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ELLA SIMON
Ein Gefühl
wie warmer Sommerregen
Buch
Alis Rivers hat endlich so etwas wie Glück gefunden. Sie liebt ihren Job
bei der südwalisischen Seenotrettung in Tenby – das Gefühl der Freiheit, das sie nur verspürt, wenn sie auf einem Boot über die Wellen jagt.
Gleichzeitig gibt der gut aussehende, zuverlässige Matthew ihrem Leben
Beständigkeit. Dass der Beziehung etwas fehlt, merkt sie erst, als er ihr
einen Heiratsantrag macht. Und als Alis auf die ungeliebte Pferdefarm
ihrer Familie zurückkehren muss, um ihre kranke Mutter zu unterstützen, kann sie auch den Schatten ihrer Vergangenheit nicht länger aus
dem Weg gehen. Das Letzte, was sie da braucht, ist ein unverschämter, attraktiver Tierarzt, der sie völlig durcheinanderbringt. Doch Evan
wurde einst von Alis mit dem Rettungsboot aus dem Meer gefischt – er
verdankt ihr sein Leben. Und nun ist es an der Zeit, ihres zu retten …
Autorin
Ella Simon wuchs in einer Kleinstadt der Steiermark auf. Nach der Matura an der Handelsakademie arbeitete sie als Studentenbetreuerin in
einem internationalen College für Tourismus, ehe sie eine Familie gründete und ihre Leidenschaft, das Schreiben, zum Beruf machte. Ihre Liebe
zu Wales arbeitete sie bereits in ihre historischen Romane ein, die sie mit
großem Erfolg unter ihrem Klarnamen Sabrina Qunaj veröffentlicht.
Ella Simon
Ein Gefühl wie
warmer
Sommerregen
Roman
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Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich.
Verlagsgruppe Random House fsc® n001967
1. Auflage
Originalausgabe August 2016
Copyright © 2016 by Ella Simon
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: FinePic , München
MR · Herstellung: Str.
Satz: omnisatz GmbH, Berlin
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-442-48383-9
www.goldmann-verlag.de
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Für Klaudia
ein Tierarzt zum Verlieben für die verrückteste,
aber trotzdem beste Tierärztin
Kapitel 1
Ein Tierarzt und ein Schaf. Wenn das nicht der Stoff für Mär-
chen ist.« Alis ließ ihren Blick über das weite Grau des Meeres
schweifen, während das Küsten-Rettungsboot mit röhrendem
Motor den stärker werdenden Seegang bewältigte und über
Wellenkämme sprang. Es war ein ständiges Auf und Ab, ein
Steigen und Fallen, das sie nahe an das Gefühl eines Schleudertraumas brachte. Die See gab sich alle Mühe, sie zu verschlucken, und befände Alis sich das erste Mal auf solch einem Höllentrip, hätte sie wohl Angst bekommen.
»Da vorne sind sie!« Ihr Teamkollege Thomas hob den
Arm und streckte ihn in gerader Linie zu den Klippen. Er
kniete neben Alis im Bug des fünf Meter langen Schlauchboots, wo er das GPS auf dem Monitor überwachte und den
Funkkontakt zur Küstenwache hielt. Seine krausen roten Locken standen wild unter dem Helm hervor und wickelten sich
im Fahrtwind genauso wie der lange Vollbart um das Mikrofon seines Headsets. Er war ein kräftiger, etwas untersetzter
Mittvierziger, der auf den ersten Blick einen ziemlich wilden
Eindruck machte, aber Alis hatte ihn noch nie ein böses Wort
sagen hören. Dave, der Steuermann, bediente inzwischen das
Ruder im Heck und hatte keine Scheu, derb auf die Brandung
zu schimpfen. Dabei versuchte er wohl einen Rekord aufzustellen, denn seine Sätze bestanden fast ausschließlich aus
dem F-Wort. Alis konnte es ihm nicht verdenken, sie fluchte
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ebenfalls, als eine weitere Ladung Wasser sie begoss und sie
sich an der Halterung festklammern musste, um bei diesem
hohen Wellengang nicht über Bord zu gehen.
»Milford Haven Küstenwache, Milford Haven Küstenwache,
Tenby ILB hier. Wir haben sie gefunden und nähern uns«, hörte sie Thomas über den ohrenbetäubenden Lärm ins Funkgerät rufen. Oben auf den Klippen zwischen Lydstep Head
und Skrinkle Haven hatten sich ein paar Schaulustige entlang
des Küstenpfads versammelt, die sich als kleine dunkle Gestalten vor dem wolkenverhangenen Himmel abzeichneten.
Aufgeregt winkten sie und deuteten zur Absturzstelle. Vielleicht war auch der Bauer unter ihnen, der die Küstenwache
gerufen und dessen Schaf einen Tierarzt von den Klippen gestoßen hatte, nur um sogleich selbst hinterherzufallen. Die
beiden Verunglückten hatten einen Schutzengel gehabt, denn
sie waren dank der Flut ins Wasser gefallen, anstatt auf den
Felsen zu zerschellen. Auch hatten die Wellen sie in keine der
zahlreichen Höhlen gespült. Zumindest machten sie einen
ganz munteren Eindruck und hatten es geschafft, auf einen
den Klippen vorgelagerten Gesteinsblock zu klettern. Es war
ein seltsames Bild. Alis konnte es nur verschwommen erkennen; schäumendes Seewasser spritzte ihr entgegen und legte
sich aufs Visier ihres Helms. Trotzdem sah sie den Mann, eingehüllt in die Gischt der Brandung, der das Schaf umschlungen hielt.
»Ein Anblick, den man nicht alle Tage sieht!« Thomas warf
ihr mit hochgezogener Braue einen Blick zu. »Die Menschheit
wird immer verrückter!«
Sie lachten beide, vielleicht um sich von ihrem rasenden
Herzschlag und dem Wissen, dass die Zeit drängte, abzulenken. Alis wusste, dass Mann und Tier in Lebensgefahr wa~8~
ren, dass die Gezeiten gedreht hatten und die Ebbe wie verrückt zog, dass das Wasser hier von Minute zu Minute flacher
und somit die Brandung immer höher wurde. Die Strömungen wurden stärker, die Felsen waren rutschig, und das Schaf
würde nicht ewig so ruhig bleiben. Vermutlich stand es unter
Schock und kuschelte sich deshalb so willig an den Tierarzt.
Doch das laute Röhren des Motors, das Alis selbst unter dem
Helm wahrnahm, könnte es bald aufschrecken.
Alis war seit elf Jahren Crew-Mitglied der RNLI, und sie
kannte die Küsten von Südwales besser als ihren Kleiderschrank, der zugegebenermaßen eine recht überschaubare
Garderobe beherbergte. Daher wusste sie genauso wie die
anderen hier im Boot, dass es zu gefährlich war, näher an die
Felsen heranzufahren. Nicht bei diesem Wind und der derart
aufgewühlten See.
»Bleiben Sie, wo Sie sind, wir kommen zu Ihnen!« Alis warf
einen Blick auf die Seekarte am Monitor, wo sie die Strömungen ablesen konnte, und überprüfte, mit welcher Geschwindigkeit diese liefen. Schließlich richtete sie sich in der Enge
des schwankenden Boots auf und stellte einen Stiefel auf den
Rand, um sich zum Absprung bereitzumachen. Sie hielten
sich an der Stelle, wo die Brandung am stärksten war, Wellen
brachen über ihnen, hoben sie hoch und ließen sie wieder
fallen. Es war der einzige Ort, an dem sie hineinspringen und
zu dem Mann schwimmen konnte, denn das ruhige Wasser
an den Seiten dieser Klippen war trügerisch.
»Nur keine Heldentaten, Darling!« Thomas reichte ihr eine
Ersatzrettungsweste für den Tierarzt. Er musste schreien, um
sich bei diesem Wind Gehör zu verschaffen, und lehnte sich
dicht zu ihr. »Sichere den Mann, um das Schaf kümmern wir
uns danach.«
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Alis nickte, konzentrierte sich auf den richtigen Moment.
Der Motor erstarb, das Rauschen des Funkgerätes erklang –
irgendeine Nachricht kam von der Küstenwache durch –, und
Alis stieß sich ab, um in die vierzehn Grad kalten Fluten einzutauchen. Der Trockenanzug sollte sie einigermaßen vor der
Kälte schützen, und doch war es jedes Mal wieder eine Überwindung – zumal der Gedanke, gegen die Felsen geschleudert
zu werden, nicht gerade erbaulich war. Sie hielt den Atem an,
wartete darauf, die Wellen über sich zusammenschlagen zu
spüren, als jemand ihre Rettungsweste packte und sie mit einem Ruck zurück ins Boot zog. »Warte, Alis!«
Sie fiel zu Boden, halb auf Thomas, und sah verwirrt zu
ihm hoch. Aber ihr Partner beachtete sie gar nicht und lehnte
sich vor. »Er ist weg!«
Mit in der Kehle pochendem Herzschlag rappelte Alis sich
auf, suchte das Wasser ab, aber sowohl vom Tierarzt als auch
vom Schaf fehlte jede Spur.
»Eine Welle muss sie vom Felsen gerissen haben!«, schrie
Thomas über das wieder erwachte Röhren des Motors.
Alis griff schnell zu den Halteseilen an den Seiten und kniete nieder, um nicht umgeworfen zu werden. Dabei starrte sie
auf den weißen Brandungsschaum, versuchte über Wellenkämme hinwegzublicken und einen dunklen Schopf oder das
Fell des Schafs auszumachen. Aber da war nichts. Ihr Hals
schnürte sich zu, sie hörte kaum noch die Worte, die Thomas
über Funk an die Küstenwache übermittelte.
Bilder flackerten vor ihrem geistigen Auge auf, die sie den
ganzen Weg hierher hatte unterdrücken können. Sie sah den
vierzehnjährigen Jungen vor sich, der vor nur einer Woche
ganz in der Nähe gestorben war. Es war eine Mutprobe gewesen – Klippenspringen. Sie hörte das dumpfe Dröhnen des
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Helikopters, der ihre Suche unterstützt hatte. Sie sah das blaue
Gesicht des Teenagers, als sie ihn gefunden hatten, spürte die
kalte Brust unter ihren Händen, während sie versuchte, ihn
wiederzubeleben.
In all diese schrecklichen Erinnerungen mischten sich jene,
die sich kaum je an die Oberfläche wagten. Sie hatte versucht
professionell zu bleiben und zu ignorieren, dass dieser Ort
mehr war als nur der eines traurigen Einsatzes. Sie wollte
nicht daran denken, dass es eine Geschichte gab, die sie mit
diesen Klippen verband. Aber gerade diese alten, tief begrabenen Erinnerungen an einen lebensverändernden Moment
an ihrem sechzehnten Geburtstag rissen sie mit einer Eingebung zurück in die Realität.
»Er muss dort drüben sein!« Sie deutete aufs Meer hinaus
und ließ ihren Blick über den Brandungsrückstrom gleiten,
um den Mann und das Schaf darin zu finden. Wellen donnerten gegen die Felsen, aber das Wasser musste irgendwo
auch wieder zurück, und so suchte es sich Wege jenseits der
Sandbänke, wo sich tiefe Rinnen bildeten. Wenn die beiden
in solch einen Rückstrom geraten waren, könnten sie mit einer geradezu irrsinnigen Geschwindigkeit aufs offene Meer
hinausgetrieben worden sein. Für ihr geübtes Auge waren die
Strömungen leicht zu erkennen, denn die See wirkte dort ruhiger. Dafür war sie umso gefährlicher. Alis bezweifelte, dass
der Tierarzt so klug war, sich seitlich herauszubewegen, anstatt dagegen anzuschwimmen. Und was mit diesem verrückten Schaf passiert war, mochte sie sich gar nicht vorstellen.
Dave verstand sofort und jagte das Boot zurück über die
immer steiler werdenden Wellen. Sie alle starrten auf die unruhige Oberfläche, konzentriert auf die Suche nach der Nadel
im Heuhaufen. Sie könnten knapp an dem Mann vorbeifahren,
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wenn er in einem Wellental verborgen war, ganz zu schweigen
von der Möglichkeit, dass er längst untergegangen war, zerschlagen von dem über ihm brechenden Wasser. War er ein
guter Schwimmer? Wie hatte die Nachricht der Küstenwache
gelautet? Ein Schaf war auf einem Felsvorsprung der Klippen
festgesessen, und der Tierarzt hatte versucht, es zu retten – was
für ein hirnrissiger Einfall! Jeder vernünftige Mensch hätte das
Bergungsteam gerufen, aber dieser Mann hatte sich lieber von
dem aufgeregten Tier hinunterschubsen lassen! Leiser Zorn
mischte sich in ihre immer stärker werdende Angst. Letzte Woche war hier ein Teenager gestorben, und nun riskierte
ein Mann völlig sinnlos sein Leben. Wann würden diese Leute
endlich lernen, wie gefährlich die Klippen waren? Man wich
nur vom Küstenpfad ab, wenn man lebensmüde war.
Ein weiterer Funkspruch kam durch, es war das ALB, das
Allwetter-Rettungsboot ihrer Station, und als Alis einen Blick
zurück über die Schulter warf, sah sie es bereits um die Landspitze von Lydstep Head kommen. Selten war sie so erleichtert gewesen, die RNLI-Farben zu sehen, den blauen Schiffsrumpf und das orangefarbene Steuerhaus. Sie konnte sogar
die Crew-Mitglieder in ihren leuchtend gelben Anzügen im
Heck an der Reling erkennen. Anders als das ILB, das aufblasbare Küsten-Rettungsboot, in dem Alis sich befand, konnte
das sechzehn Meter lange Allwetter-Lifeboat so gut wie jeden Wellengang bewältigen. Nur war es aufgrund seiner Größe und seines Tiefgangs nicht in der Lage, in flache Gewässer vorzudringen. Dafür ließ es gerade ein weiteres kleines
Schlauchboot zu Wasser, das zurück zu den Klippen fuhr.
Alis konnte sich nicht länger auf die Verstärkung konzentrieren, denn sie erreichten das Ende des Rückstroms. Jenseits
der Brandungszone wurde die Sicht klarer, und mit einem er~ 12 ~
schrockenen Satz ihres Herzens erkannte sie plötzlich einen
treibenden Körper. Ihr Puls pochte in der Kehle. Der Tierarzt
bewegte sich kaum, er hatte wohl instinktiv die »Toter-MannStellung« eingenommen, um seine Kräfte zu schonen. Er lag
auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet. Eine an sich kluge
Entscheidung, wäre da nicht die Kälte. Dieser Mann war vor
einer guten Viertelstunde abgestürzt. Er war nass und halb
erfroren auf einem Felsen festgesessen, der Brandung ungeschützt ausgesetzt, und er hatte irgendwie auch das Schaf
zu sich hochgezerrt. Jetzt war er erneut im kalten Wasser, voll
bekleidet, unter Bedingungen, die dem besten Schwimmer
Schwierigkeiten bereiten würden. Er musste am Ende sein.
»Noch zehn Meter!«, rief sie und spürte, wie sich das Boot
unter ihr verlangsamte.
»Nehme ihn backbord auf!«, kam es von Dave am Ruder
zurück.
Alis drehte sich zur Seite, beugte sich über die nasse hypalonbeschichtete Nylonoberfläche des leuchtend orangefarbenen Bootsrands und zeigte Dave mit ihrem ausgestreckten
Arm die Position des Verunglückten. »Fünf Meter!«
Sie glitten zu dem reglos im Wasser treibenden Mann, Alis
schob das Visier ihres Helms hoch und erschrak, als sie das
bleiche Gesicht mit den blauen Lippen sah. Sofort fühlte sie
sich an den Jungen von voriger Woche zurückerinnert, aber
sie zwang sich, das Entsetzen abzuschütteln.
Dunkle Haarsträhnen, die jetzt, da sie nass waren, fast
schwarz wirkten, klebten auf der Stirn des Mannes und verstärkten den Kontrast zu seiner Blässe. Sein Alter ließ sich in
diesem Zustand schwer feststellen, aber Alis schätzte ihn auf
Anfang dreißig. Er trug eine ärmellose Weste mit unzähligen
Taschen über einem Karohemd, das sich im Wasser aufblähte.
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Die Jeans lagen eng an seinen Beinen, und es war ein Wunder,
dass er in den schwarzen Stahlkappenschuhen, die in seiner
Rückenlage beim Wassertreten zum Vorschein kamen, nicht
untergegangen war.
»Auf Neutral schalten!« Sie streckte die Hände aus, das Boot
trieb längsseits, Dave stoppte den Motor, damit der Mann
nicht runtergezogen wurde. Schwerfällig hob der Tierarzt die
bläulichen Lider und sah aus geröteten Augen zu ihr hoch.
Erleichterung stand in ihnen, ein Gefühl, das Alis gleichsam
in sich spürte. »Alles in Ordnung, bleiben Sie ruhig, wir sind
hier, Sie haben es geschafft.«
Der Mann hob schwach die Hände; sofort schlug Wasser
bei seinem Positionswechsel über ihm zusammen, aber Alis
bekam ihn an der Weste zu fassen, während Thomas seinen
Arm packte.
»Und los«, keuchte sie, mit aller Kraft ziehend. Es war nicht
leicht, einen ausgewachsenen Mann, der nicht gerade der
kleinste zu sein schien, über den Bootsrand zu hieven, schon
gar nicht, wenn ihre Fracht so geschwächt war, dass sie kaum
mithelfen konnte, und die nasse Kleidung das Gewicht noch
erhöhte. Doch schließlich ließ die See ihn los, und zu dritt fielen sie in den engen Raum des Bootes, von Wasser übergossen
und übereinandergestapelt.
Dave fuhr sofort wieder an, Thomas eilte zum Funkgerät,
um die Nachricht der Bergung weiterzugeben und um nach
einem Ambulanzwagen zu fragen. Alis schob den geschwächten und nach Atem ringenden Tierarzt von sich, lehnte ihn
gegen den Bootsrand und umklammerte seine Schultern.
»Haben Sie viel Wasser geschluckt?« Sie versuchte seinen
unsteten Blick einzufangen, spürte, wie er zitterte, und kroch
schnell nach vorne in den Bug. Thomas öffnete ihr bereits
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das Erste-Hilfe-Fach unter dem GPS-Monitor und reichte ihr
eine Rettungsdecke, während Alis nach dem Sauerstoff an der
Seite griff.
Sofort rutschte sie zurück zum Patienten, streifte ihre
Handschuhe ab und verzichtete darauf, ihm eine Schwimmweste umzulegen, da sie fürchtete, er würde ohnmächtig werden, wenn sie ihn nicht sofort behandelte. In ihrer Rettungsweste hatte sie Erste-Hilfe-Richtlinien, aber nach so vielen
Jahren musste sie nichts mehr nachlesen. Dass er zitterte, war
immerhin ein gutes Zeichen; die Unterkühlung war noch
nicht zu weit fortgeschritten, und seine Muskeln arbeiteten
noch, um die Körpertemperatur zu halten.
»Gleich geht’s Ihnen besser.« Sie zog seinen unkontrolliert
zuckenden Oberkörper an sich, lehnte seinen Kopf gegen ihre
Schulter und legte ihm die raschelnde Folie um, ehe sie ihn
wieder zurücksinken ließ.
»Wo ist … Sophie Grace?«
Alis hielt inne, war nicht sicher, ob sie seine schwache Stimme über das Motorengeräusch richtig verstanden hatte, zumal er mit einem merkwürdigen Akzent sprach. »Wie bitte?«
»Sophie Grace … Ist sie in Sicherheit?« Er versuchte sich
aufzurichten, aber Alis drückte ihn zurück und zog ihm das
Gummiband der Sauerstoffmaske über den Kopf.
»Sie meinen das Schaf?«
»Ja, ich …« Er versuchte die Maske wieder vom Gesicht zu
nehmen, aber Alis packte sein Handgelenk und zog es herunter. Ein nur kurzfristiger Erfolg, denn er hatte keine Mühe,
sich von ihrem Griff zu befreien. Dieser Mann war mehr tot
als lebendig, fand aber immer noch die Kraft, sich um ein
Schaf zu sorgen und sie, mit seinen Versuchen aufzustehen,
in den Wahnsinn zu treiben.
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»Dem Wollknäuel geht’s gut!«, rief Thomas unvermittelt
in ihr Gerangel um den Sauerstoff und hob das Funkgerät in
seiner Hand. Sein Grinsen klaffte in dem von rotem Bart fast
verschwindenden Gesicht und zeigte die Zahnlücke, die er
sich bei einer Begegnung mit einer losen Takelage während
der Rettung eines Segelbootes eingeholt hatte. »Die anderen
haben es aufgenommen.«
»Sehen Sie.« Alis zog ihren Arm an sich, den ihr Patient
festgehalten hatte, und deutete hinter sich, wo das große Rettungsboot in der aufgepeitschten See schaukelte. »Ihrer Sophie Grace geht’s gut.«
Erneut versuchte er sich aufzurichten, doch endlich ging
ihm die Kraft aus, sodass er gleich wieder zurücksank. Seine
Lider flackerten, seine Gesichtsfarbe hatte sich immer noch
nicht gebessert, und er hatte augenscheinlich größte Mühe,
bei Bewusstsein zu bleiben.
»Hey!« Alis packte sein stoppelbärtiges Kinn und drehte
seinen Kopf zu ihr, damit er sie ansah. »Wach bleiben, hören
Sie? Wir sind gleich da.«
»Ein Helikopter ist zurzeit nicht verfügbar, aber der Krankenwagen wartet in Lydstep Beach!«, rief Thomas, was Alis
beruhigt aufseufzen ließ. Sie mussten nicht bis nach Tenby
zur Station zurückfahren, sondern nur den Rest der Landzunge umrunden und den Patienten dort am Strand abliefern.
»Atmen Sie ruhig weiter. Mit dem Sauerstoff geht’s Ihnen
gleich besser.« Alis beugte sich zu ihm vor und sah ihm eindringlich in die halb offenen Augen, damit er sich auf sie konzentrierte. Ihre Hände legte sie auf seine deutlich angespannten Schultern, was sich anfühlte, als berührte sie kalten Stein.
Sie wollte ihm beim Springen des Bootes Halt geben, aber der
wahre Grund für ihren festen Griff war, dass sie einen wei~ 16 ~
teren Aufstehversuch fürchtete. Im Moment schien er dazu
nicht in der Lage, aber wer wusste schon, zu was dieser Verrückte seinen Körper noch zwang? Zwar war das Schaf in Sicherheit, aber Alis misstraute der geistigen Gesundheit eines
Mannes lieber, der ungesichert über Klippen kletterte, um ein
Tier zu retten.
Und da sie vorhin schon gespürt hatte, welche Kraft dieser
Mann hatte, ging sie lieber auf Nummer sicher. Er sah zwar
nicht gerade aus wie Dave, der seinen vierschrötigen Körper
gerne im Fitness-Studio aufpumpte, nichtsdestotrotz merkte
Alis dem Tierarzt an der drahtigen Gestalt an, dass seine Muskeln mindestens genauso definiert waren und er diese auch
einzusetzen wusste – sei es, um ein Schaf einen Felsen hochzuziehen oder eine Retterin in einem weiteren Anflug von
Wahnsinn aus dem Boot zu katapultieren.
»Gleich sind wir da«, sagte sie, um ihn wach zu halten. »Wie
heißen Sie?«
»Evan«, keuchte er und öffnete die Augen etwas weiter.
»Evan Davies.«
»Sie kommen nicht von hier, oder?«
»Aus Pwllheli«, erwiderte er, was seinen fremdartigen Akzent erklärte. Pwllheli lag auf einer Halbinsel im Norden, wo
noch hauptsächlich walisisch gesprochen wurde. Es war Evan
anzuhören, dass er nicht mit Englisch aufgewachsen war,
denn in seinen Worten klang eine keltische Melodie mit.
»Also gut, Evan Davies aus Pwllheli, hören Sie mir gut zu.
Es gibt noch andere Tierärzte, Ihrer Sophie Grace passiert
nichts. Jetzt ist erst mal wichtig, dass Sie wieder auf die Beine
kommen. Atmen Sie also ganz ruhig weiter.« Wie beiläufig
legte sie ihre Finger an seinen Hals, um seinen Puls zu überprüfen. Er war sehr, sehr schnell. Ein paar Momente länger,
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und er wäre wohl untergegangen, ganz zu schweigen von der
Menge Wasser, die er bestimmt geschluckt hatte. Blieb nur zu
hoffen, dass seine Lunge frei war, denn ansonsten könnte er
immer noch ertrinken.
Wie zum Hohn ihrer Gedanken begann Evan plötzlich zu
husten, riss sich, noch ehe sie reagieren konnte, die Sauerstoffmaske vom Gesicht, fuhr herum und beugte sich über
den Bootsrand. Unter Röcheln und Würgen spuckte er Meerwasser in die See, und Alis konnte nichts anderes tun, als ihre
Arme um seinen breiten Rücken zu schlingen und ihn bei dieser holprigen Fahrt festzuhalten. Sie hatten bereits die Brandungszone erreicht, der Strand war nicht mehr weit, und Dave
hatte seine liebe Mühe, das Schlauchboot auf Kurs zu halten.
»Alles wird gut, gleich sind wir da.« Eine Welle brach über
ihnen und begoss sie mit kaltem Wasser, aber Alis nahm es
kaum noch wahr, sie konzentrierte sich auf ihren Patienten,
der ihr immer größere Sorgen bereitete. Erschöpft ließ er sich
wieder zurücksinken und schloss die Augen.
»Hey, wach bleiben!« Alis schob die Maske zurück in Position und legte auch wieder ihre Hände auf seine Schultern.
»Sehen Sie mich an. Augen offen halten.« Sie warf einen nervösen Blick über ihn hinweg zum Strand, es kam ihr vor, als
kämen sie kaum näher. Aber zumindest erkannte sie die Lichter des sich nähernden Krankenwagens. Schnell widmete sie
sich wieder Evan und stellte beruhigt fest, dass er tatsächlich
die Augen geöffnet hatte und sie ansah, wach und direkt.
Ein erleichtertes Lächeln hob ihre Mundwinkel. »Da sind
Sie ja wieder.«
Er nickte schwach und erwiderte ihr Lächeln. Es zeigte sich
weniger an seinen Lippen, die unter der angelaufenen Maske
verschwanden, sondern am Funkeln seiner Augen. Sie waren
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nicht mehr so trübe und rot, jetzt erkannte sie, dass das Blitzen von goldenen Sprenkeln in einem tiefen Blau stammte.
Es waren schöne Augen, deren Klarheit sie ruhiger werden
ließ. Er würde wieder gesund werden. Diese Klippen hatten
nicht noch ein Opfer gefordert, sie hatte niemanden verloren.
Das Boot wurde langsamer, Thomas kam an ihre Seite und
kniete nieder. »Na Kumpel, brauchen wir eine Trage, oder
können Sie gehen?«
Evan nahm den Sauerstoff weg und stützte seine Unterarme auf den Bootsrand hinter sich, um aufzustehen. »Bereit
zum Pferdestehlen … Kumpel.«
»Solange Sie darauf verzichten, das nächste Mal mit einem
Schaf von den Klippen zu hüpfen«, murmelte Alis, richtete sich
ebenfalls auf und sprang, ohne zu zögern, ins knietiefe Wasser. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass bereits zwei Sanitäter herbeieilten, aber erst zog sie das Boot näher an den
Strand, während Dave den Außenbordmotor hochklappte, damit er nicht beschädigt wurde. Die Wellen schoben sie ohnehin
an, denn der Wind hatte sich immer noch nicht beruhigt, und
eisige Gischt hüllte sie ein. Ihr Gesicht war nach dem Wind und
dem Sprühwasser taub vor Kälte, und das im Juni.
Aufmerksam betrachtete sie die Bewegungen des Bootes
und reichte Evan ihre Hand. Da sie keine Handschuhe anhatte, spürte sie sofort, wie eisig seine war. Er musste schleunigst
ins Warme, bevor eine Unterkühlung ihm die letzten funktionierenden Hirnzellen wegfror und er noch größeren Unsinn
beging. Fest schloss sie ihre Finger um seine, während Thomas Evans Schultern hielt, um ihm aus dem schwankenden
Wasserfahrzeug zu helfen.
»Achtung Welle!«, kam es plötzlich von Dave am Ruder.
Sofort umklammerte Alis mit der freien Hand Evans Un~ 19 ~
terarm, um ihn besser halten zu können, während auch Thomas seinen Griff verstärkte. Aber Evan war bereits mit einem
Bein aus dem Boot, ein gewaltiger Schwall Wasser rollte an
den Strand, ließ das Boot nach vorne rucken, und als auch
Thomas sein Gleichgewicht verlor, flog ihr Evan das kurze Stück entgegen. Instinktiv schlang sie ihre Arme um seine Brust, fing ihn auf und stemmte sich gegen ihn, um nicht
umgerissen zu werden, aber sie taumelte. Dass er nicht gerade
klein war, hatte sie gewusst, aber ihr Kopf berührte noch nicht
einmal sein Kinn, und so hatte sie alle Mühe, seinen Körper
aufrecht zu halten und nicht unter ihm begraben zu werden.
»Meine Beine sind doch noch etwas schwächer, als ich
dachte«, hörte sie ihn über sich murmeln, aber sie kam zu keiner Antwort. Thomas, der ebenfalls aus dem Boot gesprungen
war, ergriff Evans Arm, und auch die Sanitäter waren nun im
seichten Wasser, um den Tierarzt zu stützen. Dieser stemmte sich allerdings ganz im Zeichen seines nervtötenden Eigensinns gegen den Griff seiner Retter und wandte sich noch
einmal Alis zu. »Danke«, sagte er und sah mit einem müden
Lächeln auf sie hinab. In seiner Stimme schwang die ihr so bekannte Ehrlichkeit und tiefe Verbundenheit mit, die ihr oft bei
Geretteten begegnete – ein Zeichen dafür, dass er nach dem
Schock den Ernst der Lage begriff. Der Macht des Meeres ins
Auge zu blicken, zu erkennen, dass Wasser anders als man
selbst nicht müde wurde, machte einen mit dem Tod bekannt.
Eine Begegnung, die man nicht so schnell vergaß.
Alis nickte nur. Keine Worte konnten ausdrücken, welch
unbeschreibliches Glücksgefühl, welche Befriedigung es war,
ein Menschenleben gerettet zu haben. Nach Hause zu gehen,
ohne das Gesicht eines Ertrunkenen vor sich zu sehen.
»Er hat das Bewusstsein nicht verloren, aber eine ganze
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Menge Wasser ausgespuckt«, wandte sie sich an den Notarzt
an ihrer Seite.
Dabei beobachtete sie aus den Augenwinkeln, wie Evan in
den Ambulanzwagen verfrachtet wurde. Es gab kaum Schaulustige – bei diesem Wetter waren nicht viele Menschen am
Strand, und die Saison hatte auch noch nicht begonnen.
»Gute Arbeit.« Der Arzt schüttelte ihr die Hand und stapfte zurück.
Die Türen des Wagens schlossen sich, die Sanitäter verabschiedeten sich ebenfalls, und für Alis ging es zurück zur
Station, um das Boot zu waschen, das Erste-Hilfe-Equipment
auf Vordermann zu bringen und dann verspätet zu ihrem Job
im Buchladen zu rennen.
Es war ein Tag wie jeder andere, und doch würde diese
Rettung wohl in ihre Top Ten fallen. Es war knapp gewesen,
aber er hatte überlebt.
Kapitel 2
Alis war ihrem Onkel in den letzten Tagen aus dem Weg gegangen. Seit dem Vorfall mit dem verunglückten Jungen beobachtete er sie mit Argusaugen, wie immer, wenn er meinte,
sie könne zusammenbrechen, weil etwas sie an die Ereignisse
von ihrem sechzehnten Geburtstag erinnerte. Sie hatten nie
ein Problem damit gehabt, gemeinsam auf See zu fahren, als
Team Leben zu retten, sich voll und ganz aufeinander zu verlassen. An solchen Tagen hatte er sie einfach als Crew-Mitglied behandelt. Doch wenn er sie so sorgenvoll betrachtete
wie jetzt, nachdem er sie ins Büro der Station zitiert hatte,
wurden die Erinnerungen erst recht wieder lebendig.
»Du warst am Samstag beim Einsatz dabei – der Tierarzt
und das Schaf?«
Alis presste die Lippen aufeinander und ließ sich ihm gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtisches nieder. Bemüht gelassen sah sie ihm in die Augen, denn sie wusste, John
würde nach Anzeichen der Schwäche suchen. Er war nicht
nur ihre Familie, er entschied auch, ob sie weiterhin ihre Arbeit machen durfte. Der freundliche Rat, sich nach der Bergung des Jungen eine Auszeit zu nehmen, könnte sich ganz
schnell in einen Dienstausschluss verwandeln. Hielte er sie
für nicht einsatzfähig, würde er nicht zögern, Konsequenzen
zu ziehen. Da spielte es auch keine Rolle, dass sie die Nichte
seiner Frau und mit sechzehn zu ihm und Tante Carol gezo~ 22 ~
gen war. Als Stationsmanager trug er die Verantwortung, und
obwohl er nicht mehr selbst rausfuhr, nahm er seine Aufgabe
mindestens noch genauso ernst.
»Ich war am schnellsten dort«, erwiderte sie ruhig und
sachlich. »Thomas, Dave und ich haben uns wegen der Überraschungsparty für Lloyds Geburtstag am Hafen getroffen, als
der Pager losging. Wir waren also schon da und konnten mit
dem ILB sofort los, was gut war, denn wir kamen in allerletzter Sekunde.«
»Ich hatte dich gebeten, eine Pause zu machen.«
Ein Grinsen entkam ihr. »Mit dem ALB, ja. Du hast nichts
von Einsätzen mit dem Küsten-Rettungsboot gesagt.«
Johns Mundwinkel zuckten, er schien den Kampf gegen
sein Lächeln zu verlieren, aber seine Stimme blieb ernst. »Du
gehörst zum Team des ALB – aber du wusstest genau, dass
Lloyd dich auf meine Anweisung hin nicht mitnehmen würde, also hast du einfach …«
»Es geht mir gut, John. Ich brauche keine Pause, der Junge
war nicht der erste Tote, den wir bergen mussten. Erinnerst
du dich an den Hubschrauberabsturz? Ich war erst achtzehn
und bestimmt labiler als heute. Damals hast du mir auch zugetraut weiterzumachen.«
Die durchdringenden Augen unter den buschigen grauen
Brauen verengten sich. Die Falten im von Wind, Sonne und
Salzwasser gegerbten Gesicht traten nun noch deutlicher hervor, und hätte Alis nicht die Erinnerung an unzählige friedliche Momente mit ihm auf See, würde er sie wohl einschüchtern. Sie musste sich wieder vor Augen halten, dass sie drei
Jahre lang mit ihm unter einem Dach gewohnt hatte. Himmel,
sie hatte ihn sogar schon mal mit heruntergelassenen Hosen
mit Tante Carol erwischt! Nur war er jetzt ihr Vorgesetzter,
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also kniff sie kurz die Augen zusammen, um das unwillkommene Bild zu vertreiben. Als sie ihn wieder ansah, betrachtete John sie wieder einmal mit diesem Blick, der mehr sagte,
als Worte es konnten: Ja, aber es waren diese Klippen. Es kann
dir nicht gut gehen. Ich war damals doch dabei. Rede endlich
mit mir.
Alis hob eine Augenbraue, forderte ihn heraus, das Schweigen nach zwölf Jahren zu brechen, jetzt, da das Schicksal sie
innerhalb einer Woche gleich zweimal zu den Klippen zurückgeführt hatte. Aber John senkte den Blick und schob einen Ordner an sich heran.
»Du erinnerst dich an den RNLI-Inspektor, der letzten Monat beim Training hier war?«
Alis nickte langsam, bemüht, sich die aufkommende Nervosität nicht anmerken zu lassen. Steckte sie in Schwierigkeiten? Sie hatte nichts falsch gemacht, sich nichts zuschulden kommen lassen, ganz im Gegenteil. Bei der Suche nach
dem verunglückten Jungen war sie professionell und ruhig
geblieben, ihre Vergangenheit war ihr nicht in die Quere gekommen.
John sah sie noch einen Moment prüfend an und nickte
schließlich. »Also schön.« Mit einem Seufzen nahm er ein paar
Blätter aus dem Ordner, auf denen Alis das Wort »Dienstvertrag« erkennen konnte, und verschränkte die braungebrannten, drahtigen Arme darüber. »Wie du sicherlich weißt, geht
Lloyd im Herbst in den Ruhestand, und ich muss einen Nachfolger finden. Der RNLI-Inspektor hat ein besonderes Auge auf
dich geworfen, und was deine Fähigkeiten anbelangt, muss ich
ihm zustimmen. Kurz gesagt: Du wirst der neue Bootsführer
des Tenby ALB … wenn du möchtest.«
Alis sah ihren Onkel an, wartete darauf, dass er »Scherz« rief
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und ihr lachend die Schulter tätschelte, aber er verzog keine
Miene. Sie hatte Belehrungen und Mahnungen erwartet, Ratschläge und Trost, aber keine solche Bombe. Nicht den Moment, auf den sie hingearbeitet hatte, seit sie mit siebzehn als
Freiwillige der britischen Seenotrettungsorganisation Royal
National Lifeboat Institution beigetreten war. Ihr Kopf konnte
es einfach nicht begreifen, aber ihr restlicher Körper reagierte
nichtsdestotrotz. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, ihre Ohren
fingen an zu rauschen, sodass sogar das nervige Ticken der Uhr
über ihr verstummte. Fassungslos starrte sie John an.
»Wieso so überrascht? Du bist schon letztes Jahr zweiter
Bootsführer geworden, und da ist es doch nur naheliegend,
dass du Lloyds Job übernimmst. Der RNLI-Inspektor hat uns
allen zugestimmt: Du bist die Beste für diese Aufgabe.«
»Aber …« Wenn sie an Bootsführer dachte, dann sah sie
graue, erfahrene Seemänner vor sich, keine achtundzwanzigjährigen Blondinen mit der stolzen Größe von eins dreiundsechzig. Schon letztes Jahr hatte die Presse einen Bericht über
sie gebracht, weil es so ungewöhnlich war, als Frau und in
ihrem Alter zweiter Bootsführer zu werden. Und jetzt sollte
sie die Verantwortung über das große Allwetter-Rettungsboot
übernehmen? Das Kommando führen und von ihrer unbezahlten Freiwilligentätigkeit in einen Vollzeitjob aufsteigen?
Die Station konnte nur zwei Vollzeitkräfte beschäftigen, das
waren der Bootsführer und der Mechaniker. Alle anderen
opferten ihre Zeit und ihr Wohlergehen ohne Bezahlung als
Freiwillige. Denn die RNLI wurde nicht von der Regierung
finanziert, sie war auf Spenden angewiesen. Alis hatte seit ihrem Einstieg auf diesen Moment hingearbeitet – ihre Leidenschaft, ihren Drang, rauszufahren und Leben zu retten, zum
Beruf zu machen. Sie hatte unzählige Kurse im RNLI-College
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in Poole besucht, war Navigator gewesen und dann schließlich zweiter Bootsführer. Sie war vorbereitet, sagte sie sich,
und trotzdem traf das Ganze sie wie ein Güterzug. Was, wenn
sie Fehler beging? Wenn noch jemand starb? Wenn sie die
Crew in Gefahr brachte? Sie hatte immer geglaubt, sie konnte das, es war genau das, wofür sie geboren war, wofür sie so
hart gearbeitet hatte, aber jetzt war sie nicht mehr sicher. Vielleicht in ein paar Jahren? Wie würde die Crew darüber denken? Würde sie überhaupt ihrem Kommando folgen, sie als
Bootsführerin anerkennen und respektieren?
»Und … Tante Carol … der Buchladen?«
»Um Carol brauchst du dir keine Sorgen zu machen, sie ist
schon auf deine Kündigung vorbereitet. Sie wird schon eine
neue Verkäuferin finden. Alis …« Er beugte sich zu ihr vor
und ergriff ihre eisige Hand über dem Schreibtisch. »Du hast
so hart gearbeitet, dir den Respekt aller verdient. Nimm an,
dass wir deine Leistung honorieren und dir vertrauen.«
»Vertrauen?« Sie lachte unfroh auf und zog ihre Hand zurück. »Vorhin hast du noch …«
»Ich bin dein Onkel, wenn auch nicht durch Blut, so doch
aber im Herzen, und ich darf mir Sorgen um dich machen.
Das heißt aber nicht, dass ich deine Stärken und Fähigkeiten
nicht sehe. Es gibt wenige mit deinem Ehrgeiz und Willen,
ihr Ziel zu erreichen. Du hast es geschafft, Alis. Freu dich.«
Sie wollte sich freuen, wirklich, sich nicht von Angst zurückhalten lassen, wie schon so oft in ihrem Leben, also
drängte sie all die Zweifel und Erinnerungen an das schreckliche Unglück letzte Woche zurück und zwang ein Lächeln auf
ihre Lippen. »Ich freue mich, John … danke.«
»Da gibt es nichts zu danken, du hast nichts geschenkt bekommen, du hast das verdient.«
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Diese Worte bedeuteten ihr mehr, als er ahnen konnte.
Sie würde das schaffen! Sie gehörte auf ein Boot, war auf See
zu Hause. Sie liebte diesen Beruf. Und ihr Ehrgeiz, den ihre
Freundin Nina meist Verbissenheit nannte, hatte sich bezahlt
gemacht.
»Die Einzelheiten klären wir ein anderes Mal.« John schob
die Blätter zurück in den Ordner und wies zur Tür. »Ich weiß,
Matthew kommt heute, also geh ruhig, und erzähl ihm die guten Neuigkeiten.« Er zwinkerte ihr zu, und Alis konnte nicht
anders, als leise zu lachen. Mit einem beschwingten Gefühl im
Bauch, das sie bei Johns Wunsch zu einem Gespräch nicht erwartet hatte, erhob sie sich und wandte sich zur Tür. Sie streckte gerade die Hand nach der Klinke aus, als John sie aufhielt.
»Bevor ich es vergesse, Alis. Ruf doch deine Mutter an, und
sag es auch ihr. Sie wird sich freuen.«
Ein Schnauben entfuhr ihr. »Mindestens genauso, als wäre
der ganze Stall von Hufrehe befallen.« Sie warf ihrem Onkel
über die Schulter einen Blick zu. »Du weißt, sie hasst meinen
Job, und sie hasst, dass ich hier in Tenby lebe, anstatt zu Hause
auf der Farm. Wenn sie erst hört, dass du mich zum Bootsführer gemacht und mir damit noch einen Grund mehr gegeben hast, nie zurückzukehren, dann verarbeitet sie dich zu
Hackschnitzel.«
»Ach, sie macht mir keine Angst, keine Sorge. Ruf sie
einfach an, Alis. Sie meinte neulich zu Carol, dass du dich
nie meldest. Es geht ihr nicht gut, und sie braucht dich. Du
bist … alles, was sie noch hat. Vielleicht denkst du auch darüber nach, sie mal zu besuchen. Lloyd geht erst im Herbst, du
kannst dir über den Sommer eine Auszeit …«
»Bis morgen, John.« Alis wollte sich ihre Laune nicht vom
Gedanken an ihre Mutter verderben lassen, also winkte sie
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ihrem Onkel noch einmal zu und verließ das Büro. Sie würde
bestimmt nicht auf der Farm anrufen. Sie musste sich heute
nicht anhören, dass ihr Platz unter Pferden und nicht auf dem
Meer war, dass ihre Mutter wünschte, nicht mit einer Tochter
wie ihr gestraft zu sein, oder den schlecht verborgenen Vorwurf, dass sie für den Tod ihres Vaters verantwortlich war.
Das konnte alles warten, jetzt wollte sie erst mal pünktlich zu
ihrem Treffen mit Matthew. Niemand würde sich so über die
Neuigkeiten freuen wie er, das wusste sie. Matthew hatte sie
den ganzen Weg über begleitet, sie waren schon kurz nach
ihrem Beitritt zur Crew zusammengekommen und feierten
bald ihr zehnjähriges Jubiläum. Er wusste, wie viel ihr dieser
Job bedeutete, und er würde ihr die Zweifel nehmen. Das tat
er immer. Er war ihr Anker.
Ihr Blick fiel auf das Allwetter-Lifeboat, das glänzend und
prächtig das Zentrum der Station einnahm. Es erschien ihr
riesig, wenn sie daneben am Geländer stand – kein Wunder,
bedachte man, dass es fast drei Stockwerke einnahm. Im untersten befanden sich die Rampe, auf der das Boot stand, und
die Winde, mit der es ins Wasser hinuntergelassen und wieder hochgezogen wurde. In den beiden anderen Geschossen
führten Galerien um das Boot herum, und von dort gingen
die einzelnen Räume ab.
Das Lifeboat war ein sicherer Hafen, dessen Anblick für
einen Hilfsbedürftigen oft dem eines Engels gleichkam. Bald
würde sie diesen Lebensretter steuern, mit ihm über Wellen
fliegen und ihn dann wieder sicher nach Hause bringen. Es
wäre nicht das erste Mal für sie; als zweite Bootsführerin hatte
sie in Lloyds Abwesenheit bereits hin und wieder seine Aufgaben übernommen. Aber das war etwas anderes. Jetzt war sie
wirklich angekommen.
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»Hey Alis, so wie du grinst, hat er’s dir schon gesagt. Gratuliere.« Andrew, der Mechaniker der Station, kam aus der neben dem Büro liegenden Werkstatt und schüttelte ihre Hand.
»Wir sind alle mächtig stolz auf dich.«
»Danke, Andrew.« Sie lächelte erfreut und stieg die Metalltreppe hoch ins Obergeschoss, wo der Umkleideraum für
die Crew und der Souvenirshop untergebracht waren. Auch
der Besuchereingang lag hier oben. Der Sommer war noch
nicht angebrochen, es gab aber bereits eine kleine Gruppe
ausländischer Touristen, die von der Galerie aus Fotos vom
Boot machten. Als sie Andrew in seinem dunkelblauen RNLIT-Shirt als Angehöriger der Station ausmachten, gingen sie
zögernd auf ihn zu, um ihm Fragen zu stellen. Alis hingegen
wurde ignoriert; in ihren knielangen Hosen und dem weißen
Tanktop fiel sie nicht weiter auf. Das war auch gut so, denn
heute brannte sie darauf, schnell wegzukommen und die guten Neuigkeiten mit Matthew zu feiern.
»Tschüss, Andrew«, rief sie noch schnell und wandte sich
Richtung Ausgang, als plötzlich ein Ehepaar mittleren Alters
vor ihr stand und ihr aus kummervollen Augen entgegenblickte. Die Dame trug einen schwarzen Hut über ihren krausen Locken, und der Mann war mit seiner Anzugjacke bei diesen frühsommerlichen Temperaturen viel zu warm angezogen. Sie machten einen erbarmungswürdigen Eindruck, den
ihr adrettes Äußeres nicht schmälern konnte.
»Miss Alis Rivers?«, fragte die Dame mit zitternder Stimme und streckte ihr eine blasse Hand entgegen. »Wir sind Mr
und Mrs …«
»… Johnson«, beendete Alis den Satz mit einem Flüstern.
Plötzlich war ihr ganz kalt. Ihre Hochstimmung verflog,
Gänsehaut bedeckte ihre nackten Arme und Beine, und sie
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wünschte sich auch eine Anzugjacke. Nicht nur zum Wärmen, sondern auch um ihrer Erscheinung ein wenig Würde zu verleihen. In ihrem sommerlichen Outfit und mit dem
lose zu einem Knoten gebundenen Haar kam sie sich plötzlich
schrecklich unpassend vor, respektlos. Sie war nur froh, heute
keine Baseballkappe zu tragen, denn die Johnsons waren die
Eltern des ertrunkenen Teenagers. Alis hatte die beiden vorige Woche kurz beim Ambulanzwagen gesehen, erstaunlich
gefasst und ruhig. Aber sie hatten wohl während der langen
Zeit der Suche Zeit gehabt, sich mit dem Unvermeidlichen
abzufinden.
»Oh, Sie erinnern sich an uns.« Mrs Johnson schloss ihre
Hände um Alis’ kalte Finger und drückte sie. »Wir haben ja
nicht zu hoffen gewagt, Sie hier anzutreffen, Miss Rivers, eigentlich wollten wir nur das hier vorbeibringen.« Sie deutete
auf ihren Gatten, der mit feierlicher Miene einen Scheck aus
der Anzugjacke zog und ihr entgegenstreckte. »Eine kleine
Spende für diese großartige Institution«, erklärte der Herr,
und als Alis einen Blick auf den Scheck warf, wäre sie beinahe
zurückgewichen. Es standen sehr viele Nullen darauf.
»Ich weiß«, begann Mrs Johnson und ließ ihre Hände los,
um mit fahrigen Bewegungen ihren Hut zu richten, »das erscheint Ihnen vielleicht etwas unvernünftig, aber wir haben
unseren Sohn verloren, unser einziges Kind. Wohin sonst mit
unserem Geld? Er war alles, was wir hatten. Vielleicht ermöglicht dieser Scheck einem anderen gerettet zu werden, oder
Ihrer tapferen Crew, sicher heimzukehren.«
»Das ist sehr großzügig von Ihnen.« Vor allem da wir bei
Ihrem Jungen versagt haben, flüsterte eine Stimme in ihr. Ihr
Verstand sagte ihr, dass sie nichts hätten tun können, der Junge war verloren gewesen, in dem Moment, da er bei diesen
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Bedingungen gesprungen war. Er hatte es nicht zum Strand
geschafft, war von einer Strömung erfasst worden und vor
den Augen seiner Freunde einfach verschwunden. Sie waren
so schnell wie möglich vor Ort gewesen, aber die aufgewühlte See hatte die Suche erschwert. Das Wasser war trübe gewesen, und so hatte auch der Helikopter lange Zeit nichts gefunden. Das Gefühl, versagt zu haben, wich durch dieses Wissen
nicht, auch nicht das Bedauern.
»Vielleicht möchten Sie mit dem Scheck lieber zu John
Buckland gehen, das ist unser Stationsmanager, und er ist gerade da«, brachte sie aus ihrer zugeschnürten Kehle heraus.
John fand bei Angehörigen immer die richtigen Worte, und
die Johnsons hatten die richtigen Worte verdient, nicht ihre
Starre und entsetzte Sprachlosigkeit, mit der dieses Unglück
sie erfüllte.
»Auch Lloyd, der Bootsführer, der den Einsatz geleitet hat,
ist hier. Wenn Sie kurz warten möchten, dann …« Sie wollte sich gerade abwenden, als Mrs Johnson ihren Arm umklammerte.
»Sie haben ihn gefunden, nicht wahr, Miss Rivers? Sie waren bei ihm, als …« Ihre Stimme versagte, und Alis kämpfte um ihre Professionalität im Umgang mit Trauernden. Die
schrecklichen Bilder kehrten zurück, dabei hatte sie sie bisher
halbwegs erfolgreich verdrängt. Es war bereits dunkel geworden, Lloyd hatte von der fliegenden Brücke aus das Boot gesteuert, da er von dort aus bessere Sicht hatte als vom Steuerhaus. Ben aus der Crew hatte den Suchscheinwerfer neben
ihm bedient, während der Helikopter weiter westlich auf der
Suche gewesen war. Schließlich war der Junge in Küstennähe
unter der Wasseroberfläche entdeckt worden. Alis war hineingesprungen und hatte seinen kalten und starren Körper in
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ihren Armen gehalten. Nein, sie war nicht bei ihm gewesen,
als er gestorben war. Er war längst tot gewesen.
»Es tut mir so leid«, flüsterte sie die einzigen Worte, die ihr
einfielen. Wie sollte man Eltern trösten, die ihr Kind begraben
mussten? »Ich wünschte, wir hätten irgendetwas tun können,
um ihm noch zu helfen.«
Ein Schluchzen entfuhr Mrs Johnson, und ihr Mann legte
seinen Arm um ihre Schultern. Alis kämpfte gegen den unprofessionellen Wunsch an, die beiden fest zu drücken. Zitternd atmete sie tief durch und versuchte, klar zu denken.
»Kommen Sie, begleiten Sie mich, ich bringe Sie ins Büro.
Dort können wir uns mit dem Stationsmanager und dem
Bootsführer zusammensetzen. Trinken Sie einen Tee, und
dann besprechen wir, was mit Ihrem Scheck geschehen soll.
Gerne werden wir auch versuchen, alle Fragen zu beantworten, die Sie haben.«
Mrs Johnson nickte schniefend, und Alis öffnete die Absperrung zu dem für die Öffentlichkeit unzugänglichen Bereich. Sie sollte Matthew wohl eine Nachricht zukommen
lassen, durch das Gespräch mit Onkel John war sie ohnehin
schon zu spät, aber es wäre unhöflich, jetzt nach ihrem Handy
zu greifen. Also bot sie Mrs Johnson ihren Arm und führte
sie die Metalltreppe hinunter zum Büro, wo Andrew ihr entgegenkam. Er warf einen Blick auf die Johnsons, sah wieder
in ihr Gesicht und presste die Lippen aufeinander.
»Mr und Mrs Johnson.« Er trat an sie heran und streckte den beiden die Hand entgegen. »Es ist sehr schön, Sie hier
zu sehen. Kommen Sie mit, ich bringe Sie rein. Alis, hattest
du nicht noch einen Termin?« Er sah mit hochgezogener Augenbraue auf sie hinab und wies kaum merklich nach oben.
Mitgefühl stand in seinen Augen, und Alis hätte ihm gerne
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gedankt. Im Team gaben sie aufeinander acht, kannten die
jeweiligen Stärken und Schwächen des anderen. Thomas mit
dem Zottelhaar zum Beispiel, der nicht fluchen konnte und
acht Kinder mit seiner Jugendliebe hatte, wäre niemals in der
Lage gewesen, den Jungen vorige Woche zu bergen und wiederzubeleben. Er hätte es natürlich getan, aber jeder wusste,
dass er einen Sohn im selben Alter hatte, und so war Alis gesprungen, ohne dass Thomas etwas hätte sagen müssen. Es war
auch für sie schmerzvoll gewesen, einen so jungen Menschen
aus dem Leben gerissen zu sehen, vor allem an diesem Ort.
Aber es war etwas gewesen, das sie hatte aushalten, eine Bürde, die sie einem anderen hatte abnehmen können. Andrew
wusste wiederum von ihrer Verbindung zu den Klippen, er war
damals vor zwölf Jahren beim Einsatz dabei gewesen, hatte sie
rausgezogen. Jetzt wollte er ihr eine Last abnehmen und für sie
einstehen, aber Alis schüttelte den Kopf. Sie rannte nicht gerne
weg und mochte es auch nicht, aufgrund ihrer Vergangenheit
mit Samthandschuhen angefasst zu werden. Schließlich war
das Teil ihrer Arbeit, man konnte nicht alle retten. Es tat weh,
aber sie war gut darin, Gefühle einfach wegzusperren.
»Oh, Sie haben einen Termin, Miss Rivers?«, fragte Mrs
Johnson erschrocken. »Bitte verzeihen Sie, dass wir Sie aufgehalten haben.«
Alis winkte ab. »Der Termin liegt schon hinter mir, keine
Sorge, ich habe Zeit.« Sie nickte Andrew dankbar zu, der die
Augen verdrehte, schließlich kannte er ihren Sturkopf, und
öffnete die Tür zum Büro. Sie war drauf und dran, Bootsführerin zu werden, Schwächen konnte sie sich keine mehr
erlauben.
*
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Die Johnsons blieben eine gute Stunde, verbrauchten mehrere Packungen Taschentücher und ließen sich nicht davon abbringen, den Scheck der RNLI zu spenden.
Die Station war auf jeden Penny angewiesen, trotzdem hatte Alis versucht, das Ehepaar von einer vorschnellen Entscheidung abzuraten – vergeblich. Die Verzweiflung war schwer
mit anzusehen gewesen, und jetzt, da das Ehepaar fort war
und sie zum Ausgang ging, wünschte sie sich mehr als zuvor
an Matthews Seite, sehnte sich nach seinem Halt. Sie wusste,
sie durfte den Verlust nicht an sich heranlassen. Ärzte verloren
Patienten, Sanitäter konnten manchmal nichts mehr tun, und
genauso war sie eben machtlos gewesen. Aber anders als Ärzte
und Sanitäter wurde sie nicht oft mit dem Tod konfrontiert.
Für sie war das nichts Alltägliches, und sie konnte sich nicht
vor der Erschütterung und dem Schmerz abschotten.
Wie benommen, die Freude über ihren neuen Job ganz vergessen, taumelte sie aus der Station ins grelle Sonnenlicht und
stieß prompt gegen ein Hindernis.
»Tschuldigung«, murmelte sie, sah gar nicht auf und zog
mit zitternder Hand ihr Handy aus der Hosentasche. Sie wollte gerade weitergehen und Matthews Nummer wählen, als
eine tiefe Männerstimme erklang.
»Oh, Sie sind es!«
Alis blickte hoch und blinzelte gegen die Sonne an. Die Tür
zur Station fiel neben ihr zu, und sie erkannte die Umrisse
eines Mannes, der über ihr auftürmte, ein Sixpack unter den
Arm geklemmt, ein zweites in der Hand.
»Kann ich Ihnen …?«, begann sie mit einem Räuspern, um
ihrer Stimme etwas Kraft zu geben, als sie ihn erkannte.
»Erinnern Sie sich an mich?«, fragte er mit funkelnden
Augen. Ein Funkeln, das von Sprenkeln im Sonnenschein
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stammte. Jetzt nahm sie auch seinen Akzent wahr, und eine
Welle der Erleichterung durchfuhr sie. Leben vor sich zu sehen, nachdem sie so lange in einen Raum der Trauer gesperrt
gewesen war, holte sie ein wenig zurück in die Wirklichkeit.
»Natürlich! Evan Davies, Retter der Schafe.«
Ein Lachen entfuhr dem von Mut oder Wahnsinn geküssten Tierarzt. »Ganz genau. Wie schön, Sie hier anzutreffen.«
Er strich sich mit der freien Hand durchs windzerzauste Haar,
und Alis fiel auf, dass es heller war, als sie in Erinnerung gehabt hatte. Nass war es ihr fast schwarz vorgekommen, doch
unter der Sonne schimmerte es genauso wie der kurze Bart an
seinem Kinn in einem lichten Braun, das von noch helleren,
fast blonden Strähnen durchzogen wurde. Ein Zeichen, dass
er sich oft und viel im Freien aufhielt, genauso wie seine gebräunte Haut, die sich an seinen sehnigen Unterarmen zeigte. Als Tierarzt, der Schafen hinterherkletterte, schien er ihr
sowieso nicht wie ein Indoor-Typ.
»Sie sind also nicht mehr im Krankenhaus. Das ging schnell.«
»Kein Wasser in der Lunge.«
»Hervorragend.« Sie sah ihn erwartungsvoll an, wusste
nicht, ob er noch etwas von ihr brauchte oder sie sich höflich
verabschieden konnte – schließlich machte Matthew sich bestimmt schon Sorgen –, als sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete.
»Ein interessanter Zufall, Sie hier wiederzusehen. Fast
schon schicksalsträchtig.«
Alis’ Mundwinkel hoben sich unwillkürlich zu einem Lächeln. »Bedenkt man, dass Sie sich hier an meinem Arbeitsplatz befinden, ist es wohl doch kein so großer Zufall und
noch weniger Schicksal. Kann ich Ihnen denn irgendwie helfen?«
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»Eigentlich bin ich gekommen, um mich zu bedanken. Sie
waren mein Schutzengel. Auch wenn ich Sie ehrlich gesagt
fast nicht wiedererkannt hätte, ohne ihre ganze Ausrüstung.«
Er ließ seinen Blick über sie wandern, von den Haar- bis zu
den Zehenspitzen und wieder zurück, und Alis hätte fast die
Augen verdreht. Ein Lachen entfuhr ihr aber trotzdem ob der
unverhohlenen Musterung, was ihm nicht entging. Er schien
sich aber nicht daran zu stören, ertappt worden zu sein, denn
er hob den Blick zurück zu ihrem Gesicht und verzog seine
Lippen zu einem schiefen Lächeln.
»Steht Ihnen – das eine wie das andere.« Er beugte sich zu
ihr hinunter, ohne seinen direkten Blick von ihr abzuwenden,
seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Auch wenn es
schwer zu glauben ist, dass so ein Fliegengewicht von Frau
mich niederhalten konnte.« Er zwinkerte ihr zu, und die Luft
entwich ihr mit einem ungläubigen Lachen. Flirtete er mit
ihr?! Vor ein paar Tagen noch kaum bei Bewusstsein, heute
einer, der nichts anbrennen ließ.
Mit einem Kopfschütteln stemmte sie eine Hand in die Seite. »Hauptsache, es geht Ihnen besser, Mr Davies.«
»Das verdanke ich Ihnen, Miss …«
»Rivers. Alis Rivers. Und ich war nicht alleine, Ihr Dank
gebührt also nicht nur mir.«
»Nun, Miss Rivers …« Er streckte ihr die linke Hand entgegen, da seine Rechte mit dem Bier beladen war. »Ich bin jedenfalls froh, dass Sie da waren.«
Alis betrachtete seine langen, geraden Finger, dann riss sie
sich zusammen und gab ihm die Hand. »Das ist unser Job.«
»Aber ein unbezahlter Job, wie ich weiß.« Er schloss seine Finger fest um ihre und sah ihr eindringlich in die Augen. Schalk blitzte in den seinen, als befände er sich gera~ 36 ~
de in einem amüsanten Spiel und als hätte er nicht vor Kurzem um sein Leben fürchten müssen. Es war merkwürdig,
von ihm gingen eine solch unbeschwerte Fröhlichkeit und ein
fast kindlicher Übermut aus, der ihr ganz und gar fremdartig
vorkam. Was wohl daran lag, dass sie mit Positivität und all
dem »Leuchtende Seele«-Kram nichts anfangen konnte. Das
Leben hatte ihr oft genug die harte Realität gezeigt.
»Und nicht nur ich bin dankbar, auch Sophie Grace ist mit
einem Knacks an ihrer Würde davongekommen.«
»Da bin ich ja beruhigt.« Alis zog ihre Hand an sich und
schob sie in die Hosentasche.
»Mögen Sie keine Schafe?«
Alis presste die Lippen aufeinander. Sie hatte nicht mit einem abfälligen Tonfall sprechen wollen, aber irgendwie fiel es
ihr gerade äußerst schwer, ihre wahren Gefühle verborgen zu
halten. Sie war nun mal keine flirtende, vor Leben sprühende Persönlichkeit, sondern dunkel und verkorkst. »Ich würde nicht sagen, dass ich Schafe nicht mag. Sie sind mir wohl
eher gleichgültig. Zumindest sind sie mir nicht so wichtig wie
Menschen.«
»Sind Sie generell kein Tierfreund?«
»Ist Ihnen ein Menschenleben generell egal? Oder nur Ihr
eigenes?«
Überrascht hob er die Brauen, und Alis schloss zornig über
ihre mangelnde Selbstkontrolle die Augen. »Tut mir leid,
ich …«
»Nein, nein, fahren Sie nur fort. Ich sehe, Sie wollen etwas
loswerden. Ich bin ganz Ohr.«
Verblüfft sah Alis auf, erkannte die Herausforderung in seinem Blick, und fast wäre sie tatsächlich explodiert. Der Umgang mit Patienten und Besuchern der Station war äußerst
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