Das Fräulein von Scuderi

Transcription

Das Fräulein von Scuderi
Das Fräulein
von Scuderi
E.T.A. Hoffmann
in einer Fassung von Sascha Bunge
16 +
B E G L E I T M AT E R I A L Z U M S T Ü C K
Das Fräulein von Scuderi
Es spielen:
Birgit Berthold Fräulein Madeleine de Scuderi
Caroline Erdmann Madelon, seine Tochter
Niels Heuser Ludwig XIV. / Bräutigam
Stefan Kowalski La Regnie, Präsident der Chambre ardente / Bräutigam
Franziska Krol Martiniere, ihre Kammerfrau
Johannes Hendrik Langer Olivier Brusson, Cardillacs Gehilfe, Madelons Geliebter
Hagen Löwe René Cardillac, Goldschmied
Thomas Pasieka Desgrais, Lieutnant der Maréchaussée /
Graf von Miossens, Gardeobrist
Franziska Ritter Francoise d`Aubigne, Marquise von Maintenon,
Mätresse des Königs
Regie + Textfassung: Sascha Bunge Bühne: Angelika Wedde Kostüme: Katja Schmidt
Dramaturgie: Julia Schreiner Theaterpädagogik: Irina-Simona Barca / Frank Röpke Licht:
Reiner Pagel Ton: Sebastian Köster, Jörg Wartenberg Regieassistenz: Chiara Galesi Inspizienz:
Jürgen Becker Soufflage: Franziska Fischer Technischer Direktor: Eddi Damer Bühnenmeister: Henning Beckmann Maske: Petra Lorz Requisite: Jens Blau Ankleiderei: Ute Seyer
Bühnenbildassistenz: Konstantina Dacheva Kostümassistenz: Julia Osmers Regiehospitanz:
Anita Vlad Dramaturgieassistenz: Susann Apelt
Foto- und Videoaufnahmen während der Vorstellung sind nicht gestattet.
Premiere: 18. Septmeber 2012
Bühne 1
ca. 150 Minuten, eine Pause
Premierenklasse: DS-Gruppen der 11. Klassen des Leibniz-Gymnasiums, Kreuzberg
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Das Fräulein von Scuderi
Inhalt
Einleitung4
Zum Autor E.T.A. Hoffmann
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Das Fräulein von Scuderi
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Der literarische Kontext des „Fräulein von Scuderi“: „Die Serapionsbrüder“
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1. Historische Vorläufer
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Johann Christoph Wagenseil
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Voltaire: Das Zeitalter Ludwigs XIV.
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Goethe: Torquato Tasso
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E.A. Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue
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Alexander Kluge im Gespräch mit dem Kriminalforscher
Prof. Dr. Joachim Kersten: Wie gemein muss ein Gemeinwesen sein?
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Otto Ludwig: Das Fräulein von Scuderi 19
2. Der Wandel des Künstlerbildes in der Romantik 23
3. Die historischen Personen
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4. Der Kriminalroman – Die Ästhetisierung von Verbrechen: Kunst und Kriminalität
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Workshop für eine Doppelstunde
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Hinweise für den Theaterbesuch
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Impressum
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Das Fräulein von Scuderi
Einleitung
Anlässlich der Inszenierung des „Fräulein von Scuderi“ von E.T.A. Hoffmann in einer Fassung
und der Regie von Sascha Bunge am THEATER AN DER PARKAUE möchten wir Ihnen mit diesem Begleitmaterial Einblicke in die Recherchen während des künstlerischen Prozesses geben. Gleichzeitig ist dieses Material auch eine Handreichung zur Vor- oder Nachbereitung des
Inszenierungsbesuchs im Unterricht, inklusive eines Workshop-Vorschlags.
„Das Fräulein von Scuderi“ gilt als eine der ersten Detektivgeschichten in der europäischen Literatur und ist sicher nicht zufällig von dem gelernten Juristen Hoffmann verfasst worden. Wir
versuchen im Folgenden die beiden Seiten des Autors zwischen Schriftstellerei und Juristerei,
sowie die Novelle selbst in den literarischen Kontext zu setzen. Ausgehend von Hoffmanns
„Technik“, sich aus verschiedensten Vorlagen und Quellen inspirieren zu lassen, hat auch der
Regisseur seine Fassung mit zahlreichen „Zitaten“ versehen. Während Hoffmann sich ausgesprochen auf Johann Christoph Wagenseil, Voltaire, Kleist, die Bibel, Friedrich Lorenz Meyer,
Eberhard Auguste Wilhelm von Zimmermann etc. bezieht, zitiert Sascha Bunge in seiner Fassung Texte von E.A. Poe, Madeleine de Scudéry, Alexander Kluge, Otto Ludwig, Racine etc.
Im zweiten Teil des Begleitmaterials werden die Beziehungen des „Fräulein von Scuderi“ zum
Wandel des Künstlerbildes seit der Romantik, zu den historischen Figuren und zum Detektivroman beleuchtet. Die Inszenierung Sascha Bunges über die Vorläuferin aller Detektivgeschichten, die Großmutter der Miss Marple, erlaubt einen facettenreichen, komödiantischen
Blick auf die Erzählung.
Im Theater an der Parkaue ist „Das Fräulein von Scuderi“ – nach Hoffmanns „Der Sandmann“,
„Der goldene Topf“ und ebenfalls in der Saison 2012/13 „Klein Zaches genannt Zinnober“,
sowie von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ – ein weiterer romantischer Stoff
für die Oberstufe, der für die Bühne adaptiert wird. Beim Übersetzen der epischen Vorlage
auf die Theaterbühne entsteht ein neues Kunstwerk mit eigener Lesart und eigener Gesetzmäßigkeit: eine Inszenierung, die wiederum die Theaterzuschauer zu eigenen Deutungen und
Sichtweisen einlädt.
Schülerinnen und Schülern, die sich im Deutschunterricht mit dem Text befassen, wird die
Inszenierung ästhetischer Kommentar und aktuelle Befragung des Stoffes sein; wir wünschen
Ihnen und Ihren Schülern daher ein anregendes und unterhaltsames Theatererlebnis.
Über Rückmeldungen zu diesem Begleitmaterial und zur Inszenierung freuen wir uns.
Julia Schreiner – Dramaturgin
Ansprechpartnerin für Theaterpädagogik: Julia Schreiner
Tel. 030 – 55 77 52 -18 / [email protected]
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Das Fräulein von Scuderi
Szenenfoto mit Stefan Kowalski
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Das Fräulein von Scuderi
Zum Autor E.T.A. Hoffmann
von Susann Apelt
„Die Wochentage bin ich Jurist und höchstens etwas Musiker, sonntags am Tage wird
(Hoffmann)
gezeichnet und abends bin ich ein sehr witziger Autor bis in die späte Nacht.“ Der Jurist und Schriftsteller E.T.A. Hoffmann wurde am 24.01.1776 in Königsberg geboren.
„Hoffmann wächst in ein Zeitalter hinein, das die Leidenschaft des Lesens entdeckt. In Königsberg wirken mehrere tüchtige Verleger, es gibt Leihbibliotheken, Buchhandlungen.“1 Auch
der Musik und der Komposition war Hoffmann auf Grund früher Förderung durch den Onkel
nicht abgeneigt. Das Leben dieses vielseitig begabten Künstlers war von grundsätzlichem
Dualismus geprägt, der sich in seiner Literatur, widerspiegelt: Der ausgebildete Jurist (Studium an der Universität Königsberg) stand zwischen der bürgerlichen Juristerei und einem
ausschweifenden Künstlerleben. Sein juristisches Wissen jedoch floss immer wieder in sein
literarisches Werk ein. Jedoch musste er aufgrund verschiedener Liebschaften und seinen
musikalischen und literarischen Tätigkeiten des Öfteren den Lebens- und Dienstort wechseln.
Bereits kurz nach seinem Studium gelangte er über Zwischenstationen zu einem Referendariat an das Kammergericht Berlin, von wo er anlässlich einer skandalösen, selbst angefertigten
Karikatur über die Obrigkeit, nach kurzer Zeit als Preußischer Regierungsrat in die Provinzstadt Plock zwangsversetzt wurde. Ab 1804 lebte und arbeitete er in Warschau, kehrte aber
mit dem Einmarsch Napoleons zurück nach Berlin. Die aus Warschauer Zeiten inspirierte Musikleidenschaft übte er danach als Musikdirektor am Theater in Bamberg aus. Nach nur einem
Jahr als Kapellmeister in Dresden und knapp bei Kasse kehrte er 1814 erneut nach Berlin und
damit auch an seinen vorherigen Posten als Kammerrichter zurück. Bei dieser Vielzahl an Tätigkeiten könnte man eine unpräzise Arbeit vermuten, aber alles „was er tat – das Schreiben,
die Amtsgeschäfte, das Komponieren –, geschah sehr gewissenhaft, aber fast immer mit der
Leichtigkeit des Nebenher; es lag nicht das Schwergewicht darauf.“2 Ab 1816 lebte er in jenen
gesicherten Verhältnissen, die einen juristisch-literarischen Balanceakt sicherten. In dieser
Zeit entstanden zahlreiche Werke in denen man Verbindungen von Recht und Kriminalistik ablesen kann. So konnte er einerseits die Juristerei betreiben und dadurch im „Handlungszwang
der Macht […] seine Einsichten ins Seeleninnere zurück[halten], weil er, im Respekt vor der
Verborgenheit des Anderen, ihre Verallgemeinerungsfähigkeit bezweifeln muss. [Andererseits
konnte er sich] für die Literatur [die Freiheit bewahren], andere Sichtweisen auszuprobieren.“3
So führte Hoffmann einerseits ein geordnetes und gewissenhaftes Leben im Bereich der
Juristerei und zudem außerhalb der Gerichte ein „typisch künstlerisch, kreatives“, ein klassisches „romantisches Dasein“. Somit ist „seine Poesie nicht mit dem Anspruch belastet,
1
2
3
Aus: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten. Rüdiger Safranski. Fischer Taschenbuch Verlag.
Frankfurt am Main. 2000 (S.42)
Aus: Romantik. Eine deutsche Affäre. Rüdiger Safranski. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main. 2009
(S. 221)
Aus: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten. Rüdiger Safranski. Fischer Taschenbuch Verlag.
Frankfurt am Main. 2000 (S. 432-433)
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Das Fräulein von Scuderi
irgendwelchen gesellschaftlich nützlichen Einsichten und Postulate hervorzubringen. Was er
ins literarische Spiel bringt, wird nicht nach Maßgabe der Begründbarkeit einer Politik, einer Moral, einer Therapie vorsortiert. Hoffmann will, strenggenommen, nichts beweisen. Die
Entdeckungen, die er mit seinem Schreiben dann doch macht, gewinnt er aus einer doppelten Abgrenzung: Er lässt sich auf nichts verpflichten und verpflichtet zu nichts.“4 So erfand Hoffmann unter anderem eine Figur, die „ein sittsames Fräulein in Paris, Schriftstellerin
und Freundin Ludwigs XIV. [ist], die einen der ersten Mordfälle der Literatur aufklärt. Doch
damit [ist nur ein Name] aus E.T.A. Hoffmanns Œuvre genannt, das außerdem aus einem umfangreichen musikalischen Werk, Zeichnungen, Aquarellen und Karikaturen sowie aus einer
ganzen Reihe literarischer Texte besteht.
[…] Der Vielbegabte, der nur sechsundvierzig Jahre alt wurde, viel trank (zur
Anregung der Fantasie, wie er sagte, obwohl er doch nur schrieb, wenn er wieder
nüchtern war), leidenschaftlich wechselnde Liebesbeziehungen hatte und Mozart
über alles liebte (weshalb aus Ernst Theodor Wilhelm auch Ernst Theodor Amadeus
wurde), war eine ungewöhnliche Erscheinung – nicht nur in seiner Zeit, sondern in
der Literaturgeschichte ganz allgemein.“5
An seinem Lebensende sieht er sich selbst
in einem Strafverfahren vor dem Gericht.
Seine letzte Erzählung „Meister Floh“ wurde beschlagnahmt, da er einer der Figuren
unmissverständlich und nachweisbar,
Eigenschaften des Berliner Polizeidirektors Kamptz angedichtet hatte. Das Urteil
konnte allerdings nicht mehr gefällt werden. E.T.A. Hoffmann erkrankte durch eine
Liebschaft an Syphilis und starb am 25.
Juni 1822 an den Folgen.
Aus: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten.
Rüdiger Safranski. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main. 2000 (S. 272)
4ebenda
5
Aus: Juristen als Schriftsteller. Portraits dichtender Rechtsgelehrter. Barbara Sternthal.
Österreichische Verlagsgesellschaft C.&E. Dworak GmbH. Wien. 2006 (S.31)
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Das Fräulein von Scuderi
Das Fräulein von Scuderi
Hoffmanns Novelle, allen modischen Zweifeln an Erzählbarkeit zum Trotz, ist schnell zusammengefasst. Im Paris des Sonnenkönigs geht eine Giftmordserie um, zu deren Bekämpfung
der absolutistische Staat wieder einmal, nach ihren Erfolgen gegen Protestanten und Ketzer,
die Chambre ardente als Sondergericht einberufen hat. Das Unheimliche an den Giftmorden
ist, dass sie die „heiligsten Bande“ der Familienliebe auftrennen und Misstrauen säen zwischen
„Gatten“ und „Gattin“, „Vater“ und „Sohn“, „Schwester“ und „Bruder“. Das Unheimliche an
der Chambre ardente ist es, dass ihre Todesstrafen die Schrecken der längst pazifizierten Religionskriege zurückrufen, ihre Sonderbefugnisse aber gleichzeitig vor keinem Standesprivileg
mehr halt machen. Wenn die Chambre ardente in einer Zeit, wo Adlige Anspruch auf Pairsgerichte hatten, nicht davor zurückschreckt, auch „Francois Henri de Montmonrenci, Herzog
von Luxemburg, Pair und Marschall von Frankreich“ vor ihre Schranken zu laden, startet das
Gerichtswesen gerade unterm Mantel der Repristination seinen Marsch zum modernen Staat.
Alteuropäisch dagegen, weil „das Tribunal ganz den Charakter der Inquisition annimmt“, bleiben die Techniken der Wahrheitsfindung: Nur mit Foltern und einem finalen Feuertod gelingt
es La Regnie als Gerichtspräsidenten der Chambre ardente, die Giftmordserie der Voisin 1680
aufzuklären und zu beenden.
In Hoffmanns Erzählung aber läuft die Serie der Verbrechen weiter. Vergebens war derselbe
La Regnie, den die Novelle zum Modell des Leibhaftigen erklärt, in historischer Empirie der
erste staatlich ernannte Polizeibeamte der Geschichte und damit seit 1742 auch Modell aller
preußischen Polizisten oder Verbrecherlieferanten für Kammergerichtsrat Hoffmann. Vergebens hat La Reynie als Polizeileutnant die Gendarmie reformiert und das Paris des Sonnenkönigs mit nächtlicher Straßenbeleuchtung ausgestattet, also überhaupt erst zur Ville lumière
gemacht.
Hoffmanns Fiktion ignoriert solche Sicherheitsmaßnahmen gar nicht erst und lässt beinahe
allnächtlich Adlige, die zu ihren Maitressen unterwegs sind, überfallen und um Schmuck und
Leben gebracht werden. Die Chambre ardente vermutet eine Bande am Werk, aber bei solchen Vermutungen bleibt es, weil keiner der Raubmörder gefasst werden kann. Und das mit
Gründen. Die Giftmorde und ihr „poudre de succession“ haben vor allem die Erbfolge beschleunigt – sie sind Symptome, also auch Erkennbarkeiten einer Kultur der Blutsbande, die
aber just zur Zeit, in der Hoffmanns Novelle spielt, in eine Kultur des Eigentums übergeht. Vor
der massiven Zunahme der Eigentumsdelikte am Ausgang des 17. Jahrhunderts steht die
Chambre ardente ratlos.
Wie in zahllosen späteren Detektiverzählungen, seitdem Poe und Conan Doyle das Genre
standardisiert haben, wird das Versagen der offiziellen Stellen zur Chance einer Privatperson.
Einmal mehr sorgt Hoffmann dafür, dass der eben erst etablierten beamteten Polizei eine poetische Doppelgängerin zur Seite tritt. Die Romanschriftstellerin Madeleine de Scuderi erhält
unter geheimnisvollen Umständen Juwelen geschenkt, weil sie in Versen all jene adligen Liebhaber verspottet hat, die vor lauter Mordangst zu Hause bleiben, statt ihren galanten Pflichten
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Das Fräulein von Scuderi
Szenenfoto mit Birgit Berthold, Thomas Pasieka, Franziska Krol
weiter nachzugehen. Dann kommt ein anonymer Brief, dessen Schreiber die Scuderi „wie der
Sohn die Mutter, von der er nicht lassen kann“, anfleht, diesen Schmuck ihrem Leben zuliebe
wieder an seinen Hersteller, den Goldschmied René Cardillac, zurückzusenden. Auf ihrem
Weg dorthin aber wird die Scuderi Zeuge, wie die Chambre ardente Cardillacs Gesellen als
Mörder seines Meisters fesselt und abführt.
Der Indizienbeweis gegen Olivier Brusson ist lückenlos, zudem hören die Raubmorde mit
seiner Verhaftung schlagartig auf. Nur darf La Regnie seine brillante Indizienkette nicht als
alleinige Urteilsbasis benutzen, weil im alteuropäischen Rechtssystem, vor den gefeierten Reformen des 19. Jahrhunderts, Urteile noch ein Geständnis und damit die Anerkennung des
Betroffenen voraussetzten. Unter solchen Rahmenbedingungen sind La Regnies wiederholte
Androhungen der Folter nicht jene Grausamkeit, die Hoffmanns Erzählung anprangert, sondern schlichte Konsequenz. Doch auch im Angesicht der Folter bleibt der Angeklagte dabei,
weder Geständnisse abzulegen noch Verteidigungen zu suchen: Liebe zu Cardillacs Tochter
Madelon verschließt ihm den Mund. Er bittet nur um ein Gespräch mit der Scuderi, die mittlerweile ihrerseits die innige Liebe zwischen Brusson und Madelon erkundet und sich auf dieser
Basis von seiner Unschuld überzeugt hat. Was Wunder, dass diese erste, aber strikt familiale
Detektion der Literaturgeschichte den Gerichtspräsidenten La Regnie nicht gleichermaßen
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Das Fräulein von Scuderi
überzeugen kann. Erst nachdem all seine Folterandrohungen den Angeklagten nicht zu einem
Reden brachten, das ja vor Erfindung des Indizienbeweises noch juristisch unabdingbar war,
erinnert sich La Regnie daran, dass die Scuderi ihn mit den Worten „Seid menschlich!“ dem
Imperativ aller Reformjustiz konfrontiert hat.
So kommt es zum Abschied der Chambre ardente von ihren gegenreformatorischen Ursprüngen und zur modernen Wahrheitsfindungstechnik: Brusson wird für eine Nacht von seinen
Fesseln befreit und heimlich ins Privathaus der Scuderi gebracht. In dieser historisch neuen
Intimität bricht er mit Freuden sein Schweigen und enthüllt das Geheimnis, dass hinter der
Raubmordserie nicht er und auch keine Verbrecherbande, sondern ein einziges bürgerliches
Individuum steht: sein über jeden Verdacht erhabener Meister Cardillac. Dieses Bekenntnis
setzt die Scuderi in den Stand, nach einigen weiteren Recherchen dem Sonnenkönig in Person die erste Detektivgeschichte der Weltliteratur erzählen zu dürfen. Der freigesprochene
Brusson kann Cardillacs Tochter heiraten und Hoffmanns modernes Märchen am glücklichen
Ende anlangen.
Aus: Friedrich A. Kittler, Dichter – Mutter – Kind, Wilhelm Fink Verlag, München, 1991 (S. 198-201)
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Das Fräulein von Scuderi
Der literarische Kontext des
„Fräulein von Scuderi“: „Die Serapionsbrüder“
„Die Serapionsbrüder“ gliedern sich in vier Bände, die insgesamt an die 30 Erzählungen enthalten, davon 19 mit eigenständigen Titeln versehen. Die ersten beiden Bände wurden zu
Ostern und im September des Jahres 1819 veröffentlicht, […] Band drei und vier erschienen
im Oktober 1820 und Ostern 1821. Darin finden sich neben vielen verschiedenen Erzählungen
und Texten auch „Das Fräulein von Scuderi“.
Zusammengehalten werden diese einzelnen Erzählungen von einer Rahmenerzählung. Sechs
Freunde, namens Ottmar, Theodor, Sylvester, Vinzenz, Cyprian und Lothar, treffen sich zu gemeinsamen Abenden, an denen die Geschichten erzählt werden. Acht Abende verteilen sich
gleichmäßig auf die vier Bände, wobei sie so konzipiert sind, dass sich düstere und auflockernde, sogar fröhlich anmutende Geschichten abwechseln sollen. Jeder Band schließt mit
einem Märchen. Dieser Erzählstil der Sammlungen trifft einen Nerv der zeitgemäßen romantischen Epik, ganz besonders unter dem Gesichtspunkt der Intermedialität und Synästhesie.
Diese Rahmenerzählung kann man sich im Stil der Seherazade aus 1001 Nacht vorstellen,
allerdings mit anderer Motivation. Die Freunde kommen zusammen, weil sie gesellige Unterhaltung suchen. Die Binnenhandlung kommt im Grunde nur durch die Einbettung in den größeren Zusammenhang zustande. Als wahrscheinliche Vorbilder für die Zusammenfassung der
Erzählungen in diesem doch sehr europäischen Stil der Binnengeschichte gelten zum Beispiel
„Boccaccios Decamerone“, die „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“, „1875“ von
Goethe, das „Hexameron von Rosenhain“ von Wieland und besonders Tiecks „Phantasus“.
Ebenso, wie die Frage nach den Vorbildern, hat auch die Frage nach den Erzählern die Wissenschaft beschäftigt. Man weiß, dass Hoffmann in der Zeit enge Bekanntschaften und Freundschaften zu dem Schriftsteller Friedrich de la Motte-Fouqué, dem Dichter Adelbert von Chamisso, dem Dramatiker und Novellisten Carl Wilhelm Salice-Contessa, dem Juristen Julius
Eduard Hitzig, dem Offizier Friedrich von Pfuel, dem Theologen Georg Seegemund und dem
Arzt David Ferdinand Koreff pflegte. Zusammen bildeten sie den Seraphinenorden, dem der
Sammelband letzten Endes seinen Namen verdankt. Aus diesem Wissen versuchte man zu
rekonstruieren, ob diese Personen sich hinter den sechs Freunden verbergen könnten. Mittlerweile geht man allerdings davon aus, dass jeder Erzähler vielmehr eine Seite oder Ansicht
E.T.A. Hoffmanns selbst verkörpert, wohl aber autobiographische Hintergründe aus ebendiesem realen Freundeskreis verwertet sind.
Aus: goethezeitportal.de/wissen/projektepool/intermedialitaet/autoren/eta-hoffmann/die-serapionsbrueder.html
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Das Fräulein von Scuderi
1. Historische Vorläufer
Nachweislich hat Hoffmann (im Sinne der Intertextualität) seine Inspirationen aus verschiedenen historischen und literarischen Vorläufern teilweise wörtlich in die Erzählung übernommen. „Das Fräulein von Scuderi“ könnte man mit einem moderneren Vokabular durchaus als
moderne Form der literarischen Intertextualität oder gar als „Plagiatssammlung“ bezeichnen.
Eine sehr präzise Analyse dieses Verfahrens finden Sie bei Achim Küpper: „Poesie, die sich
selbst spiegelt, und nicht Gott!“ (2009). Nicht nur in Bezug auf das Verständnis und die Analyse
von Hoffmans Erzählung, sondern auch im Hinblick auf die Inszenierung von Sascha Bunge,
ist der Hinweis auf die Intertexualität von Interesse. Wie das Werk, geht auch die Inszenierung
frei mit Inspirationen und Fremdtexten um. Einige ausgewählte Beispiele für Hoffmanns Inspirationen (1 – 3), sowie für Sascha Bunges Fassung des „Fräulein von Scuderi“ (4 – 7) finden Sie
im Folgenden.
Johann Christoph Wagenseil
Hoffmann selbst verweist in den „Serapionsbrüdern“ (Kapitel 72) im Anschluss an die Erzählung des „Fräulein von Scuderi“ auf den Text von Wagenseil aus dem Jahr 1697:
„Sylvesters Erzählung erhielt den vollen Beifall der Freunde. Man nannte sie deshalb wahrhaft
serapiontisch, weil sie auf geschichtlichen Grund gebaut, doch hinaufsteige ins Fantastische."
„Es ist“, sprach Lothar, „unserm Sylvester in der Tat ein mißliches Wagestück gut genug gelungen. Für ein solches halte ich nämlich die Schilderung eines alten gelehrten Fräuleins, die
in der Straße St. Honoré eine Art von Bureau d‘Esprit aufgeschlagen, in das uns Sylvester
blicken lassen. Unsere Schriftstellerinnen, denen ich übrigens, sind sie zu hohen Jahren gekommen, alle Liebenswürdigkeit, Würde und Anmut der alten Dame in der schwarzen Robe
recht herzlich wünsche, würden gewiß mit dir, o mein Sylvester, hätten sie deine Geschichte
angehört, zufrieden sein und dir auch allenfalls den etwas gräßlichen und grausigen Cardillac
verzeihen, den du wahrscheinlich ganz und gar fantastischer Inspiration verdankest.“
„Von dem venezianischen Schuster“, sprach Sylvester, „weiß ich nichts, soll ich euch aber
treu und ehrlich die Quellen angeben, aus denen ich schöpfte, so muß ich euch sagen, daß
die Worte der Scuderi: Un amant qui craint etc. wirklich von ihr und zwar beinahe auf denselben Anlaß, wie ich es erzählt, gesprochen worden sind. Auch ist die Sache mit dem Geschenk
von Räuberhänden durchaus keine Geburt des von günstiger Luft befruchteten Dichters. Die
Nachricht davon findet ihr in einem Buche, wo ihr sie gewiß nicht suchen würdet, nämlich
in Wagenseils Chronik von Nürnberg. Der alte Herr erzählt nämlich von einem Besuch, den
er während seines Aufenthalts in Paris bei dem Fräulein von Scuderi abgestattet, und ist es
mir gelungen, das Fräulein würdig und anmutig darzustellen, so habe ich das lediglich der
angenehmen Courtoisie zu verdanken, mit der Wagenseilius von der alten geistreichen Dame
spricht.“
„Wahrhaftig“, rief Theodor lächelnd, „wahrhaftig, in einer Nürnberger Chronik das Fräulein
von Scuderi anzutreffen, dazu gehört ein Dichterglück, wie es unserm Sylvester beschieden.
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Das Fräulein von Scuderi
Überleuchtet er uns heute nicht in seiner Zweiheit als Theaterdichter und Erzähler wie das
Gestirn der Dioskuren?“
„Das ist“, sprach Vinzenz, „das ist das, was ich eben impertinent finde. Der, der ein gutes
Stück geschrieben, muß sich auch nicht noch herausnehmen wollen, gut zu erzählen.“
„Seltsam“, nahm Cyprian das Wort, „seltsam ist es aber doch, daß Schriftsteller, die lebendig
erzählen, die Charakter und Situation gut zu halten wissen, oft an dem Dramatischen gänzlich
scheitern.“
„Sind“, sprach Lothar, „sind die Bedingnisse des Dramas und der Erzählung aber nicht in ihren Grundelementen so voneinander verschieden, daß selbst der Versuch, den Stoff einer Erzählung zu einem Drama zu verarbeiten, oft mißlingt und mißlingen muß? – Ihr versteht mich,
daß ich von der eigentlichen Erzählung spreche und alles Novellenartige ausschließe, das oft
den Keim in sich trägt, aus dem das wahre Drama hervorsprießt, wie ein schöner herrlicher
Aus: gutenberg.spiegel.de/buch/3106/72
Baum.“ Der Originaltext lautet:
„Ich muß noch eine artige Begebnus erzehlen / so sich eben zur selbigen Zeit zutrug. Es
hatte ein bell´humor eine Supplication in Versen / gleichsam / an den König aufgesetzet / im
Nahmen aller Verliebten zu Paris / ihn bittend : Er möchte sich doch gefallen lassen / denen
nächtlichen Beutel-Schneidern einen Einhalt zu thun / und sie aus der Stadt zu jagen / damit
man ohngehindert denen Maistressen die Schuldige Aufwartung leisten köne : Es lebe sonst
jedermann unter seiner glückseeligen Regierung in Friede und in Ruhe / nur allein sie müßten
in steten Furchten leben / und unverschuldeter Weis / die allergrößte Quaal ausstehen. Demnach wünschten sie / daß die güldene Zeiten der Regierung des Henrici IV. als des Königs
Groß-Vatters wieder erscheinen möchten / da die Liebes-Göttin ihren Tempel in Paris hatte
/ und niemand verhindert wurde / Sie / und ihre Nymfen anzuruffen / und den Weyrauch auf
ihren Altären anzuzünden. Ich bin um die Requefte selbsten / wie viel andere dergleichen
Sachen / kommen / und also kann ich nichts als den Inhalt / welchen ich wol behalten / darstellig machen. Diese Bittschrift / deren Autorem man nicht erfahren können / nachdem sie
einige Tage in Paris war herum getragen worden / so kam als in Namen der Beutel Schneider
eben auch an den König in Versen eine Exception-Schrift herfür / von der man aber bald in
Wissenschaft kommen / daß die Fräulein von Scudery solche aufgesetzet. Die wurde nun von
den Beutel-Schneidern eingebracht / da´eben die Galanen keine Ursach hätten / sich groß
zubeklagen / sintemalen sie die Zeit wol wüssten in acht zu nehmen / und unter den Fürwand
/ daß die Gassen zu Nachts wegen der Beutel-Schneider nicht sicher nur desto früher zu ihren
Maistressen giengen / und desto länger bey ihren blieben. Zu dem / wann man einen solchen
Galan ohngefehr antreffe / so habe er ganz nichts bey sich / als etwan ein Schnuptuch / ein
Haarband / und einen Buetel nicht wol mit schlechter Silber-Münz angefüllet. Der Schluß war
/ daß der König angeflehet wurde / als der allergerechteste Richter dieses billige Urtheil zu
fellen:
Un amant qui craigne les Voleurs,
N est point digne d´amour.
Dieses Gedicht ward gelobet / und es stunden wenige Tage an / so kam ein Mann von
schlechter Leibesgestalt / und nicht zum besten bekleidet / in das Fräulein von Scudery Haus
/ und ließ sich durch ihre Kammer-Dienerin bey ihr anmelden / weil er etwas nothwendiges
fürzubringen hätte. Die Kammerdienerin gehet zu der Fräulein von Scudery / und berichtet
sie / welcher Gestalt einer vorhanden sey / der mit ihr zu reden verlange / er sey aber etwas
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Das Fräulein von Scuderi
grauslicht anzuschauen / und habe allerdings das Ansehen eines Beutelschneiders. So behüte mich Gott / sagte die Fräulein / daß ich mit ihm rede / und gehet ihr hin / und entschuldigt
mich / daß ich wegen obliegender Geschäffte / die keinen Aufschub leiden / ihn selbst nicht
für mich lassen könne / er solle aber euch nur sagen / was er verlange. Die Kammerdienerin
richtet die empfangene Antwort aus / allein der Mensch wollte sich nicht abweisen lassen /
sondern beharrete er hätte in Befehl / nicht von dannen zu gehen / biß er selbsten bey der
Fräulein sein Anbringen abgeleget. Nachdem nun die Kammerdienerin dieses abermals der
Fräulein hinterbracht / ward bey dieser das Bedencken mit dem Mann zu reden / um so viel
mehr gestercket / befiehlet demnach der Kammerdienerin / ihm zu bedeuten / daß / weil er
von seiner Berrichtung nicht eröffnen wollte / sie aber ihn der Zeit nicht sprechen könnte /
so möchte er ein andermal zu gelegener Zeit wiederkommen. Als die Kammerdienerin auch
dieses dem Mann ausgerichtet / ziehet er ein schönes Körblein aus dem Sack herfür / und
sagt / die gesamte löbliche Gesellschaft der Beutelschneider hätten ihn abgefertigt / und
liesse sich gegen die Fräulein gebührend bedancken / daß sie ihre Vertrettung bey den König
übernehmen / und die wieder sie eingegebene Klagschrift / so nachdrücklich beantworten
wollen : es erfordere ihre Schuld / sich auch in der That erkantlich zu erweisen / und schicke
ihr demnach / in diesem Körblein ein geringes Armband / wie auch eine Uhr / und einen kleinen Beutel / mit Bitte / solches für gut zu nehmen / sintemalen es die beste Beute wäre / so
ihnen innerhalb 15 Tagen zu Theil worden / und bey der Fräulein bekannt wol / daß der Zeit
nicht viel zu gewinnen. Die Kammerdienerin wuste fast nnicht / was sie thun sollte/ entschliesset sich doch / das Geschenck anzunehmen / und bey ihrer Fräulein die Bottschafft abzulegen / da aber diese hingieng / machte sich der Abgeordnete davon. In was für eine Verwirrung
die Fräulein gestzet worden / ist leicht zu erachten / sonderlich/ als sie die Kostbarkeit des
Geschencks betrachtet / dann das Armband war von Gold / zierlich mit Haaren durchflochten
die Uhr ebenmässig gülden / von durchbrochener Arbeit / und der Beutel enthielt 12 Pistolen
/ welches alles / wann es mit Unrecht sollte abgenommen worden seyn / sie ein Bedencken
trug / solches bey sich zu behalten. Es kam aber heraus / daß die Herzogin von Montaufier
diese Luft so angestellet / und getrachten / die Fräulein durch deses Geschenck zu begünstigen. Ich könnte / wann es dieser Orth leiden wollte / noch mehr dergleichen Sachen Beyführen / und allerdings erweisen / quod in fola Gallia expediat Poétam esse, es sey dann / daß
man Irrland noch dazu nehme/…“
Aus: Johann Christoph Wagenseil, De sacri rom. imperii libera Civitate noribergensi commentatio:
Accedit de Germaniae phonascorvm, Von der Meister – singer, 1697
Voltaire: Das Zeitalter Ludwigs XIV.
Auch von Voltaire ließ sich Hoffmann inspirieren. Insbesondere ist die Darstellung der Giftmorde in Paris aus Voltaires historischer Erzählung fast wörtlich „kopiert“ worden:
„Was das Publikum in seinem Argwohn, dass eine Vergiftung vorliege, bestärkte, war der
Umstand, dass man um diese Zeit in Frankreich jenes Verbrechen kennenzulernen begann.
Während der Schrecken des Bürgerkrieges hatte man von diesem Mittel der Feiglinge noch
keinen Gebrauch gemacht. […] Zwei Italiener, von denen der eine Exili hieß, arbeiteten lange
Zeit mit einem deutschen Apotheker namens Glaser an der Suche nach dem sogenannten
Stein der Weisen. Die beiden Italiener verloren darüber das Wenige, was sie besaßen, und
wollten nun den ihnen durch ihre Torheit erwachsenen Schaden durch das Verbrechen wettmachen: sie verkauften im geheimen Gift. Die Beichte, der größte Zügel für die menschliche
Ruchlosigkeit, mit dem man aber Spott betreibt, indem man Verbrechen, die man abbüßen
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Das Fräulein von Scuderi
kann, auch begehen zu dürfen glaubt – die Beichte also brachte zur Kenntnis des Großpönitentiars von Paris, dass verschiedene Personen an Gift gestorben waren. Er machte der
Regierung davon Mitteilung; die beiden verdächtigen Italiener wurden nun in die Bastille gesetzt. Der eine der beiden verstarb darin, Exili aber blieb im Gefängnis, ohne überführt zu
werden, und verbreitete von seiner Zelle aus über Paris jene verderblichen Geheimnisse, die
den Zivilrichter d’Aubrai und seiner Familie das Leben kosteten und schließlich zur Einsetzung
des Gerichtshofes für die Giftmischer, der sogenannten ‚Brandkammer‘ (chambre ardente),
führten. […] Vom Jahre 1670 aber, wo Exili Gift zu bereiten begonnen hatte, bis zum Jahre
1680 machte dieses Verbrechen Paris unsicher. Man darf nicht verhehlen, dass sogar der
Generaleinnehmer der Geistlichkeit, Penautier, ein Freund der Marquise, einige Zeit später
angeklagt wurde, ihre heimliche Wissenschaft angewandt zu haben, und dass es ihn die Hälfte seines Vermögens kostete, um diese Anklage zu unterdrücken. […] La Reynie, einer der
Präsidenten dieser Kammer, war schlecht genug beraten, um an die Herzogin von Bouillon
die Frage zu richten, ob sie den Teufel gesehen hätte. Sie erwiderte, sie sähe ihn in diesem
Augenblick, er wäre sehr hässlich und unverschämt und wäre als Staatsrat verkleidet. Darüber ging das Verhör kaum hinaus. Der Handel der Gräfin von Soissons und des Marschalls
von Luxemburg war ernsterer Art. Le Sage, die Voisin, die Vigoureux und andere Mitschuldige
saßen unter der Anklage im Gefängnis, dass sie ein Gift, das sogenannte ‚Sukzessionspulver‘,
verkauft hätten. […] Nachdem La Sage, Bonard, die Voisin, die Vigoureux und über vierzig
andere Angeklagte in die Bastille gesetzt worden waren, sagte Le Sage aus, dass der Marschall sich an ihn und an den Teufel gewandt hätte, um die Dupin, die die Papiere nicht hatte
zurückgeben wollen, umzubringen. Seine Mitschuldigen fügten hinzu, dass sie die Dupin auf
des Marschalls Befehl ermordet, in Stücke geschnitten und in die Seine geworfen hätten. […]
Unter den furchtbaren Beschuldigungen, die die Grundlage des Prozesses bildeten, brachte
Le Sage auch die Behauptung vor, dass der Marschall Herzog von Luxemburg einen Vertrag
mit dem Teufel geschlossen hätte, um seinen Sohn mit der Tochter des Marquis de Louvois
verheiraten zu können. […] Der Prozess währte vierzehn Monate; es erfolgte aber kein Urteil – weder für noch wider ihn. Die Voisin, die Vigoureux und deren Bruder, ein Priester, der
sich ebenfalls Vigoureux nannte, wurden mit Le Sage auf dem Grève-Platz verbrannt. Der
Marschall von Luxemburg ging einige Tage aufs Land und kehrte dann an den Hof zurück,
um seinen Obliegenheiten als Hauptmann der Leibwache nachzukommen, ohne Louvois zu
sehen und ohne dass der König das Vorgefallene gegen ihn erwähnte.“
Aus: Voltaire, Das Zeitalter Ludwig XIV, 1751, deutsch 1887.
Goethe: Torquato Tasso
Tasso erbittet vom Herzog Alfons sein letztes poetisches Werk zurück, weil er auf einer Reise
daran feilen möchte. Der Herzog betrachtet das Gedicht als sein Eigentum. Er denkt nicht an
Rückgabe, sondern verspricht eine Kopie. Der Dichter fühlt sich unverstanden.
Vgl.: de.wikipedia.org/wiki/Torquato_Tasso_%28Goethe%29
15
Das Fräulein von Scuderi
Alfons.
Ich wünsche dir zu deiner Reise Glück
Und hoffe, dass du froh und ganz geheilt
Uns wieder kommen wirst. Du bringst uns dann
Den doppelten Gewinst für jede Stunde
Die du uns nun entziehst, vergnügt zurück. [...]
Tasso.
Du überhäufst, o Fürst, mit Gnade den
Der sich unwürdig fühlt, und selbst zu danken
In diesem Augenblicke nicht vermag.
Anstatt des Danks eröffn ich eine Bitte!
Am meisten liegt mir mein Gedicht am Herzen.
Ich habe viel getan und keine Mühe
Und keinen Fleiß gespart, allein es bleibt
Zu viel mir noch zurück. Ich möchte dort
Wo noch der Geist der großen Männer schwebt
Und wirksam schwebt, dort möcht ich in die Schule
Aufs neue mich begeben; würdiger
Erfreute deines Beifalls sich mein Lied,
O gib die Blätter mir zurück, die ich
Jetzt nur beschämt in deinen Händen weiß.
Alfons.
Du wirst mir nicht an diesem Tage nehmen
Was du mir kaum an diesem Tag gebracht.
Lass zwischen dich und zwischen dein Gedicht
Mich als Vermittler treten […].
Tasso.
Ich wiederhole nur beschämt die Bitte:
Lass mich die Abschrift eilig haben, ganz
Ruht mein Gemüt auf diesem Werke nun.
Nun muss es werden was es werden kann.
[…] Ich halte diesen Drang vergebens auf
Der Tag und Nacht in meinem Busen wechselt.
Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll,
So ist das Leben mir kein Leben mehr.
Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen,
Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt.
Aus: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg, 1948 ff, S. 154-157.
16
Das Fräulein von Scuderi
Szenenfoto mit Caroline, Erdmann, Thomas Pasieka, Stefan Kowalski, Franziska Ritter, Franziska Krol
E.A. Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue
Neben Anleihen von Nietzsche, Artaud und vielen anderen hat Sascha Bunge für seine Fassung Bausteine aus Poes Kurzgeschichte in das „Fräulein von Scuderi“ eingeflochten.
Zusammenfassung von „Der Doppelmord in der Rue Morgue“: Zusammen mit einem Partner
untersucht C. Auguste Dupin unerklärliche Morde an zwei Pariser Frauen. Diese wurden im
vierten Stockwerk ihres ansonsten leer stehenden Hauses auf bestialische Weise ermordet.
Doch der Fall ist zunächst nicht aufklärbar: Alle Türen und Fenster sind verriegelt, und daher
ist es der Polizei ein Rätsel, wie der oder die Mörder vom Tatort flüchten konnten. Doch Dupin
untersucht den Fall selbst und dank seines brillanten analytischen Verstandes kann er der
Sache auf den Grund gehen und feststellen, wem die Morde zuzuschreiben sind. Der Mörder
der Pariser Frauen ist ein Orang-Utan, der seinem Halter, einem Seemann, entkommen war.
Das Tier hatte seinen Besitzer stets beim Rasieren beobachtet. Nachdem es aus seinem Käfig
entflohen war, flüchtete es in das von den Frauen bewohnte Haus und tötete eine der Bewohnerinnen beim Nachahmen des Rasiervorgangs mit einem Rasiermesser. Die andere wird auf
brutale Weise von ihm erwürgt und kopfüber in den Kamin geschoben.
Aus: de.wikipedia.org/wiki/Der_Doppelmord_in_der_Rue_Morgue
Die Inszenierung Sascha Bunges verwendet verschiedene Zitate aus Poes Text:
17
Das Fräulein von Scuderi
Beispielhaft hier der Beginn der Szene 5 des Stücks:
Martiniere: Leutnant Desgrais, war der Mörder tatsächlich ein Affe? Ein Orang-Utan hat
Madame L`Espanaye und ihrer Tochter Camille umgebracht?
Desgrais:
Der Körper der jungen Dame war arg zerquetscht und zerschunden. Die Kehle
war ganz wund gerieben. Das Gesicht war grauenhaft verfärbt, die Augäpfel
waren herausgequollen. Die Zunge war teilweise durchbissen. Der Leichnam der
Mutter war entsetzlich verstümmelt. Sämtliche Knochen … gebrochen … furcht
bare Quetschungen … der Kopf vollständig vom Rumpf getrennt und die Kehle
… muss mit einem sehr scharfen Instrument …
Daneben werden auch Texte aus „Das verräterische Herz“ und „Der schwarze Kater“ von E.A.
Poe verwendet.
Alexander Kluge im Gespräch mit dem Kriminalforscher
Prof. Dr. Joachim Kersten: Wie gemein muss ein Gemeinwesen sein?
Ausschnitt aus dem Gespräch:
Kluge
Also, nochmals die Komponenten, die in der Strafe stecken: das eine, ich lasse
jetzt mal das religiöse Element – man muss die Welt wieder reinigen vom Verbrechen – außen vor, weil es ja Mittelalter ist. Es gibt jetzt etwas anderes, nämlich die
Kennzeichnung, das ist rechtens, die öffentliche Darstellung, dies ist böse, dies ist
nicht böse, da ist eine Unschuldiger, hier ist Schuld – und dies möglichst markant.
Kersten
Ja. Aber hier haben wir auch wieder die Schwierigkeit, wenn wir uns die neuere Forschung dazu anschauen, dass der Gedanke weder der Generalprävention
noch der Individualprävention, den wir ja benötigen, um die Art dieser Strafen zu
rechtfertigen – der funktioniert nicht. Die Forschung zeigt, speziell bei denen, die
sehr stark auffällig werden, also die jungen Männer, Jugendliche zwischen 15 und
25: der Gedanke an die Strafe schreckt die nicht ab. Die Erwartung, die sichere
Erwartung der Strafe, schreckt sie nicht ab, außer bei Bagatelldelikten wie Eigentumsdelikten oder Schwarzfahren oder so etwas. Je schwerer die Straftat, also
je mehr sie andere in Mitleidenschaft zieht, umso weniger wirken diese beiden
großen Säulen, auf denen dieser Balken …
Kluge
Individualprävention: der Täter soll umerzogen werden, Generalprävention: eine
unbekannte Zahl von Tätern soll abgeschreckt werden.
Kersten
Das funktioniert nicht.
Kluge
Beides funktioniert nicht
Kersten
Nein. Also, die Forschung, auch in unserem Land jetzt, man muss da gar nicht
nach Amerika schauen. Karl Schumann hat eine Studie dazu gemacht in großem
Rahmen und methodologisch sehr aufwendig und sehr sorgfältig, die zeigt, dass
Jugendliche sich nicht abschrecken lassen. Er hat dann ein Jahr später geschaut,
wie viele von denen straffällig geworden sind usf. Er hat diese ganzen Bedingungen versucht zu isolieren. Was dabei herauskommt unterm Strich, ohne dass
18
Das Fräulein von Scuderi
man es jetzt ausführen kann, ist – und dies gilt für Jugendliche: je schwerer die
Straftat, desto mehr wirken dynamische Faktoren; das was gerade passiert, was
ansteht, die Situation, die Kumpel, die dabei sind, die Situation des Opfers usf. –
das wirkt. Der Gedanke an eine Strafe, der kommt überhaupt nicht auf bei diesem
Geschehen.
Aus: Alexander Kluge, Facts & Fakes 1:
Fernseh-Nachschriften: Verbrechen,Gespräche mit Dr. Ulrike Sprenger,
Prof. Dr. Joachim Kersten und Manfred Pichota, Berlin, 2000.(S. 17 ff.)
Otto Ludwig: Das Fräulein von Scuderi
Aus dem Ersten Aufzug, Fünfter Auftritt / Baptiste. Die Vorigen. Dann Cardillac.
Baptiste. Der Meister Cardillac!
Er hat nicht lange Zeit. Noch in zwei Kirchen
Muss er den Abend, sagt er.
Fräulein. Lass ihn kommen.
Baptiste (abgehend). Ihr könnt eintreten, Meister Cardillac.
Cardillac tritt unbeholfen ein.
Fräulein. Seid Ihr der Meister Cardillac?
Cardillac verneigt sich.
Serons.
So wenig
Kann dieser Meister sich verleugnen, als
Seine Arbeit. Beide rät man gleich.
Cardillac. Ihr seid
Sehr gütig, Herr.
Fräulein. Ich ließ Euch, Meister, bitten,
Zu mir zu kommen. Eine Frage hab‘ ich
An Euch.
Cardillac. Habt tausend, und antworten will ich.
Fräulein. Seht diesen Schmuck und leset diese Zeilen.
Ein Unbekannter brachte gestern nachts,
Als ich abwesend war, dies Beides und
Entfloh.
Cardillac (liest und besieht). Hm! Ja! Das glaub‘ ich.
Fräulein. Ihr seht nun,
Dass ich das nicht behalten kann, woran
Das Blut des Eigners klebt.
Cardillac. Klebt Blut daran?
Zeigt doch! Hm! Ich für mein Teil, ich seh‘
Hier nichts von Blut. Das macht verdammte Flecken.
Das müsst‘ ich sehn.
[…]
Serons.
Zwei Fragen sind‘s. Die erste –
Ist: ob Ihr diesen Schmuck gemacht?
19
Das Fräulein von Scuderi
Cardillac (wird eifrig). Ob ich?
Das ist die Frage? Und nun frag‘ ich Euch,
Wenn Ihr‘s erlaubt, ob hier noch Frage sein kann?
Warum habt Ihr nicht Euer Aug‘ gefragt?
Muss man mich fragen, ob ich das gemacht,
Was keiner sonst kann machen, als nur ich?
Die Arbeit, Herr, von mir, die Euch nicht selbst sagt,
Wer sie gemacht hat, seht, die nehm‘ ich so
Und schlag‘ sie Euch zu Brei. Herr, habt Ihr Augen?
Und fragt mich, was Ihr selber sehen könnt?
Warum fragt Ihr mich nicht, ob das hier gelb,
Das rot und das – ei, geht mir doch zum Henker!
[…]
Serons.
Gut. So sagt dem Fräulein,
Für wen Ihr diesen Schmuck verfertigt habt?
[…]
Cardillac. Den macht‘ ich, Herr, auf eigene Bestellung,
Das heißt, – wenn Ihr es hören wollt –: ich suchte
Ein‘s Tags das Schönste von Demanten aus,
Was ich besaß. Ich bin so arm nicht, Herr,
Daß ich nicht kaufen könnte, was ich mache:
Den Schmuck hier macht‘ ich mir zum heil‘gen Christ,
Und als er fertig war, da sagt‘ ich mir:
Du bist ein großer Sünder, Cardillac,
Du willst den Schmuck zur Buße deiner Sünden
Den Heil‘gen opfern, wenn du dich erst satt
Gesehen hast. Und legt‘ ihn in die Truhe.
Da war er eines Morgens fort – weiß Gott,
Wie es geschehn – der einz‘ge Schmuck allein
War fort; sonst fehlte nichts. Was ist das anders
Als Himmelsschickung? sag‘ ich nun. Mir war
So fromm zu Mut, da ich den Schmuck gehämmert,
Und wie ich nun das edle Fräulein seh‘,
So wird es hell mir vor den innern Augen:
Da weiß ich endlich, dass ich sonst für niemand
Den Schmuck gemacht, als für das edle Fräulein.
[…]
Hab‘ ich
Fräulein (verwundert lächelnd).
Euch recht verstanden?
Cardillac. Wenn Ihr gütigst mich
Verstehen wollt, bitt‘ ich Euch nicht vergebens:
Helft meinem frommen Traume zur Erfüllung,
Behaltet gütigst, was nur Euch gehört.
Fräulein. Nein, Meister, seid Ihr denn –? Was fällt Euch ein?
Wär‘ ich, was ich gewesen bin, noch jung
20
Das Fräulein von Scuderi
Und. was ich nie war, schön; dann ja; wer weiß,
Was dann geschäh‘. Denn wär‘ ich jung und schön,
War‘ ich auch eitel. Aber, aber, Meister –
Auch abgesehn davon, dass ich nicht weiß,
Wie ich nun eben zu der Gabe komme;
Was soll dem welken Arm der frische Schmuck,
Der nur erinnern wird an das, was fehlt?
Und was dem Halse der Matrone, die
Sich putzt, indem sie ihn versteckt? Ich weiß,
Es ziert ein Schmuck die Schönheit nur allein,
Die schön genug ist, auch den Schmuck zu zieren.
Soll er in ew‘ger Ruh‘ begraben liegen?
Nein; eine Sünde wär‘s an ihm und Euch.
Cardillac (hat, während das Fräulein sprach, den Schmuck in die Hand genommen und mit Überwindung
wieder hingesetzt; jetzt fasst er ihn krampfhaft mit zitternder Hand; sein Wesen ist im Kampf;
was er spricht, mehr Selbstgespräch).
Ihr wollt ihn nicht. Durchaus nicht. Wollt ihn nicht.
Szenenfoto mit Franziska Ritter, Niels Heuser
21
Das Fräulein von Scuderi
(Er schiebt ihn mit Gewalt wieder von sich.)
Geb‘ ich‘s der Kirche, hat die Armut nichts.
Doch in des Fräuleins Hand da wuchert es,
Bringt Segenszinsen hundert-, tausendfach,
Und was ich vorhab‘, dazu brauch‘ ich Segen.
Und sicher bin ich vor dem bösen Geist.
Sie ist ein Kind des Lichts. Aufkommen kann
Er nicht vor ihr. – Nein, nein. Mein edles Fräulein,
Ihr müsst –
(Er fasst ihn, um ihn dem Fräulein hinzureichen; wie er ihn in der Hand hat, reut‘s ihn, und er zieht ihn zurück).
Ihr wollt ihn nicht. Bricht mir der Schweiß
Da aus. Ich bitt‘ Euch, habt Barmherzigkeit
Mit einem Sünder, nehmt ihn hin –
(Er nimmt den schon hingeschobenen wieder zurück; schwer aufatmend.)
Ihr wollt
Ihn nicht – durchaus nicht – wollt ihn nicht? Ah, ah.
Er bleibt mir an den Händen kleben und
Doch brennt er mich.
(Er bricht in Schluchzen aus.)
Nehmt ihn doch nur. Nehmt ihn.
O, all ihr Heiligen. – Ich – hm – ja – ich –
Muss schnell nach Haus; da fiel mir etwas ein.
(Bleibt stehn und hebt die Hand nach dem Schmuck; bezwingt sich.)
Ob – ja – nein. Ich muss fort, muss fort. Ja ich
Muss fort. Hm, ja; da wartet einer – seht –
(bezwingt sich noch einmal.)
Fräulein. So nehmt doch –
Cardillac (kratzt sich an den Ohren). Ist das eilig! Ist das eilig!
(als wenn ihn jemand gerufen)
Ich komme schon!
(In polternder Eile, wie gejagt, ab.)
Aus: Otto Ludwig, Das Fräulein von Scuderi, 1870, Theatertext .
Abrufbar im Internet unter: gutenberg.spiegel.de /buch/1811/1
22
Das Fräulein von Scuderi
2. Der Wandel des Künstlerbildes
in der Romantik
‚Gegen das bürgerliche Verständnis der Kunst als Dienstleistung setzt Kreisler eine Kunstmetaphysik, die ihn zur Würde des Priestertums emporhebt. Er glaubt, die Kunst ließe dem
Menschen sein höheres Prinzip ahnen und führe ihn aus dem törichten Tun und Treiben des
gemeinen Lebens in den Isistempel, wo die Natur in heiligen, nie gehörten und doch verständlichen Lauten mit ihm spräche‘.
Es bleibt bei Hoffmann immer ein Unterton von Ironie bei solchen emphatischen Bekenntnissen zur Himmelfahrt der Kunst. Dass man sich wegen der Kunst mit dem Rest der Welt
verfeinden kann, dass Kunstliebe in Menschenhass umschlagen kann, ist ihm, weil er selbst
diese Anwandlung kennt, nicht nur nachvollziehbar, sondern auch fragwürdig. Darum lässt er
in seiner vielleicht berühmtesten Erzählung ‚Das Fräulein von Scuderi‘ den Goldschmied Cardillac zum Mörder werden. Ihm ist es nämlich unmöglich, seine Geschmeide, an die er seine
ganze Liebe und sein ganzes Können wendet, in fremden Händen und an fremden Hälsen zu
wissen, bei Leuten, die nichts anderes damit anfangen, als ihrer Eitelkeit zu schmeicheln und
ihren galanten Abenteuern aufzuhelfen. Kreisler beschimpft sein Publikum, bei Cardillac wird
daraus eine Publikumsermordung im großen Stil. Auch so lässt sich der Konflikt der Kunst
und des Künstlers mit dem bürgerlichen Nützlichkeitsprinzip ausfechten, auch so kann der
emphatische Ausdruckswert der Kunst gegen ihren Tauschwert wüten.“
Aus: Rüdiger Safranski, Romantik: Eine deutsche Affäre,
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2007 (S. 196-197)
In der Romantik beginnt sich das Künstlerbild zu ändern. Hatte der Künstler bis dato noch
eine gesellschaftliche Aufgabe, ändert sich das Bild des Künstlers hin zum Genie, zu demjenigen, der außerhalb der Gesellschaft steht und Kunst um der Kunst willen betreibt. In „Das
Fräulein von Scuderi“ findet man beide Künstlertypen. Zum einen die Schriftstellerin Madeleine de Scuderi, die sich als im Dienste der Gesellschaft stehend versteht, zum anderen das
Künstlergenie Cardillac, der Goldschmid, der kein Handwerker mehr ist, sondern sich als über
der Gesellschaft stehend und begreift.
Die „tiefste Bedeutung des Werks“ ist die „Formulierung des modernen, einsamen Künstlertums, das durch Cardillac verkörpert wird, in Opposition zum historisch älteren Künstlertum
mit sozialer Funktion innerhalb der Gesellschaft, das die Scuderi repräsentiert. Die Scuderi
ist eine Dichterin, die am Hofe Ludwigs XIV. ihre anmutigen Verse vorträgt. Bönnighausen
definiert die Kunst der Scuderi als Zierde für gesellschaftliche Anlässe. Ihre Verse sind von höfischer Eleganz geprägt und auf geistreiche Pointen bedacht. Die Scuderi verkörpert das Bild
des weltbezogenen, in der Gesellschaft lebenden Künstlers und entspricht somit der älteren
Kunstauffassung. Dieses Künstlerbild steht in scharfem Gegensatz zu Cardillac, dessen Kunst
keine soziale Funktion erfüllt, sondern dem reinen Selbstzweck dient.
23
Das Fräulein von Scuderi
Die Erzählung offenbart somit die dualistische Kunstauffassung Hoffmanns, in der der romantische Künstler dem Philister gegenübersteht. Die Schriftstellerin Scuderi produziert Kunst
aus reinem Unterhaltungszweck, ihre Verse sind schön, aber simpel. Ihr erstes (und einziges)
wahres Kunstwerk schafft sie erst am Ende der Erzählung in ihrer Rede vor dem König zugunsten Oliviers Begnadigung. Der Goldschmied Cardillac hingegen ist ein wahrhaftiger Künstler,
in dessen Händen jedes Stück ein Meisterwerk wird. Doch das Fortgeben seiner Kunstwerke,
in die er all seine Kraft und Kreativität gelegt hat, an die in seinen Augen unwürdigen Kunden
fällt ihm schwer. Das Aufgeben der von ihm geschaffenen Kunst bedeutet für ihn auch eine
Selbstaufgabe. […] Jede der beiden Künstlerfiguren begehrt das, über das der andere verfügt, es bleibt jedoch jeder der beiden verwehrt. Die Vereinigung der beiden oppositionellen
Künstlerfiguren Scuderi und Cardillac würde eine Versöhnung von „wahrer Menschlichkeit
und wahrem Künstlertum“ bedeuten und würde in der Novelle als Künstlergeschichte den Höhepunkt bilden. Schmidt sieht eine solche Versöhnung als unmöglich an, da ihm eine solche
Versöhnung mit der Scuderi als Braut Cardillacs utopisch erscheint, was bedeutet, dass das
Ende der Novelle eine „Grundstimmung von Tragik und Trauer“ hinterlässt.“
Aus: Simone Alberts, E.T.A. Hoffmanns ‚Das Fräulein von Scuderi‘ - Eine Detektivgeschichte,
GRIN-Verlag GmbH, München. Abrufbar im Internet unter:
http://www.grin.com/de/e-book/36714/e-t-a-hoffmanns-das-fraeulein-von-scuderi-eine-detektivgeschichte
Giorgio Agamben beschreibt diesen Wandel in seinem Buch „Mensch ohne Inhalt“ im 1. Kapitel:
„An die Stelle der Dimension des Ästhetischen – der sinnlichen Aneignung des schönen Objekts durch den Betrachter – tritt die schöpferische Erfahrung des Künstlers, der im eigenen
Werk une promesse de bonheur erkennt. Am äußersten Punkt ihres Schicksals – in der ‚Stunde des kürzesten Schattens‘ – verlässt die Kunst den neutralen Horizont der Ästhetik, um sich
in der ‚goldenen Scheibe‘ des Willens zur Macht wiederzuerkennen. […] Zugleich verlagert
sich der Schwerpunkt der Reflexion über die Kunst fort vom interesselosen Betrachter hin
zum – interessierten – Künstler. […]
Wenn Artaud in ‚Das Theater und die Pest‘ auf den Beschluss des Pontifex Maximus Scipio
Nasica hinweist, alle Theater Roms dem Erdboden gleichzumachen, sowie auf die Attacken,
in denen der heilige Augustinus seiner Wut gegen das Theater, das den Tod der Seele verursacht, freien Lauf lässt, so spricht sich in Artauds Worten die ganze Sehnsucht aus, die ein
Geist, für den das Theater nur in einer „magischen, furchtbaren Verbindung mit der Wirklichkeit und mit der Gefahr“ Bedeutung besaß, für eine Epoche empfinden musste, die eine derart
konkrete und interessierte Idee vom Theater besaß, dass sie es zum Heil der Seele und der
Stadt erforderlich hielt, die Bühnen zu zerstören. Dass man heute nach derartigen Ansichten
vergeblich suchen würde […], muss nicht erst weiter erläutert werden; dass dagegen da, wo
es zum ersten Mal zu einer autonomen Betrachtung eines ästhetischen Phänomens als solchem kommt […], dies in Form einer Hasskampagne gegen die Kunst geschieht, liegt weniger
auf der Hand. […]
Die Kunst findet bei uns also nur deshalb eine so gnädige Aufnahme, weil sie aus der Sphäre
des Interesses herausgetreten und in die des bloßen ‚Interessantdaseins‘ eingetreten ist. […]
Für den, der sie hervorbringt, wird die Kunst eine immer beängstigendere Erfahrung, und im
Hinblick auf diese kann der Begriff einer interessierten Kunstbetrachtung bestenfalls als Euphemismus gelten. Denn was hier auf dem Spiel steht, ist keineswegs die Erzeugung eines
schönen Werks; für denjenigen, der es hervorbringt, ist das Kunstwerk vielmehr eine Ange24
Das Fräulein von Scuderi
legenheit, in der es um Leben und Tod seines Urhebers geht, oder doch eine, in der seine
Integrität auf dem Spiel steht. […]
Der von ‚Apollo geschlagen[e]‘ Hölderlin an der Schwelle des Wahnsinns sagt: ‚[Ich] fürcht’
[…], dass es mir nicht geh’ am Ende, wie dem alten Tantalus, dem mehr Götter ward, als er
verdauen konnte.‘ Diese Erfahrung spricht auch aus dem Zettelchen, das man nach Vincent
van Goghs Tod in seiner Tasche fand und auf das der Maler gekritzelt hatte: ‚Und meine eigene Arbeit, nun, ich setze mein Leben dabei aufs Spiel, und mein Verstand ist zur Hälfte dabei
drauf gegangen.‘ Ähnlich erklärte auch Rilke in einem Brief an Clara: ‚Die Kunstwerke sind
stets das Ergebnis eines eingegangenen Risikos, einer bis an ihr Extrem, an den Punkt, an
dem der Mensch nicht mehr weitermachen kann, geschriebenen Erfahrung.‘ […] Nietzsches
Appell aus dem Vorwort zur Fröhlichen Wissenschaft – ‚Nein, wenn wir […] überhaupt eine
Kunst noch brauchen, so ist es eine andre Kunst! […] Vor Allem: eine Kunst für Künstler, nur
für Künstler!‘ – gewinnt seinen rätselhaften Sinn wieder, wenn er als der letzte Moment in jenem Prozess erkannt wird, in dem die Kunst sich von ihrem Betrachter reinigt, um sich unversehens, in wiedererrungener Integrität, mit ihrer eigenen absoluten Bedrohlichkeit konfrontiert
zu sehen.“
Aus: Giorgio Agamben, Der Mensch ohne Inhalt, Suhrkamp, 1970 (S. 8 – 15)
25
Das Fräulein von Scuderi
3. Die historischen Personen
Hoffmann kreiert durch die Beschreibung historischer Begebenheiten, Personen und Plätze,
eine Art Realismus, der dazu beiträgt, den Plot und die Charaktere der Geschichte glaubhaft
zu machen. Mit Ausnahme des Fräuleins, des Königs und der Marquise de Maintenon entspringen die Charaktere der Novelle dennoch Hoffmanns Inspiration. Es ist jedoch möglich,
dass der Charakter des Cardillac von autobiographischen Erinnerungen an den italienischen
Goldschmied und Bildhauer Benvenuto Cellini inspiriert ist. Cardillac erhielt in Anlehnung an
die Novelle Einzug in die Psychologie: Das „Cardillac-Syndrom“ gilt als Krankheitsbild, bei
dem sich Künstler nicht von ihrem Werk trennen können.
Sie finden in der gängigen Sekundärliteratur oder im Netz ausführliche Beschreibungen der
historischen Persönlichkeiten der Novelle. Im Folgenden werden ein paar eventuell „unbekanntere“ Informationen und Zitate zu Madeleine de Scudéry zu lesen sein.
Madeleine de Scudéry (1607 – 1701)
Schriftstellerin, bewusst ledig, Förderin von Frauen und jungen Mädchen
Carte du Pays de Tendre, um 1654,
kolorierter Kupferstich.
Aus : http://www.konversationskunst.
org/index.php/texte/21-eske-madeleinede-scudery-und-die-carte-de-tendre
Neben den literarischen Salonempfängen in Paris und ihren Romanen verfasste Mademoiselle de Scudéry auch diese Karte des Landes der Zärtlichkeit, die Carte du Pays de Tendre,
die erklärt, „wie man Zärtlichkeit aus drei Ursachen empfinden kann, so geht man von neuer
Freundschaft (Nouvelle Amitié), unten auf der Karte, nach ‚Tendre‘ über den Weg der Wertschätzung, den der Dankbarkeit oder auch den der Zuneigung.“
26
Das Fräulein von Scuderi
Ihre Abneigung gegen die Bindung an einen Mann, sowie ihr Bemühen um eine gute Ausbildung für Frauen werden in den folgenden Zitaten der zeitlebens ledigen Schriftstellerin verdeutlicht.
„Alle mir bekannten Männer hörten als Ehegatten sofort auf, Liebhaber zu sein. Mancher gar
war nicht einmal mehr höflich zu der einst Angebeteten und begann, als genügte es nicht,
der Ehefrau gewordenen Geliebten die Liebe zu versagen, diese für andere, ihr zudem nicht
(Cy, IX,643; Cléorante)
ebenbürtige Frauen zu empfinden.“ „Eine Frau, die sich als Gelehrte aufspielt, finde ich unerträglich, doch auch gelehrte Männer,
(Cy. X,391; Phaon)
die sich auf ihr Wissen zu viel einbilden, kann ich nur mühsam aushalten.“ „Sollte meine Bildung die der Frauen im allgemeinen übertreffen, so weiß ich doch wiederum
(Cy.X,395; Sapho)
nichts, was nicht alle Damen wissen dürften.“ Aus: Molière, Die lächerlichen Preziösen, Reclam, Stuttgart 1997
27
Das Fräulein von Scuderi
4. Der Kriminalroman
Die Ästhetisierung von Verbrechen:
Kunst und Kriminalität
Der Jurist E.T.A. Hoffmann hat im „Fräulein von Scuderi“ sein juristisches Wissen und Interesse, mit den Interessen eines Schriftstellers an ungewöhnlichen Wendungen verknüpft.
„Das Fräulein von Scuderi“ ist in der Geschichte der europäischen Kriminalliteratur ein viel
zitiertes Werk. Zum einen, weil es manchen als der erste Detektivroman (siehe Richard Alewyns Aufsatz "Anatomie des Detektivromans"6) gilt, zum anderen, weil es bis in die jüngere
Geschichte viele Romane gibt, die darauf aufbauen. Genannt seien hier nur „Das Parfum“ von
Patrick Süskind oder auch „Miss Marple“ von Agatha Christie.
Zudem steht die Kriminal-Novelle in einer langen Tradition, in der die Verbindung zwischen
Kunst und Verbrechen, zwischen Laster und Lust in der Literatur von verschiedenen Schriftstellern beschrieben wird. Ein Zwiespalt, der einem Künstler der Romantik sicher nicht fremd
erscheinen mochte.
Schon Schiller beschreibt die Lust am Verbrechen in seinen „Gedanken über den Gebrauch
des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst“. Hier ein Textausschnitt, den Sie auch am Anschluss bei dem „Workshop für eine Doppelstunde“ wiederfinden werden.
„Stehlen z.B. ist etwas Absolut-Niedriges, und was auch unser Herz zur Entschuldigung eines
Diebs vorbringen kann, wie sehr er auch durch den Drang der Umstände mag verleitet worden
sein, so ist ihm ein unauslöschliches Brandmal aufgedrückt, und ästhetisch bleibt er immer
ein niedriger Gegenstand. Der Geschmack verzeiht hier noch weniger, als die Moral, und sein
Richterstuhl ist strenger, weil ein ästhetischer Gegenstand auch für alle Nebenideen verantwortlich ist, die auf seine Veranlassung in uns rege gemacht werden, da hingegen die moralische Beurtheilung von allem Zufälligen abstrahiert. Ein Mensch, der stiehlt, würde demnach
für jede poetische Darstellung von ernsthaftem Inhalt ein höchst verwerfliches Objekt sein.
Wird aber dieser Mensch zugleich Mörder, so ist er zwar moralisch noch viel verwerflicher,
aber ästhetisch wird er dadurch wieder um einen Grad brauchbarer. Derjenige, der sich (ich
rede hier immer nur von der ästhetischen Beurtheilungsweise) durch eine Infamie erniedrigt,
kann durch ein Verbrechen wieder in etwas erhöht und in unsre ästhetische Achtung restituiert werden. Diese Abweichung des moralischen Urtheils von dem ästhetischen ist merkwürdig und verdient Aufmerksamkeit.“
Aus: http://gutenberg.spiegel.de/buch/3360/1
Dieser Gedanke Schillers nach der „ästhetischen Achtung“ des Verbrechens lässt sich besonders im „Fräulein von Scuderi“ wiederfinden, zumal Hoffmann – wie oben ausgeführt –
zwei sehr gegensätzliche Künstler in der Novelle beschreibt. Dieser Gegensatz in der gesell
6http://www.zeit.de/1968/47/anatomie-des-detektivromans
28
Das Fräulein von Scuderi
schaftlichen Auffassung eines Künstlers könnte ebenfalls sinnbildlich für die Zerrissenheit der
Künstler in der Romantik stehen. Auch die Romantiker versuchten sich in der Kunst außerhalb
des Alltags, der Gesellschaft zu positionieren und waren dennoch fast alle auch fester Teil des
unkünstlerischen, „normalen“ Lebens.
Die Entstehung der Detektiv- und Kriminalliteratur im 19. Jahrhundert
ENGLAND
DEUTSCHLAND
Mit dem Aufstieg des Bürgertums im 18.
Jahrhundert zur politischen Macht werden
Polizei und Justiz der Verfügungsgewalt
des Königs entzogen. Die Polizei wird eine
eigenständige Behörde (Scotland Yard). In der Aufklärung werden Verbrechen nicht
mehr als Ausdruck einer angeborenen Neigung zum Bösen, sondern als Ergebnis der
psychischen Konstellation des Verbrechers
begriffen.
Interesse an Polizisten und Detektiven
Interesse an Motiven und Tathergang
Detektivroman
Kriminalroman
Edgar Allen Poe: Der Doppelmord in der
Rue Morgue (1841)
Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus
verlorener Ehre (1792)
Wilkie Collins: Der Monddiamant (1868)
E.T.A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi
(1819)
Charles Dickens: Das Geheimnis des Edwin Drood (1870)
Annette von Droste-Hülshoff: Die
Judenbuche (1842)
Arthur Conan Doyle: Der Hund von
Baskerville (1902)
Theodor Fontane: Unterm Birnbaum (1855)
Aus: http://www.thomasgransow.de/Grundbegriffe/Kriminalliteratur.htm
29
Das Fräulein von Scuderi
Workshop für eine Doppelstunde
1. Die Textstelle laut vorlesen lassen
2. Klasse aufteilen in 3 – 6 Arbeitsgruppen:
- Comic-Gruppe (Verbindung von Text und Bild)
- Zeitungsgruppe (Verschriftlichung des dargestellten Falls, z.B. die Inhaftierung eines Unschuldigen)
- Theatertext- und Spiel-Gruppe (Einnahme einer anderen Perspektive, z.B. der des Fräulein von Scuderi oder des Königs
Ludwig XIV. und Verfassen einer Theaterszene, die danach durch verschiedene theatrale Mittel vorgestellt werden soll, z.B.
Monolog, Dialog, Standbild, musikalische Darbietung, Choreografie, Richterspruch des Königs)
3. Die Gruppen befassen sich mit dem Textausschnitt und den Zusatztexten und übersetzen den Auszug dann in eine
andere Form (Comic, Artikel, Theaterszene), d. h. sie müssen eine Perspektive wählen, einen Erzähler einführen oder die
Textinformation gar gänzlich abstrakt (zeichnerisch, journalistisches Schreiben) darstellen. Dabei können sie sich so frei und
weit vom Original entfernen, wie sie wollen. Hauptsache, ihre Aussage / ihr Schwerpunkt ist dem Medium angemessen.
4. Die Ergebnisse werden den anderen vorgestellt, vorgespielt und ausgewertet. Wobei es hierbei kein „richtig“ oder „falsch“
geben kann, sondern eher Lösungen, die ihren Ansatz „verständlicher“ und „klarer“ herausarbeiten können, als andere.
Anhang
Textausschnitt: Aus „Das Fräulein von Scuderi“ — gegen Ende der Novelle. Das Fräulein betritt kurzentschlossen
die Gemächer der Maintenon, wohl wissend, dass der König anwesend ist, um diesen noch von der Unschuld
Brussons zu überzeugen.
… Alles wich scheu zur Seite, und als sie nun eintrat, stand selbst der König ganz verwundert auf und kam
ihr entgegen. Da blitzten ihm die köstlichen Diamanten des Halsbands, der Armbänder ins Auge, und er rief:
„Beim Himmel, das ist Cardillacs Geschmeide!“ Und dann sich zur Maintenon wendend, fügte er mit anmutigem
Lächeln hinzu: „Seht, Frau Marquise, wie unsere schöne Braut um ihren Bräutigam trauert.“ „Ei, gnädiger Herr,“
fiel die Scuderi, wie den Scherz fortsetzend, ein, „wie würd‘ es ziemen einer schmerzerfüllten Braut, sich so
glanzvoll zu schmücken? Nein, ich habe mich ganz losgesagt von diesem Goldschmied und dächte nicht mehr
an ihn, träte mir nicht manchmal das abscheuliche Bild, wie er ermordet dicht bei mir vorübergetragen wurde,
vor Augen.“ „Wie“, fragte der König, „wie! Ihr habt ihn gesehen, den armen Teufel?“ Die Scuderi erzählte nun
mit kurzen Worten, wie sie der Zufall (noch erwähnte sie nicht der Einmischung Brussons) vor Cardillacs Haus
gebracht, als eben der Mord entdeckt worden. Sie schilderte Madelons wilden Schmerz, den tiefen Eindruck,
den das Himmelskind auf sie gemacht, die Art, wie sie die Arme unter Zujauchzen des Volks aus Desgrais‘
Händen gerettet. Mit immer steigendem und steigendem Interesse begannen nun die Szenen mit la Regnie – mit
Desgrais – mit Olivier Brusson selbst. Der König, hingerissen von der Gewalt des lebendigsten Lebens, das in
der Scuderi Rede glühte, gewahrte nicht, dass von dem gehässigen Prozess des ihm abscheulichen Brussons
die Rede war, vermochte nicht ein Wort hervorzubringen, konnte nur dann und wann mit einem Ausruf Luft
machen der innern Bewegung. Ehe er sich‘s versah, ganz außer sich über das Unerhörte, was er erfahren, und
noch nicht vermögend, alles zu ordnen, lag die Scuderi schon zu seinen Füßen und flehte um Gnade für Olivier
Brusson. „Was tut Ihr,“ brach der König los, indem er sie bei beiden Händen fasste und in den Sessel nötigte,
„was tut Ihr, mein Fräulein! – Ihr überrascht mich auf seltsame Weise! – Das ist ja eine entsetzliche Geschichte! –
Wer bürgt für die Wahrheit der abenteuerlichen Erzählung Brussons?“ Darauf die Scuderi: „Miossens‘ Aussage
– die Untersuchung in Cardillacs Hause – innere Überzeugung – ach! Madelons tugendhaftes Herz, das gleiche
Tugend in dem unglücklichen Brusson erkannte!“ – Der König, im Begriff, etwas zu erwidern, wandte sich auf ein
Geräusch um, das an der Türe entstand. […] Der König stand auf und verließ […] das Zimmer. …
(www.zeno.org )
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Das Fräulein von Scuderi
Beispiele für die Umsetzung
Beispiele Artikel:
Unschuldig verhaftet: Adem Cans Horrortrip von: Julia Riegler
Adem Can sieht ganz schön mitgenommen aus. Immer wieder hält er sich an seinem Wasserglas fest, nimmt
einen großen Schluck, setzt es wieder ab. Seine Augen sind müde, sein Gesicht ist schmal geworden. Kein
Wunder: Der Tanzlehrer, Eventmanager und Ex-Jugendbürgermeister von Kitzingen hatte Stress. Viel Stress.
Mit der Polizei. Und dabei hat ihm sein ehemaliges Ehrenamt vielleicht sogar den Hals gerettet. […] Nach einer
Odyssee mit schlaflosen Nächten in den Zellen verschiedener Justizvollzugsanstalten (JVA) brachte gerade
dieser Punkt in Adems Lebenslauf den belgischen Richter zum Grübeln. Aber von vorne.
Es war ein ganz normaler Arbeitstag. Nachdem Adem Can am frühen Nachmittag des 8. März seine Bürotür
abgeschlossen hatte, machte er sich auf den Weg zur Polizeidienststelle in Kitzingen. Bei einer Routinekontrolle
hatte er seinen Führerschein nicht dabei, wollte ihn nachreichen. Schon da reagierte ein Beamter seltsam auf
den Besuch des stadtbekannten Deutschtürken […]. Zu diesem Zeitpunkt machte Adem noch Witze, amüsierte
sich auch mit seinem Manager noch. „Die wollten mich verhaften“, lachten die beiden – bis es an der Haustür
klingelte.
Aus Belgien liege ein Haftbefehl gegen ihn vor, erklärte der Polizeibeamte, mit dem Adem sogar per Du ist. Er
werde durch Interpol gesucht – und in Kitzingen gefunden. Der Ernst der Lage ist dem jungen Geschäftsmann
noch nicht bewusst. „Sag nichts den Eltern“, erklärt er da noch seiner Schwester. Sie sollen sich keine Sorgen
machen.
[…] Am nächsten Tag wird er nach Würzburg in die JVA gebracht, ohne zu wissen, was er angeblich getan haben
soll...
http://www.infranken.de/nachrichten/lokales/kitzingen/
Unschuldig-verhaftet-Adem-Cans-Horrortrip;art218,281406
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Das Fräulein von Scuderi
Beispiele Comic / Graphic Novel
Aus: Alexandra Kardinar
und Volker Schlecht,
Das Fräulein von Scuderi,
(Edition Büchergilde), 2011
Aus: The Wandering Artist Murder Case, Dead Hobo, Detective Conan, 1997
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Das Fräulein von Scuderi
Beispiele Theater und Film
Staatsballett Stuttgart,
Das Fräulein von Scuderi, 2012
Vorabfoto,
Theater an der Parkaue,
Das Fräulein von Scuderi, 2012
Das Fräulein von Scuderi, Deutschland, 1955,
Regie: Eugen York
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Das Fräulein von Scuderi
Zusatztexte
Schiller: Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst
Stehlen z. B. ist etwas Absolut-Niedriges, und was auch unser Herz zur Entschuldigung eines Diebs vorbringen
kann, wie sehr er auch durch den Drang der Umstände mag verleitet worden sein, so ist ihm ein unauslöschliches
Brandmal aufgedrückt, und ästhetisch bleibt er immer ein niedriger Gegenstand. Der Geschmack verzeiht
hier noch weniger, als die Moral, und sein Richterstuhl ist strenger, weil ein ästhetischer Gegenstand auch
für alle Nebenideen verantwortlich ist, die auf seine Veranlassung in uns rege gemacht werden, da hingegen
die moralische Beurteilung von allem Zufälligen abstrahiert. Ein Mensch, der stiehlt, würde demnach für jede
poetische Darstellung von ernsthaftem Inhalt ein höchst verwerfliches Objekt sein. Wird aber dieser Mensch
zugleich Mörder, so ist er zwar moralisch noch viel verwerflicher, aber ästhetisch wird er dadurch wieder um einen
Grad brauchbarer. Derjenige, der sich (ich rede hier immer nur von der ästhetischen Beurteilungsweise) durch
eine Infamie erniedrigt, kann durch ein Verbrechen wieder in etwas erhöht und in unsre ästhetische Achtung
restituiert werden. Diese Abweichung des moralischen Urteils von dem ästhetischen ist merkwürdig und verdient
Aufmerksamkeit. http://gutenberg.spiegel.de/buch/3360/1
Thomas de Quincey: Der Mord als schöne Kunst betrachtet
Man beginnt allmählich einzusehen, dass zur künstlerischen Vollendung einer Mordtat doch etwas mehr gehört
als ein Messer, eine Börse, eine dunkle Gasse und zwei Schafsköpfe, von denen der eine dem anderen den
Hals durchschneidet. Scharfsinnige Berechnung, meine Herren, feinsinnige Verteilung von Licht und Schatten,
kurzum ein hoch entwickeltes, künstlerisches Empfinden, das sind die unerlässlichen Vorbedingungen zu einer
solchen Tat. [. ..] Wenn die Tränen getrocknet sind, machen wir vielleicht zu unserer Genugtuung die Entdeckung,
dass eine Tat, die unter moralischem Gesichtspunkt betrachtet, empörend und durch nichts zu rechtfertigen
ist, für die Anforderungen des guten Geschmacks dennoch äußerst verdienstvoll sein kann. So ist alle Welt
zufriedengestellt, und das alte Sprichwort, dass in jedem Unglück etwas Gutes zu finden sei, bewahrheitet sich
aufs Neue, denn jetzt kommt auch der Liebhaber, der – solange die Moral im Spiele war – sauertöpfisch und
verdrossen dreinschaute, auf seine Kosten, und die gute Laune trägt den Sieg davon. Der Tugend ist Genüge
getan, jetzt kommen Liebhaberei und Kunstsinn an die Reihe.
www.avl.uni-mainz.de/Dateien/Aesthetizismus-Vorlesung.doc
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Das Fräulein von Scuderi
Hinweise für den Theaterbesuch
Liebe Lehrerin, lieber Lehrer,
viele Kinder und Jugendliche besuchen zum ersten Mal ein Theater oder haben wenig
Erfahrung damit. Wir bitten Sie, im Vorfeld eines Besuches sich mit Ihrer Klasse die besondere
Situation zu vergegenwärtigen und die nachfolgenden Regeln zu besprechen. Damit eine Vorstellung gelingt, müssen sich Darsteller und Zuschauer konzentrieren können. Dafür braucht
es Aufmerksamkeit. Alle Beteiligten müssen dafür Sorge tragen. Wer die Regeln nicht einhält,
beraubt sich selbst dessen, wofür er Eintritt gezahlt hat – und natürlich auch alle anderen
Besucher.
Folgende Regeln tragen zum Gelingen eines Theaterbesuchs bei:
1. Wir bitten, rechtzeitig im Theater einzutreffen, so dass jeder in Ruhe den Mantel und seine
Tasche an der Garderobe abgeben und ohne Eile seinen Platz aufsuchen kann. Unsere Garderobe wird beaufsichtigt und ist im Eintrittspreis enthalten.
2. Während der Vorstellung auf die Toilette zu gehen, stört sowohl die Darsteller als auch
die übrigen Zuschauer. Wir bitten darum, sich entsprechend zu organisieren. In unseren
Programmzetteln lässt sich auch nachlesen, ob es eine Pause in der Vorstellung gibt.
3. Es ist nicht gestattet, während der Vorstellung zu essen und zu trinken, Musik zu hören und
Gespräche zu führen. Mobilfunktelefone und mp3-Player müssen vollständig ausgeschaltet
sein. Während der Vorstellung darf weder telefoniert noch gesimst oder fotografiert werden.
4. Der Applaus am Ende einer Vorstellung bezeugt den Respekt vor der Arbeit der Schauspieler und des gesamten Teams unabhängig vom Urteil über die Inszenierung. Wem es gut
gefallen hat, der gibt mehr Beifall – wem nicht, entsprechend weniger. Wichtig ist, erst nach
dem Ende des Applauses den Saal zu verlassen.
Unser Einlasspersonal der ARTService GmbH steht den Zuschauern als organisatorischer Ansprechpartner am Tag der Vorstellung zur Verfügung.
Wir sind an den Erfahrungen des Publikums mit den Inszenierungen interessiert. Für
Gespräche stehen wir zur Verfügung. Unter www.parkaue.de können unsere Zuschauer einen
Kommentar zu den Inszenierungen abgeben.
Wir freuen uns auf Ihren Besuch.
Ihr THEATER AN DER PARKAUE
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Impressum
Das Fräulein von Scuderi
Impressum
Spielzeit 2012/2013
THEATER AN DER PARKAUE
Junges Staatstheater Berlin
Parkaue 29
10367 Berlin
Tel. 030 – 55 77 52 -0
www.parkaue.de
Intendant: Kay Wuschek
Redaktion: Julia Schreiner, Susann Apelt
Gestaltung: pp030 – Produktionsbüro
Heike Praetor
Fotos: Christian Brachwitz
Titelfoto mit Franziska Ritter und Niels Heuser
Abschlussfoto mit Hagen Löwe und Birgit Berthold
Kontakt Theaterpädagogik:
Irina-Simona Barca / Frank Röpke
Telefon: 030 – 55 77 52 -60
[email protected]
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