Wissenschaft und Verantwortung wurden daher gewählt, weil die ethische Verantwortung des Naturwissenschaftlers eines der Hauptmotive des Stückes
ist und weil eine Interpretation von diesem Ansatzpunkt her für den gegebenen Anlass aufschlussreich zu werden verspricht.
Die dramatischen Figuren, die im Stück für sich eine gewisse Verantwortung in Anspruch nehmen, sind die drei Physiker Kilton-Newton, Eisler-Einstein und vor allem
Wilhelm Möbius, die Anstaltsärztin (Fräulein Dr. Mathilde von Zahnd) und die
staatlichen Behörden (Kriminalinspektor Richard Voß). Uns werden hauptsächlich
die beiden ersten Gruppen beschäftigen; insbesondere werden die Anhaltspunkte
der Physiker selbst analysiert werden.
Die drei Naturwissenschaftler vertreten drei verschiedene, aber aufeinander bezogene Standpunkte. Newton tritt für die Freiheit der Wissenschaft ein: “Es geht um
1
Die Physiker reiht sich in eine literarische Tradition von Stücken ein, die ähnliche Themen bearbeiten.
Als bekannt vorauszusetzen Brechts Galileo Galilei bzw. Leben des Galilei 1938/39; Carl Zuckmayers
Physikersdrama Das kalte Licht 1955; Hans Henny Jahnns Atomstück Der staubige Regenbogen (anderer Titel: Die Trümmer des Gewissens) 1961 und dann Max Frisch’s Biografie. Ein Spiel von 1967 .
2
Die Physiker wurde am 20. Februar 1962 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Die Aufführung war
nicht nur dramaturgisch gut vorbereitet, sondern auch durch die Werbung. Der Inhalt blieb den Zuschauern vor der Aufführung unbekannt, und das Ganze wurde dem Publikum als gut verpackte Überraschung offeriert. Die Aufführung wurde ein großer Erfolg, 1962/63 war das Drama eins der meistgespielten Stücke im deutsprachigen Raum.
Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Physiker“. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Verantwortung
die Freiheit unserer Wissenschaft und um nichts weiter. Wir habe Pionierarbeit zu
leisten und nichts außerdem. Ob die Menschheit den Weg zu gehen versteht, den wir
ihr bahnen, ist ihre Sache, nicht die unsrige.”3 Für Newton bedeutet Freiheit, dass er
innerhalb eines Machtsystems über sein Arbeitsfeld hinaus keine Verantwortung
mehr zu tragen hat und wenn ihm so angemessene Arbeitsbedingungen garantiert
werden, dass er seine Forschungsprojekte vorantreibt. Die klassische Haltung des
bürgerlichen Individualismus konnte dem Zerfall der Gesellschaftsordnung nicht
mehr standhalten, denn was Newton unter Forschungsfreiheit versteht, und was mit
günstigen Arbeitsbedingungen bezeichnet werden könnte, diese Möglichkeit garantieren alle gegenwärtigen politischen Systeme.
Demgegenüber meint Einstein, dass diese Grundeinstellung in der heutigen Welt
eine opportunistische Illusion verkörpert. Der Wissenschaftler, so meint er, muss
zum Machtpolitiker werden, der sich zwar in einem politischen System engagiert,
gleichzeitig aber auf seine Macht zugunsten einer Partei verzichten soll, von der er
die Bewahrung der Menschheit vor der völligen Zerstörung naiv erhofft. Hier wird
die Kluft des modernen Naturwissenschaftlers sehr deutlich das Dilemma zwischen
moralischen Forderungen und den Forschungsaufgaben4 Der Atomphysiker wird
bereits gezielt als Mittel zur Machtpolitik eingesetzt: “Ich liebe die Menschen und
liebe meine Geige, aber auf meine Empfehlung hin baute man die Atombombe.”5
Einsteins Empfehlung enthüllt sein Versagen als Mensch vor einer moralischen Herausforderung. Er liebt zwar die Menschheit, empfiehlt aber gleichzeitig die Herstellung vernichtender Atomwaffen und gibt damit grünes Licht für die Möglichkeit
einer Zersetzung der gesellschaftlichen Ordnung, ja der Vernichtung des Lebens
selbst.
Obwohl der genialste Physiker Möbius, der in der Maske eines Geisteskranken im
Irrenhaus vor den seine atomphysikalischen Erkenntnisse zu Vernichtungszwecken
ausbeutenden Politikern Schutz sucht, von ganz anderen Voraussetzungen ausgeht,
betrachtet er die Menschheit als Verantwortungsträger. Die Zurücknahme6 seiner
3
Friedrich Dürrenmatt: Werkausgabe in dreißig Bänden. Zürich 1980; Bd. 7, S. 70.
4
Vgl. dazu: Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. München 1962, S. 265ff.
5
Dürrenmatt: Werkausgabe, Bd. 7, S. 86.
6
Den Begriff der Zurücknahme kennt man in der deutschen Literatur der zweiten Nachkriegszeit. Es ist
der deutsche Tonsetzer Adrian Leverkühn, der Romanfigur in Thomas Manns Stück Doktor 1943 Fausts.
Als sein Patenkind, der kleine Fridolin, so früh und schrecklich sterben muss, sagte Leverkühn zu seinem
Freund: ”Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd angekündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen”. Der
Freund, Serenus Zeitblom, versteht immer noch nicht und will genauer wissen, was denn zurück-
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429
Al-Ali Mahmoud
wissenschaftlichen Entdeckungen geschieht um das Fortbestandes der Menschheit
willen:
Es gibt Risiken, die man nie eingehen darf: Der Untergang der Menschheit ist ein solches. Was die Welt mit den Waffen anrichtet, die sie schon besitzt, wissen wir, was sie
mit jenen anrichten würde, die ich ermögliche, können wir denken. Dieser Einsicht habe
7
ich mein Handeln untergeordnet.
Einsicht und Verantwortung verlangen von Möbius diesen Entschluss. Die beiden
Kollegen Newton und Einstein offenbaren Möbius ihren Geheimdienstauftrag. Jeder
der beiden Agenten möchte ihn für seinen Geheimdienst und zum Nutzen seines
Landes gewinnen. Nachdem die Aufträge der beiden, die gleichzeitig fähige Wissenschaftler sind, sich als unrealisierbar erweisen, und sie Möbius nicht davon überzeugen können, beginnt dieser die Beweggründe seiner Handlung darzustellen, die
sich von den Beweggründen der beiden anderen unterscheiden. Einstein verhält sich
so, damit sein politisches System die Oberhand hat, weil er davon überzeugt ist, dass
nur dieses politisches System die Rettung der Menschheit garantieren könne. Newtons Haltung basiert auf reiner Wissenschaft, weil er sich auf die Menschheit selber
beruft, da es bestimmte Risiken gebe, die man nie eingehen darf.
Möbius spricht sie als Atomforscher an, die in der Lage sein müssen, vernünftig und
ohne Denkfehler einen Ausweg zu finden. Seine Darlegungen artikulieren den Endzeitcharakter der Nuklearphysik und gipfeln in der Forderung, vor der Wirklichkeit
zu kapitulieren:
Wir sind in unserer Wissenschaft an die Grenzen des Erkennbaren gestoßen.[…] Wir haben das Ende unseres Weges erreicht. Aber die Menschheit ist noch nicht soweit. Wir
haben uns vorgekämpft, nun folgt uns niemand nach, wir sind ins Leere gestoßen. Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erk8
enntnisse tödlich.
Die Vorstellung totaler Technik (Wissenschaft) und totaler Vernichtung (Verantwortungslosigkeit) fließen als vereinigtes Gespenst zusammen in Möbius'
Vorstellung als unbedingt verabscheuungswert. Diese im Grunde genommen elitäre
Auffassung vom Verhältnis Wissenschaft und Verantwortung stimmt mit einem
Gesellschaftsbild überein, welches der Stückschreiber auch an einer anderen Stelle
wiedergegeben hat:
Die Physik, die Naturwissenschaft, ist durch ihre notwendige Verbindung mit der Ma-
genommen werden solle. – “Die Neunte Symphonie, erwiderte er. Und dann kam nichts mehr, wie ich
wartete”. Zitiert nach Hans Mayer: Brecht und Dürrenmatt oder die Zurücknahme. In: Hans Mayer:
Dürrenmatt und Frisch. Stuttgart 1963, S. 5f.
7
8
Dürrenmatt: Werkausgabe, Bd. 7, S. 73.
Ebd., Bd. 7, S. 74.
430
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Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Physiker“. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Verantwortung
thematik weitgehend dem Verständnis des Nichtphysikers entrückt, d.h. dem Verständ9
nis der überwiegenden Anzahl der Menschen.
Möbius kommt zu dem Entschluss, seine atomwissenschaftlichen Entdeckungen
zurückzunehmen, weil er meint, bei einer wissenschaftlichen Ausnutzung seiner Erkenntnisse Selbstzerstörung erwartet: Die Menschheit sei moralisch noch nicht soweit, um die außerordentlich großen Energien, die durch seine Entdeckungen freigesetzt würden, zweckmäßig nutzen zu können, ohne die Zivilisation und das Leben
zu gefährden: “Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der
Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. Wie müssen
unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es zurückgenommen”.10 Möbius nimmt
sein Wissen zurück, aber “der Weltlauf geht an ihm und den anderen Physikern vor11
bei”.
Seine Forderung nach dem Widerruf seiner Erkenntnisse bedeutet ja totale Resignation für die Atomphysiker. Noch sind die Möglichkeiten des Denkens nicht erschöpft, doch der Mensch als Grundlage des Denkens ist mit der Bewältigung der
Wirklichkeit am Ende. Dass der Mensch aber noch rückständig und unreif sei, weil
er noch nicht zu sich selbst gefunden habe, sondern noch sich selbst zerstört, diese
Erkenntnisse hat Dürrenmatt in seiner Dramaturgie eines Rebellen. Prometheus
dargestellt.12 Freiheit für die drei gibt es nur im Irrenhaus, nur im Irrenhaus dürften
sie noch denken: “Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir
noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.”13
Die drei Wissenschaftler werden in diesem Schluss zu unfreiwilligen Opfern. Ihr
Versuch, sich selbst von der Außenwelt auszuschließen und somit ihrem Leben einen
humanen Sinn zu verleihen, scheitert. Der humane Sinn des Lebens, eine Orientierung, also, wie wir es von Dramen der deutschen Klassik erwarten, rechtfertigt nach
Ansicht der Atomphysiker auch Untaten. Möbius sucht die drei Morde an den Krankenschwestern in der Anstalt als Opfer zu deuten, um die Isolierung der Physiker zu
sichern. Da ihr Selbstopfer die Menschheit vor den ungeheueren Folgen der atomwissenschaftlichen Entdeckungen bewahrt, sind die Morde an den Schwestern sinnvoll. Sie haben getötet, nicht als Verrückte, sondern für einen bestimmten Zweck.
9
Friedrich Dürrenmatt: Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit. In: Theaterschriften und Reden. Zürich1966, S. 59.
10
11
Dürrenmatt: Werkausgabe, Bd. 7, S. 74.
Jan Knopf: Friedrich Dürrenmat. München 1976, S. 103.
12
Zitiert nach: Heinz Ludwig Arnold: Frieden und Krieg. Friedrich Dürrenmatts Passion .In: Text + Kritik. Heft 50/5. Dezember 2003, S. 145.
13
Dürrenmatt: Werkausgabe, Bd. 7, S. 75.
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431
Al-Ali Mahmoud
Der auftretende Kommissar Richard Voß muss unverrichteter Dinge wieder abziehen.14 Seine Ordnungsbegriffe brechen sich an den dem Irrenhaus gemäßen Ordnungsvorstellungen. Er kann die Mörder nicht anklagen, obwohl er sie kennt. Einstein, der die Schwester Irene Straub auf dem Gewissen hat, Newton, der die
Schwester Dorothea Moser erdrosselte, und schließlich Möbius, der die Schwester
Monika Stettler umbringt, vermag niemand zu verhaften. Im Irrenhaus gelten andere Gesetze:
Die Gerechtigkeit macht zum ersten Male Ferien, ein immenses Gefühl. Die Gerechtigkeit, mein Freund, strengt nämlich mächtig an, man ruiniert sich in ihrem Dienst, ge15
sundheitlich und moralisch.
Eine erschreckende Darstellung der Gesellschaft und ihres grundlegenden Ordnungsfaktors, der den Kriminalinspektor zum Eingeständnis seiner Machtlosigkeit
führt. Das Personal musiziert mit den Mördern und macht sich die Mühe, ihnen
wieder zu ihrem geistigen Gleichgewicht zurück zu verhelfen. Es stellt sich jedoch
heraus, dass dieser Opfermut und die bisher gebrachten Opfer umsonst waren, grotesk, es ist daraus entstanden, dass Möbius durch planmäßiges Vorgehen das Gegenteil seiner Absicht erreicht.16
Möbius' Flucht in Selbstverleugnung und Gefangenschaft liefert sich und seine Kollegen dem Bösen aus, einem Bösen, das wieder in der fast mythischen Figur einer
Frau gesammelt erscheint und selbst Wesenszüge des Wahnsinns trägt.17 Es ist die
Figur die der Sanatoriumsärztin, Fräulein Dr. von Zahnd, die behauptet, geheimnisvolle Kontakte mit dem kosmischen Salomo zu unterhalten, um eine reale Grundlage
für ihren Auftrag zu haben.
14
Wie der Polizeikommandant in Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman 1958, war der
Kriminalkommissar Voß eingespannt unter das Joch seines Berufes und könnte es wie dieser so erklären:
“ Ich weiß, wie fragwürdig wir alle dastehen, wie wenig wir vermögen, wie leicht wir uns irren, aber auch,
dass wir eben trotzdem handeln müssen, selbst wenn wir Gefahr laufen, falsch zu handeln”.
Dürrenmatt: Werkausgabe, Bd. 22, S. 19.
15
Ebd., Bd. 7, S. 60f.
16
In einem Gespräch mit dem Stückschreiber drückt er die Machtlosigkeit der Physiker wie folgend aus:
“Die Physiker im allgemeinen sind ja sehr verständnisvoll für die Schwierigkeit, in die ihr Denken die
Welt gebracht hat. Aber es liegt ja nicht an ihrem Denken, dass dieses Denken gefährlich geworden ist.
Das liegt in der Beschaffenheit der Welt. Und was mich viel mehr interessiert, war eigentlich, ich möchte
das sagen, die Ödipussituation der Physiker, das heißt, die Situation, dass sie genau wissen, was ihr Denken und ihr Forschen eben für Resultate haben kann, und dass sie nicht imstande sind, diese Resultate zu
verhindern”. Gespräch mit Friedrich Dürrenmatt. In: Sinn und Form. 18. Jahrgang, 3. Heft (1966), Sonderheft II, S. 1218-1232; S. 1219.
17
Vgl. Urs Jenny: Friedrich Dürrenmatt. Hannover 1985, S. 88.
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Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Physiker“. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Verantwortung
Mit den ohne Wissen von Möbius kopierten Unterlagen seiner wissenschaftlichen
Entdeckungen baut sie Schritt um Schritt ihr Machtimperium auf. Der Amoklauf der
Weltgeschichte hat begonnen:
Ich bin behutsam vorgegangen. Ich beutete zuerst nur wenige Erfindungen aus, das nötige Kapital anzusammeln. Dann gründete ich Riesenwerke, erstand eine Fabrik um die
andere und baute einen mächtigen Trust auf. Ich werde das System aller möglichen Erfindungen auswerten [...]. Dieses Haus ist die Schatzkammer meines Trusts [...]. Der
18
Verwaltungsrat wartet. Das Weltunternehmen startet, die Produktion rollt an.
Die Menschheitsvernichtung ist also als organisierte Katastrophe19 in Bewegung gesetzt vom Machthunger einer Irrenärztin, die glaubt, im Auftrag des heiligen Salomo, handeln zu müssen. In der Aufdeckung dieser analytischen Struktur am Schluß
für die drei Atomphysiker wird der Blick in den Abgrund, in die Sinnlosigkeit all ihrer Planung gerichtet, da im voraus schon alles entschieden war. die drei Physiker in
der Anstalt sind nur Ausführungsgehilfen für die Pläne einer buckligen Nervenärztin
geworden. Es zeigt sich von diesem Standpunkt aus, dass der Atomphysiker Möbius
ein ‘Gewissensheld’, Die Chefärztin dagegen eine gewissenslose Schurkin ist.20
Die Irrenärztin repräsentiert jene Mächte in dieser Welt, die, weil sie bei genauer
Betrachtung ohne jegliche Verantwortung handeln, nicht vor der ungeheuren Verantwortung der Machtobsession zurückschrecken. Es sei noch anzumerken, dass der
Schluss ein Spielfeld voller Anspielungen, die vom kosmischen Salomo über die
‘Frau Welt’21 mittelalterlicher Prägung “Die Welt ist in die Hände einer verrückten
Irrenärztin gefallen”22, über den historischen Einstein und Newton bis zur ‘Science
Fiction’ reichen. Um die Menschen in rücksichtloser Weise für ihre Zwecke in An-
18
Dürrenmatt: Werkausgabe, Bd. 7, S. 83ff.
19
Nach einem komischen Zwischenspiel um einen Nobelpreisträger, der nicht sterben kann, während um
ihn herum die Zahl der Toten steigt, in Der Meteor (1966 aufgef.), nimmt Dürrenmatt das Motiv der
Weltkatastrophe wieder im Porträt eines Planeten auf. Die Düsseldorfer Aufführung (1970 bestand aus 25
Szenen, die kosmisches Geschehen vergegenwärtigen sollten. Der Mißerfolg läßt eine Neufassung des
Stückes erwarten. Vgl. dazu: Walter Hinck: Das moderne Drama in Deutschland. Göttingen 1973, S. 191.
20
Vgl. Neville E. Alexander: Die Physiker. Die Verantwortung des Forschers. In: Denken und Umdenken.
Hrsg. von Heinrich Pfeifer. München/Zürich 1977, S. 188.
21
Auf diese Deutung wies schon Ernst S. Dick in seinen Aufsatz: Dürrenmatt. Der Besuch der alten Dame.
Welttheater und Ritualspiel. In: Zeitschrift für deutsche Philologie LXXXVII (1968), S. 498-509 hin. Der
Gedanke wurde zuerst von Jacob Steiner: Die Komödie Dürrenmatts. In: Deutsch Unterricht XV, 6. Heft
(1963), S. 81-98 geäußert, und zwar bezogen auf Claire in Der Besuch der alten Dame und Fräulein Dr.
von Zahnd in Die Physiker. Die Frau Welt, die Frau als Welt, kann als durchgehendes Motiv bei Dürrenmatt behandelt werden.
22
Dürrenmatt: Werkausgabe, Bd. 7, S. 85.
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spruch zu nehmen, müssen sie die teuflischen Manipulationsmöglichkeiten, die ihnen die moderne Psychologie anbietet, skrupellos benutzen, für sich aber, um ihren
verrückten Egoismus rechtfertigen zu können, beanspruchen sie eine höhere kosmische Verantwortung. Nicht zufällig hebt Die Chefärztin immer wieder ihre eigene
Bedeutung im medizinischen Feld hervor, auch die Möglichkeiten, die ihr das medizinische Wissen über die Patienten gibt: “Für wen sich meine Patienten halten, bestimme ich. Ich kenne sie weitaus besser, als sie sich selber kennen”.23 In dieser Haltung unterscheidet sie sich im Prinzip etwa von Möbius und den anderen beiden Atomforschern, die trotz ihrer latenten Macht ihre Verantwortung gar nicht im Griff
haben wollen und letztendlich das Verhältnis von Wissenschaft und Verantwortung
verkennen.
Schon Schwester Monika, die die ungeheuer immanente Macht der Physiker zu begreifen scheint, sagt zu Möbius: “Du behauptest, der König Salomo erscheine dir.
Warum verrätst du auch ihn? […]. Er diktiert dir das System aller möglichen Erfindungen. Kämpfst du für seine Anerkennung? […] Warum bist du so mutlos?”24
Schwester Monika glaubt nicht, dass Möbius verrückt ist, nein, sie glaubt wirklich,
dass ihm König Salomo erscheint und physikalische Formeln diktiert. Sie gesteht
ihm die Liebe und versucht damit, in Möbius' Wahnwelt zu schlüpfen, um ihn von
der Möglichkeit eines persönlichen Glücks zu überzeugen.
Die Opferbereitschaft von Schwester Monika hat aber ihre Antriebskraft nicht mehr
in der Liebe zur Menschheit, sondern im egoistischen Besitzwillen. Ihre Liebe und
ihre Opfer sind aber über die persönliche Bindung hinausgewachsen zur Liebe, die
die Menschen bewahren kann. Sie hat den Bund der drei Physiker bewirkt. Möbius‘
Trinkspruch klingt wie ein Gebet:
Sollen ihre Morde ohne Bedeutung sein, so müssen sie sich dem Ziel anschließen, für das
Möbius Schwester Monika geopfert hat. Sollen unsere Morde sinnlos werden? Entweder
haben wir geopfert oder gemordet. Entweder bleiben wir im Irrenhaus oder die Welt
wird eines. Entweder löschen wir uns im Gedächtnis der Menschen aus oder die
25
Menschheit erlischt.
Die Assoziation entsteht, dass Schwester Monika als Märtyrerin das Überleben der
Menschheit bewirkt, in dem sie den Bund der Schuldlosen begründet. Die Gnade
dazu scheint durch die Liebe zur Menschheit, die auf Vernunft und Verständnis basiert, dass Widerruf von Erkenntnissen, die selbstverständliche und verantwortungsvolle menschliche Haltung ist, die einen friedlichen Fortbestand der
23
24
25
Dürrenmatt: Werkausgabe, Bd. 7, S. 25
Ebd., Bd. 7, S. 50.
Ebd., Bd. 7, S. 75 f.
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Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Physiker“. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Verantwortung
Menschheit garantiert: “Monika! Ich musste dich opfern. Deine Liebe segne die
Freundschaft, die wir drei Physiker in deinem Namen geschlossen haben. Gib uns
die Kraft, als Narren das Geheimnis unserer Wissenschaft treu zu bewahren.”26
Während Möbius sich als denkende Existenz annulliert und die Aufforderung des
heiligen Salomo ablehnt, weil er glaubt, nur so die Menschheit vor einem
schlimmstmöglichen Ende, das sein Denken bewirken würde, retten kann, betrachtet die Chefärztin sie als einen Auftrag, der im Namen vom König Salomo zur
Usurpation der Weltherrschaft genau befolgt werden muss: “Der goldene König hat
mir den Befehl gegeben, Möbius abzusetzen und an seiner Stelle zu herrschen. Ich
gehorchte”.27 Übrigens scheint bei ihr der glanzvolle Salomo eine gewisse Rolle zu
spielen. Dem Missionar, der diese Erscheinung “eine traurige, beklagenswerte Verirrung”28 nennt, hält sie entgegen: “Ihr strammes Urteil erstaunt mich ein wenig,
Herr Missionar Rose. Als Theologe müssen Sie doch immerhin mit der Möglichkeit
eines Wunders rechnen”.29
Von ihrem Beruf her weiß die Chefärztin, dass der kosmische Salomo als ein im richtigen Moment unerwartet auftauchender Helfer ist, der an die Stelle einer rationalen
Erklärung rückt. Er ist ein glanzvoller, gewaltiger König, der von Möbius verraten
wurde, da dieser die übertragene Weisheit nicht zur Weltherrschaft benutzte:
Aber Möbius verriet ihn. Er versuchte zu verschweigen, was nicht verschwiegen werden
konnte. Denn was ihm offenbart worden war, ist kein Geheimnis. Weil es denkbar ist.
Alles Denkbare wird einmal gedacht. Jetzt oder in der Zukunft. Was Salomo gefunden
hatte, kann einmal auch ein anderer finden, es sollte die Tat des goldenen Königs
bleiben, das Mittel zu seiner heiligen Weltherrschaft und so suchte er mich auf, seine
30
unwürdige Dienerin.
Diese letzte Enthüllung der Irrenärztin, das das Auskosten eines persönlichen Triumphs bedeutet, deutet aber auf die Fragwürdigkeit der Verantwortung hin. Sie
zeigt sie nicht nur als Menschenfeind, sondern auch als wahnsinnige Schurkin. Sie
nutzt die Gelegenheit, die ihr der Zufall mit Möbius in die Hand spielte, um die totale Macht auszuüben: “Mein Trust wird herrschen, die Länder, die Kontinente erobern, das Sonnensystem ausbeuten, nach dem Andromedanebel fahren. Die Rechnung ist aufgegangen. Nicht zugunsten der Welt, aber zugunsten einer alten buck-
26
27
28
29
30
Ebd., Bd. 7, S. 77.
Ebd., Bd. 7, S. 82.
Ebd., Bd. 7, S. 33.
Ebd., Bd. 7, S.33.
Dürrenmatt: Werkausgabe, Bd. 7, S. 82.
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ligen Jungfrau”.31 Sie spinnt, gleichsam ein Automat ihres Machthungers, aus dem
Impuls ihrer Irrsinnigkeit heraus ganz im Verborgenen ihre Fäden und tritt erst damit hervor, als die drei Atomphysiker schon ohnmächtig in ihr Netz gefallen sind.32
Die Frage bleibt, ob die Sanatoriumsärztin tatsächlich verrückt ist, wenn sie Möbius
Verrat an Salomo vorwirft. Möbius selbst hat den armen König beiseite gelegt, dessen Psalmen sich in Flüche verwandeln. Er ist ein Symbol des Wandels, der einst ein
Fürst des Friedens und der Gerechtigkeit gewesen sei. Davon ist aber nichts geblieben als die Sorge um die Verantwortung der neuen tödlichen Wahrheit und um
das Verschulden der Mächtigen.33
Salomos Psalm ist kein Loblied, sondern ein Versuch von Möbius, der Hybris des
geistigen und technischen Abenteuers zu fluchen. Ein Abenteuer, das die gewohnten
Grenzen überschreitet und die Verlorenheit der Menschheit offenbart. Um diesem
zuvorzukommen, wird ihm die Zurücknahme seiner Erkenntnisse aufgezwungen.
Bei Möbius steht der Naturforscher im Bild Salomos als ein Mächtiger im Chaos da.
Der Mensch hat die Grundlage seiner Macht, die ihm anvertraut war, selbst vernichtet. Die moralische Verantwortung ist bei Möbius zwar vorhanden, doch sein
planmäßiges Handeln erweist sich als Fehlschluss, da er von der Wirklichkeit schon
längst überrollt ist. Er steht als Atomphysiker (Wissenschaftler) und Mensch (Verantwortungsträger) in einem Endzeitstadium.34
Was der kosmische Salomo in Wirklichkeit ist, wie ihn die Irrenärztin sieht? Salomo
ist der goldene König, der für die Weisheit und Macht steht. Er glaubt, dass alles,
was möglich ist, in die Wirklichkeit umgesetzt werden muss. Er verfügt über absolute Gewalt über Völker und Länder; die Macht seiner kosmischen Herrschaft liegt
im unreflektierten Glauben, dass sein herrschendes Wirken für die Machtunterworfenen und für die Realisierung eines metaphysischen Ordnungssystems gut sei,
mit dem er sich identifiziert. So ist die Salomogestalt der Sanatoriumsärztin Sinnbild
einer anderen Herrschaftsform: “Ihr seid in euer eigenes Gefängnis geflüchtet. Salomo hat durch euch gedacht, durch euch gehandelt, und nun vernichtet er euch.
31
Ebd., Bd. 7, S. 85.
32
Vgl. Manfred Durzak: Die Travestie der Tragödie in Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame und die
Physiker. In: Der Deutschunterricht. 28. Jahrgang, 6. Heft (1976), S. 94.
33
Robert Jungk: Heller als Tausend Sonnen. Hamburg 1968, S. 10.
34
Vergleicht man die Argumente Möbius' im Stück mit den einundzwanzig Punkten, die als Thesen des
Autors dem Komödientext beigefügt wurden, so spürt man ein hohes Maß der Übereinstimmung. Dürrenmatt scheint das Verhalten von Möbius zu rechtfertigen. Nicht bloß Diagnose eines Zustandes, sondern Anleitung zum Handeln für heutige Physik. Nicht bloß für Physik.
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Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Physiker“. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Verantwortung
Durch mich”.35 Im Gegensatz zu Möbius, dessen Handeln ganz aus Liebe zur
Menschheit (Nächstenliebe) bestimmen ist, hat die Anstaltsleiterin keine Angst, Salomos Weltherrschaftsauftrag anzunehmen. Denn sie hat die Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft im Griff, außerdem hält sie die Liebe zur Menschheit für
minderwertig: “Ich aber übernehme seine Macht. Ich fürchte mich nicht”.36
*
Dürrenmatt demonstriert in den Physikern jene Thesen, die er immer wieder in verschiedenen Reden, aber auch in anderen Stücken formuliert hat:
•
Wie es scheint, sind Dürrenmatts Figuren zwischen den sozialen Kräften und
der Macht des Geschicks im Leeren aufgehängt. Ihr negatives Handeln soll den
Blick auf die Möglichkeiten positiven Handelns, auf die der Stückschreiber abermals hindeutet,37 freigeben. Die Verweigerung der Physiker, ihre Kenntnisse
in den Dienst der Menschheitsvernichtung zu stellen, kann sinnvoll und notwendig, aber auch gleichzeitig eine Flucht vor der Verantwortung sein.
•
Das Opfer des Einzelnen ist heute sinnlos. Der Einzelne besitzt weder die Fähigkeit noch die Kraft, über Wohl und Leid des Ganzen zu entscheiden. Er kann die
zerbrochene Weltordnung weder durch Opfer noch durch sein Denken und Verhalten verändern. “Was alle angeht, können nur alle lösen”,38 Und jeder Versuch
eines Einzelnen muss scheitern. Die Zeit der Gesellschaftsveränderung durch die
großen Individuen der Helden wie der Heiligen, scheint für Dürrenmatt vorbei
zu sein.
•
Die Möglichkeit, durch Zurücknahme der Erkenntnisse und auf Grund einer
persönlichen und damit heldenhaften Opferhaltung die Menschheit zu bewahren, wird in dem Stück ganz zur Illusion. Die Entwicklung auf dem Niveau
des Einzelmenschen ist als bestmögliche nicht mehr möglich für alle, da die Verantwortung für Erkenntnisse der Wissenschaft in die Hände aller gehört.
•
Die Physiker haben mit der Physik zu tun, und zwar mit dem Fortschritt der
35
36
Dürrenmatt: Werkausgabe, Bd. 7, S. 84.
Ebd., Bd. 7, S. 84.
37
Wie Dürrenmatts Rede zum Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, in dem er die Hoffnung auf
die Menschheit und ihre Zukunft ausdruckt: “Aber die Hoffnung bleibt, dass die Entwicklung der
Menschheit und die Notlage, in die sie dabei great, den Menschen zur Vernunft zwingt. Das Verfluchte
dabei ist nur, dass uns vielleicht verdammt wenig Zeit dazu übrig bleibt”. Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht. Nebst einem helvetischen Zwischenspiel. Zürich 1969, S. 102f. Vgl. dazu: Friedrich Dürrenmatt: Werkausgabe in siebenunddreißig Bänden. Zürich 1998; Bd. 18, S. 577 und Bd. 36, S. 208f.
38
Dürrenmatt: Werkausgabe, Bd. 7, S. 92.
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Kernphysik, dessen Auswirkung aber alle Menschen angeht: “Der Inhalt der
Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen”.39 Dürrenmatt regt
zur Selbstbestimmung an, zur Verantwortung aller Menschen, um nach seiner
Meinung die schlimmstmögliche Wendung zu verhindern. Die Geschichte, die
der Stückeschreiber zu Ende gedacht hat, ist die Geschichte der heutigen
Menschheit, die Geschichte von den Naturwissenschaftlern, die erkennen, dass
ihr Wissen vernichtend ist, die durch Zurücknahme ihres Wissens zu retten bereit sind und die Sinnlosigkeit und Bedeutungslosigkeit ihres Handeln erfahren
müssen. Diese Geschichte ist “zwar grotesk, aber nicht absurd (sinnwidrig).”40
“Sie ist paradox”41, aber möglich, daher geht sie alle Menschen an.
Literatur:
1.
ALEXANDER, NEVILLE E.: Die Physiker. Die Verantwortung des Forschers. In: Denken und
Umdenken. Hrsg. von Heinrich Pfeifer. München/Zürich 1977, S. 176-193
2.
ARNOLD, HEINZ LUDWIG: Frieden und Krieg. Friedrich Dürrenmatts Passion. In: Text +
Kritik. Heft 50/5. Dezember 2003, S. 129-152
3.
BROCK-SULZER, ELISABETH: Friedrich Dürrenmatt. Stationen seines Werkes. Zürich 1960
4.
DICK, ERNST S.: Dürrenmatt. Der Besuch der alten Dame. Welttheater und Ritualspiel. In:
Zeitschrift für deutsche Philologie LXXXVII (1968), S. 498-509
5.
DILLER, EDWARD: Friedrich Dürrenmatts Chaos and Calvinism. In: Monatshefte. Vol. 63,
Nr. 1, Spring 1971, S. 28-40
6.
DÜRRENMATT, FRIEDRICH: Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit. In: Theaterschriften
und Reden. Zürich 1966, S. 56-64
7.
Ders. : Werkausgabe in dreißig Bänden. Zürich 1980
8.
Ders.: Werkausgabe in siebenunddreißig Bänden. Zürich 1998
9.
DURZAK, MANFRED: Die Travestie der Tragödie in Dürrenmatts ‘Der Besuch der alten Dame’ und ‘Die Physiker’. In; Der Deutschunterricht. 28. Jahrgang, 6. Heft (1976), S. 86-96
10. FRANZEN, ERICH: Das Drama zwischen Utopie und Wirklichkeit. In: Merkur. 149, XIV.
Jahrgang, 7. Heft / Juli (1960), S. 738-756
11. GEISSLER, ROLF (Hrsg.): Zur Interpretation des modernen Dramas. Frankfurt a.M. 1964
12. HEISENBERG, WERNER: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik.
München 1962
13. HINCK, WALTER: Das moderne Drama in Deutschland. Göttingen 1973
39
40
41
Ebd., Bd. 7, S. 92.
Ebd., Bd. 7, S. 92.
Ebd., Bd. 7, S. 92.
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Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Physiker“. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Verantwortung
14. JAUSLIN, CHRISTIAN MARKUS: Friedrich Dürrenmatt. Zur Struktur seiner Dramen. Zürich
1964
15. JENNY, URS: Friedrich Dürrenmatt. Hannover 1985
16. JUNGK, ROBERT: Heller als Tausend Sonnen. Hamburg 1968
17. KEEL, DANIEL (Hrsg.): Über Friedrich Dürrenmatt. Zürich 1980
18. KELLER, OSKAR: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. München 1970
19. KNOPF, JAN: Friedrich Dürrenmatt. München 1976
20. LEHNERT, HERBERT: Fiktionale Struktur und physikalische Realität in Dürrenmatts Die
‘Physiker’. In: Sprachkunst. Jahrgang I/1970, S. 319-330
21. MAYER, HANS: Brecht oder Dürrenmatt oder die Zurücknahme. In: Hans Mayer: Dürrenmatt und Frisch. Stuttgart 1963
22. Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht. Nebst einem helvetischen Zwischenspiel.
Zürich 1969
23. SAUTER: Gespräch mit Friedrich Dürrenmatt. In: Sinn und Form. 18. Jahrgang, 3. Heft
(1966), Sonderheft II, S. 1218-1232
24. STEINER, JACOB: Die Komödie Dürrenmatts. In: Deutsch Unterricht XV, 6. Heft (1963), S.
81-98
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KUNST UND KÜNSTLER
in den essayistischen Schriften von Günter Grass
Ioana Diaconu
Eines der Hauptthemen in Grassens Prosa, aber auch in seinen Gedichten und in
den Theaterstücken „Die bösen Köche“ und „Die Plebejer proben den Aufstand“, die
Auseinandersetzung mit der Rolle der Kunst und der Künstler in der Gesellschaft
und in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit, durchzieht wie ein roter
Faden auch seine Essays, Reden und Interviews. Ob politische Reden:
Auch das Nachdenken über Deutschland ist Teil meiner literarischen Arbeit. Seit Mitte
der sechziger Jahre bis in die gegenwärtig anhaltende Unruhe hinein gab es Anlässe für
Reden und Aufsätze1
oder Reden gehalten anlässlich verschiedener literarischer Ereignisse oder der Verleihung von Preisen, kommt dieses Thema mit seltenen Ausnahmen fast in allen öffentlichen Äußerungen des Schriftstellers zum Ausdruck. Die Stellungnahmen von
Grass bezüglich Künstler und ihrer Kunst können unter den gemeinsamen Nenner
von Toleranz und Ausdrucksfreiheit gebracht werden. Somit herrscht bei Grass immer ein Bezug zwischen Geschichte, Politik und Gesellschaft einerseits und Literatur, Kunst im Allgemeinen andererseits. In der 1970 verfassten Rede über Literatur
und Politik begründet Grass den Bezug der Literatur zur Politik dadurch, dass, weil
die Politik ein Teil der Wirklichkeit sei und die Literatur auf der Suche nach der
Wirklichkeit, Literatur Politik nicht aussparen könne.
Mir sind Politik und Literatur nie einender ausschließende Gesetze gewesen: Die Sprache in der ich schreibe, ist krank an Politik; das Land in dem ich schreibe, trägt schwer
an den Folgen seiner Politik; die Leser meiner Bücher sind wie ich, der Autor, gezeichnet
von Politik: es wird wenig Sinn haben, Politikfreie Idyllen zu suchen, denn unversehens
sind selbst die Mondmetaphern makaber geworden. 2
Durch diese Beziehung begründet der Schriftsteller Günter Grass sein politisches
Engagement, das aber nicht über Literatur zu verwirklichen ist, sondern durch den
direkten Eingriff in das politische Geschehen, durch parteiische Anteilnahme. Literatur im Dienste einer Ideologie oder einer Revolution widerspricht dem Sinn der
Literatur, so wie ihn Grass versteht, und zwar die Wahrheit aufzudecken, die existierenden Verhältnisse zu klären.
1
“Schreiben nach Auschwitz“, in: „Der Schriftsteller als fragwürdiger Zeuge“, S. 221. (Siehe nähere Angaben zur zitierten Literatur am Ende des vorliegenden Aufsatzes.)
2
Literatur und Politik, in: „Der Schriftsteller als Fragwürdiger Zeuge“, S. 77.
Kunst und Künstler in den essayistischen Schriften von Günter Grass
Ein Jahr vorher hatte Grass in der auf dem Belgrader Schriftstellerkongress gehaltenen Rede sowohl vor Instrumentalisierung der Kunst durch Ideologien als auch
vor der Weltfremdheit der Kunst, der l’art pour l’art gewarnt. Mit dem Satz „Ich bin
Gegner der Revolution“3 beginnt er seine Argumentation gegen die These: „Die Literatur habe die Magd der Revolution zu sein“4. Der sozialistische Realismus oder der
italienische Futurismus, der schließlich in den Faschismus gemündet war, sind nur
zwei Beispiele, dafür wie eine revolutionäre Literatur sich in eine totalitäre Ideologie
umwandeln kann, dafür, dass „die Mechanismen der Revolution unabhängig davon
funktionieren, ob sie von linken oder rechten Ideologien gefüttert worden sind“ 5,
und dafür, dass sich die rechte wie die linke Literatur sich zu den jeweiligen Revolutionen nicht unähnlich verhalten hatten. So würden sich Brecht mit seinen StalinHymnen, Anna Seghers und Ilja Ehrenburg in derselben Position wie Heidegger,
Benn oder Ezra Pound befinden.
Revolutionen und Diktaturen, aber auch demokratische Gesellschaften prägen das
Dasein und Schaffen der Künstler. In der Rede vor dem Europarat-Symposium in
Florenz, am 30.06.73 über „Die Meinungsfreiheit der Künstler in der Gesellschaft“
führt Grass seine Gedanken über Literatur und Politik oder Revolution weiter. Seine
Argumentationen beschränkt er nicht auf seine Privatmeinung, sondern er möchte
im Namen aller Künstler sprechen (z. B. aus der Tschechoslowakei oder Griechenland), denen die Freiheit der Meinung genommen wurde, im Namen der politisch
verfolgten Künstler. Ihnen, und den Künstlern, die am Rande der Gesellschaft isoliert wurden, stellt Grass die Haltung der Künstler gegenüber, die sich mit den jeweiligen Diktaturen arrangieren konnten, sich als Elite abhoben und ihre Kunst zum
Schmuck und im Dienste der Macht stellten. So kann man nicht alle Künstler als
freiheitsliebend, harmonisch geeint und tolerant betrachten, die sich in Opposition
zum bösen, die Freiheit beschränkenden Staat und der Wirtschaft befinden. Nicht
selten hat es Fälle gegeben, in denen Künstler im Namen von Ideologien von ihren
eigenen Kollegen boykottiert wurden. Der vom spanischen Bürgerkrieg zurückgekehrte britische Schriftsteller George Orwell fand keinen Verleger für seinen
Roman „Mein Catalonien“, Alexander Solschenizyn wurde auf infamster weise von
sowjetischen Schriftstellern angegriffen, der Sänger Wolf Biermann wurde in der
DDR von den Schriftstellern Hermann Kant und Peter Hacks gemieden. So finden
sich in Großbritannien wie in der Sowjetunion oder in der DDR Künstler, die im
3
„Literatur und Revolution oder des Idyllikers schnaubendes Steckenpferd“, in: Der Schriftsteller als
Zeitgenosse, S. 65.
4
Ebd., S. 66.
5
Ebd., S. 69.
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Ioana Diaconu
Dienste der jeweiligen Diktaturen stehen, Diktaturen, die durch harmlose Kunst ihre
Bestätigung brauchen. Einen ähnlichen Standpunkte hatte der Schriftsteller Alfred
Döblin 1930 in seinem Aufsatz „Die Kunst ist nicht frei sondern wirksam – „ars
militans“ geäußert. Noch keine kommunistischen Diktaturen in Betracht ziehend,
erklärt Döblin, wie Künstler und ihre Kunst auch durch finanzielle Abhängigkeit
verharmlost werden können, und somit in Dienste der jeweiligen Macht genommen
werden können.
Grass bezeichnet Alfred Döblin in vielen Essays und Reden als seinen Meister. Die
Art in der Döblin Geschichte als einen absurden Prozess sieht, der von Daten und
Fakten belegt werden kann, und in der er die Geschichte durch Literatur zu deuten
versucht, ist für Grass beispielhaft für die Rolle der Literatur. Im Interview „Von
morgens bis abends mit dem pädagogischen Wahn konfrontiert“, geführt am
16.05.1980 in Berlin, stellt Grass seinen Standpunkt über die Beziehung von Literatur und Geschichte dar. Er plädiert für einen fachübergreifenden Literaturunterricht, der in Verbindung mit dem Geschichtsunterricht gesetzt werden müsste, und
nicht aus dem historischen Kontext gelöst werden darf. So ist für Grass auch die Behandlung von Heine, Büchner oder Hauptmann („Glanz und Elend der Europäischen Aufklärung“) ohne die Erklärung des geschichtlichen Hintergrunds nicht
denkbar.
Wissen Sie, mit Heine und mit den anderen Schriftstellern wird man in der Schule erst
dann richtig umgehen, wenn wir die klassischen Fächer auflösen. Es ist also sinnlos, ein
einzelnes Gedicht von Heine zu interpretieren, zum Beispiel das Webergedicht, wenn
nicht gleichzeitig das andere klassische Fach – wenn das im Deutschunterricht passiert,
ist das andere klassische Fach der Geschichtsunterricht – herangezogen wird. Sie können das eine nicht von dem anderen lösen, und eine „bloß“ ästhetische Interpretation
des Webergedichts, um bei diesem Beispiel zu bleibe, führt zu einer einseitigen Sicht. 6
Aber nicht nur die Geschichte ist eine notwendige Ergänzung der Literatur, sondern
auch die Literatur eine notwendige Ergänzung der Geschichte. Fontanes Roman
„Der Stechlin“ oder Thomas Manns „Die Buddenbrooks“ sollte man als Werke betrachten, die die sozialpolitischen Gegebenheiten ihrer Zeit reflektieren, da sie Werke von Schriftstellern sind, die aufmerksame Zeitgenossen waren.
Die Spiegelung von Zeitgeschichte durch jeweils gegenwärtige Literatur setzt Autoren
voraus, die sich als Zeitgenossen begreifen, denen selbst die trivialsten politischen Vorgänge kein außerästhetischer Störfaktor, vielmehr realer Widerstand sind, die mit jedem
6
„Heinrich Heine oder Glanz und Elend der europäischen Aufklärung“, in: „Die Deutschen und ihre
Dichter“, S. 144.
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Kunst und Künstler in den essayistischen Schriften von Günter Grass
geschriebenen Wort der Zeitlosigkeit einverleibt sein mögen und mangelnde Distanz
zum augenblicklichen Geschehen durch erzählerische Einfälle auszugleichen vermögen.7
sagt Günter Grass in seiner Rede auf dem internationalen PEN Kongress in Hamburg, 22.–28.06.1986. Beispiele von Schriftstellern, die sich nicht den gegenwärtigen Zeitgeschehnissen entziehen wollten, sind für Grass die Schriftsteller
Neruda, Hemingway, Orwell, Malraux, Koester, Renn, Kirsch, die sich mit dem
spanischen Bürgerkrieg aus direkter Erfahrung auseinandergesetzt hatten. Als
direkte Zeugen der Geschehnisse hatten sie die möglichen negativen Wirkungen der
Ideologien, in deren Namen der Krieg geführt wurde, frühzeitig erkannt und in ihren
Werken dargestellt. Diese Widerspiegelung von Geschehnissen aus dem spanischen
Bürgerkrieg und der daraus entnommenen Ideen und Haltungen ist für Grass ein
Beispiel dafür, wie der Teil der Geschichte, der durch militärische Siege und durch
Dokumente bekannt ist, durch die Geschichte der Einzelnen, Leidenden ergänzt
wird. So könne man zum Beispiel ein vollständiges Bild über den Dreißigjährigen
Krieg nicht ohne Grimmelshausens „Simplizissimus“ haben, oder man könnte
Remarques „Im Westen nichts Neues“ als eine Ergänzung der historischen Fakten
über den 1. Weltkrieg betrachten.
Wie die jeweilig zeitgenössische Literatur ein die Geschichte ergänzendes Panorama
liefert, erklärt Grass anhand von den drei Stadtromanen der Autoren John Dos Passos („Manhattan Transfer“), Emilio Gadda („Die grässliche Bescherung in der Via
Merulana“) und Alfred Döblin („Berlin Alexanderplatz).
Die Helden dieser Romane scheitern, sie stehen auf der Verliererseite, ihr Leben
wird vom Chaos der Großstadt geprägt. Ihr Leben in der Großstadt liefert ein zeitgeschichtliches Panorama, das bei Döblin das Ende der Weimarer Republik, bei Dos
Pasos die Vorahnung der Depression und bei Emilio Gadda den aufkommenden Faschismus dokumentieren, und die politischen Zustände werden über private Gegebenheiten angedeutet.
Zu den Schriftstellern, die sich als Zeitgenossen verstehen, zählt Grass den Autor
Uwe Johnson, dem er in vielen seiner Essays gedenkt.
In Johnsons Werk sieht Grass ein Zeitzeugnis. Auch am Beispiel der Lebensgeschichte der Einzelnen hat der Schriftsteller die Entstehungsgeschichte der DDR,
die Übergangsphase vom Nationalsozialismus zum Stalinismus dargelegt. Anlässlich
des Todes von Uwe Johnson beschreibt Grass im März 1984 im „Abschied von Uwe
Johnson“, in wenigen Sätzen Johnsons Werk und die Freundschaft mit ihm, von der
7
„Als Schriftsteller auch Zeitzeuge“, in: „Der Schriftsteller als Zeitgenosse“, S. 225.
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er sagt, sie hätte aus Distanz, heftiger Nähe, neuem Fremdsein und Fremdbleiben
bestanden.
Die langjährige Freundschaft und Zusammenarbeit mit Johnson schildert Grass in
einem Gespräch mit Roland Berbig („Distanz, heftige Nähe Fremd werden und
Fremd bleiben“, 18.03.91 in Behlersdorf). Die Schriftsteller hatten sich bei der
Buchmesse 1959 kennen gelernt, und eine Freundschaft geschlossen, die auf ihre
schriftstellerische Tätigkeit beruhte. Sie hatten „handwerkliche“ Gespräche geführt,
während der Entstehung von Grassens Romane „Katz und Maus“ und „Hundejahre“
und Johnsons „Das dritte Buch über Achim“ und „Zwei Ansichten“.
Es ging um schriftstellerisch komplizierte Fragen, wie Kapitelanfänge und ähnliches.
Diese Art von Schreibtechnik, die so verschieden wir beide waren, doch auf genaues Recherchieren sich berief und davon ausging, dass Vergangenheit, unter anderem, durch
die Belebung von verschollenen Details, die erst auszugraben sind, wieder einsehbar
gemacht werden kann.8
Grass und Johnson teilten eine gemeinsame Auffassung über Literatur und Geschichte, über die Rolle der Literatur im Verlauf der Geschichte und in der Entwicklung der Gesellschaft und die Nostalgie für die verlorene Heimat. Das
gemeinsame Literaturverständnis war Grundlage der Zusammenarbeit der beiden
Schriftsteller hinsichtlich des Aufstellens von Bibliotheken für die Bundeswehr.
Grass hatte im Herbst 1965 („Was lesen die Soldaten“, 1969) fünf Bibliotheken für
die Bundeswehr und eine Bibliothek für das Ersatzdienstlager der Wehrflüchtlinge
in Heidelberg gestiftet, um durch Literatur der noch immer faschistisch geprägten
Erziehung der Bundeswehrsoldaten entgegenzusteuern. Über die von Uwe Johnson
erstellte Bücherliste sagt Grass, sie sei noch immer mustergültig.
Diese Bibliotheken sind nach seiner Maßgabe ausgewählt worden. Eine richtige Mischung aus lesbarer und dennoch anspruchsvoller Literatur, Nachschlagewerken aufklärender Art, gut ausgewählter Kriminal- und Unterhaltungsromane. Das ist Johnsons
Auswahl und Handschrift.9
Das Portrait, das Günter Grass seinem Freund Uwe Johnson macht, ist für ihn
gleichzeitig Anlass, sich mit der Situation der Literatur in der DDR auseinanderzusetzen. Bei öffentlichen Angelegenheiten (Lesungen in der DDR), hatte Grass immer
wieder versucht, Uwe Johnson ins Gespräch zu bringen, da seiner Meinung nach,
sowohl Hermann Kants Roman „Die Aula“ als auch Christa Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“ ohne Uwe Johnsons Roman „Mutmaßungen über Jakob“ nicht möglich gewesen wären. Für die Rezeption der DDR-Literatur in der DDR, also für die
8
„Distanz, heftige Nähe Fremd werden und Fremd bleiben“, in: „Die Deutschen und ihre Dichter“, S. 286.
9
Ebd., S. 295.
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Kunst und Künstler in den essayistischen Schriften von Günter Grass
Leser in diesem Land betrachtet Grass die Verweigerung der Veröffentlichung von
Johnsons Büchern als einen nicht wieder gut zu machenden Verlust:
Nehmen Sie Das dritte Buch über Achim. Diese Generation ist regelrecht um einen wichtigen Autor betrogen worden, ein wichtiger Autor zur Kenntnis und Verständnis des eigenen Landes.10
Verlorene Heimat, Reflexion über zeitgenössische Verhältnisse und eine entschiedene Haltung gegen jede Form von Rassismus verbinden Günter Grass mit dem
indischen Schriftsteller Salman Rushdie. Im Zusammenhang mit seinem Roman
„Mitternachtskinder“ hatte sich Rushdie zu Günter Grass als seinen Lehrmeister
bekannt, der dazu sagt:
So wie ich von Alfred Döblin gelernt habe und darauf bestehe, daß Literatur nicht aus
dem Nichts kommt, sondern ihre Väter und Vorväter hat, gibt Rushdie offen zu, und
sagt, daß er von der Blechtrommel und von den Hundejahren beeinflußt wurde.11
Grass empfindet eine tiefe Solidarität mit dem Dichter, über den im Iran die Todesstrafe infolge seiner Werke verhängt wurde, und begrüßt in dem Gespräch „Das Mittelalter hat uns eingeholt“ (Die Zeit, 10.03.1989) die Haltung vieler Künstler, die für
Rushdie Partei ergriffen und sich für die Veröffentlichung seines Buches eingesetzt
hatten (Anne Jonas, H. M. Enzensberger) und hält zugleich die Medien dafür verantwortlich, dass sie ihrer Vermittlerrolle in dieser Sache nicht nachgegangen waren.
In diesem Gespräch ergreift Grass erneut die Gelegenheit, sich für Toleranz auszusprechen und an viele politisch verfolgte Schriftsteller zu erinnern – vor allem an
den in der Tschechoslowakei inhaftierten Schriftsteller Vaclav Havel.
Da am 9. März die geplante öffentliche Lesung aus Rushdies Roman „Mitternachtskinder“ vom damaligen Präsidenten der Akademie der Künste Peter Härtling verweigert wurde, trat Günter Grass nach einer zwanzigjährigen Mitgliedschaft durch
einen offenen Brief an Peter Härtling aus der Akademie der Künste aus:
Das über Salman Rushdie verhängte Todesurteil und die Tatsache, daß gegen ihn Mordkommandos auf den Weg geschickt worden sind, ferner die Bedrohung aller Personen,
die sein Buch übersetzen, verlegen, verkaufen oder sonst wie fördern, ist zusätzlich als
Anschlag auf die Meinungsfreiheit zwar nicht ohne Vergleich, doch in seinen internationalen Auswirkungen beispiellos. Vor allen anderen Berliner Institutionen hätte die
Akademie der Künste dieser Herausforderung gegenüber an Ort und Stelle Widerstand
bezeugen müssen. Indem sie ihre Räume verweigerte, gibt sie dem terroristischen Druck
nach, entledigt sie sich ihrer Verpflichtungen ihrer Vergangenheit gegenüber und nimmt
eine Haltung ein, die schlechtes Beispiel gibt.12
10
Ebd., S. 290.
11
„Das Mittelalter hat uns eingeholt“, in: „Die Deutschen und ihre Dichter“, S. 251.
12
„Geschichtliche Last als politische Verpflichtung“, in: „Die Deutschen und ihre Dichter“, S. 262.
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In einem weiteren offenen Brief an Salman Rushdie (28.01.1992, „die tageszeitung“
Berlin) versichert Grass seinem Freund Rushdie, dass er mit seinen Ängsten und
Furcht nicht alleine sei.
Der dritte Jahrestag der über Rushdie verhängten Todesstrafe ist erneuert Anlass für
Grass, in einer BBC-Fernsehdiskussion (14.02.1992) sich für politisch verfolgte
Künstler, für Toleranz und Meinungsfreiheit auszusprechen, also gegen Ideologien,
die zu Terror führen. Er erinnert wieder an Orwells Romane, die den stalinistischen
Terror anklagten, ein Bild der Gesellschaft unter einer Diktatur boten und deswegen
ein halbes Jahrhundert lang im kommunistischen Herrschaftsbereich verboten waren.
Ich stelle dieses Beispiel am Anfang meiner Rede, weil der Fall Orwell deutlich macht,
inwieweit Intellektuelle zugleich Opfer und Zuträger der Zensur waren und sind, denn
dieser Prozeß ist nicht abgeschlossen. Das Ende der kommunistischen Herrschaft hat
nunmehr Sieger auf den Plan gerufen, die sich spiegelbildlich zu verhalten beginnen, indem sie die Methoden eines McCarthy aufs neue beleben.13
Die Gefährdung der Meinungsfreiheit, der Freiheit der Literatur bewegt Grass immer dazu, dagegen Stellung zu nehmen. Zensur, die zu Schreibverboten, aber auch
Verbannung, Exil, Verhaftungen, Verfolgung und Mord geführt hat, ist so alt wie die
Literaturgeschichte. Und wieder sind es Schriftsteller und Journalisten, die gegen
ihre Kollegen als Zensoren tätig waren, denn „eine gut funktionierende Zensur setzt
einen Zensoren voraus, der literarisch gebildet (…) ist“14. Doch im faschistischen
Deutschland war es nicht nur bei der Zensierung der als gefährdend betrachteten
Literatur geblieben, sondern es war bis zur öffentlichen Bücherverbrennungen gekommen, das Geschriebene sollte ungedruckt bleiben und die Autoren zum Verstummen gebracht werden. Die Prosa der Autoren, denen es zu flüchten gelungen
war, und die im Exil schrieben, blieb immer fremd. Für Grass ist es fast unverständlich, wie manche Autoren, wie Anna Seghers oder Berthold Brecht, die aus dem Exil
zurückgekommen waren, erneut die Eingriffe des Zensors akzeptierten, weil es ihren
Auffassungen über den Klassenkampf entsprach.
Die Literatur in der DDR und BRD bilden zusammen einen Schwerpunkt in den Essays und Reden von Grass und geben auch den Titel eines Vortrags auf der Südostasienreise 1979.
In dieser Rede äußert sich Grass zur Entwicklung der deutschen Nachkriegsliteratur
bis in die siebziger Jahre. Die Entstehung der Nachkriegsliteratur datiert Grass
13
„Gegen die Hohenprieseter der Eindeutigkeit“, in: „Die Deutschen und ihre Dichter“, S. 314.
14
Ebd., S. 315.
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Kunst und Künstler in den essayistischen Schriften von Günter Grass
gleichzeitig mit der Gründung der Gruppe 47, die die Etablierung vieler deutschsprachigen Autoren der Nachkriegsgeneration bewirkt hatte. Nach Grassens Auffassung sind es die Schriftsteller von Ost und West diejenigen, die zur Aufhebung
der Grenze zwischen den beiden Ländern beitrugen, durch ihre grenzüberschreitende Literatur, durch ihre Beschäftigung mit der Vergangenheitsbewältigung
noch lange nachdem das kein Thema mehr für ihre Staaten war.
Als Beispiel für die grenzüberschreitende Wirkung der deutschsprachigen Literatur
nennt Grass die Ostberliner Treffen von DDR- und BRD-Schriftsteller zwischen 1973
bis 1978. Hans Joachim Schädlich, Sarah Kirsch, Kurt Bartsch, Jurek Becker, Thomas Barsch, Klaus Schlesinger, Bernd Jentzsch und Peter Schneider, Nikolas Born,
Christoph Buch, Jürgen Theobaldy, Rolf Hauf und Günter Grass lasen einander aus
ihren Manuskripten. In dieser Zeitspanne entstanden Grassens „Der Butt“, Borns
„Die erdabgewandte Seite der Geschichte“, Schlesingers „Berliner Traum“, Schädlichs „Versuchte Nähe“, und Reiner Kirschs „Von einem, der auszog das Fürchten zu
lernen“. Für Grass und seine Kollegen machten diese Treffen nochmals deutlich,
dass Literatur über allen Ideologien stehen muss und sie sich nicht dem Staat unterwerfen darf, und vor allem, dass sie grenzüberschreitend ist. Die Feststellung für
die siebziger Jahre war, dass der gesamtdeutsche Dialog nur über Kultur stattfinden
würde.
Den Fürsten damals und den Politikern heute fiel oder fällt zur Frage der Nation immer
nur kleinstaatlicher Separatismus der größenwahnsinniger Nationalismus ein. Hingegen
sind die Schriftsteller, von Logau und Lessing über Herder und Heine bis zu Böll und
Biermann stets die besseren Patrioten gewesen. Patrioten und Weltbürger zugleich, die
ohne nationales Geschrei oder ängstliche Abgrenzung ihr Vaterland beschworen, in seinen Schichtungen dargestellt, dessen Sprache reich gemacht, es kritisch gesehen, das
heißt auf genaue Weise und nicht blindlings geliebt haben. Ihr Ruf nach Einigkeit meinte
nicht Machtballung. Ihr Verlangen nach Größe strebte nie Herrschaft an. Ihr Reichtum
war die kulturelle Vielfalt der Völker. Dass man nie auf sie gehört hat belegt die deutsche
Geschichte und ihren katastrophalen Verlauf.15
Auch die zwei deutschen Statten verstehen Kultur nur als Schmuck und Bestätigung.
Im westlichen Teil Deutschlands ist das vor allem durch die Art und Weise, in der
die Kultur subventioniert wird, ersichtlich. Die DDR reagierte ihrerseits mit Strafmaßnahmen und Ausbürgerungen, sobald die Künstler den Staat in Frage stellten, in
der BRD wurden diese bespitzelt oder ignoriert. Die Tatsache, dass sich die Künstler
der beiden Staaten der Schuldfrage und der Verarbeitung der deutschen schuldbeladenen Vergangenheit angenommen haben, widersprach dem Wunsch ihrer
Staaten nach „positiver“ Kunst. Die Lobsänger in der DDR warfen ihrer Kollegen
15
“Die Deutschen Literaturen“, in: „Der Schriftsteller als Zeitgenosse“, S. 171/172.
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„Nestbeschmutzung“ vor und bewirkten deren Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, in der BRD sorgten sie für die Streichung der „negativen“ Texte aus den
Schulbüchern und beschimpften auch ihre Kollegen als „Nestbeschmutzer“. 1972
hatte Grass geschrieben:
Neuerdings wünschen sich die Deutschen ihre Dichter engagiert, aber nicht allzu sehr.
(…) Die linientreuen Deutschen in Ost und West mögen ihre Schriftsteller nur, solange
sie sich dunkel raunend oder positiv lebensbejahend als Dichter oder Lobredner verstehen; sobald sie deutlich werden und den Stalinismus im Kommunismus, den
Nazismus in Springers Massenblättern bezeugen, wird Biermann isoliert und stumm
gemacht, wird Heinrich Böll, weil er nicht stumm gemacht werden kann, so lange und so
verzweigt der Hetze ausgesetzt, bis seine Nerven (so hofft man) versagen.16
In den sechziger Jahren hatte Grass die utopische Idee entwickelt, die Politiker
könnten sich Rat bei den Schriftstellern einholen. (Rede am 24.04.1969 in Princeton: „Vom mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren unter Berücksichtigung nicht vorhandener Höfe“). Dieser Idee folgend, könne zum Beispiel der
Schriftsteller Heinrich Böll den Bundeskanzler Ehrhard dazu bewegen, die DDR anzuerkennen und alle Kapitalisten zu enteignen, oder Peter Weiss den DDR-Staatspräsidenten Walter Ulbricht den Schießbefehl an den Granzen aufzuheben oder sich
bei Wolf Biermann zu entschuldigen. Da es aber, mit Ausnahme von Präsident Kennedy oder Willy Brandt nie dazu gekommen war, dass sich Politiker bei den Schriftstellern Rat geholt haben, bliebe den Schriftstellern nichts anders übrig, als sich direkt politisch zu engagieren.
Grass verzichtet bis in die neunziger Jahre nicht auf die Idee, dass sich Politiker von
Schriftstellern beraten lassen sollten, und bedauert in einem Interview für „Die
Zeit“, 1992, dass sich die Politiker vor der Übernahme der DDR nicht auch mit
Schriftstellern beraten hatten.
Ich hätte mir gewünscht, daß verantwortliche Politiker in der Bundesrepublik beim
deutschen Vereinigungsprozess, der sehr rasch beschlossen und durchgezogen wurde,
doch mal den Rat unter anderem einiger Schriftsteller eingeholt hätten. Gerade aufgrund unserer Arbeit wissen wir genauer als Politiker, daß sich das Leben nicht in Legislaturperioden abspielt, daß vierzig Jahre ein Zeitraum sind, den man weder mit Geld,
noch mit neuen Granzen verdecken kann, und dass jeder Politiker, der das ignoriert, dafür bitter bezahlen muss. Dieses Überspringen der Zeit, das heißt auch das Ignorieren
der Beschädigungen und Prägungen ist ein Versäumnis, das einem Romancier nie unterliefe.17
Dass man in Westdeutschland kein Verständnis für die Entwicklung der vierzigjährigen DDR-Geschichte haben wollte, zeigte sich 1990 an der erbarmungslosen
16
„Die Deutschen und ihre Dichter“, in: „Die Deutschen und ihre Dichter“, S. 149.
17
„Es gibt sie längst die neue Mauer“, in: „Der Schriftsteller als Zeitgenosse“, S. 252.
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Kunst und Künstler in den essayistischen Schriften von Günter Grass
Kritik von Christa Wolfs „Was bleibt“, die für Grass nicht Kritik eines literarischen
Werks sondern eine förmliche Hinrichtung der Autorin war. Am 16.17.1990 in einem
Interview für die Zeitschrift „Der Spiegel“ versucht Grass die Biographie Christa
Wolfs und anderer DDR-Autoren in den sozial-politischen Verstrickungen des
kommunistischen Staates zu erklären, erläutert die Bedeutung von Christa Wolfs
Werken in der gesamtdeutschen Literatur und greift entschieden Partei für die Autorin. Die Vorwürfe, die die Kritik an Christa Wolfs Werke richtet, gleichen für Grass
den Vorwürfen, die pauschal den Schriftstellern der Gruppe 47 von Seiten der
damaligen Politiker gemacht worden waren.
Im Interview kommt im Kontext des Vergleichs zwischen Nazidiktatur und dem
kommunistischen Regime in der DDR, Grassens Kritik gegen Brechts Haltung während des Arbeiteraufstands 1953 in Berlin vor. Grass hatte anlässlich einer Rede des
vierhundertsten Geburtstags von William Shakespeare (1964) Brecht, der sich der
Bearbeitung der Tragödie „Coriolan“ von Shakespeare angenommen hatte, vorgehalten, sich nicht aus seiner Position als angesehener Künstler in der DDR direkt
für die Arbeiter ausgesprochen zu haben, sondern sich nur für die Bearbeitung des
Aufstands zu einem Lehrstück interessiert hätte.
Es kann dem Publikum mit Hilfe der Bearbeitung ein Lehrstück gezeigt werden, innerhalb vorgesehener Grenzen darf sich das Publikum zum Mitdenken aufgefordert sehen;
bei allem wird der aufzeigende und zum mitdenken auffordernde Zeigefinger einen relativ ästhetische Fingerhut tragen dürfen, damit die erlebte Dialektik und das Vergnügen
an der Tragödie nicht in trockener Schulstubenluft verkümmern müsse.18
Brechts Haltung, die Tatsache, dass der Aufstand nicht Grund genug für ihn gewesen
war, während des Aufstands die Proben im Theater am Schiffbauerndamm zu unterbrechen, gibt Grass als Grund an, um ein Theaterstück zu schreiben, in dem als
Hauptgestalt der Theaterchef Bertholt Brecht zu erkennen sein soll. Grass erzählt in
dieser Rede sein noch zu schreibendes Theaterstück. 1966 veröffentlichte er „Die
Plebejer proben den Aufstand“, das ihm heftige Kritik einbrachte, und er mit Veröffentlichungsverbot in der DDR belegt wurde.
In vielen seiner essayistischen Schriften und Reden bringt Grass Themen und Motive zum Ausdruck, die er auch in seinen Werken behandelt hat. In einem seiner ersten Essays, „Die Ballerina“, beschreibt er die Künstlerin einer abstrakten, reinen
Kunst und deren Tanz. Ballett, Ballettmeister und Ballerina sind auch Kunstform
und Künstler, die in den Romanen „Die Blechtrommel“ und „Hundejahre“ vorkommen. Die Einheit von tätiger Melancholie und Bereitschaft zur Utopie, die der
18
“Vor- und Nachgeschichte der Tragödie des Coriolanus von Livius und Plutarch über Shakespeare bis
zu Brecht und mir“, in: die „Deutschen und ihre Dichter“, S. 56.
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Studienrat Starusch in seinen Gesprächen mit dem Zahnarzt im Roman „Örtlich betäubt“ verkörpert, behandelt Grass in seiner Dürer Rede 1971 als zwei Seiten einer
Medaille.
In dem Essay „Heinrich Heine oder Glanz und Elend der europäischen Aufklärung“,
1972, gibt er die aufklärende Funktion von Heines Trommler als Vorbild für Oskars
aufklärerisches Trommeln und erzählt wie er Heines nicht beendete Geschichte „Der
Rabbi von Bacherach“ hätte zu Ende schreiben wollen, ein Thema, das auch in „Aus
dem Tagebuch einer Schnecke“ zu finden ist.
In „Die deutschen Literaturen“ (1979) führt er den Begriff „Kulturnation“ ein, der in
„Kopfgeburten“ (1980) erläutert wird. Wie Schriftsteller „die besseren Patrioten“
wären („Die deutschen Literaturen“), ist das Hauptmotiv in der Novelle „Das Treffen
in Telgte“.
In „Literatur und Mythos“ (1981), „Die Vernichtung der Menschheit hat begonnen“
(1982), „Die Zauberlehrlinge“ (1982) und „Mir träumte, ich müsste Abschied nehmen“ (1986) stellt er das Thema zur Debatte, wie der aufgeklärte Mensch durch seine Wissenschaft seine eigene Welt und sein Leben zerstört, was zum Hauptthema
des Romans „Die Rättin“ wurde.
In der Rede „Mein Traum von Europa“ (1992) beschäftigt er sich mit der Überbevölkerung in Asien und mit dem langsamen Einzug von Millionen von asiatischen
Flüchtlingen nach Europa, Themen, die er auch im Roman „Unkenrufe“ (1982) behandelt.
Sein Interesse für Spitzel und Spitzeltum kommt zur Sprache im Essay „Tallhover
kann nicht sterben“ aus „Zunge zeigen“ und wird auch mit dem Satzbelegt: „Ich würde schon gerne wissen, wie sieht es in einem wirklichen Stasi-Mann aus, der Jahrelang geglaubt hat, den richtigen Dienst getan zu haben.“19 Auch seine Auseinandersetzung mit Theodor Fontane und dessen Werk findet ihren Ausdruck in „Tallhover
kann nicht sterben“, der ewige Spitzel und Fontane in der Gestalt von Fonty werden
dann die Hauptgestalten im Roman „Ein weites Feld“.
Außer Motiven und Themen, die er in seinen Werken behandelt, schreibt Grass in
seinen Essays auch über die Literatur, die ihn beeinflusst hat, über die Werke von
Cervantes, Grimmelshausen, Döblin, Melville, über den Picaro, der von der Komik
des Scheiterns leben würde. („Fortsetzung folgt“, „Vom Abenteuer der Aufklärung“).
Nicht nur die Welt seiner Gedanken über Kunst und ihre Rolle in der Gesellschaft,
19
„Es gibt sie lägst, die neue Mauer“, in: „Der Schriftsteller als Zeitgenosse“, S. 259.
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Kunst und Künstler in den essayistischen Schriften von Günter Grass
über Kunst und Politik oder über Schriftsteller eröffnet Grass seinem Publikum über
seine Essays, sondern er gewährt auch einen Einblick in seine Arbeitsweise und begründet seine Künstlerexistenz. „Ich liebe meinen Beruf. Er verschafft mit Gesellschaft, die vielstimmig zu Wort kommt und möglichst wortgetreu ins Manuskript
finden will.“20
Er schreibt über den Entstehungsprozess seiner Gedichte und Dramen, über die
Entstehung seiner Zeichnungen, Graphiken und seiner Plastiken. In „Bilder können
die Welt nicht verbessern“ schreibt Grass:
Da ich nie unter meinem Doppelberuf gelitten habe, auch, trotz vieler Aufforderungen,
nicht bereit gewesen bin, den einen oder den anderen Beruf aufzugeben, zeichne und
schreibe ich alternierend; einzig das Gedichteschreiben und das Zeichnen bildhaft – gegenständlicher Wirklichkeit schleißen einander nicht aus, sind vielmehr gleichzeitig
möglich und notwendig.21
In mehreren Aufsätzen erklärt Grass, wie ihn das Konzentrieren auf einen Gegenstand, den er zeichnen will, und die Zeichnung oder Graphik, die daraus entstehen,
sich mit Worten ergänzen, und wie das dann zu einem Prosawerk führt. So war es
zum Beispiel mit der Hand, die einen Kiel hält und aus dem Steingeröll ragt, mit
dem Butt („Bin ich Schreiber oder Zeichner“, „Die Disziplin wechseln beim Gegenstand bleiben“) oder den beiden Figuren von Fonty und seinem Dauerbegleiter Hoftaller („Die Disziplin wechseln beim Gegenstand bleiben“). Grass sagt über seine
Zeichnungen, dass sie nicht Illustrationen dessen wären, was er schreibt, sondern
Stufen im Entstehungsprozess eines Prosawerks. Mehr noch, seine Manuskripte
schreibt er mit Möwenfedern und Gänsekiele, mit denen er auch zeichnet.
Gedichte haben während der Arbeit an Romanen eine ähnliche Rolle wie Zeichnungen. Gemeinsam haben für Grass das Gedicht und die Zeichnung das Weglassen.
Manchmal ist eine Bleistiftzeichnung, aus der heraus sich die ersten Zeilen für ein Gedicht, einen ersten Vers entwickeln, oder umgekehrt, in einen Gedichtentwurf hinein
entsteh die Zeichnung. Oft aber entstehen gleichzeitig. Es fängt zeichnerisch an, dann
kommt der Text, und dann setzt sich die Zeichnung an einigen Stellen wieder fort. Es
wird auf jenen Fall zu einem graphischen Blatt.22
Seine im Arbeitsprozess eingebundenen Zeichnungen gibt er als den Grund für die
Anschaulichkeit seiner Texte an. Die Figuren und Situationen, die er zeichnet, verhelfen ihm zu dieser Bildhaftigkeit, helfen ihm, die Handlung von außen her zu betrachten. („Vom Abenteuer der Aufklärung“). Dem Zeichnen, Malen, der Bild-
20
“Fortsetzung folgt“, S. 15.
21
“Bilder können die Welt nicht verbessern“, in: „Der Autor als fragwürdiger Zeuge“, S. 99.
22
„Die Disziplin wechseln, beim Gegenstand bleiben“, in: „Der Autor als fragwürdige Zeuge“, S. 294.
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hauerei wendet sich Grass auch in den Phasen, in denen er nicht schreibt, da er befürchtet, wenn er nur bei einer Kunst bliebe, dass dies zum Manierismus führen
würde.
Im Essay „Doppelter Max“ beschreibt Grass, wie er Max Frisch aber auch andere
Schriftsteller, zum Beispiel Uwe Johnson, gezeichnet hat. Zu den Künstlern und
Bildhauern, denen Grass in seinen Schriften gedenkt, zählen Otto Pankok, Franz
Witte, Sepp Manges oder Karl Hartung („Otto Pankok“) oder sein Freund, der Bildhauer Ludwig Gabriel Schreiber, der dann auch im Roman „Der Butt“ in den LudGestalten portraitiert wird. In „Hingucken und Aufzeichnen“ beschreibt Grass die
Entstehung des Bandes „Zunge zeigen“, der Reiseimpressionen während seiner Indienreise, und warum die Notizen über seine Impressionen und der Gedichtzyklus
mit Zeichnungen ergänzt werde sollte: Um die Reaktion vor der Welt des Schmutzes,
der Gewalt und des Todes – die tiefe Scham – zum Ausdruck zu bringen.
In der Frankfurter Poetik-Vorlesung „Schreiben nach Auschwitz“ (1990) skizziert er
seine künstlerische Laufbahn. Ausgehend von dem Gebot Adornos aus „Minima Moralia“, das besagt, es sei barbarisch nach Auschwitz noch ein Gedicht zu schreiben,
erklärt Grass die Notwendigkeit und den Stil der Kunst nach 1945. Er berichtet über
die Literatur, die ihn beeinflusst hat – Döblin, Dos Passos, Trakl, Apollinaire, Albert
Camus, über seine Ausbildung als Bildhauer, über seine Faszination vom Bild, vom
Gegenständlichen, die in seiner Kunst wieder zu erkennen ist, er erzählt wie ihn zuerst Paul Schallück und Walter Höllerer während der Arbeit beim Roman „Die
Blechtrommel“ ermutigt haben, und dann Paul Celan vor allem bei der Arbeit am
Roman „Hundejahre“.
Ich verdanke Paul Celan viel: Anregung, Widerspruch, den Begriff von Einsamkeit, aber
auch die Erkenntnis, daß Auschwitz kein Ende hat. Seine Hilfe kam nie direkt, sondern
verschenkte sich in Nebensätzen, etwa auf Spaziergängen in Parkanlagen. Mehr als auf
die ‚Blechtrommel’ hat sich Paul Celans Zuspruch und Dreinreden auf den Roman ‚Hundejahre’ ausgewirkt (…).23
In dieser Vorlesung erklärt Grass, wie im Zusammenhang mit der schuldbeladenen
Vergangenheit Deutschlands, die immer ihre Schatten auf die Gegenwart und Zukunft wirft, der Begriff „Vergegenkunft“ entstanden ist, oder wie es im Zusammenhang mit seiner politischen Arbeit zur Metapher vom „Stillstand im Fortschritt“ gekommen war, welche Beziehung es zwischen seinem künstlerischen Schaffen und
seiner politischen Arbeit gibt. Und, dass „etwas, das nicht zu Wort kam, gesagt werden [muss] (…) So wird meine Rede zwar ihren Punkt finden müssen, doch dem
23
„Schreiben Nach Auschwitz“, in: „Der Autor als fragwürdiger Zeuge“, S. 212.
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Kunst und Künstler in den essayistischen Schriften von Günter Grass
Schreiben nach Auschwitz kann kein Ende versprochen werden, es sei denn, das
Menschengeschlecht gäbe sich auf.“24
Danach schrieb Grass noch die Romane „Ein weites Feld“ und „Mein Jahrhundert“
und die Novelle „Im Krebsgang“.
In der Rede anlässlich der Verleihung der Nobelpreises 1999, „Fortsetzung folgt“,
greift Grass die Hauptthemen und Motive aus seinen literarischen Werken und seinen Essays auf, er spricht über seinen Beruf und über die Rolle der Literatur, der
Kunst und des Künstlers in der Gesellschaft, über die Beziehung von Literatur und
Politik oder von Literatur zu verschiedenen Ideologien. Er spricht auch über die Entstehung der Literatur, – „Von Anfang an wurde erzählt. Lange bevor sich das Menschengeschlecht im Schreien übte, erzählte jeder jedem, und jeder hörte dem anderen zu.“25 – und über Literaturgeschichte, und wie die Entwicklung der Literatur die
Entwicklung und Verfeinerung der Zensurmethoden mit sich gebracht hat.
Ein politisches Thema, das über Jahrzehnte Grassens Kunst begleitet hat, der große
Unterschied zwischen Reichtum und Armut, Hunger und Not, zwischen Überfluss
und Mangel, der Flüchtlingsströme in Bewegung setzt, ist noch immer aktuell, und
das ist für Grass Anlass, seine künstlerische Tätigkeit nicht aufzugeben:
Dieses Thema ist uns geblieben. (…). Davon wird in Zukunft zu erzählen sein. Schließlich
muß unser aller Roman fortgesetzt werden. Und selbst wenn eines Tages nicht mehr geschrieben und gedruckt werden darf, wenn Bücher als Überlebensmittel nicht mehr zu
haben sind, wird es Erzähler geben, die uns von Mund zu Ohr beatmen, indem sie die alten Geschichten aufs neue zu Fäden spinnen: laut, leise, hechelnd und verzögert,
manchmal dem Lachen, manchmal dem Weinen nahe. 26
Literatur:
Primärliteratur:
1.
2.
3.
4.
5.
GRASS, GÜNTER: Der Autor als fragwürdiger Zeuge, Steidl, Göttingen 1997
DERS.: Die Deutschen und ihre Dichter, dtv, München, 1999
DERS.: Der Schriftsteller als Zeitgenosse, dtv, München, 1999
DERS.: Fortsetzung Folgt; Literatur und Geschichte, Steidl, Göttingen, 1999
DERS.: Das Rundschreiben der Claire Goll, Van Gruting, Looyeland, (NL) 2002
24
Ebd., S. 222.
25
“Fortsetzung folgt“, S. 15.
26
„Fortsetzung Folgt“, S. 50.
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6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
GRASS, GÜNTER, H. ZIMMERMANN: Vom Abenteuer der Aufklärung, Werkstattgespräche,
Steidl, Göttingen 1999
GRASS, GÜNTER: Die Blechtrommel, Luchterhand, Darmstadt 1978
GRASS, GÜNTER: Katz und Maus, Luchterhand, Darmstadt, 1984
GRASS, GÜNTER: Hundejahre, Luchterhand, Berlin, 1963
DERS.: Örtlich betäubt, Werkausgabe in 10 Bänden, Band IV, Luchterhand, Berlin 1987
DERS.: Aus dem Tagebuch einer Schnecke, Werkausgabe in 10 Bänder, Band IV, Luchterhand, Berlin 1987
DERS.: Der Butt; Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1979
DERS.: Das Treffen in Telgte, dtv, München 1997
DERS.: Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus, Werkausgabe in 10 Bänden, Band
VI, Luchterhand, Berlin 1987
DERS.: Die Rättin, dtv, München, 1999
DERS.: Unkenrufe, dtv, München 1999
DERS.: Ein weites Feld, dtv, München 1999
DERS.: Mein Jahrhundert, Steidl, Göttingen 2000
DERS.: Fünf Jahrzehnte, ein Werkstattbericht, Steidl, Göttingen 2001
DERS.: Im Krebsgang, Steidl, Göttingen 2002
Sekundärliteratur:
1.
ARNOLD, HEINZ LUDWIG (Hg): Die Gruppe 47; Ein kritischer Grundriss, Edition Text und
Kritik, München, 1987
2. CEPL-KAUFMANN, G: Günter Grass. Eine Analyse des Gesamtwerks unter dem Aspekt von
Literatur und Politik. Kronberg / Ts. 1975
3. FÜSSEL, ST.: Günter Grass. Das Treffen in Telgte. Erläuterungen und Dokumente. Reclam,
Stuttgart 1999
4. GÖRTZ, F.J.: “Die Blechtrommel” Attraktion und Ärgernis. Ein Kapitel deutscher Literaturkritik. Darmstadt, Neuwied 1984
5. GOETZE, A.: Pression und Deformation. Zehn Thesen zum Roman “Hundejahre” von Günter Graß (sic!). Göttingen 1972
6. HERD, E.V.: Blechtrommel und Indische Flöte. Günter Grass’ Einfluss auf Salman Rushdie. In: Zeitgenossenschaft. Zur deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert. Festschrift für Egon Schwarz zum 65. Geburtstag. Hg. v. P.M. Lützler. Frankfurt a. M. 1987.
7. NEUHAUS, V.: Günter Grass. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Metzler, Stuttgart,
Weimar 1992
8. OSINSKI, J.: Aspekte der Fontane-Rezeption bei Günter Grass in Fontane-Blätter 62
(1996), S. 112-196
9. ROTHENBERG, J.: Günter Grass. Das Chaos in verbesserter Ausführung. Geschichte als
Thema und Aufgabe des Prosawerks.
10. SCHERF, R.: Günter Grass. “Die Rättin” und der Tod der Literatur. In: Wirkendes Wort.
1987
11. SCHWARZ, W.J.: Der Erzähler Günter Grass. Bern - München 1969
12. STAHLBAUM, K.: Kunst und Künstlerexistenz im Frühwerk von Günter Grass. Köln 1989
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IN DER VERTRAUTEN FREMDE
Zur Wahrnehmung von Natur und Raum in
Die Fehler des Kopisten von Botho Strauß
Till Matthias Zimmermann
Dass sich der moderne Mensch in einer Welt bewegt, die sich von seiner natürlichen
Umwelt komplett unterscheidet, ist bekannt. Die Annahme, dass „die Natur“, also in
Reinform, als unverdorbenes Substrat, existiert, darf, ob des langen, eingreifenden
und manipulierenden Daseins des Menschen auf diesem Planeten, bezweifelt werden – freilich mit Ausnahme weniger unentdeckter Gegenden wie Arktis, Antarktis,
einiger Wüsten, Regenwälder oder Hochgebirge. Die Vorstellung, dass man sich den
Strapazen eines Lebens auf dem Land ausliefert, mag abwegig erscheinen, doch in
Anbetracht der symbolischen Aufladung des Naturbegriffs nicht unmöglich; ist doch
die Natur (an sich) schon das Ergebnis menschlicher Projektionen und Wünsche.
Die Idee, in der Natur den Urgrund allen Seins, eine Art höhere Identität des Menschen zu finden, korrespondiert mit dem Gedanken der Alterität, dem Eindruck,
dass die Natur auch immer die Fremde, die unzugängliche Gegend ist. Im 1997 veröffentlichten Buch Die Fehler des Kopisten von Botho Strauß begibt sich der Erzähler in die Natur, er baut sich ein Haus in der Uckermark und lebt dort mit seinem
Sohn. Warum zieht sich ein Mensch in die Natur zurück, welche Vorstellungen begleiten ihn und wie geht er mit den veränderten Konstellationen in Raum und Umwelt um? Anhand dieser Fragen zu Natur und Raum soll die Naturbetrachtung des
Textes nachvollzogen werden, konkret: welche Modelle der Naturwahrnehmung verarbeitet der Erzähler?
Die Fehler des Kopisten ist von der germanistischen Forschung bisher kaum beachtet worden; es liegt eine Dissertation vor und zwei kürzere Artikel, die für diese
Untersuchung nicht herangezogen werden1. Auf weitere, meist nur kurze Hinweise
1
Beim Artikel von WORTMANN (2005) handelt es sich um den Versuch, durch einen Vergleich des Straußschen Buches mit einem Roman von Rainald Goetz Schülern in einem didaktischen Unterrichtsmodell
zwei extreme Formen des Umgangs mit der medialen und kulturellen Situation näherzubringen. GARBE
(2001) liest den Text als verspätetes Dokument des Fin de siècle, das Denkfiguren der Jahrhundertwende
aufgreift, um Bilanz zu ziehen. Der Text habe sich das Ziel gesetzt, die konservative Kulturkritik wiederzubeleben; die Naturbeschreibungen seien Gedichten Georges und Hofmannsthals entlehnt. Da die Artikel andere Schwerpunkte setzen, werden sie nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Die Arbeit von FÖLS
(2003) vergleicht den Straußschen Text mit dem deutschen Spielfilm Rossini oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief … und fragt nach den Verbindungen zwischen Schrift, Bild und technischen Bildern aus dem Blickwinkel der Luhmannschen Systemtheorie. Nach Niklas Luhmann ist die Natur Teil der
Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, die sich in den verschiedenen Teilbereichen Politik, Wirt-
Till Matthias Zimmermann
auf einzelne Textstellen, wird an entsprechender Stelle eingegangen. Eine derart exzessive Darstellung von Naturbildern findet sich in keinem anderen Werk von Botho
Strauß, dieser Thematik wurde bisher keine Untersuchung zuteil; diese Lücke möchte der vorliegende Artikel schließen.
Die Natur- und Raumwahrnehmung beschäftigt die Geisteswissenschaften schon
seit einiger Zeit. Grundlegend für die Beschäftigung ist immer noch der Artikel von
Heinrich Schipperges2, für die Literaturwissenschaft hat Götz Großklaus seine Aufsätze zu diesem Themenkomplex in einem Sammelband aus dem Jahre 1993 zusammengefasst. Diesen Arbeiten wurde die einleitende Überlegung vorangestellt, die
versucht, in drei Thesen europäische Denkmuster zur Naturwahrnehmung der letzten dreihundert Jahre zu bündeln: Nach der ersten These ist der Ausgangpunkt der
frühbürgerliche, emanzipatorisch-utopische Diskus im 18. Jh. In Absetzung gegen
den feudalistisch-absolutistischen Adel wird die Natur als authentischer Ort des Ursprungs, als Raum der Freiheit und bürgerlichen Individualität verstanden. Mit diesem Verständnis geht die Entdeckung von Alpen, Harz, etc. einher; Kronzeugen für
dieses neue Verständnis sind unter anderen Klopstock, Goethe, Caspar Wolf und
Rousseau3.
Während dieser Diskurs noch einheitlich abläuft, kommt es zu Beginn des 19. Jh. zu
einer Aufspaltung: die Natur wird einerseits regressiv-eskapistisch als Flucht- und
Schutzraum betrachtet und andererseits analytisch-kritisch als Widerstands- und
Protestraum, als Ort der Bewahrung existentieller Ressourcen. Großklaus’ zweite
These geht von einer Dialektik des Modernisierungsprozesses aus. Die Zeiten massiver Modernisierungsschübe fordern eine ebenso große Thematisierung der Natur
heraus. Thematisiert wird immer das, was gerade verloren geht: Heimat, Natur,
Sinnlichkeit, etc. Der Modernisierungsprozess verläuft dialektisch zwischen den Polen Verlust und musealer Bewahrung, Destruktion und Rekonstruktion. Die Zeiträume der als krisenhaft wahrgenommenen Modernisierungsschübe sind die Jahre
zwischen 1790 und 1830, zwischen 1880 und ca. 1910/20 und zwischen 1970 bis in
schaft und Literatur unterschiedlich darstellt. Föls hält die Naturbilder für ein Korrelat der romantischen
Naturphilosophie, bemüht sich aber weder um eine textnahe Interpretation, noch gelingt es ihr, die verschiedenen Vorstufen und anderen Ausprägungen der Naturbeschreibung im Text nachzuvollziehen.
2
Vgl. besonders die Einleitung von SCHIPPERGES (1978), S. 215f., in der dargelegt wird, dass der Begriff
„Natur“ zu einer abstrakten Leerformel ausgeweitet ist und jede Definition nur durch einen Gegensatz
gegeben werden kann, z. B. Natur und Geist, Natur und Geschichte, Natur und Kultur, etc. Bei Die Fehler
des Kopisten bestünde das Gegensatzpaar wohl aus Natur und Gesellschaft.
3
Vgl. zum Wandel der ästhetischen Naturerfahrung am Beispiel der Aufwertung der Berge auch GROH/
GROH (1996), S. 108–114. Zur ersten These vgl. GROSSKLAUS (1993), S. 7–9.
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Zur Wahrnehmung von Natur und Raum in “Die Fehler des Kopisten“ von Botho Strauß
die Gegenwart4.
Nach der dritten These sieht die Modernisierung in der Natur einen Fremdraum,
dem die Stadt und die Industrie als Inseln der Moderne, im Meer der sie umschließenden Natur gegenüberstehen – meistens handelt es sich um unterentwickelte vorindustrielle Regionen. Die modernen Zonen versuchen im weiteren
sich den Naturraum zugänglich zu machen, die Fremde wird ihrer Eigenart entkleidet und domestiziert: zum einen durch Kolonisation der Natur, also Transformation in Industrielandschaft; in einem zweiten Schritt werden die Naturräume
durch die medialen Zeichenwelten den Menschen nahe bzw. nach Hause gebracht,
eine symbolische Aneignung der Natur durch die Moderne; im dritten Schritt wird
die Natur in einer mimetischen Wiederholung als künstliche Einhegung und Parkimitat (Zoo, Botanischer Garten, Freizeitpark, etc.) reproduziert5.
Diese Überlegungen zur Naturwahrnehmung sind bewusst weit und offen gehalten,
um durch eine allzu starre Typologie zu verhindern, dass es zu einem simplen Abgleich des Textes mit einem Katalog von Eignungskriterien kommt. Zudem handelt
es sich bei den Naturbildern nur um einen Aspekt des thematischen Spektrums des
Straußschen Textes; durch selektiven Zugriff soll verhindert werden, dass großräumige Kategorien zur Interpretation verwendet werden, sondern Kategorien
mittlerer Reichweite, die nicht mit ideologischem Erklärungsbalast behaftet sind6.
Es sollen vielmehr Schneisen in den Text geschlagen werden, anhand derer die Beschäftigung des Autors mit den verschiedenen Modellen der Naturwahrnehmung als
Fremdwahrnehmung thematisiert werden können; dabei soll gezeigt werden, dass
sich Botho Strauß keineswegs nur eines Modells bedient, sondern verschiedenste
Herangehensweisen an die Natur aufgreift und neu zusammensetzt. Die Auswahl der
Textstellen wird dem Leser zwangsläufig willkürlich und beliebig vorkommen. Das
liegt zum einen an der Form des Textes, der mit seinen elliptischen Beschreibungen
und kürzeren essayistischen Reflexionen sich jeder festen Zuordnung oder Strukturierung entzieht – obgleich gewisse Themen immer wieder auftreten, neben der Na4
Zur zweiten These vgl. GROSSKLAUS (1993), S. 9–11.
5
Zur dritten These vgl. ebd. S. 11f. Eine weitere Typologie der Beziehung Mensch und Natur findet sich
bei OLDEMEYER (1983), der in chronologischer Abfolge von Antike und Mittelalter bis in die Neuzeit zwischen magisch-mythischem, biomorph-ganzheitlichem Verhältnis und der Natur als Gegenstand und
Gegenbegriff unterscheidet.
6
Vgl. zu den Kategorien mittlere Reichweite auch MICHEL (1991), S. 23. dass die Vorstellungen von Natur
dazu geeignet sind, ideologische Grabenkämpfe auszutragen, versteht sich; mit „Ideologie“ sind in diesem
Zusammenhang die sozialistischen, psychoanalytischen, usw. Ansätze gemeint, deren teleologische Vorstellungen auf ein bestimmtes zu erreichendes Weltbild oder gesellschaftlichen Zustand für die unvoreingenommene oder gar fremdkulturelle Interpretation eines Textes eher hinderlich sind.
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tur sind das das Vater-Sohn-Verhältnis, der gegenwärtige Stand in Gesellschaft, Kultur und Politik – und zum anderen an der zyklische Struktur des Textes, der das
Werden und Vergehen der Jahreszeiten darstellt; so lässt sich eine Textstelle aus
dem Kapitel III. (Herbst) mit einer aus dem Kapitel I. (Frühjahr) verbinden, obgleich das bei der Lektüre anachronistisch erscheinen mag.
Beginnen wird diese Arbeit mit einer Interpretation der im Text angelegten Hermeneutik; die Äußerungen zu den Aussageabsichten eines Buches und der Rolle der
Schrift in der modernen Gesellschaft eignen sich für einen Vergleich bzw. Abgleich
mit den Verfahren, die diese Untersuchung anwendet. Im nächsten Kapitel wird die
Rückerinnerung historischer Phasen der Naturwahrnehmung betrachtet und auf
Vorbilder und Bezugspunkte befragt. Im dritten Kapitel tritt der Erzähler in den Mittelpunkt des Interesses und seine Selbstinitiation in die Natur, während im letzten
Kapitel die Rolle des Neubaus und dessen Verhältnis zur Naturlandschaft untersucht
werden. Die Trennung, die so zwischen Natur und Raum vorgenommen wird, ist
höchst problematisch, denn in der Annahme, dass der Raum etwas kulturell geschaffenes ist und die Natur sein Gegenteil darstellt, bleibt die anfangs getroffene
Einsicht unberücksichtigt, dass fast jeder Naturraum sich unter dem Eingriff des
Menschen entwickelt hat, also auch kultureller Raum ist.
1. Überlegungen zur Textauslegung – Vorgaben der Fehler des Kopisten
Die Literatur der Moderne hat die Erwartung auf totale Sinneinlösung aufgegeben,
das Kunstwerk ist offen und der Interpret hat der Versuchung zu widerstehen, es
hermeneutisch nachträglich schließen zu wollen. Der Verlust des scopus wird vom
Straußschen Erzähler7 in dessen Überlegungen zur Unfähigkeit des Autors reflektiert
„das maßlos Disparate, das ihm zugespielt wird und eingeblendet wird, als ein Autor
zu ordnen, als ein Autor des Verstehens.“8 Überwältigt von der Fülle an Eindrücken
und Beobachtungen ist die Rückbesinnung auf den vormodernen Erzähler, zumindest für dieses Buch, nicht mehr möglich, auch wenn die „jüngere RomanLiteratur […] die Risiken der Moderne in Vergessenheit“ geraten lässt und „eine
nachschöpferische Unbefangenheit […] das täuschend echte Simulieren der
Erzählung“ (FK 99) wieder möglich macht, in anachronistischer Verkennung der
7
Zu der Frage der Erzählerfigur und den autobiographischen Bezügen vgl. WILLER (2000), S. 118, der von
einem essayistisch, tagebuchartig reflektierendem Ich spricht, das sich „dem Autor Strauß in auffälliger
Weise annähert“. Die Suggestion von Authentizität wird durch die häufige Nennung von Orts- und Flurnamen verstärkt. In dieser Arbeit wird im folgenden von der Figur des Erzähler ausgegangen; die Frage,
ob der Autor mit dieser Figur identisch ist, kann vernachlässigt werden.
8
STRAUß (1997), S. 95. Alle weiteren Zitate werden, mit der Sigle FK gekennzeichnet und unter Angabe
der Seitenzahl, direkt im Text nachgewiesen.
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Zur Wahrnehmung von Natur und Raum in “Die Fehler des Kopisten“ von Botho Strauß
Vorgaben der Moderne. Der Autor, der die Welt nach seiner Vorstellung formt und
moduliert, der Kraft seines Bewusstseins seine Umgebung ordnet und ihr eine
Struktur verleiht9, ist vor dem „Ganzen der Welt in Ohnmacht gefallen“, mehr noch,
das „unerfindlich Viele […], das machtvoll durch sich selber herrscht, duldet kein
anderes Autorenbewusstsein neben sich.“ (FK 96) In diesem Sinne nähert sich der
Erzähler in Strauß’ Text der Welt nicht in einer stringenten Erzählung, die in
chronologischer Folge das Leben des Protagonisten wiedergibt, sondern in kleinen,
oftmals elliptischen Eindrücken, die, in scheinbar wahlloser Reihung, auf den ersten
Blick nicht mehr sind als Momentaufnahmen des erzählenden Subjekts.
Der bereits beschriebene Weg sich einem modernen Text interpretierend zu nähern,
über Kategorien mittlerer Reichweite, ist in Die Fehler des Kopisten angelegt: „So
wie ich mit Worten die erzählbare Geschichte zerstückle, so teile ich hier mit dem
Beil das warme Fleisch in passende Portionen.“ (FK 25) Diese kleinen Versatzstücke
gilt es nun nicht in die einzige passende Reihenfolge zu bringen, auf den Weg der
einzig richtigen Sinneinlösung des Textes – vielmehr sollen ihre verschiedenen Anschlussmöglichkeiten innerhalb des Textes erprobt werden, um des Menschen „mittelbare Instanzen“, wie etwa „das desultorische Gedächtnis“ (FK 96), auf die verschiedenen Interpretationsmomente aufmerksam zu machen. dass bei umfangreicheren Texten nicht alle Textstellen den gleichen Stellenwert haben, sondern es
vielmehr die Aufgabe des Interpreten ist, die „Knotenpunkte […] polysemischer Alternativdeutung“10 zu verbinden, lässt sich vielleicht auch mit Blick auf die „Sehnsucht nach einer Seite, die aus hunderten verdichtet hervorträte und […] mir das
G e s i c h t [sic!] des Buchs zeigte“ (FK 158) verstehen. Andererseits sollte sich der
Interpret über die Vorläufigkeit seiner Auslegungen im Klaren sein, wenn es zutrifft,
dass es
für einen Text keine Zeit [gibt], in der er verstanden würde. Ein dichter Text wird sich allezeit nur für jene kurzen lucidae intervallae (Fr. Schlegel) öffnen, aus denen er entstand, und wird sich dann wieder verschließen, eintrüben (FK 170f.).
Die Schwierigkeiten bei der Beurteilung von Literatur und der zeitlichen Umstände
ihrer Entstehung, gerade für ihre Deutungen aus fremdkultureller Perspektive, werden deutlich in dem hermeneutischen Gegensatzpaar Text als Objektivation und
Text als Kunstwerk. Während ersterer als Ausdruck einer Generations- oder Epochen-Bewusstseinslage verstanden wird, zu dessen Erschließung allein aus-
9
Der Erzähler selbst gibt einen Hinweis auf die vom ihm intendierte Bruchstelle der Moderne, die das
Ende des allwissenden Erzählers markiert: „Wieviel mehr die Alten wussten und vermochten! (Und die
Alten sind für uns die Heroen des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts.)“ (FK 97)
10
MICHEL (2002), S. 88.
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reichendes historisches Kontextwissen nötig ist, öffnet das Kunstwerk
Assoziationen, Projektionen und Anschlüsse – auch an fremdkulturelle Bild- und
Metaphernwelten.
Gerade diese Suche nach Anschlüssen und der spielerische Umgang mit den Verweisungsgeflechten und der bewussten Öffnung des modernen Kunstwerkes gehen
im Text einher mit der Scham, die ein Mensch empfinde, wenn seine Urteilsbildung
wegen seiner scheinbar „allzu schlüssigen Menschenkenntnis“ vorschnell abgeschlossen sei und er nicht den „Menschen seiner Umgebung [,] mit größerem
Nichtverstehen“ ehrt; fähig zu diesem neuen Umgang wird er nur durch das
„Nichtverstehen des Ganz Anderen“ (FK 146) – die Erfahrung des Fremden, nicht
der Kontakt und das sofortige Durchschauen des Gegenübers, ist nicht nur im
zwischenmenschlichen Bereich, sondern auch im Sinne des Text- und
Kulturverständnisses nötig, um die eigene Umwelt oder die kulturelle Herkunft zu
ergründen.
2. Rückerinnerung historischer Phasen der Naturwahrnehmung
Die Beschäftigung mit der Natur im Straußschen Text beschränkt sich nicht auf das
Aufgreifen verschiedener Ideen des Umgangs mit der Natur, sondern bezieht sich
auch auf die Rückerinnerung historischer Phasen der Naturwahrnehmung. Diese
Widererinnerung ist im strengen Sinne zwar auch eine ideengeschichtliche Rückbesinnung – da sich Naturschwärmer des 19. Jahrhunderts ebenso auf Rousseau
bezogen wie die Alternativbewegung der 1970er Jahre, wenn vielleicht auch
unbewusst –, doch da sie nicht aktualisierend, also in die Binnenhandlung zwischen
Sohn und Erzähler bzw. die Reflexionen des Erzählers eingebunden sind und in die
essayistischen Exkurse integriert sind, sollen sie hier extra verhandelt werden.
In solchen Augenblicken liest sich der Text eher als Objektivation, die Assoziationsund Anschlussmöglichkeiten sind gering; dies lässt sich am Beispiel der Textpassagen verdeutlichen, die, mal offensichtlich, mal versteckt, das Verhältnis
zwischen der BRD und der DDR thematisieren. Die Auswirkungen der
sozialistischen Planwirtschaft zeigen sich, in den Augen des Erzählers, im „verbrämt“ liegenden Nutzland, es waren „Arbeiter, Agraringenieure und nicht der
Bauer, [der] Boden und Vieh bestellt“ (FK 31) hatte. Die Bezeichnungen Arbeiter
und Ingenieur fanden erst durch die Industrialisierung bzw. den durch sie neu entstehenden Zweig der Erwerbstätigkeit breite Verwendung; der Bauer hingegen ist
eine quasi-archaische Bezeichnung, die Kultivierung des Bodens stellt eine unverzichtbare Entwicklungsstufe menschlichen Lebens dar. Die selbst gewählte Bezeichnung der DDR als Arbeiter- und Bauernstaat wird aufgesprengt, der Bauer ist
nicht existent. Der hier konstruierte Gegensatz zwischen langlebiger, überdauernder
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Zur Wahrnehmung von Natur und Raum in “Die Fehler des Kopisten“ von Botho Strauß
Vergangenheit und schnelllebiger Moderne wird für die folgenden Ausführungen
von Bedeutung sein, wird im Text diese Trennung doch sehr häufig durchgeführt. Zu
den Arbeitern und Ingenieuren ist zu bemerken, dass es sie mit dem Ackerbau in ein
Gebiet verschlagen hat, was ihrer Profession in keiner Weise entspricht. Möglich war
ihre längere Beschäftigung auf diesem Gebiet nur wegen der räumlichen und zeitlichen Abgeschlossenheit der DDR. „Doppelt stehendes Land hier, wo man in
Mauern auch die Zeit gefangenhielt.“ (FK 37)11 Das Phänomen des Stillstandes bei
gleichzeitiger Ausrichtung der (Land-) Wirtschaft auf den Fünf-Jahres-Plan konnte
man nach dem Zusammenbruch der UdSSR weltweit beobachten. Die Reste dieser
Zeit verfolgen auch Jahre nach der Wiedervereinigung den Erzähler auf Schritt und
Tritt. Bei einem Spaziergang bemerkt er, dass „letzter DDR-Geruch im Wald“ bzw. in
der Luft hängt, der in seltsamem Kontrast steht zu den Versuchen, die Natur zu bewahren und zum geschützten Raum zu erklären. Der Spaziergang auf den „verbotenen Pfaden der Schutzstufe I des Biosphärenreservats“ wird begleitet von dem
Geruch der ausdünstenden Holzpfosten, die mit Maschinenöl gestrichen wurden,
penetrantes Nachwehen einer unsachgemäßen Behandlung; sei es aus Unachtsamkeit oder mangels anderer Möglichkeiten.
Dass das Leben in der Uckermark langsam verfällt, betrifft nicht allein die Arbeit der
Genossenschaften, es sind auch die Annehmlichkeiten, die mit der Globalisierung
Einzug gehalten haben: ein verwaister „alter Waggon für LPG-Arbeiter wurde kürzlich vom Wiesenrain geschleppt, jetzt steht nur noch der verfallenen Bienenwagen
dort.“ Es besteht keine Veranlassung, wieder Felder zu bewirtschaften oder Bienenzucht zu betreiben, denn „wer züchtet noch Bienen, wer pflückt noch das Obst? Alles
gibt es ohne Arbeit und billig im Einkaufscenter vor der Stadt.“ (FK 154) Die Abwendung der Industrie von den teuren Produktionsstätten des Westens, erzeugt eine
irritierende Leere, Ausdruck der Fremde sind alte, vor scheinbar langer Zeit genutzte
Gegenstände. Dieser Abschied von der Industrie korrespondiert mit einem Abschied
von der Natur bzw. von den Angeboten der natürlichen Umgebung.
Während der Erzähler meistens nur mit seiner Umwelt oder Überbleibseln der DDR
beschäftigt ist, wird er in einigen wenigen Passagen des Textes mit seinen neuen
Mitbürgern konfrontiert. Zwischen ihnen ist noch keine Normalisierung eingetreten,
zumindest der Erzähler ist höchst erstaunt über die ungewohnte Nähe. „Nun trennt
uns nur der Gartenzaun, als hätten wir nicht vierzig Jahre lang in zwei verschiedenen Welten gelebt.“ Der trennende Zaun zwischen den Grundstücken wirkt
11
Die Bezeichnung „Doppelt“ bezieht sich, neben der Abgeschlossenheit bzw. der Trennung von der BRD,
auf die Schilderung der Windstille im vorangegangenen Satz, der beginnt mit den Worten: „Kein Hauch
[…]“ (FK 37).
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lächerlich, beinahe grotesk, wenn man sich die jahrzehntelange Spaltung des Landes
vor Augen führt und die Wahrnehmung des jeweils anderen Staates, der als Bedrohung und Gefahr angesehen wurde12. Trotz der räumlichen Nähe gelingt es nicht
immer, die lange Trennung vergessen zu machen. Der Bruch zwischen der Raumund der Zeitwahrnehmung wird deutlich in den „Stimmungsschwankungen
zwischen ‚ihr‘ (drüben damals) und ‚wir‘ (beide heute).“ (FK 162) Die neuen Nachbarn schwanken unsicher zwischen ihrer früheren Überzeugung und der momentanen Befindlichkeit. Es scheint, als würden sie auf wenigen Quadratmetern die Geschichte wiederholen; der Garten bzw. die Grenzen ihrer beiden Grundstücke versinnbildlichen die deutschen Staaten in Ablehnung und Anziehung. Eine endgültige
Gewöhnung oder gar Entscheidung für einen Zustand scheint noch nicht getroffen
worden zu sein.
Die Erinnerung historischer Phasen der Naturwahrnehmung und die Dichotomie
zwischen archaischen Figuren und der Gegenwart werden verknüpft im Bild des
Schäfers, „dem Einsamen vom Feld“ (FK 18). Die Figur des Schäfers, dem bestimmte
Eigenschaften wie Naturverbundenheit, ein bedürfnisloses Leben fernab der Städte
und die ideale Vorstellung eines goldenen Zeitalters attribuiert werden, diese Mischfigur aus doppelten Archaismen – christlicher und säkularer Vorstellung („Keinen
anderen umgibt so viel Mythos und ursprüngliche Religion.“ FK 19) – taucht intermittierend bei verschiedenen Naturbewegungen auf, z.B. dem Wandervogel in den
1920er Jahren und der Grünen-Bewegung Anfang der 1980er Jahre in der Hoffnung
eines Rückfalls in eine Quasi-Subsistenzwirtschaft. Die Bukolik wurde von den europäischen Kulturen aufgenommen, der Schäfer ist als Vorbildgestalt und Archetyp
mit einem Kollektivvorrat an Rollenmustern ausgestattet, die sich in den verschiedensten Vorstellungen äußern. Im Straußschen Text wird er mit einem elektrischen Zaun und einem Allradtransporter geschildert, eine scheinbar unüberbrückbare Kluft liegt zwischen den modernen Geräten – die er mühelos benutzt –
und seiner historischen Gestalt13. Seine Vorgeschichte scheint für die heutige Zeit
nicht mehr zugänglich, mehr noch, der Schäfer selbst weiß nichts von seiner Legende, nur die Einsamkeit bleibt und so „geht der Hirte abgetrennt von seiner überzeitlichen Gestalt“. (FK 19) Der Erzähler beklagt nicht einfach den bedauernswerten
12
Vgl. dazu das Zitat: „Ich blieb bis morgens um sechs und debattierte mit einem ehemaligen NVAOffizier über die angebliche Kriegsgefahr 1980/81, die man offenbar zur Zeit des NATO-Doppelbeschlusses in der DDR-Armee und Teilen der Bevölkerung im Verzuge glaubte.“ (FK 162)
13
Der Figur des Schäfers hat die Forschung ihre Aufmerksamkeit geschenkt, allerdings ohne die bukolische Tradition oder die deren Präsenz in modernen Naturbewegungen zu erwähnen. THOMAS (2004), S.
207, bemerkt den Widerspruch zwischen mythischer und heutiger Figur des Schäfers und einen „Mangel
an mythologischem Gefühl in der Welt“.
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Zur Wahrnehmung von Natur und Raum in “Die Fehler des Kopisten“ von Botho Strauß
Hirten, der mit seiner Idealgestalt in der falschen Zeit gefangen ist, bei Strauß hat
die Geschichtsvergessenheit sogar den Helden selber erreicht, der sich noch nicht
einmal mehr seiner Instrumentalisierung durch verschiedenste Interessengruppen
erinnern kann, geschweige denn seines großen Ursprungs14.
Im Kontext der Erzählung des Schicksals des Hirten wird erneut die unsachgemäße
Handhabung der Landwirtschaft durch die Führung der DDR angesprochen. Der
Glaube an die Planbarkeit landwirtschaftlicher Produktion führte dazu, daß
der Sozialismus […] die letzten Reste von übersinnlichem Wissen, von ländlichen Mysterien vertrieben, Acker und Weide dem alles zugrunde planenden Ingenieurswesen geopfert (FK19)
hat und das Wissen, ähnlich wie der Schäfer der Bukolik, ausgestorben ist. Nicht
mehr eine Person war zuständig für ihren Acker, sondern ein Apparat, beim dem
sich die dringend benötigte Kenntnis finden ließen; durch Systematisierung wurden
bäuerliche Gedanken und Wissen zerstört:
Man weiß hier überhaupt nur eine arme Handvoll nützlicher Dinge – und auch dabei
fehlen meist zwei, drei entscheidende Kenntnisse, die man eigentlich besitzen sollte, die
aber immer der LPG-Vorsitzende oder die Partei für einen besaß. (KF 19)
Erst nach dem Zusammenbruch der DDR wird die Abhängigkeit der Zuständigen
von ihren Vorgesetzten sichtbar.
Eine Vermischung des Gegensatzpaares „bäuerliche Idylle“ und „sozialistischer Arbeiter“ findet sich in dem Ausdruck: „Ein Arkadien der Arbeit wird man uns versprechen“ (FK 91). Dieser Satz steht allein und völlig separiert von übrigen Text –
bei dem, trotz der Kürze der Reflexionen und Beschreibungen, meist mehr als zwei
Sätze beisammen stehen – und lässt sich als dystopische Vorrauschau werten: die
Beschränkung des Menschen auf seine Arbeitskraft und deren Steigerung in idealem
Maße, hat nichts mit der Feldarbeit eines Bauers oder Hirten zu tun, meint im Ge-
14
Zur literarischen Umsetzung der Idylle im deutschen Kulturraum vgl. KAISER (1977), S. 14f. Die Idyllendichtung des 18. Jh. sah das ländliche Leben mit den Augen eines Städters, aus dem Blickwinkel einer
kulturell verfeinerten und politisch beunruhigten Gesellschaft. Während einerseits, in der Tradition Theokrits, mit distanziertem Blick auf einfache Landleute geblickt wurde, wurde andererseits, in der nachfolge Vergils, ein ideales Arkadien dem Wirrsal der politischen und gesellschaftlichen Welt gegenübergestellt. Vergil versetzt sich als Einwohner in diese geistige Landschaft, die Bauern und Landleute werden
zu Trägern seiner Denk- und Erlebniswelt. Die Paradoxie dieser Betrachtung liegt im fehlenden
Bewußtsein des Bauern, der nicht um sein Glück weiß und der, wenn er wüßte, wie glücklich er wäre, ein
Städter wäre, der wiederum sein Glück nur imaginieren kann. Die Idealisierung Arkadiens geht also einher mit einer Kulturkritik an der Trennung des Städters von der Natur und seinem daraus resultierenden
unglücklichen Bewußtsein. Der Schäfer des Straußschen Textes hat jede Form des Bewußtseins verloren,
während der Stadtbewohner sich seines Glückes in der Natur sehr wohl bewußt ist.
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genteil die Ausbeutung der menschlichen Produktionsfähigkeit in für den Staat idealem Maße; nach dem Ende aller Idyllen und Utopien bleibt nur noch die Arbeit.
Das Denken in Gegensätzen wird auch bei der unterschiedlichen Wahrnehmung des
Lebens in der Stadt und auf dem Land fortgesetzt. Während sich der Körper in der
Stadt der Hektik und Schnelllebigkeit anpasst – „im Kommerz der flüchtigen Berührungen war ich wach“ (FK 49) – sorgt das Leben auf dem Land für eine Beruhigung der Sinne, der Körper richtet sich anders mit seiner Umwelt ein. „Hier
draußen verfällt die Wachsamkeit und das Vertrauen nimmt zu“, diese Ruhe und das
daraus resultierende Gleichgewicht mit dem natürlichen Leben – etwa die Orientierung auf den Wechsel der Jahreszeiten, die Einteilung des Lebens nach dem Aufund Untergang der Gestirne – ist ein Topos der archaischen Naturbegeisterung, der
Bauer, der in stoischer Ruhe den Pflug über seine Felder führt, wird zum Gewährsmann für ein Leben in der Abgeschiedenheit. So wechselt im Laufe des Textes auch
des Erzählers Verhältnis zu seinen Mitmenschen; seine neue Rolle als Landbewohner macht ihn immun gegen die Aufgeregtheiten seiner Mitmenschen; alles, was sie
bewegt, lässt ihn verharren. „Was sie ‚vom Hocker reißt‘, lässt einen Mann vor
seinen Feldern um so ungerührter sitzen bleiben.“ (FK 69)
Doch nicht nur auf das Bild des gelassenen Bauern wird rekurriert, sondern auch auf
die weise, alte Frau. Anders als der moderne Schäfer, der seine Beziehung zur Natur
vergessen hat, bewahrt sie immer noch das Wissen über die Kultivierung des Bodens. Ein „Bild zum Verwahren“ (FK 17) nennt der Erzähler die Sicht auf seine Mutter, die vor dem Acker sitzt und „mir Ratschläge gibt, wie die Möhren zu setzen
sind.“ (FK 19) Neben der Frau mit dem größeren Erfahrungsschatz als der Nachgeborene, wird an dieser Stelle noch etwas erinnert: der „Acker und die alte Frau“,
die scheinbar „in ein stummes Zwiegespräch vertieft“ (FK 19) sind, knüpft an die
Bilder von Altersweisheit, einem idealen Zustand goethischen Zuschnitts an. Aus
bäuerlichen Kulturen ist die Vorstellung überliefert, dass der Dorfälteste aufgrund
seiner Erfahrung die Gemeinschaft führt; in anderen Kulturkreisen ist es analog die
alte Frau. Die Bezeichnung Mutter Erde geht auf dieses Bild zurück, die den
Menschen versorgte, bis im 19. Jahrhundert Vater Staat mit seinen Sozialgesetzen
diese Stelle einnahm. Eine Rückerinnerung an Leben auf dem Land drückt sich auch
in dem Bild der alten Frau aus, die
nur eine weiße Bluse und einen roten Rock trägt […] und ginge sie nicht ein wenig unsicher – ihre Schritte suchen den Bürgersteig, wie sie ihn von ihrem Städtchen kennt –,
so gäbe sie das Inbild einer ländlichen Ahne ab. (FK 62)
Zwar öffnet das äußere Erscheinungsbild der Frau eine Assoziationskette von Formen bäuerlichen Lebens bis in vorindustrielle Zeiten, doch die eingeschobene Be-
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merkung sprengt das Bild und stellt die Frau auf eine Stufe mit dem vergessenen
Hirten – auch sie sucht die zivilisatorischen Errungenschaften und relativiert die ihr
zugedachte Vorbildfunktion.
Im Bild des Ackers und der alten Frau wird harmonisches Leben des Menschen auf
dem Land in Erinnerung gerufen. Ähnliches gilt auch für den „alten Obstgarten mit
einer bald achtzigjährigen Eiche, einer Friedenseiche, die der Vater des Nachbarn
pflanzte um 1918.“ (FK 11) Die Manifestation eines Zustandes durch einen Baum,
oder auch die mahnende Funktion, hat auch seine Vorfahren in der Literatur15.
Bei Botho Strauß ist der Baum zwar jüngeren Datums, doch auch hier ist er Ausdruck einer urbildlichen Naturbegeisterung, in deren Sinne er zum Frieden gemahnen soll. Allein die Erscheinung des Baumes, ihre Wirkung im Garten, scheint
der Szenerie einen archaischen Anstrich zu geben; das Alter ist dabei fast
nebensächlich, wichtig ist der Symbolgehalt des Baumes: „Und doch weht diese
achtzigjährige Eiche in meinen Garten […] besitzt hier alles, Farbe und Windstrich,
ein nahes ‚Vorzeiten‘.“ (FK 37) dass die Eiche sich durch Stetigkeit auszeichnet – die
Deutsche Eiche als Sinnbild für Verlässlichkeit – wird dem Erzähler beim Vergleich
mit seinen Mitmenschen deutlich:
Nicht viel übriggeblieben vom streunenden Zeitgenossen. Nun begreifst du allmählich,
was es heißt, nicht wie die Eiche zu sein, die hier doch dein nächster ist, unausweichlich
vor Augen, längst im Sinn und doch nicht zu fassen […] (FK 11).
Warum sie trotz der physischen und psychischen Gegenwart „nicht zu fassen ist“,
macht eine Textstelle aus dem dritten Teil des Buches deutlich:
einen Baum zu blicken, vielleicht über Jahre, ohne je einen Zugang zu gewinnen, einen
Begriff davon, was er einem bedeutet, wie tief er reicht. […] Alle Umarmungen der früheren Jahre verdrängt die Umarmung des Baums. Dieser Konter-Akt der Vereinigung …
(FK 134)
Die Vorstellung des Baums, der die Zeit überdauert und sich aufgrund seiner Ge-
15
In Gottfried Kellers 1874 veröffentlichter Erzählung Das verlorene Lachen, aus dem Novellenzyklus Die
Leute von Seldwyla, ist es eine „wohl tausendjährige Eiche“, die, nachdem der sie umgebende Wald abgeholzt ist, „ein Monument dar[stellt], wie kein Fürst der Erde und kein Volk es mit allen Schätzen hätte
errichten oder auch nur versetzen können.“ Das „Baumdenkmal“ wird zum separaten Fällen und Verkauf
angeboten, doch der Held der Erzählung, Jukundus, hält es für verwerflich, „solche Zeugen der Vergangenheit“ zu schlagen und möchte ihn „als Landesschmuck bestehen […] lassen“, er kauft ihn und
errichtet am Fuße der Eiche eine Bank, um im Schatten des Wipfels die „schöne Fernsicht“ zu genießen.
Die Eiche wird vom Kellerschen Erzähler als Konstante dargestellt, sie legitimiert das Dorf zu ihren
Füßen, wird „in älteren Urkunden […] als Merk- und Wahrzeichen“ aufgeführt und ist so alt, dass „einst
ihr junger Wipfel noch in germanischen Morgenlüften gebadet hatte“; sie verbindet die Vorfahren mit den
Nachgeborenen. Alle Zitate dieser Anmerkung aus KELLER (2000), S. 274f.
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schichte gegen jede schnelle Annäherung sträubt – und so auch die „Umarmung“
eher zu einem Erlebnis der Abstoßung werden lässt – macht verständlich, warum die
Eiche nicht zu ergründen ist; in klarer Differenz zu den „streunenden Zeitgenossen“.
Die ländliche Umgebung assoziiert der Erzähler nicht nur mit der bukolischen Idylle, sondern auch mit christlichen Paradiesvorstellungen. In der Hoffnung, „mitten
im Leben zu stehen“ und „niemals vom Einstweh überwältigt zu werden, niemals
von einer Erinnerung, die uns im Garten triff wie die letzte Bö, der letzte Windstoß
vor der Vertreibung …“ (FK 64), sieht er sich weit entfernt vom Tod, der das Ende
seines Daseins im Garten bedeuten würde. Die Verknüpfung des Begriffspaares
„Garten“ und „Vertreibung“ zum Paradies wird vielleicht durch die Nennung des
Garten Edens gestützt16, doch die Mitte des Lebens geht mit Alter und Tod zu Ende,
auf den nach christlicher Vorstellung das Paradies folgt. Wenn also die Überwältigung durch das „Einstweh“ den Tod und damit die Vertreibung aus dem Garten
bedeutet, dann wird mit christlichen Vokabeln ein Gegenprogramm zur Erlösungstheologie verkündet.
3. Selbstinitiation in die Natur zwischen Umgarnung und Abstoßung
Die Selbstinitiation des Autors und der erste Schritt zu einer intensiveren Wahrnehmung der Natur, setzt direkt nach dem Bezug des Hauses ein: trotz der Schwierigkeiten des Erzählers sich wegen seiner fehlenden Vorgeschichte in dieser Gegend
heimisch zu fühlen17, nehmen die Tiere, denen historisches Bewusstsein fremd ist,
sein Haus in Besitz:
Wilde Bienen riechen das neue Holz und wollen ihren Bau an den Sparren hängen. Die
Schwalben mauern unter dem Dachvorsprung vor dem Eingang […]. Ich habe nichts
entgegenzusetzen der langsamen Umgarnung, mit der die Geschöpfe der Luft, der Erde,
des Gesträuchs mich fesseln. (FK 8)
Dieses Fallenlassen in die Natur, die unbedingte Auslieferung, kennzeichnet viele
Episoden der Fehler des Kopisten. Nach den anfänglichen nötigen Baumaßnahmen
am Haus haben die Tiere es sich häuslich eingerichtet:
Die Schwalben haben in Kolonien das Haus erobert. Vor jedem Lüftungsloch unter dem
Dachvorsprung haben sie ihr Nest gemauert. […] Unter den Giebeln die Spatzen hier gehört nichts mir. (FK 30f.)
Doch in all diese tierische Eroberung des Hauses mischen sich auch andere Töne.
16
„Der Apfel verführt nur im Oktober. In Eden war ewig Oktober. Tage, deren Schleier nichts verbergen,
sondern die nackte Schönheit selber sind.“ (FK 132) Da der Garten des Erzählers von den Jahreszeiten
heimgesucht wird, wird der ewige Herbst wohl nicht aus der Anschauung gewonnen.
17
Vgl. zur Interpretation des Neubaus und zur Raumwahrnehmung das nächste Kapitel.
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Der Erzähler hat zwar seine Außenmauern an die Vögel verloren und wird vom den
Tieren beinahe hermetisch abgeriegelt, gewisse Abstoßungen der neuen Verwandtschaft bleiben jedoch nicht aus. Wird auf der einen Seite die Aufnahme in die Natur
beschrieben, die allein auf dem guten Willen der Tiere fußt – „Die Vögel erlauben,
dass unser Haus an ihre Luft grenzt, und das volle Licht in seinen Räumen zittert
von ihrem Flügelschlag.“ (FK 16) – und deren Flügel, der die Luft des Hausbewohners erzittern lässt, beinahe wie ein Zeichen der Stärke wirkt, gibt es auch Teile
der natürlichen Umwelt, für die der Rückzug des Erzählers auf das Land den Tod
bedeutet:
Ein Steglitz lag heute morgen auf dem Balkon. Entweder von der Katze getötet und apportiert oder, wahrscheinlicher, gegen das große Fenster geprallt, erschüttert und gestorben. (FK 14).
Und so stehen Beglückung und Tod in einem Gegensatz zueinander, der bis zum Ende des Textes scheinbar im Sinne eines Ankommens, einer Aufnahme in die Natur
entschieden wird. Die Umgebung des Hauses wird „sobald die Schwalben verziehen
[…] etwas wesenlos“ (FK 197) und ihre Fixierung auf das Haus geht soweit, dass sie
sogar Nachteile beim Nestbau in Kauf nehmen:
Die Schwalben klopfen ans Haus, […] wo sie ihre Nester zu mauern beginnen, obwohl sie
keinen geraden Abschluß haben, sondern den spitzen Winkel, den sie bisher verschmähten. (FK 51)
Nicht allein die Schwalben umgarnen das Haus, auch „vier kreischende Raben bewachen“ (FK 206) es am Ende des Buches und zwischen dem Erzähler und seiner
Umwelt hat sich eine Vertrautheit eingestellt, deren Nähe den Protagonisten in
großes Erstaunen versetzt:
Jeden Morgen in der Frühe die Wildhecke abgehen, jeden Strauch und jedes Gehölz prüfen und begrüßen. Die Schwalben fliegen wieder ihre Umgarnungen des Hauses […]. Wie
nah das alles, wie unfaßbar nah!… (FK 205)
Daß sich täglich wiederholende Begrüßen der Umwelt, dieses Ritual der Begegnung
beschreibt einen hohen Grad der Vertrautheit zwischen Mensch und Natur. Die Beschreibung dieses harmonischen Zusammenlebens endet allerdings in einer zweideutigen Emphase: das Wort „unfaßbar“ könnte sowohl eine Beschreibung der Stufe
der Annäherung an die Natur, die für den menschlichen Geist nicht mehr zu begreifen, zu fassen ist – oder aber das Paradoxon ausdrücken, dass die Nähe
gleichzeitig auch die unüberwindbare Ferne beinhaltet, die Natur dem Erzähler also
fremd bleibt – dieser Gegensatz teilt mehr über die der Beziehung zwischen Mensch
und Natur immanente Distanz mit als die affirmative Begeisterung des Erzählers.
Die Schwärmerei bedient sich alter Vorstellungen von der Erhabenheit der Natur,
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etwa in den Bildern der Bäume als Könige des Waldes:
Nun stehen sie wie abgedankte Könige in alten Festgewändern, meine Bäume, die starr
zurückschauen auf den Thron – ein Jahr voll Pomp war das, und große Tage liegen hinter euch! Doch erst entmachtet kleidet ihr euch reich und leuchtet um die Wette mit dem
schwarzblau fetten Glanz der Schlehenfrüchte und der Purpurlohe aller Pfaffenhütchen.
(FK 130)
Der herbstliche Glanz der Blätter verleiht den Bäumen eine herrschaftliche Aura,
obwohl sie ihre Herrschaft beendet haben und sich durch ihr Aussehen der Herbst
ankündigt. Die Jahreszeiten werden als den Bäumen feindlich gesinnt dargestellt:
während sie im Herbst wenigstens reich gekleidet waren, kündigt sich mit dem Winter der drohende Untergang und schließlich das Ende an:
Wenn die Bäume in dunklen Farbreihen sich zum Waldheer formieren, ein wunderbares
Heer, das aufgereiht zur Abwehr stillsteht, […] – es gibt nichts zu kämpfen, es steht geschlossen gegen den gewaltigen Norden, den Winter, dem es ohnedies erliegen wird. (FK
139)
Das Heer, das seinen abgedankten König in einer letzten Schlacht verteidigen will,
das treu an seiner Seite steht, obwohl es verlieren wird, mit solchen übersteigerten
Stereotypien und Bildern heroischer Helden erscheint der Wald als wunderbare
Märchenwelt, in der dem Lauf der Natur trotzdem nichts entgegengesetzt werden
kann. Mitunter äußert sich diese Begeisterung auch in quasi-religiösen Vorstellungen, erscheint das Ernten von Äpfeln als ein sakraler Akt. „Diu kletterte in das
höhere Geäst, pflückte, und ich fing unten die Früchte auf. So wird jedes leidige
Heute unterbrochen von einer kleinen ewigen Handlung.“ (FK 168) Vater und Sohn
versorgen sich in der Natur, finden ihr Essen fernab aller Zivilisation einfach auf den
Bäumen, paradiesische Zustände werden beschrieben.
Die Schilderungen der Natur sind bestimmt von einem schier unerschöpflich scheinenden Reichtum an kleinen und kleinsten Einzelheiten. Die Fähigkeit, die Farben
und Gestalten seiner Umwelt kleinteilig wahrzunehmen, hat der Erzähler
von anderen empfangen, auch den Sinn für die Farben des Herbstes. Die anderen haben
mir die Nuance geschenkt. Nur ihrer Begegnung verdanke ich Wachsamkeit und Detailtreue der Wahrnehmung (FK 131),
wobei nicht erkenntlich ist, ob mit diesen anderen die Gegenstände der Natur selber
gemeint sind, also die Fähigkeit zur Beschreibung am zu Beschreibenden gewachsen
ist, oder die Wirkung seiner Verwandten, ihm nahe stehender Menschen, eine Möglichkeit, die in Anbetracht seiner Scheu vor der Welt (vgl. FK 167) unwahrscheinlich
wirkt. Diese Miniaturbeobachtungen leiten beim Beobachtenden einen Verstehensprozess ein, der ihn, ähnlich wie die „unfassbare Nähe“ (s. o.) zwar die Natur beinahe durchschauen lässt, dessen Ende allerdings nicht abgewartet wird; der
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Erzähler tritt vom begonnenen Durchschauen zurück:
Der Stieglitz mit zitronengelben Flügelbinden, mit blutroter Gesichtsmaske fraß kopfnickend kleine Insekten vom Halm, ich kam ihm auf zwei Schritte zu nah. Doch auf einmal fürchtete ich, mit dem nächsten Schritt in ein abgründiges Begreifen zu stürzen …
(FK 174f.)
Die Fähigkeit, aus der Natur zu lesen, beweist der Erzähler auch bei anderen Beobachtungen, wenn er z. B. die Zeichen der vier Jahreszeiten in seiner Umgebung im
Hochsommer erkennen will:
Im Zenit des Jahres, im Stillstand das Ganze. Alle Färbungen, Stimmungen der vier
Temperamente überblendet. Ich erkenn die Dürre am blühenden Strauch, erkenne die
Dunkelheit und den Rauhreif im Sonnenglast. (FK 35f.)
Der Hintergrund, vor dem sich diese Gedanken ausbreiten, ist die Vorstellung vom
Buch der Natur, explizit gleich zu Beginn des Textes:
Meine Zeit hier: aufstehen, hinausschauen und es nicht fassen können. Das Buch aufschlagen, lesen, es nicht mehr verstehen. So befangen vom Staunen, verlernt der Geist
sein deuten. (FK 12)
Während jedes andere Thema der Fehler des Kopisten – sei es aus den Bereichen
Kunst oder Kultur, Politik oder Gesellschaft – analysiert, gedeutet und hinterfragt
wird, fallen bei der Betrachtung der Natur diese interpretatorischen Vorregeln fort,
sie wird begeistert, fast träumerisch beschrieben. Das Buch der Natur wird aufgeschlagen, doch die natürlichen Bedingungen, die man dort vorfindet, werden nicht
mehr verstanden; die typisch-deutsche, logozentrische Orientierung wird auf die
Natur übertragen, ist den satten Bildphantasien allerdings nicht gewachsen.
Doch erneut ist diese Auslegung nicht konsistent, so wie auch andere Interpretamente bei konsequenter Übertragung auf den ganzen Text schnell an ihre Grenzen
stoßen, so lässt sich weder die kleinteilige Beschreibung, noch die bewundernde, fast
ehrfürchtige Annäherung an die Natur im ganzen Text beobachten. Diese Vorgänge
werden kontrastiert von Naturwahrnehmungen, die gerade die Masse hervorheben,
diese Menge nicht kleinteilig, sondern als Ganzes beschreiben: „Manchmal betastet
ein Schwarm wilder Bienen das Haus an seinen Kanten, eine grieslige Windhose von
Insekten untersucht die Sparren. Ein Schwarmauge prüft sie.“ (FK 40) Der Schwarm
zerfällt eben nicht in hunderte einzelner Bienen, er nähert sich vielmehr als ein Organismus dem Haus, um es zu inspizieren. Im Sinne der Naturwissenschaft scheint
diese Darstellung allemal, sind Bienen doch Tiere, die als Volk zusammen auftreten;
das eine Auge des Schwarms wirkt jedoch auch bedrohlich und nicht allein wie die
zoologisch korrekte Beschreibung einer großen Menge Bienen. Die Natur ist nicht
allein Gegenstand der Ergötzung des Erzählers, sie ist der Gegenüber, der den Eindringling beobachtet.
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Die Bewunderung für die Natur geht manchmal über in den Stolz des Besitzers:
„Heut abend wieder bist du meins, Land der runden Büsche, Feldsölle, Weizenhügel.“ (FK 12) Es scheint, als hätten sich die Rollen vertauscht; nicht mehr der
Natur gebührt die Bewunderung, sondern allein dem Menschen, um dessen Haus
die Sträucher, Bäume und Büsche sich versammelt haben. Das ihn umgebende Land
erscheint wie eine Arena, in der der Erzähler in der Manege den Beifall der jubelnden Natur entgegennimmt:
Ich konnte nicht oft genug vors Haus treten am Abend in der Schönheit des Dämmerlichts. Es war, als empfingen mich Ovationen für meine Existenz, jedes Mal wenn ich über die Schwelle kam, vom Rang und den lichten Balkonen des Himmels und aus dem
Parkett der sanften Wiesen. (FK 28)
Der Stolz über seine Nachbarschaft mischt sich allerdings mit der Abhängigkeit von
diesen Erscheinungen, denn es ist nicht der Schauspieler, der vom Klatschen des
Publikums an die Rampe gerufen wird, sondern der einsame Landbewohner, der
sich an seiner Umwelt ergötzt.
Getrübt werden solche Eindrücke von Naturkatastrophen kleineren Ausmaßes, wie
der Überflutung des Kellers nach anhaltenden Regenfällen. „Ich geriet in Panik,
heulte und schrie. […] In einer halben Stunde war das Debakel behoben, das für
mich das Ausmaß einer Naturkatastrophe angenommen hatte.“ (FK 53) Der Naturentwöhnte steht alltäglichen Phänomenen hilflos gegenüber, sobald sie nicht ausschließlich zu bewundern sind oder sein Eigentum bedrohen. Seine eigene Unzulänglichkeit fällt ihm auf und lässt ihn an seiner Tauglichkeit für ein solches Leben
auf dem Land zweifeln: „Vor allem hatte mich schockiert, dass ich mir nicht selber
zu helfen wusste.“ (FK 53) Von einer Gefährdung des Menschen durch die Natur
kann in diesem Zusammenhang nicht gesprochen werden, eher von einer mangelnden Gewöhnung und Erfahrung. Ansonsten gelingt die Annäherung an die Tiere –
„Und nehmen noch ein Bad im Flechtner Weiher zusammen mit dem Haubentaucher.“ (FK 16) – und sogar unbelebte Materie wird zu einem gleichwertigen
Gegenüber, „wenn ich auf meinem Weg den ein oder anderen toten Baumstumpf,
armlosen Kerl, vom guten Bekannten zum Freund befördere“ (FK 50), so scheint
tatsächlich eine Initiation in die Natur stattgefunden zu haben und die Einleitung:
„Versuchen wir dennoch eine Rechtfertigung des Glücks aus den verwirrenden
Lüften am Ende des Aprils!“ (FK 204) in eine minutiöse Bestandsaufnahme der umgebenden Natur entspringt weniger einer emphatischen oder überdrehten Wahrnehmung, sondern vielmehr dem Gefühl, soviel Glück nicht verdient zu haben und
sich nachträglich für die Erwählung rechtfertigen zu müssen. Eine Art Fazit wird
gezogen, dessen glückseliger Ton nicht über die Schwierigkeiten des Einlassens auf
die Natur hinwegtäuschen soll; doch die Abwendung von der Stadt und die Bereit-
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schaft des Erzählers, sich auf das Land einzulassen, sind in seinen Augen belohnt
worden.
4. Befestigung und Ausblick eines neuen Raums – das Haus auf dem Hügel
Es ist eine fast lapidare Bemerkung, mit der der Erzähler vom Haus berichtet: „Ich
baute uns ein Haus draußen auf dem Hügel.“ (FK 159) Sie ist Teil einer Gesamtschau, der Vater legt sich selbst (und dem Leser) einen Bericht über das bisherige
Leben seines Sohnes vor. Das Haus nimmt in den ersten Lebensjahren des Kindes
eine zentrale Stellung ein, war es doch nötig, „um die Scheidung von dieser Gesellschaft auf einigermaßen feste Füße zu stellen“, gemeint ist die Abwendung des Sohnes und des Vaters, der keineswegs enttäuscht darüber erscheint, dass sein Sohn
„der freudige und sorgfältige Mitmensch, der er zur Beschämung seines ungeselligen
Vaters ist, der durchaus unverträumte Nicht-Sonderling“ (FK 167) wurde. Und das,
obwohl zu Hause die Einsamkeit gepflegt wurde und behandelt wie ein kostbares
Gut, das man nicht verlieren dürfte. Die räumliche Trennung von der Gesellschaft
manifestiert sich im Sackgassenschild, das „auf unseren Antrag hin aufgestellt [wurde] neben dem Friedhof, damit sich auf dem zerschundenen Weg […] nicht ortsfremde LKW-Fahrer verirren.“ (FK 155) Das Haus wird zum Refugium der Familie,
die meiste Zeit wird es ausschließlich vom engsten Kreis der Familie bewohnt (neben
Vater und Sohn die Mutter des Erzählers und seine Frau, die für wenige Tage zu Besuch kommt) und steht nur den Tieren, nicht den Menschen offen; „mein offenes
Haus im Licht, doch nur fürs Ein und Aus der Fliegen, Menschen nicht.“ (FK 18) Es
passt sich der umgebenden Natur an, wenn die Landschaft im Winter ob der
Schneemassen nicht begehbar ist, so gilt: „Unnahbar das nächste, bald auch mein
Haus. Mit gekreuzten Pfosten verschlossen.“ (FK 183) Doch die Uckermark ist nicht
nur der Ort der Zivilisationsscheuen, sondern auch eine Zuflucht für Menschen, deren soziale Kontakte und berufliches Umfeld eingegangen sind. Herr Köppel, „der
auch ein Häuschen auf dem Wedelsberg bewohnt“, nachdem er die „Anschlüsse“
verloren hatte, „will [...] er sich in die Uckermark zurückziehen.“ (FK 191) Während
die Flucht vor der Gegenwart vollzogen wird, gelingt es nicht, die Erinnerung an die
Vergangenheit auszuschalten.
Personen des früheren Lebens huschen in meinem Rücken durch die Räume, wo alle Türen offenstehen […] In diesem Haus, das so ungeschützt im Licht und im Wetter steht,
gibt es auch kein Versteck im Keller oder Dachboden. (FK 37)
Die Einsamkeit des Erzählers konfrontiert ihn mit Erinnerungen, die jedoch nie so
dominant werden wie die Eindrücke der Natur.
Doch bevor sich Vater und Sohn in die selbst gewählte Isolation begeben haben, galt
es, ein Haus in die Natur zu setzen. So sicher der Erzähler sich in der Ablehnung des
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Lebens in der Stadt ist, desto unsicherer, ungewisser ist ihm die Zukunft des Neubaus:
Mehr als die Befestigung einer Aussicht wird es nicht sein, Ein komfortabler Hochsitz
mit freiem Blick zurück … Unweit der Stelle, an der das alte Gutsgebäude stand, steigt es
nackt, neu, von Null auf und schamlos frisch aus dem mittelschweren Geschiebelehm
der Moränenkuppen … (FK 7)
Die Betonung, dass die neue Bleibe etwas Unfertiges, Provisorisches darstellt, ist
auch vor dem Hintergrund des Schicksals des alten Gutshauses, also des Vorgängergebäudes zu sehen. Die Endlichkeit des Neubaus wird in der Erwähnung des Hauses
– längst verfallen oder zerstört, in jedem Fall nicht mehr existent –, noch verstärkt.
Die Möglichkeit des freien Blicks aus dem neuen Haus zurück in die Vergangenheit
der direkten Umgebung bringt eine baugeschichtliche Urstufe ins Spiel; das Fundament, der Boden aus dem Lehm der Moränenkuppen, auf dem gebaut wird, markiert
einen Wechsel der Zeit: während zuvor die Kulturlandschaft Gegenstand der Betrachtung war, ist es jetzt die Naturlandschaft, die Zeitachse wird in Ur- bzw. Vorzeiten verlängert.
Das Haus ohne Vorgeschichte steht in direkter Verbindung zu seinem Erbauer: auch
er hat (noch) kein Heimatbewusstsein für diese Region und betreibt nicht nur die
Besetzung der Landschaft mit Erinnerung – also langsame Annäherung als Form der
Vergegenwärtigung und darauf folgende Historisierung –, sondern muss sich auch
im Haus befestigen. „Wer spricht in einem Haus, in dem noch kein Toter lag, kein
Neugeborenes, in dem noch nicht geflucht, gezeugt und geweint, nie gewartet, nie
gewohnt wurde? …“ (FK 7f.) Nach der indirekten Aussage des Satzes sprechen Häuser zu den Menschen durch ihre lange Lebensdauer, das Haus gibt den Rhythmus
der Umgebung vor; das Defizit eines Neubaus ist die Unfähigkeit, seinem Bewohner
eine Geschichte mitzuteilen. Mehr noch: „Vom Zero des Gemäuers kommt ein starker Sog. Räume, in denen nie etwas war, nehmen alles von dir …“ (FK 8) Dieser intensive Subjekt-Objektaustausch, der Energieaustausch zwischen Haus und Besitzer,
bündelt die Gedanken zu den Bereichen „Raumwahrnehmung“ und „historische
Wahrnehmung“. Der Hinzugezogene steht zwischen der Vorläufigkeit seines Baus
und der Betrachtung geschichtlicher Linien bis in landschaftliche Vorzeiten, während das Haus ohne Geschichte, in das er einzieht, ihm diese Vorgeschichte durch
die ihm eigene Dynamik wieder nimmt. Die Landschaft und das Haus sind in Die
Fehler des Kopisten dem gleichen Organisationsprinzip unterworfen; an einer späten Stelle des Buches wird von einem Nachbarn berichtet, „er hat mein Haus ‚wachsen‘ sehen“ (FK 197), beide sind also einer organischen Vorstellung verpflichtet; vielleicht ein Zeichen der Annäherung des Hauses an die Natur.
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Die Betrachtung mehrerer historischer Vorstufen bricht sich nicht nur bei den Beschreibungen des Hauses Bahn, sondern auch bei Spaziergängen des Erzählers mit
seinem Sohn:
Wir schreiten, wenn es Abend wird, unseren Gesichtskreis aus. Wir wandern rund ums
Blickfeld zwischen Wald und Ackerrand. Von jedem Fleck des Weges erkennen wir das
neue Haus auf dem Bühel. Wir wollen dort, wo wir gehen, sobald wir zu Hause wieder
aus dem Fenster schaun, vor kurzem gegangen sein. (FK 7)
Die Einteilung des Geländes zwischen Wald und Ackerrand erinnert an die Rohdungs- und Kultivierungsgeschichte vieler Generationen, und schließt die naive Annahme aus, dass Natur immer der Teil des menschlichen Lebens ist, der ohne sein
Eingreifen wächst18 Außerdem wird mit den Wörtern „Gesichtskreis“ und „Blickfeld“
ein Gedankengang eröffnet19, der sich von der ersten Seite durch den gesamten Text
zieht: während diese Schilderung Assoziationen zum stolzen Landbesitzer, der mit
großer Geste über seinen Besitz deutet, aufkommen lässt – und sich der Erzähler,
durch die Wahl des Perfekts („gegangen sein“), bemüht zeigt, die Begehungen zumindest in eine symbolische Vergangenheit zu setzen, und sich so eine Geschichte
an diesem Ort zu konstruieren –, wendet der Erzähler die weiteren Ausführungen
eher ins politische Milieu. Er erkenne bei keiner politischen Partei etwas Gutes:
Dies müsste ich Diu von unserem Hügel an Beispielen vorführen und erläutern. Einem
Hügel, von dem aus nichts zu lenken oder zu beeinflussen ist, der nur einen entlegenen
Aussichtspunkt darstellt, um nüchtern und gespannt die dilatorischen Schachzüge eines
unvermeidlichen Schicksals zu verfolgen. (FK 36f.)
Die beiden Landbewohner sind von der Möglichkeit der Beeinflussung ihrer Umwelt
völlig abgeschlossen, allein die Betrachtung bleibt ihnen. Der Feldherrenhügel, von
dem aus die Schlacht geschlagen wird, weil er die Aussicht auf das gesamte zur Verfügung stehende Gebiet öffnet, schwingt zwar in der Wortwahl mit, aber ein Ein-
18
WILLER (2000), S. 120, liest diese Textstelle als „Rückbezug des Wohnens auf die Landschaft“, dieser
führe zu der „zirkulären Formulierung“ und sei schließlich Ausdruck eines Lebens „als ferngesteuertes
Konstrukt“, eine „Wiedererkennungs-Katastrophe“.
19
Die Formulierung bewegt sich zudem auf einer wirkungsgeschichtlichen Linie von Metaphern und
Formeln der Hermeneutik. Das Bild vom männlichen Herrschaftsblick – der Blick von der Burg, aristokratisch und hoheitsvoll, über einen Besitz soweit das Auge reicht –, erinnert an den Historiographen, der
den Ablauf der Geschichte monoperspektivisch schildert, wie ein Schlachtenlenker auf dem Feldherrenhügel und entspricht dem „Sehe-Punckt“ bei J. M. Chladenius um 1742. Es handelt sich um eine Vorstufe
des Gipfelblicks, wie er von J. G. Herder 1795 in bürgerlicher Dynamisierung zum „Gesichtskreis“ wurde,
so seiner Standortgebundenheit enthoben, doch in sich geschlossen und zeitlich gebunden. Erst der „oszillierende Gesichts- oder Blickpunkt“ Friedrich Schlegels, um 1800, ermöglicht einen Perspektivenwechsel, eine mehrere Zeitstufen umfassende Orientierung und, in seiner Wechselseitigkeit, eine
Ausreizung der Perspektiven. Angaben zu Quellen und weitere Literatur bei MICHEL (1991), S. 14, Anm.
3–5 und WASSMER/ MICHEL (2002), S. 240, Anm. 105.
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greifen ist in diesem Fall nicht möglich, man ist der Welt enthoben und auch jeder
künstlichen Aufregung – ebenso „nüchtern“ auf dem Hügel, wie „ungerührt[er]“ (FK
69) vor den Feldern.
Die Wahrnehmung der Natur in Die Fehler des Kopisten schwankt zwischen Begeisterung und Zweifel, zwischen Einlassung auf die neue Heimat und der Ungewissheit über die persönliche Eignung. Dabei werden nicht nur verschiedene Denkmuster der Naturbewältigung aufgegriffen und verarbeitet, der Reiz des Textes besteht
vielmehr in der nicht aufgelösten Spannung zwischen den oben beschriebenen
Extremen. Bilder archaischer Lebenswelt mischen sich mit den Befürchtungen eines
Angehörigen der Moderne, der nicht sicher ist, ob er auf die Errungenschaften der
Zivilisation verzichten will, obwohl er dieser Gesellschaft doch um seiner und seines
Sohnes willen entkommen wollte.
Die Natur ist vertrauter Nachbar, der mit Freundschaftsbekundungen bedacht wird
und dessen Existenz in höchsten Tönen gelobt wird, doch zugleich auch die Ungewissheit und Fremde, die nie ergründet werden kann, die den Eindringling argwöhnisch beäugt und als personifizierte Ablehnung erscheint. Die dritte These Großklaus’ ist noch nicht eingetreten, die Zivilisation hat sich die letzten Inseln der Natur
nicht zu eigen gemacht; doch der Naturraum ist trotzdem kein unberührter, die Jahre unter sozialistischer Herrschaft haben ihre Spuren hinterlassen. Gerade diese
Verknüpfung der Fremdwahrnehmung der Natur und des fremden Staates – der
DDR –, der auch immer der eigene war, die Erfahrung des Anderen in der nächsten
Umgebung, in räumlicher Betrachtung und historischer Schichtung machen die Lektüre des Textes so widersprüchlich; weder die neuen Nachbarn haben sich bisher
verständigt, noch hat die Natur, trotz aller Annäherung, den Erzähler endgültig akzeptiert. Verbunden mit den einleitenden Überlegungen zur Hermeneutik, dieser
Generierung der Maßgaben der Textauslegung aus dem Text selbst, lässt es den
Straußschen Text einerseits zum Dokument der Moderne werden, doch auch zu einem Versuch, deutsche und europäische Natur- und Raumvorstellungen zu verarbeiten.
Literatur:
1.
FÖLS, MAIKE-MAREN, Literatur und Film im Fadenkreuz der Systemtheorie. Ein paradigmatischer Vergleich, Hamburg 2003 (Schriften zur Medienwissenschaft 4).
2.
GARBE, JOACHIM, Zeremonien des Abschieds – Botho Strauß: Die Fehler des Kopisten, in:
KNOBLOCH, HANS-JÖRG/ KOOPMANN, Helmut (Hgg.): Fin de siècle – Fin du millènaire.
Endzeitstimmung in der deutschsprachigen Literatur, Tübingen 2001, S. 171–182.
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3.
GROH, RUTH/ GROH, DIETER, Natur als Maßstab – eine Kopfgeburt, in: GROH, Ruth/
GROH, Dieter: Die Außenwelt der Innenwelt. Zur Kulturgeschichte der Natur, Band 2,
Frankfurt a. M. 1996, S. 83–146.
4.
GROSSKLAUS, GÖTZ, Einleitung und Rahmen. Natur und Naturdiskurse im Prozeß der Modernisierung: Utopie – Flucht – Widerstand – Simulation, in: GROßKLAUS, Götz: Natur –
Raum. Von der Utopie zur Simulation, München 1993, S. 7–14.
5.
KAISER, GERHARD, Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der
deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller, Göttingen 1977.
6.
KELLER, GOTTFRIED, Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, Band 5, VILLWOCK,
Peter et al. (Hgg.): Die Leute von Seldwyla, Band 2, Basel/ Frankfurt a. M./ Zürich 2000.
7.
MICHEL, WILLY, Die Außensicht der Innensicht. Zur Hermeneutik einer interkulturell
ausgerichteten Germanistik, Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 17 (1991), S. 13–33.
8.
MICHEL, WILLY, Übertragungen zwischen den Disziplinen und zwischen den Theoriekulturen.
Zur
historisch-hermeneutischen
Situation
der
Hermeneutik
–
Kategorientransfer
–
Perspektivenwechsel
–
Avantgarde-Theorien
–
Universalitätsansprüche – Geltungsreichweiten – Polysemie – Medienrahmen – Leseund Seheprozesse – Säkularisierungsgrade, Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 28
(2002),
S. 77–89.
OLDEMEYER
, ERNST, Entwurf einer Typologie des menschlichen Verhältnisses zur Natur,
9.
in: GROßKLAUS, Götz/ OLDEMEYER, Ernst (Hgg.): Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, Karlsruhe 1983, S. 15–42.
10. SCHIPPERGES, HEINRICH, Natur, in: BRUNNER, Otto/ CONZE, Werner/ KOSELLECK, Reinhart
(Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 4, Stuttgart 1978, S. 215–244.
11. STRAUSS, Botho, Die Fehler des Kopisten, München/ Wien 1997.
12. THOMAS, NADJA, „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt“. Botho Strauß und die „Konservative Revolution“, Würzburg 2004.
13. WASSMER, MICHAELA/ MICHEL, WILLY, Die Reflexion der Medieninterrelation und die
Funktionsverschiebung der Literatur im Medienrahmen, Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 28 (2002), S. 205–246.
14. WILLER, STEFAN, Botho Strauß zur Einführung, Hamburg 2000.
15. WORTMANN, ELMAR, Zwischen Affirmation und Distanz. Rainald Goetz’ Rave und Botho
Strauß’ Die Fehler des Kopisten im Vergleich, Literatur im Unterricht 6 (2005), S. 39–48.
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475
DER POSTMODERNE DEUTSCHE ROMAN
am Beispiel von Christian Kracht, Thomas Brussig
und Rainald Goetz
Katharina Kilzer
1. Postmoderne. Definition in Deutschland
Der Begriff der Postmoderne ist nicht genau definiert. Die Strömung, die sich in den
achtziger Jahren in Westeuropa auf verschiedenen Ebenen wie die Kunst, Architektur, Musik und Literatur ausbreitete, wird als Gegenpol zu allen vorherigen gesellschaftlichen Erkenntnissen und Entwicklungen bezeichnet. Sie steht als Resultat
ständig wiederkehrender, nicht zuletzt durch die beiden Weltkriege hervorgerufener
Erschütterungen des Glaubens an den Fortschritt sowohl im materiellen als auch im
ideellen Bereich. In der Postmoderne werden die traditionellen Werte und Perspektiven in den verschiedensten Bereichen des Lebens und Daseins, also auch in der
Kunst, verneint.
Die Hoffnungen der Moderne in der Literatur – in Deutschland von Brecht bis Enzensberger definiert -, wenn schon nicht in der existierenden Realität so doch wenigstens in der Kunst Sinn zu finden, verflüchtigten sich nach dem Ende des Krieges.
Die Denker jener Zeit traten in Opposition zu all jenen Dingen, in die in den vergangenen Jahrhunderten, insbesondere jedoch während der Moderne Vertrauen
gesetzt wurde: Fortschritt durch Vernunft und Sinn allen Handelns. Nach dem
Zweiten Weltkrieg wandelte sich die Vorgehensweise ins Gegenteil: Man ging nicht
länger davon aus, allen vorherigen Gesellschaften geistig und moralisch überlegen
zu sein. Der Mangel an erkennbarem Sinn und an Perspektiven ließ Kunst und
Literatur nicht länger als die letzte Möglichkeit der Projektion erscheinen. Die
Autoren versuchten nicht mehr etwas Einzigartiges, nie zuvor Dagewesenes zu
schaffen. Das Spiel mit traditionellen so wie mit neuen Formen des Erzählens und
Stilmitteln war wichtiger als die Suche nach Sinn und Aussicht für die Zukunft.
In Deutschland waren die Schriftsteller der Generation des Kalten Krieges, Heinrich
Böll, Günter Grass, Martin Walser oder auch Siegfried Lenz diejenigen, die sich im
Westen mit Parteien oder in Bürgerinitiativen solidarisierten und sich aktiv an Friedensmärschen und Sitzblockaden gegen Raketenstationierungen beteiligten. Als
1980 Umweltschützer und Friedensaktivisten die Partei der Grünen gründeten, die
1983 in den Bundestag einzog, erwartete man die ökologische Katastrophe. Das
Tschernobyler Atomreaktorunglück 1986 bestätigte die Ängste. Böll sieht in der
Friedensbewegung den Geist der Zukunft und ist der Meinung, dass es sich bei den
Der postmoderne deutsche Roman am Beispiel von Ch. Kracht, Th. Brussig und R. Goetz
Friedensaktivisten nicht nur um eine Gruppe von moralistischen Spinnern handelt.
Doch in der Bundesrepublik herrscht kein Konsens mehr darüber, wie über die Gesellschaft nachzudenken sei. Der Philosoph Jürgen Habermas nennt das in seiner
Studie „Die neue Unübersichtlichkeit”.1 Aus der kapitalistischen Gesellschaft wird
die Konsumgesellschaft, aus dem engagierten kritischen Intellektuellen wird der zynische Intellektuelle, dem der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk in den achtziger
Jahren sein Buch „Die Kritik der zynischen Vernunft“2 widmet. Das Projekt der Moderne, die Aufklärung aller, ist gescheitert. Die Künstler fühlen sich wieder frei. Sie
tragen nicht länger die Politik und den Fortschritt als Zwangsjacke, sondern als Modellversuch einer neuen Richtung in der Kunst, Literatur, Musik und Architektur.
In eine ähnliche Richtung gehen Künstler in den achtziger Jahren in der DDR. Sie
sammeln sich am Prenzlauer Berg in Ostberlin und versuchen sich der Last des sozialistischen Realismus, vertreten durch Hermann Kant und Erik Neutsch, zu entledigen. Auch sie sind Postmoderne. Sie scheren aus dem künstlerischen Einheitswerk der politischen Einheitspartei aus, die weiter auf dem Weg in die
vermeintliche sozialistische Zukunft ist. Die Schriftsteller vom Prenzlauer Berg
widmen sich im Geheimen der Literatur als Handwerk: Dichten und Drucken. In
kleinen Zeitschriften, von Eigenverlagen herausgegeben, handverlesenen Ausgaben
und bei Lesungen im privatem Kreis blüht die romantische Vorstellung von einem
Verbund von Dichtung und Leben wieder auf. Viele dieser Schriftsteller wurden
nach der Wende zu Erfolgsautoren in Gesamtdeutschland und zu Vertretern des
postmodernen deutschen Romans, wie Thomas Brussig, der am 9. November 1989 dem historischen Datum - beim Ostberliner Verlag „Volk und Welt” seinen ersten
Roman „Wasserfarben” zur Veröffentlichung einreichte. Mechthild Küpper schrieb
dazu Auf
in der
NZZ: Art verdankt der Schriftsteller Thomas Brussig der DDR etwas Kostbares:
groteske
Zeit, sein erstes Buch ohne Druck zu schreiben. «Wasserfarben», entstanden von 1985
bis 1989, ist ein Endzeitwerk - über das Land, in dem es entstand. Der junge Autor widmete sich seinem Erstling frei von äußerer und innerer Zensur, denn in der DDR hätte er
3
kaum erscheinen können.
In der Bundesrepublik wurde als eine weitere Rückzugsmöglichkeit die Toskana
gewählt. Eckhard Henscheid, der Ende der siebziger Jahre mit seinem Buch „Trilogie des laufenden Schwachsinns“ bekannt wurde4, sowie der vor kurzem in Frankfurt am Main verstorbene Dichter, Komiker und Zeichner Robert Gernhardt, ehe1
2
3
4
Habermas, Jürgen, Die neue Übersichtlichkeit, Edition Suhrkamp, 1985.
Sloterdijk, Peter Kritik der zynischen Vernunft, Suhrkamp Verlag, 1983.
NZZ, Mechthild Küpper, Endzeitstück, 3.4.1997.
Eckart Henscheid, Trilogie des laufenden Schwachsinns, Zweitausendeins, 1986.
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477
Katharina Kilzer
mals Redakteur des Satiremagazins „Titanic”, gehören zu den wichtigsten Vertretern
jener Generation. Sie haben das Besserwisser-Gerede der Schriftsteller der älteren
Generation, Böll, Grass, Enzensberger, Walser, satt, verlieren aber nicht den eigenen
Humor. „Ich ich ich”5 lautet der Titel des satirischen Romans von Gernhardt, der
1982 erschien, als Helmut Kohl Helmut Schmidt an der Regierung abwechselt. Der
Generation, die sich nach den Straßenkämpfen dem sanften alternativen Leben zuwendete, hat Gernhardt 1986 noch sein Theaterstück „Die Toskana-Therapie“6 gewidmet - als Nachklang sozusagen.
In den achtziger Jahren äußert das künstlerische Ich wieder verstärkt seine eigenen
Bedürfnisse. Nach dem Regierungswechsel verbesserte sich die Arbeitslosen- und
Wirtschaftskrise in der Bundesrepublik. Dreihunderttausend arbeitslose Lehrer orientieren sich um in Umschulungen, Fachkursen und Fernkursen, wurden zu Übersetzern, von der Ihk geprüften Fremdsprachensekretärinnen, Reiseleitern, Dolmetschern, Bankern und Computerfachmännern. Das Arbeitsamt fördert vielfach solche Umschulungen, auch die von zugewanderten Aussiedlern deutscher Herkunft
aus den osteuropäischen Ländern. Neue Wirtschaftszweige, boomende Bankgeschäfte fordern neue Berufe.
2. Deutsche Schriftsteller der Postmoderne
Auch die jungen deutschen Schriftsteller der achtziger Jahre wenden sich ab von den
Traditionalisten, inspirieren sich an den neuen Büchern aus Amerika und Frankreich, schulen sich um und wenden sich den neuen Medien zu. So gilt zum Beispiel
damals auch der junge Schriftsteller Rainald Goetz aus München unter Pessimisten,
Humoristen und Friedensaktivisten als Grübler mit wildem Gemüt. Er studierte Medizin und Geschichte und veröffentlichte 1983, neunundzwanzigjährig, seinen Roman „Irre“7 - der zum Roman des Jahrzehnts wurde. In ihm geht es um die Psychiatrie und vor allem um die Vernunftgläubigkeit im Deutschland der siebziger Jahre,
die von der Wirklichkeit nur schale Begriffe, vom Ich nur ein leeres Verstandeswrack
übrig gelassen hat. Doch die Vertreter der Antipsychiatrie-Bewegung, die alle Irrenanstalten öffnen möchten, sind für Goetz nur das andere Extrem. Sie ersetzen die
Vernunftgläubigkeit durch eine Ideologie des Wahnsinns, durch die das Individuum
in einer verwalteten und kaputten Welt bewahrt werden soll.
Goetz schickt seinen Helden durch die Wirklichkeiten der psychiatrischen Kliniken
5
6
7
Gernhard, Robert, Ich, ich, ich, Fischer Taschenbuch, 2003.
Gernhardt, Robert, Die Toskana-Therapie, Fischer Taschenbuch, 2006.
Goetz, Rainald, Irre, Suhrkamp Verlag, 1986.
478
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Der postmoderne deutsche Roman am Beispiel von Ch. Kracht, Th. Brussig und R. Goetz
und lernt dabei einen neuen Realismus kennen. Ihm wird Goetz in seinen weiteren
Werken treu bleiben. In „Irre” beschreibt er den Wahnsinn der Psychiatrie, in seinem Folgeroman „Rave”8 den Wahnsinn des Nachtlebens in deutschen Städten, in
„Abfall für Alle”9 den Wahnsinn des Tagebuchschreibens. Er vollzog in der deutschen Literatur des letzten Jahrhunderts als erster die Wendung von der Kritischen
Theorie zur Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann. Programmatisch ist
Goetz’ Satz in „Irre”, dass er die „Wirklichkeit der Wirklichkeit” ernst nehmen möchte, indem er das Authentische überwältigend findet und die wirkliche Wirklichkeit
unglaublich sei. Das Buch wurde als Theaterstück dann 2000 am Theater in Hannover uraufgeführt, und die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb dazu:
Wir sind alle krank, nur manche von uns tragen einen weißen Kittel und gelten deshalb
als gesund - mit dieser schlichten Aussage seines Romans „Irre“ wurde Rainald Goetz,
promovierter Arzt und Historiker, 1983 plötzlich ein sehr bekannter Autor. Und weil er
sich damals während einer Lesung beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt
mit einer Rasierklinge fachmännisch die Stirn aufschnitt, umweht ihn bis heute die Aura
des Skandalösen. Sie ist erneut im Schauspiel Hannover zu spüren, wo Goetz' autobiographisch gefärbter Erstling nun in der Regie von Jossi Wieler uraufgeführt wurde... Der
Roman, fiebrig-kraftvoll geschrieben und Raspes Realität in der Klinik wie beim Weißbier nach Feierabend lupengenau auf der Spur, wird in der Adaption zur klischeehaften
Abhandlung über Wohl und Wehe der Psychiatrie. Beim Sprung auf die Bühne hat er
Herzblut und Facetten gelassen und muß nun, zurechtgeschnipselt auf zwölf dünne Bilder, als trauriges Thesenpapier für längst bekannte Doktorspiele herhalten. ‚Im Grunde
hängt der ganze Mensch’, heißt es einmal über einen schwer depressiven Patienten. Zu
10
kurz gegriffen: Hier hängt die ganze Uraufführung.
Für Autoren der Postmoderne wie Goetz stellte der Rückgriff auf vorangegangene
Formen und Stile eine Art Kommunikation zwischen Gegenwart und Vergangenheit
dar, die in der Moderne vermieden wurde. Alte Erzählformen wurden imitiert, mit
neuen oder anderen traditionellen vermischt und parodiert. Dieses für die Postmoderne charakteristische Merkmal des ironischen Aufgreifens traditioneller
Formen wird aus heutiger Sicht häufig als Kritik oder gar deren Demontage gedeutet. Die Wiederbelebung bereits nahezu vergessener Stile und Themen wird als eine
Hommage an dieselben angesehen. Der Effekt solcher Rückgriffe und des Verzichts
auf allzu formale Experimente war das Wiedererlangen eines realistischeren Stils,
was den meisten der jungen Schriftstellern jener Zeit gelungen ist.
Die erzählende Literatur näherte sich wieder mehr dem Verständnis der Leser an.
Sie diente wieder dem Künstler zur Selbstbestätigung und den Kritikern als Grund8
9
Goetz, Rainald, Rave, Suhrkamp Verlag, 2001.
Goetz Rainald, Abfall für Alle, Suhrkamp Verlag, 2003.
10
F.A.Z., Irene Bazinger, 9.10.2000.
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479
Katharina Kilzer
lage zur Analyse. Insofern verknüpfte die postmoderne Literatur die künstlerischen
Ansprüche insbesondere auf Seiten der Kritiker mit dem immer stärker werdenden
Verlangen nach Unterhaltung. Das gegenseitige Aufgreifen von Elementen aus der
Alltagskultur als auch der anspruchsvolleren Kultur, das schon zu Zeiten der Moderne einsetzte, entwickelte sich in der Postmoderne schneller fort.
Die FAZ fragte 1992 in einer Überschrift „Ist die Moderne am Ende, oder fängt sie
erst an“11 – Arnulf Baring denkt darüber nach, ob der Ausruf der Postmoderne in der
Architektur Ende der Siebziger Jahre durch den Amerikaner Charles Jencks das Ende der Moderne oder deren Anfang war. In der Literatur jedenfalls ist keine sichtbare Abgrenzung vorhanden. In Deutschland triumphierte in den neunziger Jahren
die Ironie. So hat der in Ost-Berlin geborene Schriftsteller Thomas Brussig 1995 mit
seinem Roman „Helden wie wir“ 12 auf seiner Lesereise durch Deutschland großen
Erfolg. Er hat eine Satire auf die friedliche Revolution von 1989 in der DDR geschrieben. Sein Held Klaus Uhltzscht, ein junger Mitarbeiter der Staatssicherheit
und dem SED-Regime treu ergeben, hat die Berliner Mauer, wie er erzählt, durch
eine gewaltige Erektion zu Fall gebracht. Uhltzscht verläuft sich in eine Kundgebung
am Berliner Alexanderplatz. Dort trifft er auf eine Versammlung, wo eine Frau redet.
Uhltzscht verwechselt sie mit einer berühmten Eiskunstlauftrainerin. Dabei handelt
es sich um die Schriftstellerin Christa Wolf. Am 4. November 1989 hatte diese eine
Rede dort gehalten, in der sie sich gegen die Vereinigung der beiden deutschen
Staaten und für einen dritten Weg eines besseren Sozialismus aussprach. Wörtlich
übernimmt Brussig die Rede in seinen Roman. Sie klingt dort wie eine Parodie. In
den Zeitungen entbrannte 1990 ein Streit über Christa Wolf, darüber, ob neben ihrer
moralischen Integrität auch ihre literarische Qualität einer Überprüfung nicht mehr
standhält. Die DDR-Literatur gerät unter Allseitsverdacht. Sie fällt ins Abseits während in der Bundesrepublik sich die verwöhnte zweite Nachkriegs-Generation wohlhabender Erben zu Wort meldete, die auf nicht selbst geschaffenen Luxus pochte.
Seit der viel gebrauchte Begriff der Postmoderne Ende der siebziger Jahre auch in
Deutschland in Umlauf gebracht wurde, besteht die Diskussion über die Postmoderne in nicht geringem Maße aus Versuchen zu definieren, was denn Postmoderne eigentlich sei. 1991, zum Ausklang einer Zeit, hat ein deutscher Vertreter
dieser Richtung, der Philosoph Wolfgang Welsch, ein Buch veröffentlicht, das
konzentriert geschriebene und Orientierung anbietende Aufsätze zum Thema ver-
11
Arnulf Baring, Ist die Moderne am Ende, oder fängt sie erst an, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
10.2.1992.
12
Brussig, Thomas, Helden wie wir, suhrkamp taschenbuch, 1995.
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Der postmoderne deutsche Roman am Beispiel von Ch. Kracht, Th. Brussig und R. Goetz
sammelt: „Unsere postmoderne Moderne“.13 Wie der Titel bereits programmatisch
formuliert, unternimmt es der Autor, postmoderne Philosophie als ein vornehmlich
ästhetisch geprägtes Denken zu charakterisieren. Dieser liege ein generalisierter
Ästhetikbegriff zugrunde, der alle Formen der Wahrnehmung - sinnlicher, primär
künstlerischer, aber vor allem geistiger Art - umfasst. Es handelt sich um ein
Denken, das seinen Ausgang von Wahrnehmungen nimmt. Ein Denken, das sich
nicht mit der bloßen Affektion begnügt, sondern diese als Basis für seine Entfaltung
versteht. Eine Kernthese des Buches von Welsch ist aber, dass jede Ästhetik eine
entgegenstehende An-ästhetik, eine so genannte blinde Stelle enthält. Jedes Wahrnehmen schließt ein anderes Nicht-Wahrgenommenes aus. Das Gleiche gilt für gesellschaftliche Phänomene. Von den neuen, ästhetisch ausgerichteten Denkern wird
gesagt, dass sie ihre Sinne im Denken mobilisieren und eine Form der Reflexion betreiben, die über Sinne verfügt und mit ihnen Sinn macht. Nach Ansicht von Welsch
ist ein solches auf Wahrnehmung, Aisthesis (= griechisch für Ästhetik, die Lehre von
der Wahrnehmung, der Sinnlichkeit und der Rezeptivität) beruhendes Denken das
eigentliche Denken inmitten einer von medial vermittelter Fiktion beherrschten und
damit immer weniger realistischen Wirklichkeit. Die Welt des Fernsehens und der
Werbung kann nur noch von einem Wahrnehmungsdenken kritisch reflektiert
werden. Viele Bedrohungen der Lebenswelt sind mit Sinnen nicht mehr fassbar, das Beispiel Tschernobyl wird erwähnt. Der heutigen Daten- und Bilderflut der
Informationsgesellschaft steht eine Gleichschaltung und Entsinnlichung des Wahrgenommenen entgegen. Welsch verwendet viel Mühe, uns den Einfluss der Kunst
auf die Theorie der Postmoderne zu beschreiben. Er erwähnt die entscheidenden
Kunsterlebnisse der französischen Philosophen Lyotard, Derrida oder Foucault, die
als europäische Theoretiker der postmodernen Strömung gelten. Aus historischer
Perspektive gesehen bildet die künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhunderts die
Vorhut der Philosophie und hat dieser wichtige Einsichten voraus.
Die Postmoderne jedoch lebt von einer spezifischen Auslegung moderner Kunst. Das
Ergebnis dieser Bejahung ist eine Ästhetik des Erhabenen. 1995 veröffentlichte
Wolfgang Welsch seine weitere Abhandlung zu „Grenzgänge der Ästhetik” über zeitgenössischen Vernunftkritik.
3. Späte postmoderne Literatur der neunziger Jahre
Pop-Literatur in Deutschland
Ein wichtiger Vertreter der Literatur der deutschen Postmoderne, der manchmal
13
Welsch, Wolfgang, Unsere Postmoderne Moderne, Akademie Verlag, 1991.
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Katharina Kilzer
14
auch der Pop-Literatur zugeordnet wird, ist Christian Kracht, der mit „Faserland“
1995 seinen ersten Roman veröffentlichte, der bei der Literaturkritik starke aber
zwiespältige Reaktionen hervorrief. Kritiker beschieden Kracht sprachliches Vermögen, würdigten seine Darstellung eines Generationenporträts, als das sein Buch
verstanden wurde. Der Inhalt sorgte aber für tiefe Ablehnung bis Entsetzen: Die ziellose Reise eines aus reichem Hause stammenden, etwa zwanzigjährigen namenlosen
Ich-Erzählers, der sich auf seiner Reise von Norden nach Süden, von Party zu Party,
von Sylt bis zum Bodensee, durch Deutschland treiben lässt und am Ende in Zürich
landet. Er ist ständig betrunken und verhält sich gegenüber seinen Mitmenschen
snobistisch-arrogant. Mit diesem Verhalten, das als Provokation empfunden wurde,
bricht er alle gesellschaftlichen Konventionen und beschreibt in heiterem lockerem
Stil ein Deutschland der neunziger Jahre, wie es in der Literatur bis dahin so noch
nicht vorkam. Krachts Ich-Erzähler hält sich in Hotels auf oder in Nachtclubs, Diskotheken und bewegt sich auf zahlreichen abendlichen Partys und Szenenversammlungen in den jeweiligen Städten, von Westerland, Hamburg, Frankfurt,
Heidelberg, München bis Zürich. Er notiert ununterbrochen die Kleider, Outfits, die
Frisuren sowie das Verhalten seiner Mitmenschen. Seine Aufmerksamkeit für die
feinen Unterschiede verrät die soziale Unsicherheit dessen, der nichts geleistet hat wie vorhin erwähnt: die Generation der Erben, die auf Luxus pocht! Zugleich
spiegelt sie aber auch die seelische Entleerung einer Lebensform, die nur die Werteskala der Konsumwelt kennt. Krachts Sprache ist nicht klischee-vermeidend,
sondern orientiert sich am üblichen Szenegequatsche, das er auf seiner Reise kennen
lernt.
Das Buch wäre nicht weiter aufgefallen trotz einiger komischer und gut beobachteter
Szenen, die freilich jeder begabte Zeitungsreporter in einer Reportage genauso gut
hinbekäme, zeigten sich nicht auch in dieser sinnleeren Oberflächenwelt kuriose
Sehnsüchte. Der Erzähler kommt auf seiner Reise nach Heidelberg und erkennt, wie
schön die Stadt ist: Alltagsszenen, seine Beobachtungen, wie die Menschen einfach
nur am Neckar in der Sonne sitzen und genießen. Kracht stellt Wortspiele auf, wenn
er zum Beispiel den Begriff „Neckarauen“ genauer analysiert und meint, es verwirre
einen, wenn man das Wort mehrmals wiederholt. Er stellt eine Assoziation her zu
Deutschland: So könnte das Land sein, wäre der Krieg nicht gewesen und die Juden
nicht vergast worden, meint der Beobachter-Erzähler. Es wäre wie „Neckarauen“.
Diese Wortspiele, Anspielungen auf die Gegenwart, Bezugnahmen auf Historisches
sind typisch für Krachts Erzählung von dem jetzigen Zustand Deutschlands. Dann
wäre Deutschland nicht so hässlich, vulgär, schlecht gekleidet, alternativ und fa14
Kracht, Christian, Faserland, dtv, Stuttgart, 2002.
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Der postmoderne deutsche Roman am Beispiel von Ch. Kracht, Th. Brussig und R. Goetz
schistisch? Krachts Verzweiflung ist ziellos, und das macht seinen Hohn moralisch
erträglich.
Die jungen Schriftsteller des vereinten Deutschlands, wie Goetz, Kracht und Brussig
werden gewagter in der Auswahl ihrer Themen und Sprache und immer professioneller. Sie operieren nicht mehr nur als selbstbewusste Künstler am Rande der Gesellschaft wie in den achtziger Jahren, sondern sie erfüllen ganz die Ausbildungsanforderungen zum Medienexperten. Sie bewegen sich geschickt in dieser Szene,
treten auch in Mediendiskussionen auf, die durchaus fernsehtauglich sind. Sie beherrschen perfekt das Medienspiel. Sie durchschauen die Mechanismen der Massenmedien und kennen die Strategien der öffentlichen Meinungsbildung, lassen sich
nicht mehr zu so genannten Thesen-Intellektuellen machen, wie sie in den sechziger
Jahren, als die Welt noch in Ost und West geteilt war, gang und gäbe waren. Seitdem
das Wort Globalisierung für die neue ökonomische Weltordnung steht, scheint jede
ausgreifende politische These einen Haken zu haben.
Diese offensichtlich große Irritation über Inhalt und Schreibweise der jungen
Schriftsteller in ihren Romanen wie Kracht in „Faserland”, Goetz in „Irre”15 oder
Brussig in „Wie es leuchtet”16, lässt sich möglicherweise darauf zurückführen, dass
junge deutsche Literatur zum Beispiel zum Erscheinungszeitpunkt von „Faserland”
allgemein eher als uninteressant und statisch galt. So hatten die großen Zeitungen,
allen voran die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihren Feuilletons sich über den
Stillstand der Literatur und die Talentschwäche der nachwachsenden Schriftsteller
beklagt. Sie vertraten die Ansicht, dass die gegenwärtige Literatur sich zu wenig unterscheide vom bereits Bekannten und für unrühmliche Tugenden stehe.
Dass „Faserland” von der Kritik trotzdem weithin negativ beurteilt wurde, war umso
erstaunlicher, da der Ruf nach Unterhaltung, möglichst nach amerikanischem Vorbild, laut geworden war. Kracht wurde ausgerechnet die Tatsache vorgehalten, dass
er eindeutig von dem Amerikaner Bret Easton Ellis beeinflusst worden sei, dessen
Roman „Less than zero” schon 1985 das mondäne Leben gelangweilter Upper-ClassKids geschildert hatte und Kultroman wurde. Was die Literaturkritik an Krachts Debütroman auszusetzen hatte, wurde von der jüngeren Leserschaft jedoch positiv aufgenommen: Die Ernsthaftigkeit, mit der Kracht Markenprodukte einführte und als
Fundamente des Lebensgefühls der neunziger Jahre beschrieb, wirkte befreiend. So
findet die Jugend von heute nicht nur die Entscheidung schwer, zwischen zwei Parteien, CDU und SPD oder Grüne und FDP zu wählen, sondern die Entscheidung für
15
16
Goetz, Rainald, Irre, Suhrkamp Verlag, 1986.
Brussig, Thomas, Wie es leuchtet, Fischer, 2004.
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einen Bourbon-Mantel in blau oder grüner Farbe ist für sie genauso wichtig, wie das
bei Kracht nachzulesen ist.
Es lässt sich feststellen, dass sich Krachts Roman „Faserland” schon bald nach seinem Erscheinen trotz oder gerade wegen zahlreicher Verrisse der Kritik bei Vertretern einer jungen Generation zu einem neuen ,Kultbuch‘, diesmal der deutschsprachigen Literatur, entwickelte. Die Kritiker sahen in ihm ein Gründungsdokument einer neuen literarischen Bewegung – der Populärkultur geprägten
Wirklichkeit zugeordnet: der so genannten Popliteratur. Christian Kracht selbst
steht dieser Einschätzung, die ihn zum Idol einer ganzen Bewegung stilisiert, jedoch
äußerst kritisch gegenüber und wehrt sich kokettierend gegen dieses Image: „Ich
habe keine Ahnung, was das sein soll: Popliteratur.”, sagte er jedoch in einem
Interview für die Wochenzeitung „Die Zeit”.17
In den neunziger Jahren wird Literatur immer mehr ethnographisch gelesen, das
heißt als Bericht aus sozialen Sphären, die nicht jedem zugänglich sind, weil Alter,
Herkunft, Interesse einen Riegel davor schieben. Man hört aus den Texten die neuen
Rhythmen für Lebensgefühle, die Brücken schlagen in die unterschiedlichen, hochprofessionalisierten Bereiche der Gesellschaft. In der Medienrepublik werden die
Schriftsteller selber zu Ereignissen. Seit die Jugend der Garant für authentisches
Erleben in einer überalterten Gesellschaft sein soll, durch die im Sommer die Love
Parade in Berlin mit Trucks und Techno zieht, gerät auch der literarische Markt
mehr und mehr zur Debütantendisco. Autoren, die aus dem Journalismus hineinwechseln, wie Benjamin Stuckrad-Barre oder Florian Ilies treffen mit ihren Buchveröffentlichungen voll das Lebensgefühl der neuen Welt. Leser werden als Zielgruppen definiert, mit Markenlogos und bestimmten Lifestyles zum Konsum der
Ware Buch verführt. Auch Stuckrad-Barre, der als Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, danach zum freien Journalisten und Popliteraten sich
entwickelte, gehört zu den Kultautoren der Zeit.
Die Politik ist das Feindbild der Literatur, im Gegensatz zur Zeit davor, wo die
Schriftsteller Böll, Grass oder Lenz noch Parteinahme für die eine oder andere politische Partei bekundeten und sich sogar in den politischen Wahlkampf mit einspannen ließen. Die innenpolitischen Irrungen und Wirrungen nehmen ein abruptes
Ende, als der Terror zuschlägt und die internationale Politik mit einem Mal wieder
auf der Tagesordnung steht. Am 11. September 2001 fliegen zwei Flugzeuge, gesteuert von islamischen Attentätern, in die Twin Towers in New York. Die Vereinigten Staaten rufen zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf. 2003
17
Die Zeit, Anne Phillippi, Wir tragen Größe 46, 22. April 1999.
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Der postmoderne deutsche Roman am Beispiel von Ch. Kracht, Th. Brussig und R. Goetz
beginnt der Krieg gegen den Irak mit dem Ziel, das Regime von Saddam Hussein zu
stürzen. Wieder ist es vor allem Günter Grass, der sich öffentlich mit harten Worten
gegen die amerikanisch-britische Invasion wendet. Bundeskanzler Schröder hatte
sich gegen den Krieg gestellt.
Der Schriftsteller als der Intellektuelle, der moralische Empörung zum Ausdruck
bringen kann wie während des Vietnam-Krieges, zeigt sich in den jüngeren Generationen nicht mehr. Die jüngeren Schriftsteller suchen sich anders auszudrücken. Sie
sehen sich nicht definiert durch eine Epoche, sondern durch ihre schriftstellerischen
Eigenheiten, Tagebücher, Reisebuchnotizen, kurzen Erzählungen, die oft zusammenhanglos daherkommen. Pop-Literatur nennt man es, aber auch dieser
Begriff sagte einigen Schriftstellern nicht viel. Ist nun die Postmoderne zu Ende und
abgelöst von der so genannten Pop-Literatur, Pop-Kunst und Pop-Art, darüber sind
sich die Zeitgenossen nicht einig. An den deutschen Universitäten wird jedoch über
das Phänomen Postmoderne viel diskutiert und spekuliert. Niklas Luhmanns
Systemtheorie steht auf dem Stundenplan der Studenten. Abweichend von der postmodernen Literatur haben jedoch auch Schriftsteller Erfolg, die die zur Zeit
gängigen Erzählmuster vermeiden, wie zum Beispiel der heute einunddreißigjährige
Daniel Kehlmann, der mit seinem historischen Roman „Die Vermessung der Welt”18
alle Verkaufsrekorde seit Erscheinen von Patrick Süßkinds „Das Parfum” vor nunmehr 20 Jahren gebrochen hat und nun seit etwas mehr als einem Jahr ganz oben
auf den Bestsellerlisten steht. Sein historischer Roman zweier deutscher Helden, die
bei Kehlmann zu Antihelden mutieren, wird von allen Schichten der Gesellschaft
gelesen ob nun Intellektuelle, Spiegel-Bestseller-Leser oder auch Wissenschaftler,
Historiker, Studenten und Schüler. Sein Realismus, den er den südamerikanischen
Schriftstellern wie Gabriel Marcia Marquez entlehnt, seine Antihelden erwecken das
Interesse vieler Leser. Obwohl man den Versuch wagen könnte, auch bei Kehlmann
postmoderne Elemente herauszugreifen, wie die Aufnahme traditioneller Themen
und Stile in Verbindung mit gesellschaftlichem Humor und Ironie. Kehlmanns Bücher sind bei weitem keine Pop-Literatur, sondern vielfältig in Thema und Stil. Denn
Vielfalt ist heute angesagt.
Selbst für die Postmoderne war es schwer, radikale Vielheit konsequent zu denken.
Zumindest soll Kommunikation und konstruktiver Austausch zwischen heterogenen
Weltentwürfen gewährleistet sein. Nach der Thematisierung von Pluralität und Heterogenität steht ein Denken der Transversalität, eine so genannte Verbindung verschiedener Lebensformen bevor, behauptete Wolfgang Welsch schon in den neunzi-
18
Kehlmann, Daniel, Die Vermessung der Welt, Rowohlt, 2005.
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Katharina Kilzer
ger Jahren des zu Ende gehenden letzten Jahrtausends.
Literatur:
1.
BRUSSIG, THOMAS: Wie es leuchtet, Fischer, Frankfurt am Main 2004
2.
DERS.: Helden wie wir, suhrkamp taschenbuch, Hamburg 1995
3.
GERNHARD, ROBERT: Ich, ich, ich, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2003
4.
DERS.: Die Toskana-Therapie, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2006
5.
DERS.: Irre, Suhrkamp Verlag, Hamburg 1986
6.
DERS.: Rave, Suhrkamp Verlag, Hamburg 2001
7.
DERS.: Abfall für Alle, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003
8.
HENSCHEID, ECKART: Trilogie des laufenden Schwachsinns, Zweitausendeins, Frankfurt
am Main 1986
9.
KEHLMANN, DANIEL: Die Vermessung der Welt, Rowohlt, Hamburg 2005
10. KRACHT, CHRISTIAN: Faserland, dtv, Stuttgart 2002
11. SLOTERDIJK, PETER: Kritik der zynischen Vernunft, Suhrkamp Verlag, Hamburg 1983
12. WELSCH, WOLFGANG: Unsere postmoderne Moderne, Akademie Verlag, Berlin 2002
13. DERS.: Ästhetisches Denken, Reclam, Stuttgart 1990
486
ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007
„AUF WEITEN WEGEN“:
Über die ungarndeutsche Gegenwartsliteratur1
Eszter Propszt
Die Entstehungsbedingungen der ungarndeutschen Gegenwartsliteratur als institutionalisierter Literatur liegen im Politischen. Sie erfuhr eine Institutionalisierung
zum Zweck, den neuen Kurs der ungarischen Nationalitätenpolitik zu demonstrieren: Diese gibt 1968 die These des Automatismus auf – demnach sich die Nationalitätenfrage unter den Bedingungen des Sozialismus und dessen Durchsetzung in allen Lebensbereichen von selbst lösen sollte – und propagiert die Integration der Nationalitätenangehörigen in die sozialistische Gesellschaft und Wirtschaft.2 An dieses
Erfordernis der Politik wird die ungarndeutsche Gegenwartsliteratur rückgebunden
und dadurch funktionalisiert: Im Sinne des „Aufbau[s] des Sozialismus“ will die Literarische Sektion des Demokratischen Verbandes der Ungarndeutschen mit dem
Preisausschreiben „Greift zur Feder!“ 1973 ungarndeutsche Schriftsteller auf den
Plan rufen; und in diesem Sinne werden die Denk- und Argumentationsstrukturen
des literarischen Diskurses festgelegt: Alle Veränderungen der soziokommunikativen Kontexte seit dem Zweiten Weltkrieg müssen auf das Ideal des
„Aufbau[s] des Sozialismus“ hin interpretiert bzw. bewertet werden3 – das bedeutet
1
Vorliegender Beitrag stellt die vollständige Fassung des Referats „ ,Auf weiten Wegen‘ – über die ungarndeutsche Gegenwartsliteratur“ dar, das auf dem XI. Kongress der Internationalen Vereinigung für
Germanistik (2005, in Paris) vorgetragen wurde, in der Sektion „Multikulturalität in der zeitgenössischen
deutschsprachigen Literatur“, deren Ziel es u.a. war, deutschsprachige Minderheitenliteraturen unter
dem Gesichtspunkt der spezifisch historischen, sozio-ökonomischen und politischen Entstehungs- und
Existenzbedingungen zu untersuchen, aber auch unter dem Gesichtspunkt der ästhetischen Beschaffenheit. Im Konferenzband werden die Referate in stark gekürzter Form veröffentlicht.
2
Vgl. Herczeg Ferenc, Az MSZMP nemzetiségi politikája (Budapest: Kossuth, 1976) 21-33. und Valeria
Heuberger, „Die ungarische Nationalitätenpolitik von 1968-1991,“ Minderheitenfragen in Südosteuropa,
ed. Gerhard Seewann, (München: Oldenbourg, 1992) 199-209. und vgl. Tilkovszky Loránt, Nemzetiségi
politika Magyarországon a 20. században (Debrecen: Csokonai, 1998) 162-170.
3
Vgl. „Wir wissen, daß im Mittelpunkt aller künstlerischen Bemühungen die Weiterent-wicklung unserer
sozialistischen Kultur steht, insbesondere die Gestaltung des sozialistischen Menschen. […] Mitte und
Ende der vierziger Jahre gab es hier kaum Deutschschreibende, beziehungsweise Personen, die ihre
Gedanken in deutsche Worte kleideten. Dies war durch die Entwicklung der neuen Arbeits- und
Lebensverhältnisse in Ungarn bedingt. Die wirtschaftliche Entwicklung nach Kriegsende brachte es mit
sich, daß auch die Deutschen in Ungarn in den Städten neue Arbeitsmöglichkeiten fanden. […] Das führte
einerseits zu einem gewissen Abschleifen ihrer nationalen Besonderheiten, andererseits aber zum
gegenseitigen besseren Verstehen, zum Wachsen der gegenseitigen Achtung und Zusammenarbeit. […] Es
gibt keine heimische Literatur in deutscher Sprache, die Einsicht gewähren könnte in die Geschichte
dieser Jahre […]. Das ist schade, denn geschriebene und gelesene Werke appellieren an das Gedächtnis.
Sie bringen den Menschen sich selbst in Erinnerung. […] Die Trümmerzeit und die sorgenvollen,
Eszter Propszt
vor allem die Ausblendung der Aussiedlung der Ungarndeutschen nach dem Zweiten
Weltkrieg, der Zwangsarbeit in der Sowjetunion und der Unterdrückung bzw. Zerstörung des ethnischen Selbstverständnisses in der stalinistischen Ära.
Mein Beitrag setzt sich zum Ziel, zu untersuchen, inwiefern die politischen Entstehungsbedingungen, die sich langfristig auch als Existenzbedingungen erweisen,
die inhaltlichen und ästhetischen Strukturen der ungarndeutschen Gegenwartsliteratur bestimmen. Als Untersuchungsmethode wird die Literaturanalyse als
Interdiskursanalyse gewählt, die einen systematischen Einblick in soziologische und
ideologische Produktionsgesetzlichkeiten sowie soziologische und ideologische
Produktstrukturen der Literatur zu vermitteln, und inhaltliche und ästhetische
Strukturen in ihrer sozialen und ideologischen Bedingtheit zu reflektieren vermag.
Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, mit der Jürgen Link Ansätze der
semiotischen Diskursanalyse und der Literatursoziologie verknüpft, untersucht die
Entstehung literarischer Texte aus einem je historisch-spezifischen diskursintegrativen Spiel, und bezieht literarische Strukturen auf das umgebende Feld von
Spezialdiskursen und von außerliterarischen Interdiskursivitäten4. Der Interdiskurs
re-integriert für ihn das in den Spezialdiskursen der arbeitsteiligen Gesellschaft gewonnene und verwaltete sektoriell zerstreute Wissen, und gewährleistet einen Austausch über dieses Wissen. Als Interdiskurs fungiert nach Link auch die institutionalisierte Literatur, die er als spezifische Elaboration der in den alltäglichen und
praktischen Interdiskursen produzierten imaginären Elemente (wie bildliche Analogien, Metapher, Symbole) betrachtet.5 Das spezifisch Literarische legt er dabei im
manchmal aussichtslos erschienenen Jahre der Nachkriegszeit haften in unserer Erinnerung. Aus ihnen
erwächst die Gegenwart, die siegreich fortschreitende Welt des Sozialismus und des Friedens. Einst
standen wir vor den öden Feldern, vor den zerbombten Fabriken, Betrieben und Häusern. […] In hellem
Licht liegt der Reichtum unserer Tage vor uns. Erfüllte Pflichten, erfolgreiche Arbeit und Lebensfreude
prägen das Gesicht unserer Dörfer, Städte, Landschaften. […] Sozialismus, Frieden und Freundschaft
einen Ungarn und Nationalitäten zu einem starken Bund. Diese Entwicklung müßte auch von der Sektion
der Deutschschreibenden in Worte gekleidet werden. Ihr Schaffen würde unserer Heimat dienen und der
gesamten Kultur unseres sozialistischen Vaterlandes ein bleibendes Geschenk darbringen. […] Kunde
geben über die Einzelheiten der Entfaltung bis zum Durchbrechen der Freiheit, die das Antlitz eines
großen Teiles der Welt, wie auch das unserer Nationalitäten, von Grund auf veränderte. […] Das Wirken
der Deutschschreibenden kann dazu beitragen, daß das heutige Leben der Deutschen in der Öffentlichkeit
erschlossen und das Erbe auf diese Weise sichergestellt wird, wodurch zugleich die Leser zu einer noch
erfolgreicheren Teilnahme am sozialistischen Aufbau ermuntert werden.“ Friedrich Wild, „Sektion der
Deutschschreibenden: Greift zur Feder!,“ Neue Zeitung 7 (1972): 2.
4
Jürgen Links Konzept des Interdiskurses geht aus einer Kritik an Foucaults ambivalenter Verwendung
des Diskursbegriffs hervor, der einerseits um ein internes diskursives Regelsystem kreist, andererseits
aber soziale Praktiken, Rituale und Institutionen als konstituierend hervorhebt: Link geht in einer materialistischen und generativen Wendung der Diskursanalyse von der doppelten Kombinatorik gesellschaftlicher Praxisformen und sprachlicher Zeichen aus.
5
Vgl. Jürgen Link, Elementare Literatur und generative Diskursanalyse (München: Fink, 1983)
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„Auf weiten Wegen“: über die ungarndeutsche Gegenwartsliteratur
Wechselspiel immanent semiotischer Strukturen mit externen diskursiven Faktoren,
mit externer diskursiver Institutionalisierung fest.6 Über die Weiterverarbeitung
dieser Zeichenarsenale (in der Link’schen Terminologie elementar-literarische) in
institutionalisierte Geschichten vermag die institutionalisierte Literatur diskursive
Positionen einzunehmen, d.h. soziale Perspektiven bzw. sozialisierende Wertungen
zu artikulieren. Insbesondere über die Weiterverarbeitung der sog. Kollektivsymbole, die zeitgleich in verschiedenen diskursiven Zusammenhängen einer Kultur
verwendet und jeweils mit unterschiedlichen Wertungen versehen werden, die also
als Kommunikationsmittel einer sozialen Gruppe gemeinsame Erfahrungen anschaulich und allgemeinverständlich artikulieren können.7 Über Weiterverarbeitung
von elementar-literarischen Zeichenarsenalen kann sich der institutionalisierte
literarische Diskurs gegenüber anderen, sozial dominanten diskursiven Positionen
bestätigend, aber auch kritisch oder ambivalent verhalten, kann diese verfremden,
kann sich diesen zu entziehen suchen, kann aber auch den bestehenden Rahmen von
Diskursen und Interdiskursivitäten utopisch überschreiten. Dadurch nämlich, dass
Literatur als sprachlich-semiotische Struktur deutlich von anderen Praktiken getrennt und immanent sinnvoll ist, kann sie während ihrer Rezeption eine zeitweilige
relative Suspension der realen Praktiken bewirken, somit Erfahrungen aller Art
nicht nur reproduzieren, sondern auch modellhaft konstruieren und fingieren.8 Die
Operativität literarischer Interdiskursivität legt Link zusammenfassend als Subjektivierung des Integral-Wissens mittels der Produktion von erlebbaren
Applikations-Vorgaben fest, die zu Organisationsformen anderer Praktiken werden
können und als solche die Wahrnehmung der Rezipienten sowie ihren Zugriff auf die
Realität strukturieren.
Als exemplarisches Beispiel soll meinen Ausführungen das Kollektivsymbol „Weg“
dienen. Indem ich das Netzwerk der diskursiven Beziehungen (zumindest skizzenhaft) aufdecke, in dem der jeweilige Text mit der Verwendung dieses Symbols steht,
suche ich die Antwort auf die Frage, inwiefern die Applikations-Vorgaben der ungarndeutschen Gegenwartsliteratur er-lebbar sind – d.h. über welche Mechanismen
der Suspension sie ungarndeutsche alltagsweltliche und historische Erfahrungen
6
Vgl. Jürgen Link und Rolf Parr, „Semiotik und Interdiskursanalyse,“ Neue Literaturtheorien: Eine Einführung, ed. Klaus-Michael Bogdal, (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997) 108-133.
7
Die komplexe Problematik der Kollektivsymbole führt Link am Beispiel des seit seiner Erfindung im 18.
Jh. in literarischen und journalistischen Texten mit Vorliebe verwendeten Ballon-Symbols, in: Jürgen
Link, „Literaturanalyse als Interdiskursanalyse: Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der
Kollektivsymbolik,“ Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, eds. Jürgen Fohrmann und Harro Müller, (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988) 284-307, und in Jürgen Link, Elementare Literatur und generative Diskursanalyse (München: Fink, 1983) 48-72 aus.
8
Vgl. Jürgen Link und Ursula Link-Heer, Literatursoziologisches Propädeutikum, München: Fink, 1980,
136-164.
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489
Eszter Propszt
integrativ ordnen bzw. modellieren; inwiefern sie durch diese Modelle Wirklichkeitsvorstellungen vervielfachen, inwiefern sie in ihrer sozialen und ideologischen
Bedingtheit Erfahrungs- und Handlungsräume eröffnen, die dem Leser eine Möglichkeit der Selbstreflexion in Bezug auf dessen alltagsweltliche und ideologische
Wahrnehmungsbeschränkungen bieten. Die Antwort auf diese Frage mittels des
Wegsymbols zu suchen, scheint mir auch deshalb operativ zu sein, weil die dem Kollektivsymbol konventionell zugewiesenen Konnotatoren („Entwicklung“, „Bildung“
usw.) genuin auf Summieren bzw. Reflektieren von lebensgeschichtlichen Wandlungen, Erfahrungen hin angelegt sind.
Das Kollektivsymbol „Weg“ ist für die inhaltlichen und ästhetischen Strukturen der
ungarndeutschen Gegenwartsliteratur in ihren Anfängen höchst konstitutiv. Es wird,
auch von denselben Autoren, in konträren diskursiven Positionen verwendet. Diese
Tatsache weist auf die Widersprüchlichkeit des „sozialen Auftrags“9 der ungarndeutschen Schriftsteller hin: Der fordert einerseits (sozial-)psychologische Hilfe bei der
Bewältigung schmerzhafter Verluste, andererseits Bestätigung, dass die Integration
in die sozialistische Gesellschaft problem-, d.h. schmerzlos abläuft. Einerseits wird
„Weg“ in einer diskursiven Position bearbeitet, die als die des „Assimilanten“ bezeichnet werden kann. Die Bezeichnung will signalisieren, dass mit der Position Verluste der ungarndeutschen Assimilation verzeichnet werden – allerdings mit zeitüblicher Vorsicht. So nimmt in Ludwig Fischers Auf weiten Wegen10 der
„Assimilant“ das interdiskursive Element bzw. Kollektivsymbol „Weg“ auf, das die
redebeherrschende Macht mit den Konnotatoren „Fortschritt“, „fortschrittlicher
Sozialismus“, „kommunistische Zukunft“ verbunden wissen will. Er legt einen
Zwischenhalt in das vorgeschriebene Auf-dem-Weg-Sein ein, und fragt danach, was
er bereits erreicht hat. Seine Zwischenbilanz zeigt ausschließlich Verluste auf: Die
„weiten Wege“ werden semantisch stets als „heimisch“ belegt, der „Weg“ büßt die
semantischen Potenzen „Läuterung“, „Glücksfindung“, „Identitätsfindung“ ein, die
Potenzen, an welche die Macht mit ihrer konnotativen Überlagerung appelliert.
Die titelgebende Erzählung bearbeitet die Verluste mittels einer Mensch-TierKonfiguration. Der Bauer, der für seinen Umzug in die Stadt Geld braucht, verkauft
sein Pferd, und meint erkannt zu haben, dass er auch „Bindungen, Erinnerungen,
Gefühle“ (AWW 65.) zurücklassen soll. Später, in der Stadt, halten ihn aber in stürmischen Nächten diese doch nicht losgelassenen Bindungen wach:
9
Unter „sozialem Auftrag“ versteht Link die ideologische Bedingtheit einer diskursiven Position. (Vgl.
Jürgen Link und Ursula Link-Heer, a.a.O., S. 280-297.)
10
Ludwig Fischer, Auf weiten Wegen (Budapest: Tankönyvkiadó, 1983) 60-76. Künftig zitiert als AWW
und Seitenangabe.
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„Auf weiten Wegen“: über die ungarndeutsche Gegenwartsliteratur
Das Toben des Windes wird zu einem Sausen und Rauschen, ja als kämen da die Hunde,
unsere Hunde, all unsere Hunde und die Pferde vorbei. Wißt ihr noch, wie wir sie alle in
unseren Dörfern gelassen haben. […] Wer dachte noch damals […] an die Hunde, an die
Pferde? Wer dachte an die Hunde, die auf uns warteten? Man hat sie verprügelt, man hat
sie verjagt … sie saßen traurig unter den Bäumen, sie horchten immer trauriger in die
Weite. Sie warteten Tag und Nacht, Tag und Nacht warteten sie auf uns. Sie liefen den
Leuten nach […]. Sie warteten hungrig, naß, mit einer tiefen Trauer in den Augen […],
mit der Erinnerung an uns hockten sie dort unter den Bäumen, jämmernd, winzelnd
heulten sie. […]
In den unendlich langen schlaflosen Nächten weiß ich, daß sie uns noch immer auf der
Spur sind. […] Sie hetzen sich auf den weiten Wegen nach uns. (AWW 76.)
Die Unfähigkeit der Tiere, sich den veränderten Umständen anzupassen, steht für
einen (nicht konkretisierten) Bestandteil der menschlichen Identität, die Gewissensbisse des Bauern weisen auf Verdrängtes, auf eine ausgebliebene Trauerarbeit um
die Verluste hin. Die ausgebliebene Trauerarbeit kann auch das Werk nur bedingt
leisten, welcher Mangel aber – zumindest teilweise – den Ausschließungsregeln des
damaligen ungarndeutschen literarischen Diskurses geschuldet ist. Der Diskurs gewinnt seine Legitimation, wie oben angedeutet, aus der Versicherung der Loyalität
der herrschenden Gesellschaftsordnung gegenüber, und wird dadurch wesentlich
eingeschränkt.11 Das bedeutet, die Veränderungen im Sozialsystem (konkret: die Auflösung der ungarndeutschen Dorfgemeinschaften) müssen angesichts des neuen,
sozialistischen Systems grundlegend positiv gedeutet werden, die Verluste dürfen in
ihrem wirklichen Ausmaß, in ihrer sozialen und psych(olog)ischen Realität nicht
rekonstruiert werden – und somit auch nicht richtig betrauert werden. Die Veränderungen, die Mechanismen und Konsequenzen des Ausscheidens aus einer Gemeinschaft und der Eingliederung in eine neue bleiben undurchschaut bzw. unanalysiert, der Verlust der Dorfgemeinschaft wird einfach als Dekorporierung des
„guten Alten“ gestaltet. Als Interpretation für die Veränderungen hat der literarische
Diskurs nur die Ausgeliefertheit, die Schicksalhaftigkeit parat. Die Gestaltung der
Ausgeliefertheit der zurückgelassenen Tiere, besonders des Pferdes, erfolgt durch
das kontextuelle Sem „menschlich“ und so intensiv12, dass sich der Leser mit dem
11
Siehe auch die in Fußnote 2 zitierten „Diskursregeln“.
12
Vgl. „Das leichte Schlummern brachte Sári nach Hause … als hallte der Ruf aus unendlicher Weite …
Sári … Sári … Sári! Dann hörte es wieder nur noch die stille warme Stimme. Sári, mein Fuchs, gehen wir?
Wollen wir nach Hause gehen? Es zuckte nur im Schlaf. Fahren wir, mein Fuchs? Und am Rande der
Träume waren die Wege. Die nach Hause. Die Wege vom Kukuruzfeld, die Wege aus dem Wald, aus dem
Weingarten … alle Wege führten nach Hause, durchs offene Tor in den Hof. Die langen Wege und die
kurzen, die nassen und die staubigen, die Wege bei Tag und bei Nacht … alle sie führen nach Hause, in
den Hof, wo alles bekannt ist, die Bäume und der Brunnen. Da hat alles seine bekannte Form, Farbe, den
bekannten Laut, Geruch … bald werden sich auch die bekannten Schritte nähern. Es wollte nicht einschlafen, es wollte auf die Schritte warten. Sie werden auf dem langen Weg nach Hause kommen … […]
Nur die Stille, die endlose Stille der Nacht! Er wollte die bekannten Schritte hören!“ (AWW 62-63.) und
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Eszter Propszt
Tier identifiziert – d.h. mit einem „Schicksaltragenden“: Das Pferd steht ohnmächtig
der Aggression brutaler Menschen gegenüber, Gründe von Veränderungen in seinem
Leben sind ihm nicht zugänglich, es muss sein Leben als ein verhängtes erleben. Es
fällt außerdem auf, dass – indem der Konflikt von Menschen auf Tiere übertragen
wird – der soziale Sprengsatz der Konfliktstruktur, die die sozialistischen Umstände
als kritikwürdig erscheinen ließe, entschärft wird. Die Ausführung der Konfliktstruktur ist alles in allem unter sozialpsychologischem Aspekt mehrfach zu
kritisieren, da sie eine sehr eingeschränkte Wirklichkeitsinterpretation leistet und
somit zur Verarbeitung geschichtlicher und alltagsweltlicher Erfahrungen der
Ungarndeutschen kaum beitragen kann.
Auch in anderen Erzählungen des Bandes führen die „weiten Wege“ in das Fremde
bzw. zum Fremdsein. In Im Institut13 leidet der ehemalige Dorflehrer unter dem
mangelnden Kontakt mit den Kollegen. In Es war einmal14 wehrt sich der Assimilant gegen die Fremdheit der sozialen Welt durch die Gestaltung einer virtuellen; in
der Literatur, in seiner Muttersprache gestaltet er sich einen Fluchtraum.15 Anderen
„Jani versetzte einen dumpfen Schlag auf das rechte Auge des Pferdes. Er schlug mit der Faust, mit seiner
schweren Faust. Sári stand still, nur ein Jämmern war zu hören. Als wäre es das bittere Weinen eines
Mannes. Ein schluchzendes Weinen aus der Ferne. Aus dem rechten Auge des Pferdes quoll Blut. Dann
führten sie das Pferd zur Landstraße. Sári wollte in die Ferne schauen, in die Richtung, wo das Dorf ist,
wo sie alle sind.“ (AWW 75.)
13
AWW 42-50.
14
AWW 5-25.
15
Vgl. „ … er wollte nicht einschlafen … er wollte sich in Gedanken auf den Weg machen, wollte wandern,
wollte fahren weit nach Hause. Der Mond guckte schon durchs Fenster … was machen sie jetzt wohl dort
weit im Dorfe? […] Er wollte nicht einschlafen. Er wollte noch etwas zu Hause verweilen. […] Es war ihm
auf einmal, wie er so unter der warmen Decke lag und immer wieder einschlummerte, als hätte er sie alle
um sich, auch Großvater. In seiner Sprache hatte er sie alle, in seiner schwäbischen Sprache. Die Bilder,
die er in Gedanken vor sich hatte, setzten sich ja mit Hilfe der schwäbischen Worte zusammen. Draußen
auf der Straße wurde überall ungarisch gesprochen. Nur er setzte sich die Bilder, die Gedanken aus
deutsch-schwäbischen Wörtern zusammen. Mit Hilfe dieser Wörter setzte er sich einen lebenden, pulsierenden Bilderbogen zusammen … […] Ein Wunder war geschehen. Die Gedichte Heines, die sprachlichen
Erinnerungen aus der Kindheit führten den Jungen wieder in die Welt der vergangenen Kindheit zurück.
Vorbei war es mit der Einsamkeit. Die Worte, die bekannten Bilder, die liebliche Melodie der Sprache
zauberten ein Zuhaus in die Welt von Mathematik, Chemie und Latein. War das Studieren auch noch so
schwer, es wartete etwas auf den Jungen, das ihn immer befriedigen konnte. Als hörte er die Lieder seiner
Heimat, als wäre er wieder ein Kind ohne Sorgen. […] Der Junge fand wieder nach Hause. Er las Schiller,
Lenau, Goethe, Agnes Miegel. Er suchte in den Bibliotheken herum. […] Er bastelte an seinen deutschen
Sprachversuchen herum. Er nahm sich aus den Romanen Redewendungen, bildhafte Möglichkeiten,
schmiedete an Zeilen herum, verfaßte Gedichte, er wollte Gedanken, Stimmungen festhalten. […] Großvaters warme Stimme, das liebevolle Schwäbisch aus Großvaters Mund, seine Geschichten dort am Brunnen, seine bildhaften Beobachtungen, das alles gab ihm Großvater mit auf den Weg. […] Das war das Innigste seines Lebens. Es war sein Leben.“ (Hervorhebungen von mir EP) (AWW 17-25.)
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„Auf weiten Wegen“: über die ungarndeutsche Gegenwartsliteratur
Assimilanten bleibt sogar ein Fluchtraum vorenthalten: In Wo sind sie geblieben?16
wird Sepp bei dem Besuch in seinem Heimatdorf nicht erkannt, und er muss
schmerzhaft feststellen, dass alles, was sein Gedächtnis und seine Phantasie als
„heimisch“ gespeichert bzw. gestaltet haben, in der Wirklichkeit nicht mehr vorhanden ist.17
Andererseits wird das Kollektivsymbol „Weg“ mit der diskursiven Position des „Versöhnenden“ verarbeitet. Der „Versöhnende“ strebt eine Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Ungarndeutschen an, versucht die „ungarndeutsche Geschichte“ semantisch als „kontinuierlich“ zu gestalten. Beispiele für die Position sind u.a. in Ludwig Fischers Auf weiten Wegen zu finden. Bei dem „Versöhnenden“ führen die „weiten Wege“, anders als bei dem „Assimilanten“, zueinander bzw. zur Läuterung – die „Versöhnung“ erreicht die Position allerdings nur
um den Preis der Suspension gewichtiger realer Praktiken.
Die „Versöhnung“ wird in Bezug auf den „Aufbau des Sozialismus“ gestaltet, innerhalb der Welt des sozial Produktiven, in der Arbeit. Die semantische Gestaltung von
„Arbeit“ realisiert die Wertsteigerung, die das Zeichen in den politischen, journalistischen usw. Interdiskursen erfahren hat: „Arbeit“ erscheint als „schöpferischproduktive Kraftentfaltung der brüderlich verbundenen Menschen zur vollen Befriedigung ihrer gesellschaftlichen und persönlichen Bedürfnisse“, wird von Bedeutungselementen wie „Ausbeutung“ oder „Mühe“ befreit.
In Der Doktor18 wird ein „Verirrter“ in die sozialistische Gesellschaft zurückgeführt.
Georg Gruber, der ungarndeutsche Bauernsohn, geht, nachdem seine Familie nach
dem Krieg alles verloren hat, den Weg des Intellektuellen, und sein ungarndeutscher
Fleiß wird von Erfolg gekrönt, ihm wird an der Universität eine Stelle angeboten, nur
die Pensionierung eines Kollegen muss er abwarten. Er heiratet und zieht für die
drei Jahre, bis die Stelle frei wird, aufs Land, arbeitet in einer Schule, schreibt an
seiner Doktorarbeit, und macht sich als Turkologe bald auch in der internationalen
Forschung einen Namen. Eines Tages aber bekommt er all seine unveröffentlichten
Manuskripte zurück, und es stellt sich heraus, dass die Stelle an der Universität
durch einen anderen besetzt worden ist. Das Fiasko wirkt sich auf seine Ehe aus,
16
AWW 51-59.
17
Vgl. „Dreißig Jahre lebte das Bild meines Heimatdorfes in mir. Ich hatte das Weiß seiner Häuser auch
in der Ferne vor Augen, hatte die freudige Ausgelassenheit der Kirchweihmärkte in den Ohren, die Freude
des Faschingsmarktes, des Pfingstreitens … Dreißig Jahre träumte ich mich in das weite Dorf zurück,
wollte es auch in meinen Erzählungen […] festhalten, ich wollte es auch in den Novellen festhalten: den
Weinberg, das Dorf, den Friedhof. Das wollte ich, das suchte ich in meinen Träumen und Erinnerungen.
Und jetzt stehe ich da, und Wehmut trübt mir das Herz. Wo sind die erträumten Wege, die Gärten? Wo
hat man sie? Wo ist alles geblieben?“ (AWW 51.)
18
AWW 86-113.
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Eszter Propszt
seine ehrgeizige Frau hält ihm vor, dass sie ihn nur geheiratet hat, um Professorenfrau zu werden, die Eheleute entfremden sich einander. Gruber sehnt sich nach seinen Eltern, in die bäuerliche Welt zurück, unternimmt aber nichts, um wirklich
dorthin zurückzukehren. Inzwischen stellt sich heraus, dass die Frau ein Kind erwartet, was noch einmal eine glückliche Periode in der Ehe bewirkt. Das Kind
kommt aber mit einem hässlich verzerrten Gesicht zur Welt, was die Mutter nicht
verarbeiten kann, das Ehepaar entfremdet sich endgültig. Der Vater hält zu dem
Sohn, auch als er sich als ein sehr schwacher Schüler erweist, der Druck, der auf ihm
lastet, wird für ihn allerdings nur durch Alkohol erträglich. Wegen seiner Trunksucht wird er suspendiert. Dazu kommt, dass der heranwachsende Sohn, unter dem
Einfluss der Mutter, den trinkenden Vater für seine gesellschaftliche Isolierung verantwortlich macht. Ein Fachinspektor, der sich gerade in den Tagen im Dorf aufhält,
als der Sohn Selbstmord begeht, verspricht Gruber, mit seiner Lebensgeschichte
bekannt gemacht, Hilfe und macht ihm ein Angebot, sich in der Stadt noch einmal
als Lehrer zu versuchen.
Dem Autor fällt es offensichtlich schwer, Konflikte in einem Gesellschaftsmodell zu
gestalten, in dem es keine antagonistischen Oppositionen geben darf und auch die
nichtantagonistischen heruntergespielt werden müssen. Der plötzliche Abbruch der
wissenschaftlichen und somit sozialen Karriere Grubers ist als handlungs- und konfigurationskonstitutives Element sehr oberflächlich ausgearbeitet: Es bleibt unverständlich, warum ihm die Arbeiten zurückgeschickt werden bzw. warum er sie nicht
anderswo zu publizieren versucht, da er auch im Ausland anerkannt ist; auch der
Einsatz eines anderen auf die Stelle bleibt ungeklärt. Eine sichtbare Schuld liegt weder bei Gruber noch bei der Gesellschaft. Die Konflikte, welche die Figurenkonstellation soweit verändern, dass aus dem fleißigen Gruber ein „Taugenichts“
wird, d.h. das semantische Merkmal „gesellschaftlich nützlich“ in „gesellschaftlich
unnützlich“ umkehren, liegen im Privaten und werden durch natürliche und nicht
soziale Eigenschaften ausgetragen: Das werdende Kind tröstet seine Mutter über das
Fiasko des Vaters, die Eheleute sind glücklicher als je, Gruber arbeitet wieder fleißig
und zur vollen Zufriedenheit eines jeden in der Schule, was alles zunichte macht, ist
die körperliche und geistige Behinderung des Kindes. Der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft bleibt also durchaus verschwommen, aus Gruber wird im
Privaten und durch das Natürliche ein Schwacher gemacht. Die Kritik, die Gruber an
der Gesellschaft übt, wird als die eines Regressiven verharmlost: Als er sich zu
seinen Eltern zurücksehnt, erscheint ihm die bäuerliche Welt als eine heile, außergesellschaftliche, genauer der als inhuman erlebten Gesellschaft entgegen gesetzte19,
19
Vgl. „Ich wollte mich zu meinen Eltern setzen … na, da bin ich … ich habe satt, habe abgewirtschaftet …
ich will nicht mehr zurück in die andere Welt, in jene unmenschliche Welt, ich will nur bei euch, mit euch
bleiben, arbeiten will ich auf den Feldern …“ (AWW 104.)
494
ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007
„Auf weiten Wegen“: über die ungarndeutsche Gegenwartsliteratur
aber die Kritik von einem, der die ersehnte Rückkehr in die kindliche Geborgenheit
schließlich durch den Alkohol schafft, fällt nicht ernsthaft ins Gewicht. Die Lösung
des verschwommenen Konfliktes kann nur eine problematische sein. Mit dem
Stellenangebot wird der eigentlich unentwirrbare Konfliktknoten bloß durchgehauen: Die Versöhnung durch die sozialistische Arbeitswelt bzw. in der
sozialistischen Arbeitswelt überzeugt beim genauen Hinsehen nicht.
In Das neue Mädchen20 werden Gestern, Heute und Morgen von Franz Krämer versöhnt. Die Welt von heute und morgen, die in der Phase der sozialistischen Erfüllung
schlechthin gut zu sein scheint, wird in einer LPG modelliert. Die Leitung dieser LPG
übergibt Franz Krämer der jungen Diplomlandwirtin Eva Kovács, deren Sachverständnis, Fleiß und Zuverlässigkeit nicht nur die LPG aufblühen lassen, sondern
auch das Herz des alternden Krämers. Ehe aber seine Gefühlsregungen zu ernsthaften Konflikten mit seiner Frau führen oder Eva von ihnen erfährt, stellt sich
heraus, dass die junge Frau seine Tochter ist. Die Tochter versöhnt dann Krämer
auch mit dem Gestern – durch die Bauernwirtschaft seines Vaters modelliert, in die
er keine Frau unter dem sozialen Stand seiner Familie bringen durfte, auch wenn sie
ein Kind von ihm erwartete. Auf den „weiten Wegen“ wird eine glückliche Familie
konstruiert. Die Familie wird erweitert und dadurch das semantische Merkmal
[glücklich] intensiviert: Eva darf nach freier Herzensbestimmung heiraten und ihre
Kinder bereiten Eltern und Großeltern Freude. Die homogene semantische Ebene
[glückliches Gedeihen] soll aber letztendlich den Sozialismus propagieren: Im
Schlussdialog wird sie in diesem Sinne an das Bild der blühenden LPG angeschlossen, es ist von einer Rekordernte die Rede.
Für die Beurteilung der Applizierbarkeit der Erzählung, in der die „Liebesgeschichten“ eine ideologische Stützfunktion erhalten, bieten sich viele Geschichten
an, die ebenfalls zu vermitteln bestrebt sind, dass sich im Sozialismus Herz zum
Herzen findet. Und es bleibt festzuhalten, dass in anderen Werken durch
authentischere Konstruktion von Liebesgeschichten gelingt, den Aspekt der freien
Herzensbestimmung wirklich diskutierbar zu machen bzw. dass in vielen Fällen die
Gestaltung von Liebe dermaßen authentisch wirkt, dass die Rezipienten das Werk
durch die Ausblendung der ideologischen Elemente zum Klassiker machen. Ein –
besonders für den ungarischen Leser – anschauliches Beispiel wäre die Filmadaptation der Sarkadi-Novelle Kútban, Körhinta, [Karussel]21, da in ihr die
Konfliktstruktur durchgehend durch eine Wegsymbolik ausgetragen wird: Der Vater
und der Geliebte von Mari gehen einen „anderen Weg“22 – der Vater will aus der
20
AWW 114-203.
21
Fábri Zoltán, Körhinta (MAFILM, 1955).
22
Vgl. „Mari Siehst du, es geht gerade darum, Máté, … dass wir einen anderen Weg gehen. … Ich meine,
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495
Eszter Propszt
LPG heraustreten, Máté ist ein überzeugter Genossenschaftsbauer –, was die Erfüllung der Liebe lange als unmöglich erscheinen lässt; in langen Sequenzen werden
die schlammigen Wege, die des alten bäuerlichen Lebens gezeigt, die Máté nicht
mehr gehen will23, die „neuen“ Wege, die Wege der „Entwicklung“ versinnbildlichen
die Eisenbahnschienen; und die Musik des Filmes ergibt das ungarische Volkslied
„Oh, wie breit ist, oh, wie lang ist jener Weg, auf dem mein Schatz losgegangen ist
[…] von einem weiten Weg kann man nicht zurückkehren, die Liebe kann man nicht
verbergen“. Die Liebe macht schließlich ihren Weg, gegen die ist Maris Vater machtlos, das alte Gesetz, „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch ein
größerer Acker findet“24, wird durch das neue, „ob sich Herz zum Herzen findet“,
abgelöst. Jenseits der Moral, alle Wege führen in die LPG, wird der Film sowohl von
Experten unter die zehn besten ungarischen Filme eingestuft als auch, laut Befragungen, von den Zuschauern.
In Das neue Mädchen sind die „weiten Wege“ der Handlungs- und der Konfliktstruktur viel zu „verwinkelt“, d.h. die vielen Zufälle, durch die eine Lösung erreicht
wird, liegen fernab der Alltagserfahrungen des Lesers, und in der Gestaltung der
glücklichen Familie werden viel zu ernsthafte psychologische Probleme suspendiert.
In der Neugründung der Familie Krämer wird nur die Aufhebung der Kinderlosigkeit fokussiert, d.h. das Inzestproblem wird als solches nicht ausgetragen; Franz
Krämers Verantwortung blendet die Großzügigkeit der Frauen aus (Evas Mutter gibt
dem Mann gar keine Schuld, im Gegenteil, sie versichert ihn ihrer Verehrung und
Liebe, sie muss sterben, um die Konstellation „glückliche Familie“ keinesfalls zu gefährden; Frau Krämer nimmt Eva anstandslos als Tochter an; darüber, wie Eva die
Ereignisse psychisch verarbeitet, fällt kein Wort) bzw. Krämers Verantwortung wird
auf das vorsozialistische Sozialsystem übertragen.
Die angezeigten Probleme und Widersprüchlichkeiten kennzeichnen – bis auf wenige Ausnahmen – den deutschsprachigen Strang25 der ungarndeutschen Gegenwartsmein Vater und …“ zitiert in eigener Rohübersetzung nach dem technischen Drehbuch des Filmes Sarkadi
Imre, Körhinta: Forgatókönyvek, adalékok a forgatókönyvekhez (Budapest: Magvető, 1981) 122. Künftig
zitiert als K und Seitenangabe.
23
Vgl. „Máté … Dieser Schlamm! … ist das das Leben? … Willst du das? […] Wer, Herrgott noch mal,
kann vorschreiben, dass der Bauer sein ganzes Leben lang in diesem Schlamm waten muss?“ K 121-122.
24
Vgl. „Acker heiratet Acker! Dieses Gesetz wollt ihr brechen?!“ K 153. „Dieses Gesetz ist das stärkste,
stärker als jede Liebe! Hast du verstanden?“ (K 155.)
25
Die ungarndeutsche Gegenwartsliteratur, genauer gesagt, den ungarndeutschen literarischen Diskurs
definiere ich für meine Untersuchungen nicht über die Sprache, sondern über die direkte, d.h. semantisch
explizite Konstruktion der ungarndeutschen ethnischen und/oder nationalen Identität, über die konfigurations- und/oder konfliktkonstitutive Aktualisierung des Sems „ungarndeutsch“ in einem Text. Das bedeutet, ich sprenge - in einem diskursiven Ansatz, in dem ich die Texte der ungarndeutschen Gegenwartsliteratur am semantischen Leitfaden der ungarndeutschen Identität (exemplarisch selegiert) neu ordne -
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ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007
„Auf weiten Wegen“: über die ungarndeutsche Gegenwartsliteratur
literatur. Die Überdeterminiertheit der literarischen Produktion in den gegebenen
politischen Strukturen bewirkt eine simplifizierende Problemreduktion: Die soziale
Wirklichkeit sowie die psychische Wirklichkeit eines Menschen oder eines Kollektivs
wird hauptsächlich in recht vereinfachten Modellen rekonstruiert. (Die Weltmodellbildung in den dargestellten Erzählungen lässt sich, zugespitzt, auf die Formel bringen: Wohlwollende, gute Menschen sind den bösen Umständen ausgeliefert, die aber
im Sozialismus aufgehoben werden. Diese Formel stellt nicht einmal der „Assimilant“ infrage, wie oben ausgeführt, entschärft er den sozialen Sprengsatz der Konfliktstruktur.) Die entworfenen Applikations-Vorgaben ermöglichen deshalb keine
zuverlässige Orientierung in ihrem sozialen und historischen Kontext. Außerdem
wirken die Diskursregeln, die die Entfaltung einer künstlerischen Subjektivität wesentlich einschränken, auch ästhetisch kontraproduktiv.
Es muss festgehalten werden, dass die Denk- und Argumentationsstrukturen des
deutschsprachigen Diskursstranges bis heute fortgeschrieben werden. Das bedeutet,
dass der Diskurs die Möglichkeit einer Erneuerung, die ihm die Befreiung des lange
unterdrückten historischen Gedächtnisses seit der Wende bietet, bis heute nicht
wahrgenommen hat, und als Interpretation der Veränderungen in den soziokommunikativen Kontexten nach wie vor eine Schicksalhaftigkeit vermittelt, die als
Identitäts- und Orientierungsmuster unzulänglich ist. Es kann also behauptet werden,
dass sich der deutschsprachige Diskursstrang auf den „weiten Wegen“ festgefahren hat.
Bedeutend autonomer zeigt sich in der Herausbildung von Applikations-Vorgaben
der ungarischsprachige Diskursstrang der ungarndeutschen Gegenwartsliteratur.26
Das Textbeispiel, das die inhaltlich und formal-ästhetisch komplexe Verarbeitung
des Wegsymbols illustrieren soll, ist Robert Baloghs Schwab evangiliom: Großmutters Arzneibuch27. Die diskursive Position lässt sich als die des „Evangelisten“
festlegen, und zwar weil sie die rekonstruierten ungarndeutschen historischen und
den konventionellen Rahmen der „ungarndeutschen Gegenwartsliteratur“, und stufe auch ungarischsprachige Werke als „ungarndeutsche“ ein. Meine Forschungen haben ergeben, dass die ungarischsprachigen Texte über die Ungarndeutschen die gleichen Identitätsinhalte ausarbeiten wie die deutschsprachigen, in den Mechanismen der Ausarbeitung aber erhebliche Unterschiede zu beobachten sind, die
sich auch auf die Rezipierbarkeit der Identitätsmuster auswirken. (Vgl. Propszt Eszter, Zur interdiskursiven Konstruktion ungarndeutscher Identität in der ungarndeutschen Gegenwartsliteratur, als
Dissertation eingereicht an die Universität Szeged, 2005)
26
Das hängt allerdings auch mit einem Problem zusammen, auf das ich in der hier gebotenen Kürze nicht
tiefer eingehen kann, mit der komplexeren und langwierigeren literarischen Sozialisation der ungarischschreibenden Autoren.
27
Balogh Robert, Schvab evangiliom: Nagymamák orvosságos könyve (Budapest: Kortárs, 2001) Da das
Werk bisher in keiner deutschen Übersetzung vorliegt, werden die Textstellen, die den Ausführungen
untergelegt werden sollen, in meiner Rohübersetzung präsentiert. Künftig zitiert mit den bibliographischen Angaben der ungarischen Originalausgabe als SCHE und Seitenangabe.
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497
Eszter Propszt
alltagsweltlichen Erfahrungen als Grundelemente einer ungarndeutschen Identität bewusst macht bzw. als maßgebend und prägend für das eigene Handeln erkennen lässt.
Solange in den obigen Beispielen die Verarbeitung des Kollektivsymbols „Weg“ vorwiegend über die Aktualisierung von „Weg“ als konnotativer Signifikat verläuft (die
Isotopien der einzelnen Texte werden grundlegend durch den Titel, „Auf weiten Wegen“, als übergreifende Isotopie und als übergreifendes Strukturprinzip generiert),
verläuft hier die Verarbeitung der Wegsymbolik im ersten Schritt über eine äußerst
sorgfältig ausgearbeitete denotative Ebene, die „Wege“ der „ungarndeutschen Erfahrung“ erscheinen nämlich auch auf der Ebene der Denotation als Wege: Die
Narration erzählt über die Wege, die die Ungarndeutschen gegangen sind, über den
Weg, den sie bei der Ansiedlung zurückgelegt haben, über den, den bei der
Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg usw. Die konnotative Ebene wird in einem
zweiten Schritt installiert28, indem die Narration selbst als Weg reflektiert wird:
[...]
Die Landstraße der Toten ist die Landstraße der Lebendigen.
Das ist das Einzige was verbindet.
Das ist das Einzige was bleibt
Wer den Weg durchgegangen ist soll darüber mit Zuversicht berichten.
Damit es leichter ist das zu glauben
Damit wir es nicht als Scherz hinnehmen.
[...]
(SCHE 138.)
Dazu kommt, dass die „Form“ der Narration semantisch funktionalisiert wird, die
formale Ebene des Textes zum Teil der Inhaltsstruktur wird. Die Selbstdefinition des
Werkes, die das vorliegende narratologische System als System beschreibt, lautet:
Was ist das? – Ein Buch, das sich aus Fragmenten aufbaut, die sich nicht zusammenfügen, eine Geschichte, die sich aus zum Vergessen verurteilten menschlichen
Schicksalen zusammensetzt, eine Geschichte, die sich nicht [als Geschichte] gestaltet,
Erinnerungen, Farben, Düfte, die verschmelzen, Trennung, Vereinigung, Rausch und
Wahnsinn. Ein stilles, schneckenförmiges Nachdenken. Über Schwaben. (SCHE 11.)
Der Weg der Narration nimmt demnach die Form einer Schneckenlinie, einer Spirale an, die die Semantik des ewigen Zyklus, der sich stets entwickelnden zyklischen
Kontinuität, die der Emanation in sich trägt, und die als Denkfigur aktualisiert die
Reflexion über den Ausgangspunkt impliziert, in immer weiter werdenden „Windungen“.
Der Ausgangspunkt des Nachdenkens und Erzählens über das Ungarndeutsch-Sein
28
Die Schritte sowie die denotativen und konnotativen Bedeutungen sind selbstverständlich nur theoretisch und nur aus forschungspraktischen Gründen voneinander zu trennen.
498
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„Auf weiten Wegen“: über die ungarndeutsche Gegenwartsliteratur
ist Die Erzählung des Opapa über die alte Heimat, darüber, warum wir die Gegend
hinter uns gelassen haben, um hierher zu kommen. In der Erzählung werden die
Seme „Fahrt“ und „Weg“ dominant gesetzt. Dadurch wird die homogene semantische Ebene des „Auf-dem-Weg-Seins“ (respektive des „Auf-der-Fahrt-Seins“) begründet, die die Narration entfaltet, und (u.a.) durch ihre semantisch funktionalisierte Form – sie ist, wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht, selbst als „Auf-demWeg-Sein“ zu erfassen – reflektiert: Die dominant gesetzten Seme rekurrieren in
anderen Erzählungen, in einander ergänzenden, referierenden, interpretierenden,
d.h. erweiternden Kontexten, wie das nunmehr auszuführen ist: An die Erzählung
des Opapa wird Meine Erzählung über mich selbst, wie ich hier geblieben bin, warum ich nicht in das Land der Opapas zurückgekehrt bin […] angeknüpft, in welcher der Enkel seine Erlebnisse bei einem Ernteeinsatz 1988 in der DDR festhält und
die er damit abschließt, dass seine Urgroßmutter nach der Aussiedlung aus diesem
Land über drei Grenzen hinweg nach Ungarn zurückgekehrt ist. Später im Verlauf
der „Schneckenlinie“ erzählt der Opapa über die Tage, die er mit seiner Familie bei
der Aussiedlung in einem Waggon verbringen musste. Noch später folgt Die Erzählung des Opapa über die Heimkehr der Omama, in der die Omama erzählt, wie
man über drei Grenzen heimkehren kann. Anschließend wird ein Traum der Omama von einer Fahrt mit den Toten aus ihrer Familie erzählt, und nach einigen weiteren Windungen der „Schneckenlinie“ resümiert der Enkel in Form eines Monologes
Siedlungsprozess und Vertreibung der Ungarndeutschen. Dann wird das Rattern der
Züge, die für die Aussiedlung eingesetzt wurden, heraufbeschworen. Darauf folgt ein
Albtraum, den der Opapa von der Aussiedlung träumt, dann erzählt der Enkel von
den Fahrten seiner Großmutter in die Stadt, um Eier, Milch usw. zu verkaufen, und
schließlich sind die Worte meiner Großmutter über die Tage im Waggon, die Heimkehr der Omama und über ihre Marktgänge zu lesen. Das semantische Potenzial des
„Auf-dem-Weg-Seins“ wird im Zuge der Rekurrenz der Seme „Weg“ und „Fahrt“
immer größer, es leistet eine immer komplexere Reflexion des Ungarndeutsch-Seins.
Das „Auf-dem-Weg-Sein“ wird somit als eine zentrale Kategorie der ungarndeutschen Identität ausgewiesen.
Zu der Komplexität der Reflexion trägt bei, dass im Text dieselben Erfahrungen
durch verschiedene semantische Systeme wandern, d.h. dass sie mehrmals aufgenommen, durch verschiedene Erzähler reproduziert werden. Das Gesagte soll an
den Erzählungen über den Weg der Omama, über ihre Heimkehr „über drei Grenzen“ illustriert werden. Über das Ereignis berichten die Worte meiner Großmutter
sachlich, emotionslos:
Einmal ist der Opapa gestorben. Die Omama ist […] mit den Bozsokern losgegangen. Zu
Fuß. Die waren jünger, konnten besser laufen, sie wollten sie nicht, aber dort lassen
konnten sie sie doch nicht. 1887 ist die Omama geboren, 1950 ist sie zu Hause angekommen. Mit 63 konnte sie nicht mehr so gut. [...] Hier in Ungarn hat sie ein Paar
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Eszter Propszt
Strümpfe verkauft. Das Geld, das sie dafür bekommen hat, und sie ist in den Zug eingestiegen, und bis es reichte. So ist sie nach Hause gekommen. Ein Stück auch zu Fuß.
Und wie sie konnte. (SCHE 130.)
Die Erzählung des Opapa über die Heimkehr der Omama, in der die Omama erzählt,
wie man über drei Grenzen heimkehren kann ist ein poetisch stilisierter, emotionsgeladener Bericht über dasselbe Ereignis:
Sie hat nie wieder erzählt, dass sie nur gegangen sind und gegangen sind und trotzdem
nicht vorangekommen sind. Dass sie auf der Landstraße nicht vorangekommen sind,
weil überall Soldaten gestanden haben, nach Papieren verlangt haben, mit Waffen gefuchtelt haben. […] Damit sie nicht zurückfinden können, hat der Regen die Wege verwischt, die Schiene verwischt, die Bäume sind mit den Wurzeln umgefallen, überall hat
sich nur das graue Wasser gekräuselt. Die Omama ist alleine dagestanden, die jungen
Frauen aus Bozsok sind fortgeeilt. Und wenn sie doch auf den richtigen Weg gefunden
hat, wurde ihr Herz so klar, wie das Glas, der Weg ist auf sie zugekommen und hat sich
unter ihren Füßen verkürzt. (SCHE 70.)
Der Enkel reflektiert das Ereignis auch pragmatisch:
Es gab einmal ein Land, aus dem meine Urgroßmutter zu Fuß heimgekehrt ist. Von zu
Hause nach Hause! Aus dem Vaterland in das Geburtsland! Von dort hierher. (SCHE
27.)
Es ist ersichtlich, dass die dem Kollektivsymbol „Weg“ konventionell angelegten
Konnotationen hier viel komplexer und differenzierter ausgearbeitet bzw. literarisch
weiterverarbeitet werden als in den obigen deutschsprachigen Beispielen. Dadurch
verfügen auch die Identitäts- und Orientierungsmuster des Textes über eine bessere
Applizierbarkeit. Die Narration, die die rekonstruierten Erfahrungen als Grundelemente einer ungarndeutschen Identität bewusst macht bzw. sie als Bezugspunkte
der individuellen Identitätsbildung als unverrückbar ausweist29, erweist sich als Gedächtnishandlung, die die „ungarndeutsche Kultur“ neukonstruiert30.
Die Wege, die der ungarischsprachige Diskursstrang eingeschlagen hat, führen offensichtlich zu einer (längst überfälligen) ungarndeutschen Selbstreflexion. Ich
möchte hoffen, dass auch immer mehr Leser diesen Prozess mit Interesse begleiten.
29
Siehe dazu ausführlicher Propszt Eszter, „ ,Das ist das Einzige, was verbindet‘ – Untersuchungen zu
Robert Baloghs Schwab evangiliom,“ Kakanien revisited http://www.kakanien .ac.at/beitr/fallstudie/
EProbszt1.pdf
30
Zu den Zusammenhängen zwischen kultureller Sinnkonstruktion und Gedächtnis vgl. Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990) und Orosz Magdolna, Az elbeszélés fonala: Narráció, intertextualitás, intermedialitás (Budapest: Gondolat, 2003).
500
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MIT DEM BLICK DES IMAGOLOGEN: DAS ENDSPIEL DER
FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFT 74
im Roman Die Vertreibung aus der Hölle von Robert Menasse
Annegret Middeke
„Die Vertreibung aus der Hölle“ besteht aus zwei parallelen und zugleich einander
durchdringenden fiktiven Biographien, von denen die eine, die des Rabbiners Samuel Manasseh ben Israel in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und die andere, die
des Wiener Halbjuden Viktor Abravanel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
spielt. Am 07. Juli 1974 schaut Viktor gemeinsam mit seinen Kommilitonen, überzeugten wie Zeitgeistkommunisten, im Café Museum in Wien das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft: Deutschland gegen Holland. Versammelt sind
alle linken Kaffeehausintellektuellen, die gesamte studentische Linke, die Künstler, die
Journalisten, das jüdische Wien, alle, die damals noch Antifaschismus mit Antideutsch
verwechselten, kurz: Viktors ganze Welt. (S. 311)
Doch auch diejenigen, die im Alltag der politisch so stark polarisierten Zeit Gegner
der Intellektuellen sind, sind gegen die deutsche und damit für die holländische
Mannschaft, erscheinen in dieser dem Alltag enthobenen, außerordentlichen Zeit
des Fußballspiels als Verbündete im Kampf gegen den gemeinsamen Gegner: „(...)
Idioten, die noch zuvor an ihren Stammtischen mit aufgeregten Satzstummeln die
Einweisung von Studenten in Arbeitslager gefordert hatten“ (S. 312), skandieren in
90minütiger Eintracht „Ho-Ho-Ho“, was jetzt nicht „Ho-Tchi-Minh“, sondern „Holland“ bedeutet. Die holländischen Spieler, deren Namen die österreichischen Kinder
und „Väter im Schlaf aufsagen [können]“ (S. 311), sind zufällige Identifikationsfiguren – es könnten, hätten sie das Halbfinale gewonnen, auch die brasilianischen
Spieler sein –, und so wird „Holland an diesem einen Tag zu einer „Metapher für das
österreichische Lebensgefühl in Hinblick auf die Deutschen“ (S. 315).
Imagologisch ist dies eine interessante Konstellation, insofern als a) erst durch das
Fremdbild (Deutschland) ein homogenes/einträchtiges Eigenbild (Österreich) entsteht, und b) der Binarismus der sich gegenseitig bedingenden „Eigen- und Fremdbilder“ um ein das Eigene (das Österreichische) stellvertretendes Fremdbild (Holland) erweitert wird. Obendrein sind zwei mit den Ebenen der Diegese korrelierende
Bildebenen vorhanden: die Ebene der Stereotypen in der Figuren- und der Erzählerrede – der Erzähler ist als Figur zwar extradiegetisch, aber als Bewusstsein ein Sympathisant von „Viktors ganze[r] Welt“1 – und die Ebene der literarischen Bilder im
narrativen Diskurs des Romans.
1
Die Figur Viktor wird autobiographisch interpretiert, z. B. in den Dissertationen von Joanna Drynda
(2003) und Verena Holler (2003), auch in zahlreichen Rezensionen der „Vertreibung aus der Hölle“.
Annegrett Middeke
Als Stereotyp definiert Quasthoff (1989: 39) den
verbale[n] Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichtete Überzeugung. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional wertender Tendenz,
einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht. (...) Es zeichnet sich durch einen hohen Verbreitungsgrad innerhalb der kulturellen Bezugsgruppe aus.
Ausgehend vom konstruktivistischen Ansatz, dass es eine Diskrepanz zwischen der
objektiven Beschaffenheit der Welt und dem subjektiven Wissen von der Welt gibt,
sind Stereotype weniger als Information über, sondern mehr als Projektion auf den
„erfassten“ Gegenstand anzusehen. Neben den negativen Funktionen des Stereotypisierens, deren destruktivster Aspekt es ist, Menschen aus einer anderen Kultur
geringschätzig zu betrachten, formuliert Quasthoff (1989: 40-45) auch positive,
nämlich: eine kognitive Funktion, welche der Informationsverarbeitung dient, eine
affektive Funktion, welche bei der Rationalisierung psychischer Einstellungen hilft,
und eine soziale Funktion, welche die Orientierung in der Sozialstruktur des
alltäglichen Zusammenlebens erleichtert. Insofern können Stereotype als
kulturspezifisches
und
kulturübergreifendes
„Wissen
von
Welt“
mit
verstehensfundierender Funktion angesehen werden. Ausgestattet mit diesem
„Weltwissen“ (so sind sie, die Deutschen, so sind sie, die Holländer, so sind wir, die
Österreicher) wird das sportliche Ereignis zu einem Akt der Selbstvergewisserung,
zur Bestätigung der eigenen Selbstachtung, des eigenen Wertebewusstseins, der
eigenen Stellung und Rechte auf dieser Welt (vgl. Hoffmann 2002: 145).
(...) Das liberale, das freie, das fröhliche oranje Holland gegen den deutschen Anspruch,
die Welt in Schwarz-Weiß zu beherrschen. (S. 311)
Breitner hatte den Elfmeter aus dem Stand geschossen. Aus dem Stand! Einfach so! So
sind sie, die Deutschen! Sie demütigen, wo sie nur demütigen können. Jeder andere
Spieler hätte sich angeschissen vor Nervosität, da war das Café sich einig, aber die Deutschen: eiskalt wie ein Landser im Bastei-Roman, nur auf eines aus: demütigen, erniedrigen, fertigmachen. Da kannten die Wiener sich aus. So kannten sie die Deutschen!
(S. 313)
Das stereotype Bild von „dem Deutschen“ und „dem Holländer“ an sich, ein Produkt
aus historischen und gesellschaftlichen Erfahrungszusammenhängen und medialer
Berichterstattung, wird auf der Erzähler- und Figurenebene weder bezweifelt noch
reflektiert, geschweige denn revidiert. Im Gegenteil: Es wird begründet und damit
manifestiert:2
2
Die Beständigkeit von Stereotypen basiert nach Festingers „Theorie der kognitiven Dissonanz“ darauf,
dass die Menschen dazu neigen, Dissonanzen, d. h. Widersprüche zwischen äußeren Reizen und inneren
Modellen der Realität, zu vermeiden bzw. auszugleichen, indem sie ihre Wahrnehmung auf Aspekte richten, die das Stereotyp stützen, und jene vernachlässigen, die ihm widersprechen (vgl. Thiele 2005: 192).
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Mit dem Blick des Imagologen: Das Endspiel der Fussball-WM 74 im Roman
“Die Vertreibung aus der Hölle” von Robert Menasse
Es war ein ‚typisches Müller-Tor’. (...) // In Nürnberg hatte Müller bei einem Entscheidungsspiel zur WM-Qualifikation dem österreichischen Nationalteam in der letzten
Minute ein Tor gemacht, genau so, aus dem Nichts. // Der damalige Tormann hieß
Gernot Fraydl. Er war in seiner Glanzeit wohl einer der besten Tormänner der Welt
gewesen – und hatte nie bei einer Weltmeisterschaft spielen dürfen. (...) eine
vorbildliche Karriere wurde durch Müller in der letzten Sekunde um ihren Höhepunkt
betrogen. (S. 314)
Hier findet eine Mythologisierung des Fußballs durch dessen Darstellung in der
Form einer monumentalisierenden epischen Erzählung statt,3 in welcher der geniale
Held zum tragisch gedemütigten Opfer von Willkür und Heimtücke wird. Und damit
ist bewiesen:
So sind sie, die Deutschen! Sie demütigen, wo sie nur können! (S. 313).
Anders als die Stereotype werden die literarischen Bilder nicht auf der Ebene der
Figuren- und Erzählerrede generiert, sondern auf der Ebene jener Instanz, die all
diese Stimmen ordnet, der Ebene des „abstrakten Autors“. Literarische Images unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Struktur und Funktion im Diskurs von Stereotypen dadurch, dass sie über die imagotypischen Aussagen hinaus originelle Einzelsichtweisen zur Entfaltung bringen (s. Logvinov 2003: 205). Auch die literarischen
Fremdbilder haben eine verstehensfundierende Funktion, doch nicht durch Komplexitätsbereinigung wie die Stereotype, sondern genau umgekehrt durch Sensibilisierung für Komplexität. Zum einen, weil sie „als Elemente ästhetischer Kontexte
erscheinen“ (Bleicher 1980: 20), welche bekanntlich auf der Verfremdung von Zeichen basieren und damit in der Lage sind, für den Umgang mit Zeichen überhaupt
zu sensibilisieren (vgl. Mecklenburg 1990: 96). Zum anderen, weil sie selbst intertextuelle und interkulturelle4 Zeichen sind, die, eingebunden in einen vielfach
kodierten, polysemantischen Verweisungszusammenhang, zum aktiven Mitspieler
der Semiogenese werden.
Hinlänglich bekannt ist, dass Fußball durchaus politisch gelesen werden kann und
wird.5 Pethes (2004) etwa weist darauf hin, dass „dasselbe WM-Finale 1954, das
3
Auf die „Fußballgeschichte als epische Erzählung“ weist Pethes (2004) hin: „Die Helden sind Stars, die
Schlachten das Endspiel, blinde Seher sind blinden Schiedsrichtern gewichen – und doch erkennen wir
eine Abfolge legendärer Triumphe, nie gerächter Niederlagen und archaischer Rivalitäten zwischen Vereinen, die nicht umsonst Namen wie Ajax und Roma tragen. (...) Man kennt den Fußballkanon – die
Ranglisten der Besten und ihre Meisterwerke.“
4
Aus der Sicht der Kulturwissenschaften ist Literatur eine der materialen Formen, in denen sich das
mentale Programm einer Kultur niederschlägt, und zugleich eines der textuellen Medien, mit denen es
vermittelt wird. Sie ist ein „elaborierter Interdiskurs“ (Egger 2002) innerhalb der dominanten Diskurse
einer kulturellen Gemeinschaft, welche in gewissem Maße dem „zentral Kulturellen“ („central’nye sfery
kul’tury“) in Lotmans (2001) Modell der Kultur als konzentrischem System semiosischer Sphären entsprechen.
5
Das bestätigt wohl auch Menasses Drama „Das Paradies der Ungeliebten“, eine allegorisch angelegte
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Annegrett Middeke
dem Historiker Fest zufolge das ‚Gründungsdatum der Bundesrepublik’ war, im unterlegenen Ungarn als einer der Auslöser des Volksaufstandes von 1956 interpretiert
[wird].“ Auch die Fußballszene in der Vertreibung aus der Hölle enthält zahlreiche
politische Implikationen, von denen der Umstand, dass fünfundzwanzig Jahre nach
der bedingungslosen Kapitulation „deutsch“ noch immer synonym mit „faschistisch“
ist, am meisten verwundern mag – zumindest auf den ersten Blick; immerhin hat es
die Frankfurter Auschwitz-Prozesse, die Proteste gegen den Besuch das Schahs in
Berlin und überhaupt die Studentenbewegung, die Gründung der APO, Brandts
Kniefall in Warschau, den Kampf um den Paragraphen 218 gegeben. Doch die Fußballmannschaft repräsentiert nicht das alternative, protestierende, sondern das offizielle Deutschland, und dem entspricht – nach Meinung jener Wiener Intellektuellen
– das Bild aus der Zeit des Nationalsozialismus und seiner Substrate im aktuellen
Deutschland; einem Deutschland, in dem die „Verjährungsdebatten“ von 1965 und
1969 zugunsten der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands, die mit der Forderung „Schluss mit der Vergangenheitsbewältigung“ bei mehreren Landtagswahlen
Erfolg hat, entschieden werden, in dem der Tod des Studenten Benno Ohnesorg die
manipulativen Mechanismen des Polizeistaats und der Medien6 offenbart, in dem
trotz großen Widerstands die Notstandsverfassung beschlossen wird, in dem
Brandts Politik der Ostannäherung ihm Morddrohungen und den Schimpfnamen
„Verzichtspolitiker“ einbringen.
Die holländische Mannschaft, für 90 Minuten im wahrsten Sinne des Wortes die
Verkörperung des Antideutschen, ist „die große Hoffnung“ (S. 311) der situativ geeinten Österreicher, die Hoffnung, dass das Unrecht der politischen Geschichte
durch Fußballgeschichte gerächt würde:
Niemand, den die Entscheidungsschlacht unberührt ließ. (...) Das liberale, das freie, das
fröhliche oranje Holland gegen den deutschen Anspruch, die Welt in Schwarz-Weiß zu
beherrschen. (S. 311)
Der Zusammenhang von Sport als Inszenierung des gesunden, kampfbereiten Körpers und der Ästhetik des Totalitarismus ist ein häufig besprochenes Thema, man
denke nur an die zahlreichen Diskussionen über Leni Riefenstahls Olympia-Filme
oder die Instrumentalisierung des Sports zu ideologischen Zwecken in faschistischen7 wie sozialistischen8 Gesellschaftssystemen, in denen sportliche Erfolge ein
Politsatire, in der sämtliche Figuren Namen von Spielern der dänischen Fußballeuropameistermannschaft
(1992) tragen.
6
„Die blutigen Krawalle“ hätten jetzt „ein Todesopfer gefordert“, schreibt die BILD-Zeitung am
03.06.1967 über den Tod Ohnesorgs, so dass der Eindruck entsteht, als hätte einer der Studenten und
nicht ein Polizist geschossen.
7
Eine ausführliche Bibliographie enthält der Aufsatz „Sport im Nationalsozialismus“ von Peiffer/Spitz
1990.
8
Zum Sport in der DDR z. B. s. Austermühle 1997, Baur/Spitzer/Telschow 1997; Bernett 1997; Rossade
504
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Mit dem Blick des Imagologen: Das Endspiel der Fussball-WM 74 im Roman
“Die Vertreibung aus der Hölle” von Robert Menasse
entsprechendes faschistisches/sozialistisches Persönlichkeitsprofil des Leistungssportlers voraussetzen. „Eine Spielart männlicher Körperüberwindung“ im „Mythos
der Kameradschaft bzw. Mannschaft“ haben Pethes und Plener (2006: 73 f.) in deutschen Fußballer-Autobiographien, deren erste Fritz Walters im WM-Jahr 1954 veröffentlichtes 3:2 ist, nachgewiesen. Im „Element der Mannschaft“ habe „der Kollektivitäts-Diskurs (...) einen moralisch nicht zu beanstandenden Speicherort für
Männlichkeitsmythen aus der NS-Zeit finden“ können, welcher der jungen Demokratie in Deutschland noch näher gestanden habe, als die Deutschen es sich „auf der
Suche nach einem neuen Selbstbewusstsein eingestehen mochten.“ Vor dem Hintergrund erweist sich das WM-Endspiel 1974 erst recht als der Kampf („die Entscheidungsschlacht“ [!]), in dem der Faschismus symbolisch besiegt werden kann.
Doch die Hoffnungen werden enttäuscht und „die Holländer schwer dafür bestraft,
daß die Österreicher sich so radikal mit ihnen identifizierten“ (S. 315). In dieser alogischen Verknüpfung wird Österreich als Unglücksbringer in einem Ereignis stilisiert, das einzig durch den Kunstgriff seiner Mythologisierung – das vorausgegangene tragische Schicksal des österreichischen Helden, des Torwarts Fraydl –
mit Österreich in Verbindung gebracht werden kann. Unauffällig und scheinbar arglos wird damit der in der „Moskauer Deklaration“ begründete Opfermythos fortgeschrieben.9 Unter der Metaphorik der „großen Erzählung“ des von Deutschland
vernichteten österreichischen Genies („Eine beeindruckende Karriere, die Tausende
junge Menschen auf allen Wiesen Österreichs dazu verführt hatte, nicht Stürmer,
sondern Tormann spielen zu wollen, die Streite unter besten Freunden heraufbeschwörte, wer ‚der Fraydl’ sein durfte, eine vorbildliche Sportlerkarriere“ [S. 314])
lauern tabuisierte Codes, welche sich kaum noch von denen der unsichtbaren Ideologie des Alltags- und Massenbewusstseins und der automatisierten Semantik seiner
Phraseologismen und Stereotypen unterscheiden. Und plötzlich erscheint die antifaschistische Mission der Fußball schauenden „linken Kaffeehausintellektuellen, der
gesamten studentischen Linken, der Künstler, der Journalisten, des jüdischen
1997 u.a.
9
Der Opfermythos besagt, dass Österreich im Nationalsozialismus nicht Täter, sondern „das erste freie
Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte“ (zit nach. Csaky 1980: 33), gewesen sei. Nicht berücksichtigt wird bei der Berufung auf die Moskauer Deklaration die folgende – den
meisten wohl unbekannte – Passage, in der Österreich durchaus eine Mitschuld zur Last gelegt wird:
„Österreich wird aber auch daran erinnert, dass es für die Teilnahme am Kriege an der Seite HitlerDeutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann, und dass anlässlich der endgültigen
Abrechnung Bedachtnahme darauf, wie viel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird, unvermeidlich sein wird“ (zit. nach Csaky 1980: 34). Nach einer Umfrage, die am 11.09.1987 in der Wochenpresse veröffentlicht wurde, betrachtete „[d]ie Mehrheit der Österreicher sich noch lange als Opfer des
NS-Regimes, weil sie ‚verführt’ worden waren oder bloß ihre ‚Pflicht erfüllt’ hätten – der überwiegende
Teil rechtfertigte sich damit, es wäre ihm ‚nichts anderes übrig geblieben’ (s. Internetquelle 1).
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Wiens“ als bloße Rhetorik und modischer Habitus.
‚Na ja, der Breitner soll immerhin Maoist sein. (...)’ // ‚Was heißt immerhin? Maoismus
ist doch typisch deutscher Trost. Die Sehnsucht der bedrängten deutschen Seele nach
einem neuen Reich, dem imaginären Reich der Mitte, die Kulturrevolution der Täterkinder, der Geist geistloser Umerziehung, das Opium –’ // ‚Hör auf!’ // ‚– der Erben!’ //
‚Hör auf! Über Fußball kann man mit dir echt nicht reden!’ (S. 315)
Genau betrachtet sind sie, die politischen Aktivisten, nichts als Trittbrettfahrer, deren Rolle als Zuschauer des den Sieg über den Faschismus verabsäumten Fußballspiels durchaus vergleichbar ist mit der „historische[n] Funktion Österreichs“ in der
Welt nach 1945, die Menasse einst als „die eines Muppets-Logenplatzes“ bezeichnet
hat:
Wir sitzen da wie die Puppen, diese alten Räsonierer in der Loge, die den Ereignissen auf
der Bühne zuschauen, haben immer Kommentare parat und sind dabei noch völlig unkorrumpierbar, weil wir nicht wirklich Bedeutung für den Fortgang des Geschehens haben (Menasse in „Über Deutschland“: 7).
Entsprechend lächerlich wirkt es, wenn „der fette“ (!) Friedl nicht nur einen Topfenstrudel essen muss, weil er „vor dem Kampf eine Stärkung [braucht]“ (S. 312), sondern deswegen auch noch den Beginn des Spiels und damit das erste Tor, das 1:0 für
Holland, verpasst.
Was vordergründig wie ein Katalog von antideutschen Stereotypen aussieht, erweist
sich im narrativen Gesamtgefüge als eines von zahlreichen karikierenden Verfahren
bezüglich des Milieus der Wiener Intellektuellen der sechziger und siebziger Jahre.
Der Erzähler selbst bedient sich in persiflierender Weise ihrer überanstrengt „philosophisierenden“ Sprache, etwa wenn er den „ganze[n] Kojève“ als „Fußnote von verschwindender Bedeutung, verglichen mit dem Fußballzauberer Cruyff“ (S. 311) bezeichnet oder im professoralen Duktus ausführt, dass ein „typisches Müller Tor dann
gegeben [war], wenn zwei Bestimmungen zutrafen“ (S. 314). Letzten Endes geht es
in der Fußballpassage nicht um eine Abrechnung mit dem Faschismus in Deutschland, sondern – das zieht sich durch den ganzen zeitgenössischen Teil des Romans –
mit der dogmatischen Heuchelei der Wiener Nachkriegsgesellschaft und vor allem
der sich so intellektuell und liberal/libertinär gebenden Studenten, in deren Kreise
(genauer: repressiver WG mit obligatorischen Marx- und Orgasmuslesezirkeln) Viktor gerät, nachdem er von zu Hause ausgezogen ist – ausgezogen in die Freiheit, die
nichts anderes ist als „das Bewusstsein der Unfreiheit“ (S. 291).
Als genau diese Intellektuellen Viktor wegen angeblichen Sexismus’ (er soll, was
nicht zutrifft, eine Studentin geschwängert und sich vor der Verantwortung gedrückt
haben) den Prozess machen, wird Viktor sich der Lächerlichkeit ihrer Posen und
Inszenierungen bewusst:
Plötzlich begann der Nebel, durch den Viktor blickte, sich flockig aufzulösen, da waren
geradezu heitere Figuren, die sich vor seinen Augen abbildeten, das waren Farcen, die
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Mit dem Blick des Imagologen: Das Endspiel der Fussball-WM 74 im Roman
“Die Vertreibung aus der Hölle” von Robert Menasse
vorangegangene Tragödien wiederholen wollten, das war rostiger Sinn, der abblätterte
vom Besinnungslosen, mit dem die Welt vor Zeiten lackiert worden war. Es ist lächerlich! dachte Viktor. Sie spielen Moskau der dreißiger Jahre! Sie spielen es allen Ernstes!
(S. 432).
In der Tat erinnert der ganze Vorgang (vom Gesinnungsterror über die Denunziation
bis hin zum Bann) an die Schauprozesse in der Sowjetunion. Dass „[a]usgerechnet
die, die sich von den Nazivätern abgrenzen wollen, nicht anders [können], als deren
(...) Methoden nachzuahmen“ (Nord 2001: 12), ist ein weiterer Beleg für die mangelnde Vergangenheitsbewältigung in der österreichischen Gesellschaft. Um dieses
so elementare wie kritische Moment in der österreichischen Nachkriegsgeschichte
geht es in dem vermeintlich „missglückten“10 zeitgenössischen Teil der „Vertreibung
aus der Hölle“, in dem anhand einer fiktiven Biographie (oder fiktionalisierten Autobiographie?) ein satirisches Porträt des Studenten- und Intellektuellenmilieus im
Wien der 60er und 70er Jahre (Menasses eigene Generation!) gezeichnet wird.
Literatur:
Primärliteratur:
1.
Menasse, Robert: Die Vertreibung aus der Hölle. Roman. Frankfurt a. M. 2003.
Sekundärliteratur:
1. AUSTERMÜHLE, THEO (1997): Der DDR-Sport im Lichte der Totalitarismus-Theorien. In:
Sozial- und Zeitgeschichte des Sports, H. 1, S. 28-51.
2. BAUR, JÜRGEN/SPITZER, GISELHER/TELSCHOW, STEPHAN (1997): Der DDR-Sport als gesellschaftliches Teilsystem. In: Sportwissenschaft, H. 4, S. 369-390.
3. BERNETT, HAJO (Hg.) (1994): Körperkultur und Sport in der DDR. Dokumentation eines
geschlossenen Systems. Schorndorf.
4. BLEICHER, THOMAS (1980): Elemente einer komparatistischen Imagologie. In: Literarische
Imagologie – Formen und Funktionen nationaler Stereotype in der Literatur, H. 2, S. 1224.
5. CSAKY, EVA-MARIE (1980): Der Weg zu Freiheit und Neutralität: Dokumentation zur österreichischen Außenpolitik 1945-1955. Wien.
6. DRYNDA, JOANNA (2003): Schöner Schein, unklares Sein. Poetik der Österreichkritik im
Werk von Gerhardt Roth, Robert Menasse und Josef Haslinger. Poznań.
7. EGGER, SABINE (2002): „Komparatistische Imagologie“ im Interkulturellen Literaturunterricht. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht [Online] 6 (3). (=
www.ualberta.ca/~german/ejournal/imagologie/htm [01.03.2006].)
8.
HOFFMANN, TINA (2002): „Ein Bild ist da, wo die Wirklichkeit ein Loch hat.“ Deutschlandbilder in Europa – ein Erklärungsansatz anhand der Stereotypenforschung. In: DI-
10
Fast alle Rezensionen stimmen darin überein, dass der zweite (zeitgenössische) Teil im Vergleich zum
ersten (historischen) wesentlich schwächer sei. Nach meinen Recherchen wertet nur eine Rezension (Jäger 2001) diesen als „Highlight des Romans“.
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MOVA,
ANA/BOITSCHEVA, SNEJANA (Hg.): Beiträge zur Germanistik und zu Deutsch als
Fremdsprache. Schumen, S. 144-151.
9.
HOLLER, VERENA (2003): Felder der Literatur. Eine literatursoziologische Studie am Beispiel von Robert Menasse. Frankfurt a. M./Berlin/Bruxelles/New York/Oxford/Wien. (=
Europäische Hochschulschriften Bd. 1861.)
10. JÄGER, SUSANNE (2001): Befragungen im Marx-Lesekreis. Antisemitismus stellt Robert
Menasse in den Mittelpunkt seines aktuellen Romans. In: Vorarlberger Nachrichten vom
06.10., S. D6.
11. LOGVINOV, MICHAIL N. (2003): Studia imagologica: Zwei methodologische Ansätze zur
komparatistischen Imagologie. In: VOLLSTEDT, MARINA (Hg.): Das Wort. Germanistisches
Jahrbuch GUS. Moskau: Metatext, S. 203-220.
12. LOTMAN, JURIJ M. (2001): Semiosfera. Sankt Peterburg.
13. MECKLENBURG, NORBERT (1990): Über kulturelle und poetische Alterität. Kultur- und literaturtheoretische Grundprobleme einer interkulturellen Germanistik. In: Krusche, Dietrich/ Wierlacher, Alois (Hg.): Hermeneutik der Fremde. München, S. 80-102.
14. NORD, CRISTINA (2001): Einmal Tragödie, einmal Farce. Über Robert Menasses Roman
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15. PEIFFER, LORENZ/SPITZER, GISELHER (1990): „Sport im Nationalsozialismus“ im Spiegel
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16. PETHES, NICOLAS (2004): Fußlümmelei oder Sphärenharmonie? Intellektuelle und Fußball. In: Kakanien revisited, 16.10.2004. (= http://www.kakanien.ac.at/beitr/materialien
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17. PLENER, PETER/PETHES, NICOLAS (2006): Wir, die Tore. Vorüberlegungen zu einer Literaturgeschichte des Fußballs. In: Kreisky, Eva/Spitaler, Georg (Hg.): Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht. Frankfurt a. M., S. 66-82 (= Politik
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18. QUASTHOFF, UTA M. (1989): Ethnozentrische Verarbeitung von Informationen: Zur Ambivalenz der Funktion von Stereotypen in der interkulturellen Kommunikation. In: MATUSCHE, PETRA (Hg.): Wie verstehen wir Fremdes? Aspekte zur Klärung von Verstehensprozessen. München (Goethe-Institut), S. 37-62.
19. ROSSADE, WERNER (1987): Sport und Kultur in der DDR. Sportpolitisches Konzept und
weiter Kulturbegriff in Ideologie und Praxis der SED. München.
20. THIELE, MARTINA (2005): Österreich im „Spiegel“, Deutschland im „profil“. Die Berichterstattung der Nachrichtenmagazine über ihren Nachbarn. In: THIELE, MARTINA (Hg.):
Konkurrenz der Wirklichkeiten. Wilfried Scharf zum 60. Geburtstag. Göttingen, S. 189216.
21. „Über Deutschland“ (1989). Ein Weimarer Protokoll nachbarlicher Gespräche vom 24.
und 25. Oktober 1997. Teilnehmer: Henryk M. Broder, Eduard Goldstücker, Robert Menasse, Adam Michnik, Willem van Reijen, Rolf Schneider; Moderator: Antonin Liehm. In:
Sprache und Literatur, H. 81, S. 6-71.
22. Internetquelle 1: Österreich in der Zeit des Nationalsozialismus: http://de.wikipedia.org/
wiki/Nationalsozialismus_in_%C3%96sterreich (01.05.2006)
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