Fazit: Putin muss weg
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Fazit: Putin muss weg
Stanislaw Belkowski Wladimir Die ganze Wahrheit über Putin Redline Verlag München 2014 (4.12.2013) 220 Seiten ISBN: 139783868814842/103-86881-484-1 19,99 Eur[D] / 29,90 CHF Themen- und Buchbesprechung Fazit: Putin muss weg Als im Jahr 2000 mit Putin eine vermeintlich lächerliche Marionette Jelcyns als neuer Präsident Russlands installiert wurde, löste dies in der ganzen Welt grosses Staunen aus. Niemand wusste damals wer Putin ist und niemand konnte ahnen, wie Putin Russland regieren sollte. wer Putin Bald stellte sich heraus, dass der neue Staatschef unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung sich zum kleinen frechen Protzdiktator entwickelte, der den Bewohnern seines Landes erneut das Fürchten lernte und dem Westen zeigen sollte, was für ein besonderer Kerl er sei und zu was er alles fähig ist. Ideologisch betrachtet stellte Putin eine konfuse Verbindung zwischen Zarismus, Sowjetunion und modernem Staatskapitalismus her, wobei unkontrollierbare private Wirtschafts- konkurrenten ausgeschaltet, politische Gegner verfolgt und die unabhängige Zivilgesellschaft unterdrückt werden sollten. Der Westen reagierte empört darauf, was Putin mit Russland machte. Seine Beziehungen zum ehemaligen Reich des Kommunismus wurden erneut einer Zerreissprobe ausgesetzt. Aber für einen mit allen Wassern gewaschenen ehemaligen KGB-Agenten mit ungeahnten Machtallüren war es offenbar kein grosses Problem, sich durchzusetzen. Vor allem in einem aus den Fugen geratenen Staat wie Russland lechzten die Bürger geradezu danach, von einem Chef mit einer starken Hand regiert zu werden, damit die Ordnung wieder hergestellt werde. Seit Russlands altneuer Präsident Putin nach seiner (Wieder-)Wahl sich wie ´Vladimir der Grösste´ aufführen konnte, wurde er mit superlativen Ehrungen nur so überhäuft: „Einflussreichster Mann des Jahres“ (Forbes), „Populärster Mensch des Jahres“ (Levada Centr), „Mensch des Jahres auf der internationalen Arena“ (The Times), „Bester Arbeiter des Jahres“ (Expert online). Ein dubioses russisches Komitee wollte Putin sogar für den Friedensnobelpreis vorschlagen, weil er in Syrien Gutes getan habe, ohne jedoch über die Fähigkeit zu verfügen, auf das Ende dieses verheerenden Krieges einzuwirken. Von seinen Anhängern wird Putin als „nationaler Führer“ verehrt und gefeiert, und Kulturminister Medinskij, der durch ein sonderbares Geschichtsverständnis auffiel, rühmte Putin übereifrig als „grossen Mann“ (velikij čelovek). Für solche zweifelhaften Auszeichnungen, die die „Erfolge“ des angeblichen Supermanns Putin rechtfertigen sollen, während die wahren Probleme aber verschleiert werden, hat die westliche Presse nur unter grossen Vorbehalten Verständnis signalisiert: Der Spiegel reagierte darauf mit einer wenig schmeichelhaften Putin-Karrikatur, die einen kalten, skrupellosen „Halbstarken“ zeigte, der vom Hass gegen die Demokratie und den Westen angetrieben wird und es liebt, auf Europa herumzutrampeln.1 In Zivilgesellschafts- und Menschenrechtskreisen ist der kleine russische Provokateur, dessen arrogante, vulgäre Ausdrucksweise immer wieder für Aufsehen und Verstimmung sorgt,2 längst zum Hassobjekt Nr. 1 2 S. http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2013-51.html. Dazu s. http://www.univerlag-leipzig.de/article.html;article_id,1000. 1 1 aufgerückt. In der ´zivilisierten´ Welt ist der schnoddrige Typ aus dem Moskauer Kreml daher kein gern gesehener Gast. Um ein Zeichen gegen Menschenrechtsverletzungen und inakzeptable Verhöhnung von Andersdenkenden, Journalisten und politischen Gegnern zu setzen, wurde bei der EU in Brüssel im Januar 2014 ein Abendessen mit Putin ersatzlos gestrichen, und hochrangige Westpolitiker wie Obama, Gauck und Hollande zogen es vor, darauf zu verzichten, bei der Eröffnung der Winterolympiade in Sotschi persönlich zu erscheinen. Der kleine Grossrusse, der der Welt gerne snobistisch zu verstehen gibt, dass er keine Erniedrigung des slavischen Stolzes mehr akzeptieren will, wird sich dafür auf seine Art unweigerlich zu rächen wissen. Was von der russischen Propaganda natürlich gerne verschwiegen wird: Im Vergleich zum Vorjahr nahm Putins Popularität in Russland 2013 um ganze zehn Prozentpunkte ab.3 Was haben solche Zahlen und Werte zu bedeuten ?4 Putins Macht sei dennoch aber keineswegs zu unterschätzen, mahnt Stanislaw Belkowski an,5 ein im Westen wenig bekannter russischer Politikwissenschaftler polnisch-jüdischer Herkunft,6 der die neuste kommentierte Biographie über Putin veröffentlicht hat. Sie ist im Münchner Redline Verlag auch auf Deutsch erschienen (Übersetzung von Franziska Zwerg). Die im Buch vorgestellten Hypothesen und Interpretationen zum Wesen Vladimir Putins mögen für westliche Denkgewohnheiten, die längst von einem negativen Putin-Bild bestimmt sind,7 etwas überraschend wirken. Dennoch lohnt es sich, Belkowskis Erläuterungen genauer kennenzulernen. Ein kleiner Vorgeschmack zu Belkowskis Hypothesen zum Beginn: Da ist im Fall Putins die Rede von einem ganz normalen Menschen, dessen frühere Funktion als KGB-Auslandsspion in Ostdeutschland masslos übertrieben dargestellt werde, der nicht mehr und nicht weniger sei als ein simpler Geschäftsmann, ein Idealist, ein Mann wie jeder andere kleinbürgerliche Spiesser mit Problemen in der Liebe und mit russophober Gesinnung (sic). Putin sei nie Imperialist gewesen, Putin habe auch die Kriege in Tschetschenien nicht angezettelt (sondern Jelcyn). Als Ziehsohn von Sobtschak und Jelcyn sei er antisowjetisch umgepolt und so unerwartet wie zufällig an die oberste Machtposition Russlands gespült worden. Als postsowjetischer Endzeitherrscher am Anfang des künftigen russischen Nationalstaats strebe er keine Reformen an, sondern wolle nur seiner Rolle als Bewahrer des Herkömmlichen und als Hüter der Integrität Russlands gerecht werden. Eigentlich habe Putin weder ein Interesse an der Macht noch Freude am Regieren. Er habe lediglich den Auftrag erhalten, das Erbe Jelcyns weiterzuführen und Russland vor dem Staatszerfall zu bewahren. Putin treffe seine Entscheidungen ausschliesslich nach dem Kriterium persönlicher Sympathie oder Antipathie und aufgrund seines eigenen Verständnisses der moralischen Normen, die sich nach einem bestimmten ´Mafia-Kodex´ richteten und die Wirtschaft auch noch im heutigen Russland zu lenken scheinen. Belkowskis Buch ist also nicht einfach eine gewöhnliche langweilige Geschichte des bisherigen Lebens Putins, die die gängigen Stereotypen über einen der umstrittensten Politiker der Welt im westlichen Sinn gefällig rekapituliert. Ebenso ist es kein weiterer Band aus der Reihe der höfischen „Biographica Putiniana“.8 Ganz im Gegenteil. Belkowski hat eine selbständige und sehr eigenwillige Analyse mit dem Anliegen vorgelegt, geläufige Mythen und Legenden über Putin zu widerlegen, die sich im Lauf seiner 14-jährigen Amtszeit im Westen angesammelt und gefestigt haben. Aber sind seine Behauptungen auch zutreffend und richtig ? So räumt Belkowski gleich zu Beginn mit der Vorstellung auf, Putin sei in Russland populär und belegt diese Meinung mit einer brisanten Episode. Als Putin – in Russland kurz WWP genannt – am 7. Mai 2012 zum dritten Mal ins Amt des Staatspräsidenten eingeführt wurde, fuhr er in seinem 3 S. http://de.ria.ru/politics/20131226/267551296.html. Zu den aktuellen Umfragewerte im März/April 204 s. http://de.ria.ru/zeitungen/20140403/268198076.html. 5 Orthographie des Namens gemäss Buch. 6 Zur Biographie Belkowskis gibt es widersprüchliche Angaben bezügl. ethn. Herkunft, Geburtsjahr, Geburtsort, Eltern und Berufskarriere, vgl. unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Stanislaw_Alexandrowitsch_Belkowski, http://ru.wikipedia.org/wiki/Белковский,_Станислав_Александрович, http://www.ladno.ru/person/belkovskii/bio und http://www.apn-nn.ru/author_s/43.html. 7 Nicht zu übersehen sind im Westen die Publika, die von Putin fasziniert sind und dem Westen vorwerfen, selbst korrupt zu sein und doppelzüngig zu argumentieren. 8 Wie eine solche ausgerechnet etwa ein ehemaliger Sowjetdissident wie Roy Medvedev verfasst hat. 4 2 majestätischen Konvoi durch ein gespenstisch anmutendes menschenleeres Moskauer Zentrum zum Kreml, in dem vor der versammelten Crème de la crème Russlands ein glanzvoller Staatsakt stattfand. Zwar wurde die Fahrtroute Putins links und rechts von der Polizei abgesperrt, dennoch liess sich auch so auf den Strassen der Hauptstadt kein einziger Mensch blicken, der dem Präsidenten zugejubelt oder zugewinkt hätte. War dies von Putin so gewollt oder war es ein Ausdruck des passiven Widerstands der Ungehorsamen gewesen, war es gar die Rache der Moskauer Wutbürger für die Unterdrückung der Demos im vergangenen Jahr ? Die Abwesenheit der Zaungäste sei jedenfalls symptomatisch für die Situation, in der sich WWP zur Zeit befinde. Die sogenannte ausserparlamentarische Opposition, die sich vor allem aus dem Bildungsbürgertum rekrutiert, nehme Putin nicht mehr an und arbeite auf den Zusammenbruch des Putinsystems hin, so Belkowskis These. Es sei alles nur eine Frage der Zeit, schreibt der engagierte Autor, der sich selbst zur alten Opposition zählt, zweckoptimistisch. Als noch Dmitrij Medvedev Staatschef Russlands gewesen war, habe es eine Chance für eine zweite Perestrojka mit der Aussicht auf sinnvolle Reformen gegeben, ist Belkowski überzeugt. Aber als ad interims-Präsident von Putins Gnaden schien Medvedev über herzlich wenig persönliche Macht verfügt zu haben. Auch als ausgetauschter Premier blieb Putin der starke Mann Russlands. Ausserdem seien Putin die hehren Absichten seines Platzhalters ein Dorn im Auge gewesen, und weil er diese Reformen verhindern wollte, habe er sich nach der berühmt-berüchtigten Rochade vom September 2011 ein drittes Mal zum Präsidenten wählen lassen. Die Opposition, d.h. das Bildungsbürgertum habe diese Farce erzürnt, und es sei deswegen massenhaft auf die Strasse gegangen, um den Verlust des Glaubens an Putin lautstark zu bekunden. Als Präsident habe Putin die Schrauben wieder angezogen. Die halbe Welt regte sich wegen der Unterdrückung der Zivilgesellschaft in Russland förmlich auf. Mit Alexej Naval´nyj sei die Bühne der Oppositionshelden neu bestückt worden. Was Russland brauche, sei aber kein neuer Führer, sondern eine normale parlamentarische Demokratie nach europäischem Muster. Im Übrigen sei es sinnlos, die heutige Opposition in Russland zu unterstützen, da sie weniger die Staatsmacht, als vielmehr sich intern bekämpfe. Immerhin traut Belkowski Naval´nyj zu, eine neue Perestrojka einzuleiten, sofern er von seinen Feinden nicht vorzeitig „vernichtet“ wird. Der Galerist Marat Gel´man denkt, dass Naval´ny keine echte Alternative zu Putin ist, da er ihm zu sehr ähnelt, obwohl er sein Gegner ist.9 Die offizielle Version, nach der Putin am 7. Oktober 1952 in Leningrad geboren wurde, sei möglicherweise eine Geschichtsfälschung. Denn einige Historiker oder Journalisten halten die als heldenhaft verkaufte Story des tragischen Schicksals der Putinfamilie mit der Leningrader Blockade für zurechtgebogen. So gibt es daneben das ziemlich böswillige Gerücht, das besagt, dass Putin zwei Jahre früher in einem kleinen, heute ausgestorbenen Dorf im Gebiet Perm´ auf die Welt kam, dass sein echter Vater ein hoffnungsloser Alkoholiker und Bigamist gewesen sei und dass seine Mutter die Familie bald in Richtung Georgien verlassen habe. Der neue Ehemann, ein gewisser Osipaschwili, habe sich geweigert, Putin als Sohn zu anerkennen. So sei Putin halt als Waise aufgewachsen und zur Adoption nach Leningrad gebracht worden. Mit Hilfe dieser wohl erfundenen Geschichte wollten in Russland einige Deuter das grimmige, argwöhnische und verschlossene Wesen Putins, seine glühende antigeorgische Stimmung und sein Interesse für Waisenkinder erklären. Auch Putins KGB-Vergangenheit scheint viel Legenden- und Märchenhaftes zu enthalten. Was Putin zu DDR-Zeiten in Dresden genau getrieben hatte, ist bis heute nicht geklärt. War es nur ein langweiliger Bürojob gewesen oder hatte Putin eine bedeutendere Mission zu erfüllen ?10 Sein Geheimnis wird der verschwiegene Ex-Geheimdienstler Putin wohl niemals preisgeben. Auf jeden Fall spielte in diesem Lebensabschnitt Putins die Bekanntschaft mit Matthias Warner eine Rolle. Dieser ehemalige StasiMitarbeiter machte nach der Wende im deutsch-russischen Bankensektor und im Gasgeschäft schnell Karriere und wurde eine Schlüsselfigur für Putin, und als dieser Präsident Russlands wurde, er für ihn. Belkowskis Fazit der KGB-Vergangenheit Putins lautet entgegen der Manie des Westens, Putin als einen waschechten Tschekisten zu sehen, wie folgt: Als der Kommunismus in Russland fiel, habe Putin in Wahrheit als eigentlicher Totengräber des echten sowjetischen Geheimdienstes gewirkt. Wer dies als 9 Gemäss http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=41410, Min. 31´45. Zu welchen Erkenntnissen Boris Reitschuster diesbezüglich gekommen ist, s. http://www.zeit.de/2013/52/wladimir-putin-kgbagent-ddr (russ. http://www.ladno.ru/interview/24127.html). Noch genauer wurden die Funktionen Putins als KGB-Agent in Dresden von Eberhard Fleischmann in Das Phänomen Putin, Leipzig 2010, S. 8f., beschrieben. 10 3 Tatsache verkennt, könne „weder Putins Vergangenheit noch seine Gegenwart und Zukunft angemessen analysieren“. Auch darüber, was der in Leningrad bzw. Sankt Petersburg gestrandete Putin ausser seines offiziellen Jobs bei Bürgermeister Sobtschak in der lokalen Unterwelt genau verbrochen hat, gibt es nur wilde Vermutungen. Marina Sal´je, die Belkowski nicht erwähnt, wollte einen Korruptionssumpf aufgedeckt haben, in den Putin angeblich verwickelt war. Aus Furcht vor Vergeltung musste sie sich deswegen in die Provinz flüchten. In Putins Datscha, die unter mysteriösen Umständen abbrannte, seien Millionen von Dollars versteckt worden. Die Abwahl Sobtschaks und ein schwerer Autounfall seiner Ehefrau Ljudmila sowie ein gescheitertes Intermezzo an der Universität liessen Putins Leningrader Zeit im Desaster enden. Anstatt sich eine Kugel zu geben, wie Belkowski sich sarkastisch ausdrückt, oder Taxifahrer zu werden, beschloss Putin nach Moskau zu gehen, um in der Hauptstadt ein neues Leben anzufangen. Dort fand Putin durch die Vermittlung des Politikers und Unternehmers Anatolij Tschubais den Zugang zum Kreml, wo er bei Borodin in der Verwaltung als stellvertretender Leiter der KremlLiegenschaftsverwaltung rasch aufsteigen konnte. Dann wurde er zum Direktor des Geheimdienstes FSB und zum Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation ernannt, schliesslich wurde er Ministerpräsident. Wäre also Sobtschak Bürgermeister von Sankt Petersburg geblieben, hätte Putin die Stadt wohl nicht verlassen und seine Karriere wäre wahrscheinlich ganz anders verlaufen. Mit anderen Worten: Es gäbe heute mit Sicherheit keinen Präsidenten Putin. Mit oder ohne Boris Jelcyn. Aber es zeichnete sich Folgendes klar ab: Ein Teil der alten KGB-Eliten sollten auch die führenden Eliten des neuen Russland werden. Etwa so wie die alten Nazis einen Teil der Eliten der frühen BRD (und teilweise DDR) bildeten. Wie aber war es möglich, dass ein Looser, ein Taugenichts, ein Nobody wie Putin Präsident Russlands werden konnte ? Diese Frage, dieses Rätsel, dieses Phänomenon beschäftigt noch heute alle, die sich mit Putin und dem „neuen“ Russland beschäftigen. Der Spiegel monierte seinerzeit einen Überraschungscoup und spekulierte, dass es sich um einen von langer Hand geplanten Staatsstreich der Sicherheitsorgane oder um einen perfiden Deal handeln könnte.11 Diese Interpretation schien voreilig und übertrieben, denn die Antwort ist scheinbar einfacher: Jelcyn suchte einen geeigneten Nachfolger, der in der Lage war, zwei Hauptbedingungen zu erfüllen: Er sollte das (anti-sowjetische) Erbe Jelcyns fortsetzen; der extrem eitle erste Präsident Russlands fühlte sich als dankenswerter Held der Geschichte, der den Kommunismus in Russland abgeschafft hatte. Zweitens sollte sein Nachfolger Garant dafür sein, dass die „Familie Jelcyn“ vor Strafverfolgung bewahrt bleibt. Die 1990er gingen als das kriminelle Jahrzehnt Russlands in die Geschichte ein und sein Architekt war ausgerechnet Jelcyn gewesen. Im Westen wurde der Verdacht publik, die Jelcyn-Familie sei in die internationale Geldwäsche verwickelt.12 Der dritte Grund, wieso sich Jelcyn für Putin entschied, war mit der Tschetschenienfrage verbunden, denn Putin erwies sich als einer der wenigen entschlossenen Politiker, das Problem ohne Hemmung mit militärischen Mitteln zu lösen. In der Serie der zahlreichen potentiellen Kandidaten, die wieder anstandslos fallengelassen wurden, habe Jelcyn WWP auserwählt, der als ausserordentlich zuverlässig, loyal, verschwiegen und entschlossen galt und dem idealen Nachfolge-Anforderungsprofil am besten entsprach. Wie weit die „menschliche Nähe“ zwischen Putin und Jelcyn, ja inwiefern die ´Vater-Sohn´-Beziehung zwischen den beiden eine Rolle spielte, sei dahingestellt. Putin wird nachgesagt, dass er von Jelcyn als netter und sympathischer Kerl wahrgenommen und geschätzt wurde. Und so war wie geplant eine der ersten Amtshandlungen des neuen Präsidenten, Jelcyn und seiner Familie per Dekret ewige Straffreiheit für ihre Handlungen zuzusichern. Die Familie konnte sich bis heute darauf verlassen. Unter diesen Umständen wurde Putin also neuer Präsident Russlands und nicht Tschernomyrdin, Primakov, Kirienko, Stepaschin, Kasjanov oder gar Boris Berezovskij, der vorübergehend die einflussreiche Rolle des „Paten des Kreml“ spielte,13 sich dann aber von Putin distanzierte und von diesem ins Exil nach England gedrängt wurde (wo er im letzten Jahr durch Suizid verstarb). Putin habe sich aber nie aktiv um die Nachfolge Jelcyns bemüht, lässt Belkowski verlauten, sondern sei lediglich einverstanden 11 S. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-15376087.html. Dazu s. http://www.spiegel.de/politik/ausland/korruptionsskandal-jelzin-vermutlich-in-geldwaesche-verwickelt-a58333.html, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13981242.html, http://www.spiegel.de/politik/ausland/geldwaesche-exjelzin-berater-borodin-verhaftet-a-112863.html. 13 S. Paul Klebnikow: Der Pate des Kreml. Boris Beresowski und die Macht der Oligarchen. München 2001. 12 4 gewesen, dessen Nachfolge anzutreten, um sein Erbe weiterzuführen und den Zerfall Russlands als Einheitsstaat zu verhindern. Auch als Staatsmann habe Putin oft auf verschiedene Art gezeigt, dass er eigentlich gar keine Lust am Regieren hat, sondern sein Amt lediglich als patriotische Pflichterfüllung auffasst. Putin kann sicher auch als eine (notwendige?) Reaktion auf die chaotischen Zustände der 1990er Jahre verstanden werden, als Moskau und Teile Russlands nach der Aufhebung des gescheiterten Sozialismus einen beispiellosen Niedergang erlebten und praktisch meist nur noch von amnestierten Gangstern, der kaukasischen Mafia und von den neuen Oligarchen kontrolliert wurden und damit riskierten, vollends in der Welt des organisierten Verbrechens und im gigantischen Korruptionssumpf unterzugehen. Gaidar und seine „jungen Reformer“ trieben das Land mit einer fragwürdigen Liberalisierung der Wirtschaft in ein noch grösseres Elend, von dem man sich ausserhalb Russlands kaum eine reale Vorstellung machte. Eine echte Hungersnot drohte. Millionen von verarmten und erkrankten Menschen sollen einen vorzeitigen Tod erlitten haben, schrieb Paul Klebnikov, und die Bevölkerungszahl Russlands begann drastisch zu schrumpfen. Russland fiel in jeder Beziehung auf das Niveau von hoffnungslosen Drittweltstaaten wie Indien oder Peru zurück. Irgend jemand musste diese unheilvolle Entwicklung stoppen und die Ordnung im Staat wiederherstellen. Die Ordnung wurde zwar zugunsten der „Stabilität“ wiederhergestellt, aber zu einem hohen, vielleicht zu hohen Preis für die Meinungsfreiheit und die Demokratie, die unter Putin à la russe praktisch ausgeschaltet und durch eine Pseudodemokratie, schönfärberisch und sinnentstellt „gelenkte Demokratie“ genannt, ersetzt wurde. Wobei als Rechtfertigung für den russischen Sonderweg auf die eigene spezielle Entwicklungsgeschichte verwiesen wurde. Hinter dieser ganzen Potjomkinschen Fassade verbirgt sich freilich die schnöde und längst durchschaute Absicht Putins, das Land mit einer Einparteienherrschaft à la KPdSU zu regieren, wobei eine abgehobene und von jeglicher demokratischen Kontrolle befreite Clique von machthungrigen Berufspolitikern und gewieften Geschäftsleuten, die die Gunst der Stunde erblickten, die Ressourcen kontrollieren will. Das Volk hat dabei nicht viel zu sagen und verhält sich dabei passiv und gleichgültig wie eh und je. Viele, meist ´konservative´ Russinnen und Russen, scheinen Putin, den sie als Helden betrachten, unendlich dankbar zu sein, dass er das Land als „nationaler Führer“ lenkt und leitet. Denn es könnte in Russland alles schlimmer sein. Die Ansprüche und Erwartungen an das Leben sind in Russland denkbar tief, das Volk vegetiert in gewohnter Apathie und dem unabänderlichen Schicksal ausgeliefert dahin. Heutzutage sind zwar die Läden randvoll mit importierten Waren, aber das ist auch schon alles, was der Russe als bescheidener Luxus zur Verfügung hat, falls er sich dies überhaupt leisten kann. So herrschen unter Putin nun, könnte man ironisch hinzufügen, fast die gleichen Zustände wie in Woinowitschs wunderbarem Fictionroman „Moskau 2042“, nur ist die eigentliche Realität in Putins Russland um einiges trostloser und brutaler als sie sich im „Palast der Liebe“ von Genialissimus´ Moskorep präsentiert. Putins Regierungsauftrag ironisiert Belkowski zusammenfassend wie folgt: „Putin erbaut nichts und weist keinen Weg. Seine selbstgenügsame Überidee heisst Stabilität. Mit Russland ist (aus oben genannten Gründen) sowieso nichts anzufangen. Und wenn ich schon durch die Ironie des postsowjetischen Schicksals an der Macht bin, räsoniert WWF, ist das Einzige, was ich erreichen kann, dass nichts kaputtgeht. Das ist es, was ich tue. Wenn jemand es besser kann, dann soll er ans Werk gehen. Aber das kann niemand, denn ich bin von Gaunern und Schwindlern, von Alkoholikern und Tagedieben umgeben, zum Kuckuck mit ihnen.“ Putin sei ein Politiker, der innerhalb der gegebenen Umstände agiert. Während einige Kritiker Putin im gleichen Zug mit Ivan IV., Nikolaus I., Alexander III. und Stalin aufzählen, tendiert Belkowski dazu, ihn mit Peter dem Grossen zu vergleichen, um diesen Vergleich natürlich sogleich wieder zu relativieren, denn Peter hatte grossartige Pläne und Ambitionen, die Putin komplett fehlten. Nach Belkowskis Definition ist Putin also kein Schizophrener (wie Boris Berezovskij einer gewesen sein soll), sondern ein Paranoiker, und er erklärt plausibel warum. Putin sei auch kein Mörder noch sei er ein blutrünstiger Tyrann, ein machthungriger Diktator oder ein hemmungsloser Despot, wie er von seinen Kritikern, Gegnern und Feinden gerne verteufelt wird. Er sei nicht einmal eine Führungsperson, aber umso mehr ein starkes Markenzeichen, ein Symbol für das aktuelle politische System in Russland. Diese Funktion erfülle Putin „zufriedenstellend“: der eine sichere sich mit dessen Hilfe seine Milliardenkredite, der andere rechtfertige damit seinen Werdegang zum Oppositionellen. Das Markenzeichen „Putin“ sei aber nicht mehr zeitgemäss, meint Belkowski. Daher müsse er weg. Seine Möglichkeiten als Mensch sollten ebenfalls nicht überschätzt werden, denn in einem 5 Land, das von einer „so grossen Zahl leichtfertiger Hände gelenkt“ wird, könne auch ein Typ wie Putin im Endeffekt wenig ausrichten. Putin denke schlecht über die Russen. Seine Russophobie ist aber nicht etwa rassistisch zu begründen, sondern hat einen anderen, sehr interessanten Hintergrund, mit Wurzeln in der DDR. Dort sei der Leningrader KGB-Büttel erstmals von „realen Deutschen“ beeindruckt worden, die er – wohl im Vergleich mit den Russen – als mündige Bürger und effiziente Werktätige wahrgenommen habe, die auch „ohne vorgehaltenen Gewehrlauf arbeiten“ konnten. In Deutschland, auch wenn es nur das östliche war, sei Putin zur Schlussfolgerung gelangt, dass die Macht deutsch sein müsse. Im Unterschied zu anderen Völkern seien die Russen als Maschinen zu betrachten, die nur Probleme generierten, ohne Lösungen zu finden, gibt Belkowski zu bedenken. Der Russe sei ein Teil der Kraft, die stets nach dem Guten strebe, wobei letztlich doch alles beim Alten bleibe. Putins Aufgabe als Präsident bestünde nicht darin, das russische Volk zu mobilisieren, sondern es zu schwächen, damit es sich nicht erhebt, denn den Russen trauten ´verantwortliche Politiker´ wie Putin kein „freies Manövriergelände“ zu. Die weiteren Kapitel drehen sich um die imaginären und realen Feinde Putins, um Michail Chodorkovskij und um Tschetschenien. Letztere seien zwar unmittelbar mit Putins politischem Schicksal verknüpft, der Architekt der beiden Tschetschenienkriege sei aber unwiderlegbar Jelcyn gewesen, obwohl Putin dann in Tschetschenien rigoros durchgriff, um die dortigen „Terroristen“ zu „liquidieren“. Tschetschenien, Dagestan, Beslan und die Gefahr des internationalen Terrorismus, der Russland unmittelbar bedrohte, bildeten in der Folge einen Hauptvorwand für Putin, um Russland mit harter Hand zu regieren. Der wahre Sinn des Zweiten Tschetschenienkrieges habe darin bestanden, dass die den Angriff leitenden Generäle der sowjetisch-russischen Armee Kazancev, Troschev und Schamanov davon überzeugt gewesen seien, dass dieser Krieg eine Sache der Ehrenbezeugung gegenüber dem künftigen Präsidenten Russlands darstellt, der den Streitkräften ihre frühere Autorität zurückgeben werde. Ausserdem hätten sie in Putin einen Herrscher gesehen, unter dem sich Russland „von den Knien erheben“ werde. Die drei genannten hitzköpfigen Heldengeneräle sind danach ähnlich wie damals General Lebed´ in unterschiedlicher Weise tragisch gescheitert und von der Bildfläche endgültig verschwunden. Aus den beiden Tschetschenienkriegen, bei denen schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen wurden, sind vor allem Putin und Ramzan Kadyrov, der jetzt über seine kleine tschetschenische Bergrepublik gebietet, als Sieger hervorgegangen. Über Hunderttausend Menschen sollen während den beiden vom Kreml geführten Tschetschenienkriegen ums Leben gekommen sein. Anna Politkovskaja arbeitete das Drama journalistisch auf und musste dafür sterben – übrigens, wie man sich vielleicht noch erinnert, ausgerechnet an Putins Geburtstag! Der routinierte Berufszyniker zeigte kein Erbarmen mit der ermordeten Frau und liess statt dessen nur respektlose Sprüche fallen, als ihr Tod bekannt gegeben wurde.14 Abschliessend äussert sich Belkowski zur Tschetschenienfrage so, dass er es für Russland als vorteilhafter hält, wenn die islamischen Republiken des Nordkaukasus die Föderation verlassen würden, denn sie bescherten Moskau eigentlich nur Probleme. Putins Kollisionen mit dem Westen seien auf ein gravierendes kulturelles Missverständnis zurückzuführen. In seiner ursprünglichen Einschätzung, der Westen sei „anständig“ und werde ihn und Russland vor überquellender Liebe an sein Herz drücken, sei Putin einem grundlegenden Irrtum unterlegen. Der Riss habe sich vergrössert, als Putin feststellte, dass der Westen auf dem Planeten, etwa im Irak, eigenmächtig vorgeht, ohne die Standpunkte und Interessen Moskaus zu berücksichtigen. Diese Einsicht habe sein Bild vom Westen grundsätzlich revidieren lassen. Auch die Einmischungsversuche des Westens im postsowjetischen Raum und dessen Unterstützung der dortigen Revolutionen gegen Russland habe ihn schwer getroffen. Aber warum bemüht sich Putin, Randgebiete wie Tschetschenien, Dagestan, Ukraine, Belarus usw., die sich de facto und de iure als selbständige Staatswesen etabliert haben, mit Händen und Füssen festzuhalten, obwohl ihm die dortigen Bevölkerungen doch egal sind ? Trotz seines konspirativen und konservativen Denkens sei und bleibe Putin strategisch aber ein Westler (im Gegensatz zum Altkommunisten Jelcyn, der zwar die KP verbot), obwohl seine Taktik nicht immer dem westlichem Stil entspreche. Um die lebenswichtigen Interessen der russischen Elite zu bewahren, müsse Putin mit 14 S. http://www.spiegel.de/jahreschronik/a-453179.html und http://www.salzburg.com/nachrichten/welt/politik/sn/artikel/wiewladimir-putin-seine-kritiker-mundtot-macht-77283. 6 dem Westen befreundet bleiben und sich mit ihm versöhnen. Dem westlichen Denken, d.h. den westlichen politischen Eliten und der westlichen Demokratie unterstellt Belkowski Trägheit. Die westliche Vorstellung, Putin trachte danach, das Sowjetimperium wiederherzustellen, sei falsch und absurd. Vieles würde dem widersprechen. Die GUS sei ein fiktives Gebilde geblieben und kein Ersatz für die Sowjetunion geworden, das Gerede von Eurasien sei nur ein Propagandagag und die Zollunion mit Belarus und Kasachstan diene auch nicht dazu, die Sowjetunion in Teilen wiederherzurichten.15 Ausserdem befinde sich Putin in ständigem Konflikt mit den winzigen Pseudo„Protektoraten“ Transnistrien, Abchasien und Südossetien, wo der Kreml nur über wenig Einfluss verfüge. Putin habe im Grunde gar kein Interesse an der Wiederherstellung des Sowjetimperiums. Das Gegenteil sei der Fall: er habe die letzten verbleibenden Konstruktionen dieses Imperiums nachhaltig zerstört und seine Wiederherstellung verunmöglicht, trotz der Benutzung einer gewissen Symbolik und Emblematik, die an die Zeiten der Sowjetunion erinnerten. Statt Putins wechselnde Laune zu verderben und seinen wachsenden Zorn über den Westen zu reizen rät Belkowski denjenigen, die sinnlose Mythen und Märchen über Putin verbreiten, besser vom Gespür der pragmatischen Zusammenarbeit geleitet zu werden. Wer lerne, Putin richtig zu verstehen, dem werde auch sein Vertrauen zuteil werden. Danke für den Tipp! Eigentlich sei Putin weder ein richtiger Politiker noch ein Imperialist oder ein Ideologe, denn dafür fehle ihm einfach das Talent für Diplomatie und das Interesse an geostrategischen Überlegungen. Putin interessiere sich auch nicht wirklich für die Auslandsrussen in Turkmenien oder im Baltikum, deren Schicksal ihm doch völlig egal sei. Putin sei nichts anderes als ein hundsgewöhnlicher aber erfolgreicher, ja sogar genialer Geschäftsmann mit einem Flair für grosse Geschäfte im Offshore-Bereich, die hohe Gewinne abwerfen. Er sei ein Lobbyist mit Talent, der die Interessen wichtiger russischer Unternehmer, die seinen Interessen zudienen und nützen, geschickt zu koordinieren wisse. Unter Putin seien die seinerzeit zum Spottpreis verhökerten Staatsunternehmen zurückgekauft worden, und zwar maximal teuer (ob dies mit rechten Dingen zuging? – es riecht nach immenser Korruption). Ein Grossteil dieser Einnahmen – es handelt sich um 50-70 Milliarden – seien auf Privatkonten ins Ausland verschoben worden, während der Normalverbraucher in Russland die „Schulden“ zu tilgen habe. Nach dem Reichtum Putins gefragt, dürfte 2007 der Wert der aktiven Beteiligungen, die Putin bei verschiedenen Rohstoffgiganten wie Gazprom, Surgutneftegas oder Gunvor besitzt, um die 40 Milliarden betragen haben. Während der Finanzkrise sei der Wert dieser Papiere ein wenig gesunken, um danach erneut auf etwa 60 Milliarden anzusteigen. Da die Besitzverhältnisse in diesen Firmen höchst undurchsichtig seien und durch die Existenz von allerlei „gemeinnützigen Organisationen“ und „nichtstaatlichen Rentefonds“ verschleiert würden, sei es praktisch für niemanden möglich, eine klare Übersicht über ihre Eigentümerstrukturen zu erhalten. Und die russische Justiz hat keinerlei Interesse, diese Machenschaften aufzudecken. Die wichtigsten Partner Putins bei diesen hochlukrativen Geschäften seien neben den heimischen Oligarchen selbst auch einige unverzichtbare Akteure wie der pittoreske Turkmenbaschi zu Aschchabad (der die Russen in seinem Land verfolgen lässt), die Regierungen in Kiev, Minsk, Alma-Aty und Baku, aber auch einige schillernde Politiker und Geschäftsleute Westeuropas, die durch die „Freundschaft“ mit WWP kräftig mitverdienen sollten – die Rede ist vor allem von Gerhard Schröder16 und Silvio Berlusconi. Da Putin selbst ein tüchtiger Geschäftsmann sei, verstehe er auch das ganze Wesen und die Wirklichkeit der Korruptions- und Erpressungspraxis besser als andere, die nur Politiker sind. Wirkliche Feinde habe Putin nicht. Sein einziger, ernst zu nehmender Kontrahent sei allein Michail Chodorkovskij gewesen, der das parallele Jukos-Imperium errichtete. Bei diesem bestand die akute Gefahr, dass es samt Ölfelder an die Amerikaner verkauft werden könnte, was Putin verhindern wollte. Mit der Verhaftung dieses Wirtschaftskonkurrenten vor über zehn Jahren und der Zerschlagung seines gewaltigen Konzerns schien Putin auch sein Nebenbuhlerproblem erfolgreich gelöst zu haben. Im Gegensatz zu Putin sei Chodorkovskij in Russland nicht sehr populär. Man sollte aus ihm also keinen systemfeindlichen Revolutionär machen, der das träge Volk zum Sturm auf den Kreml bewegen kann. Auch sollte man ihn weder mit Nelson Mandela17 noch mit Julija Timoschenko vergleichen. In den zehn 15 Vgl. die Analyse von http://expert.ru/2014/01/6/god-takticheskih-pobed. Kritische Anmerkung zu Schröders Russland-Engagement s. unter http://www.focus.de/politik/deutschland/neuerjob_aid_106815.html. 17 S. auch http://www.20min.ch/schweiz/news/story/26833575. 16 7 Jahren seiner Haftzeit habe Chodorkovskij jedoch uns allen eine unschätzbare Lektion in Sachen Tapferkeit, Moral und Würde erteilt. Dass Chodorkovskij im Dezember 2013 von Putin vorzeitig begnadigt wurde und Anfang Januar 2014 Russland verlassen durfte, konnte niemand voraussehen und in Belkowskis Buch nicht mehr besprochen werden. Etwas später konnte Chodorkovskijs ehemaliger Geschäftspartner Platon Lebedev ebenfalls das unmenschliche Straflager in Nordrussland verlassen. Für Putin schien die Gefahr vorüber, als ihm solche Leute seine Sache vermasseln konnten. Chodorkovskij hat angekündigt, sich dem Schicksal der politischen Gefangenen in seiner Heimat widmen zu wollen. Drei Kapitel sind noch Putins Privatleben gewidmet, so der krisenhaften Beziehung zu seiner Frau Ljudmila, von der Putin inzwischen geschieden ist, und der amourösen Affäre mit einer schönen russischen Sportlerin namens Alina Kabaeva, die ein Kind mit Putins Vaterschaft geboren haben soll (das Gerücht wurde von Putins Seite dementiert). Die Gesundheit Putins soll nach der Einschätzung von Beobachtern angeschlagen und instabil sein; von Krebs, Rückenleiden und einem Schlaganfall war die Rede – wahrscheinlich alles plumpe Versuche, um Putin zu diskreditieren. Eine Analyse des persönlichen Verhaltens Putins zu gewissen Personen und Themen habe ergeben, dass der Mann vermutlich ein „closet gay“ sei, d.h. „latent schwul“ sein müsse. Auch dies ist sicher eine unzulässige Unterstellung von Leuten, die Putin in Verruf bringen möchten. Jedenfalls sei Putin ein äusserst einsamer Mensch, der oft die Nähe zur Natur suche und den Kontakt mit Tieren vorziehe. Mag sein. Aber was ist schon Schlimmes daran ? Putins Russland prophezeit Belkowski den baldigen Zusammenbruch, und zwar aus folgenden Gründen. Die Putin-Wirtschaft (genannt Oeconomia putiniana) habe in Russland keine nachhaltigen Werte geschaffen, sondern lediglich das Sowjeterbe verwaltet, und die an dieser Wirtschaft beteiligten Leute hätten die Ressourcen Russlands gestohlen. Diese Wirtschaftsform halte sich nur durch konstante Geldverteilung, durch die Bewachung dieser Verteilung, durch Korruption und mit Megaprestigeprojekten (wie Sotschi und Fussball-WM) am Leben, während das Gros der zahlungsunfähigen Bevölkerung in den Städten und Kommunen verarme. Ob Putin dies alles bewusst ist, wagt Belkowski zu bezweifeln. Daher rät er dem russischen Präsidenten, so rasch wie möglich von der Bühne abzutreten. Denn dies sei die einzige Möglichkeit für ihn, weniger Verantwortung tragen zu müssen, wenn einmal der Zusammenbruch des skandalträchtigen Putinsystems Wirklichkeit geworden ist. Ist Putin gesamthaft gesehen also, wie Belkowski ihn einerseits zu bagatellisieren versucht ist, nur ein ´tragischer´ kleiner Held aus der russischen Literatur, eigentlich ein recht harmloser Mensch, den die Laune der Geschichte hervorgebracht hat, als sie es tun musste ? Oder ist er doch der kaltblütige, raubeinige, skrupellose Grossmachtmacho, also ein Zögling der alten machiavellistischen Schule, den in Zeiten des globalisierten Raubtierkapitalismus nur die persönliche monetäre Bereicherungssucht von den früheren Sowjetführern unterscheidet ? Noch nie wurde über das Wesen und die Beweggründe eines Staatsmannes der jüngeren Vergangenheit wie Putin derart spekuliert. Ob das „Rätsel Putin“ also jemals gelöst werden kann, ist fraglich, denn es hängen zu viele Fragen mit seiner Lösung zusammen. Auch wenn man mit Putin wahrscheinlich noch längere Zeit als Präsident Russlands zu rechnen hat, ist man im Westen und wohl auch in Russland selbst des Themas schon längst überdrüssig; eigentlich interessiert den Russland-Beobachter nur noch die Frage der Nachfolge Putins und wie es mit Russland nach Putin weitergehen soll. Solange das Riesenreich über Atomwaffen verfügt, müssen die Kernfragen bei bleibendem Interesse für andere Aspekte Russlands wie folgt lauten: Verfügt Putin im Falle eines antiwestlichen Amoklaufs überhaupt über die Macht, den Atombombenknopf auszulösen ? Wie gefährlich sind Putin und Russland also für die Welt wirklich, auch was das internationale organisierte Verbrechen anbelangt ? Putins Militärübungen und Raketenverschiebungen an der Westgrenze haben im Westen ein gewisses Aufsehen erregt. Diese plumpen Einschüchterungsversuche des Kremls sollten auf jeden Fall ernst genommen werden. Putins sorglose Arroganz ist im Westen denkbar schlecht angekommen, ebenfalls seine strategische Partnerschaft mit diversen „Schurkenstaaten“ des Nahen und Mittleren Ostens. Dabei ist auch die Frage zu stellen, wie der Westen zu reagieren hat. Die Meinungen sind gespalten. Während die Hardliner der Ansicht sind, dass man auf Russland mehr Druck ausüben sollte, haben Diplomaten dazu aufgerufen, mehr Geduld mit Russland und seiner demokratischen Entwicklung an den Tag zu legen. Die Frage, welche Popularität Putin in seinem Land tatsächlich geniesst, ist schwer zu beantworten bzw. zu beurteilen. Auf russische Umfragen ist wenig Verlass, zumal in einem undemokratischen Land wie Russland skrupellos alles ohne Ausnahme politisch manipulierbar und 8 statistisch zu fälschen; aus Angst vor Repression belieben die Befragten in Russland nicht immer authentische und ehrliche Antworten zu geben und ziehen es vor, der gerade aktuellen und gültigen offiziellen ´Wahrheit´ der Behörden zu folgen. Zwar verabscheuen die Russen ihre Politiker gewöhnlich, da sie sie für Banditen, Lügner und Betrüger halten, gleichzeitig scheint die zentrale Macht ohne sie zu hinterfragen von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung unterstützt zu werden. Diese paradoxe Konstellation ist eine Besonderheit der politischen Kultur Russlands, die im Westen niemand versteht, nicht einmal die (selbsternannten) Russland-Experten. Daraus erwachsen schwerwiegende Missverständnisse, Vorurteile, Ablehnung und Verurteilung, auf beiden Seiten. Die Erkenntnis, dass Putin für Russland gut sei, selbst wenn er es ist oder wäre, ist ein Mythos. Die Meinung, dass er für das Land nicht gut sei und die Forderung, dass er weg müsse, gibt es ja schon lange. Auch Gorbatschow hat sich in diesem Sinne geäussert. In dieser Hinsicht ist die Russennation gespalten. Viele Russen hoffen aber, dass Putin noch lange die Geschicke Russlands leitet. Mit Sicherheit droht Russland eine neue Stagnation. Um dieser Option vorzubeugen, wäre Russland gut beraten, zuerst einmal aus der Putin-Hypnose zu erwachen. Vielversprechende Ansätze hat es in Moskau und anderswo gegeben. Leider wurden die Träume von einem Russland ohne Putin – von Putin! – wieder zerstört. Der Fall Putin (wie schon der Fall Gorbatschow und der Fall Jelcyn) zeigt die ganze Tragweite der Tragik Russlands eindrücklich auf. Belkowski, wohl selbst nicht ganz vor Ironie und Zynismus eines russischen Intellektuellen gefeit, bleibt seinen Lesern aber eine Antwort auf zahlreiche offene Fragen schuldig. Achtung: Einige Aussagen und Thesen Belkowskis mögen als plausibel erscheinen. Viele seiner Behauptungen und Schlussfolgerungen sind aber nur mit grosser Vorsicht zu geniessen, da sie sich auch als falsch erweisen könnten. Russland-Anfänger sollten daher nicht unbedingt zu seinem Buch als verbindlichem Lehrmittel greifen. © www.osteuropa.ch, Februar 2014. Diese Besprechung entstand vor der illegalen Annexion der Krim durch Russland im März 2014. 9