Eine John-Cage-Chronologie

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Eine John-Cage-Chronologie
Berno Odo Polzer
«Ich möchte immer wieder bei null beginnen …»
Eine John-Cage-Chronologie
Der vorliegende Text soll als zweierlei Leitfaden dienen: durch Leben und Werk John Cages einerseits und durch die Cage-Retrospektive von Wien Modern
andererseits. Dabei ist ein 79 Jahre dauerndes Leben wie jenes John Cages – an Ereignis­reich­tum kaum zu überbieten – in dieser Form und in diesem Umfang
natürlich nicht vollständig darstellbar. Bestenfalls können grobe Linien nachgezeichnet und wichtige Ereignisse im Leben Cages herausgegriffen werden. Das
Programm und die Konzep­tion des Cage-Portäts von Wien Modern diente dabei als eines der Kriterien für die Auswahl von Daten, Fakten, Werken,
Kommentaren und Zitaten.
Die hier abgedruckte Cage-Chronologie basiert maßgeblich auf der von Plinio Bachmann zusammengestellten Chronik von Leben und Werk, die im CageHeft der Zeitschrift Du veröffentlicht wurde (Heft Nr. 5, Mai 1991, S. 78 ff.). Weiters wurden die Cage-Chrono­logien von Thomas Dreher (im Katalog zur
Ausstellung Kunst als Grenz­beschreibung. John Cage und die Moderne, München 1991, S. 223 ff.) und David Revill (Tosende Stille. Eine John-Cage-Biographie,
München 1992, S. 438 ff.) als Quellen herangezogen und ergänzt.
Überdies enthält diese Chronologie ein komplettes musikalisches Werkverzeich­nis John Cages. Als Quelle für diese Werkchronologie diente die umfassende Zusammenstellung von André Chaudron (veröffentlicht unter www.johncage.info), die wiederum zahlreiche Quellen in sich aufgenommen hat (neben
dem Werkkatalog der Edition C. F. Peters vornehmlich Paul van Emmeriks Buch Thema’s en Variaties sowie Arbeiten von James Pritchett, Richard
Kostelanetz, David Revill und Larry Solomon). Die im Rahmen der Cage-Retrospektive von Wien Modern realisierten Werke Cages sind rot gesetzt und mit
Verweisen auf die jeweiligen Konzerte und Performances versehen.
Aus Gründen der Lesbarkeit wurde auf die Nachweise der einzelnen Zitate von John Cage verzichtet. Sie stammen zum überwiegenden Teil aus der von
Richard Kostelanetz herausgegebenen Interviewsammlung John Cage im Gespräch zu Musik, Kunst und geistigen Fragen unserer Zeit (Köln 1989) sowie aus
dem Band Für die Vögel. John Cage im Gespräch mit Daniel Charles (Berlin 1984).
1912
Am 5. September wird John Cage in Los Angeles als einziger Sohn des Ingenieurs und Erfinders John Milton Cage
und seiner Frau Lucretia Harvey geboren. «Mein Vater war Erfinder. Er vermochte Lösungen für Probleme verschiedenster Art zu finden, auf dem Gebiet der Elektrotechnik, der Medizin, des Unterseeverkehrs, der
Sichtmöglichkeiten im Nebel oder der treibstofflosen Fahrt im Weltraum. Er sagte mir, wenn einer behaupte, ‹das
geht nicht›, zeige einem das, was zu tun sei.»
1920–28
Cage macht erste musikalische Erfahrungen. Klavierunter­richt bei seiner Tante Phoebe und bei Fann Charles Dillon.
1922–28
Los Angeles High School. Cage ist Mitherausgeber der französischsprachigen Schulzeitung Le Flambeau.
1928
Als Vertreter der Los Angeles High School gewinnt Cage den «Southern California Contest» mit seiner Rede Other
People Think, den er in der Hollywood Bowl hält. Darin setzt er sich für ein panamerikanisches Bewusstsein in der
US-amerikanischen Politik und Industrie ein.
1928–30
Pomona College, Claremont/Kalifornien. Als Berufsziel gibt Cage im ersten Semester Pfarrer, im zweiten
Schriftsteller an. Er entdeckt Beethovens Streichquartette und Gertrude Stein, schreibt erste Gedichte.
1930–31
Cage, der am College-Magazin Manuscript mitarbeitet, be­schließt, das Studium abzubrechen und selbst
Schriftsteller zu werden. Er überredet seine Eltern, ihm eine Europa-Reise zu ermöglichen. Erste Etappe: ein sechsmonatiger Aufenthalt in Paris (Studium Architektur bei Ernö Goldfinger und Klavier bei Lazare Lévy, Beschäftigung
mit Malerei), danach über Capri, Mallorca, Sevilla und Madrid nach Berlin. Während des 17monatigen EuropaAufenthalts beginnt Cage zu komponieren, schreibt, malt und tanzt. Kurze Kompositionen auf der Basis mathematischer Formeln.
«Damals war ich der Meinung, dass man alle Dinge machen könne – Schreiben, Malen, sogar Tanzen –, und zwar
alles ohne technische Vorkenntnisse. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass man Komposition studieren
müsse. Be­dauerlicherweise hörten sich meine eigenen Kompositionen für mich selbst ganz schrecklich an.»
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1931
Im Dezember kehrt Cage aus Europa nach Kalifornien zurück. Er verdient seinen Lebensunterhalt als Gärtner in
einem Motel in Santa Monica und mit Vorträgen, die Hausfrauen über moderne Malerei und Musik informieren.
Werke: Untitled Composition.
1932
Cage tritt in Los Angeles mit dem Pianisten Richard Buhlig, einem der ersten amerikanischen SchönbergInterpreten, in Kontakt und erhält bei ihm ersten Kompositionsunterricht.
Werke: Piano Etudes (1931 oder 1932); Greek Ode; First Chapter of Ecclesiastes.
1933
Cage entwickelt eine chromatische Kompositionsmethode, die zwei 25-Ton-Reihen verwendet, wobei
Wiederholungen einzelner Töne in einer Reihe vermieden werden sollen. «Nach­dem ich einige Monate mit Buhlig
gearbeitet hatte, sagte er mir, dass er mir nicht mehr weiterhelfen könne und dass ich Henry Cowell meine
Kompositionen schicken sollte.» Henry Cowell, Komponist, Pianist und Essayist – er prägte den Begriff «Cluster» –,
lehrt zu dieser Zeit an der New School for Social Research in New York. «Er war der Erste, der das Klavier mit den
Fäusten, den Unterarmen spielte. Er war auch der Erste, der im Innern des Klaviers spielte, indem er die Saiten mit
den Händen bearbeitete! Er überlegte sich ebenfalls, verschiedene Objekte auf die Saiten zu legen, zum Beispiel ein
Stopfei!» Cowell sieht sich in New York Cages Arbeiten an und empfiehlt ihm, zu Arnold Schönberg zu gehen. Cage
geht nach New York.
Werke: Three Songs for Voice and Piano; Three Easy Pieces; Sonata for Clarinet; Sonata for Two Voices.
1934
Cage in New York. Zur Vorbereitung auf den Unterricht bei Schönberg schickt Cowell Cage zu Adolph Weiss
(Harmonie­lehre und Kontrapunkt, bis 1935), Schönbergs erstem amerikanischen Schüler. «Ich zeigte Adolph Weiss
meine ersten Kom­positionen. Es handelte sich um eine sehr individuelle Spiel­art der Zwölftonmusik, für die ich die
Tonreihe in Frag­mente oder Motive einteilte. Aber anstatt die Tonreihen wie die meisten Komponisten zu variieren,
hielt ich sie statisch, wobei ich unter Anwendung aller Transpositionen, Umkeh­run­gen und Rückläufe usw. mosaikartige Arrangements herstellen konnte und die Tonreihe selbst fast nie als solche auftauchte. Außerdem setzte ich
die Abwesenheit jedes dieser Motive mit dessen Anwesenheit in Beziehung. Dadurch konnte ich ein Fragment einer
Tonreihe durch seine Dauer zum Ausdruck bringen – durch Stille. […] Die Stille hatte den­selben Stellenwert wie
der Ton.»
Während des Unterrichts bei Weiss besucht Cage zusätzlich Cowells Kurse an der New School for Social Research
(moder­ne Harmonik und zeitgenössische Musik sowie «World Music»).
Erste Begegnung mit Oskar Fischinger, einem der Pioniere des experimentellen, abstrakten Films.
Werke: Duet for Two Flutes; Composition for 3 Voices; Music for Xenia; Six Short Inventions (1958 überarbeitet); Solo with Obligato Accompaniment of Two
Voices in Canon, and Six Short Inventions on the Subjects of the Solo; Allemande.
1935
Rückkehr nach Los Angeles. Nach einjährigem Studium bei Weiss spricht Cage bei Arnold Schönberg vor. Dieser
empfängt ihn trocken: «Wahrscheinlich können Sie sich meine Preise gar nicht leisten.» Cage hat überhaupt kein
Geld, be­kommt jedoch unter dem Versprechen, sein ganzes Leben der Musik zu widmen, kostenlosen Unterricht.
Cage studiert von 1935 bis 1937 Harmonielehre, Kontrapunkt und Analyse bei Schönberg. Neben Privatstunden
belegt er Schönbergs Kurse an der University of Southern California (USC), später auch an der University of
California, Los Angeles (UCLA).
«Schönberg wohnte in einem dunklen Haus, das in spanischem Stil gebaut war. Er besaß keinen Flügel, sondern
nur ein Klavier. Er war nicht sehr groß und hatte, was seine Kleidung betraf, einen ziemlich schlechten Geschmack.
Er war fast glatzköpfig und machte einen ruhelosen Eindruck. Meiner Ansicht nach war er ein außergewöhnlicher
Mensch.»
«Schönberg war ein großartiger Lehrer. Er vermittelte immer den Eindruck, uns mit den musikalischen Prinzipien
vertraut zu machen. […] Ich versuchte, Schönberg einige Male zu erklären, dass ich kein Gefühl für Harmonie
habe. Ohne ein Gefühl für Harmonie, so sagte er mir, würde ich immer auf ein Hindernis, eine Mauer stoßen, die ich
niemals durchbrechen werde. Ich erwiderte ihm, dass ich dann wohl mein Leben da­mit verbringen müsste, mit meinem Kopf gegen diese Mauer zu rennen, und vielleicht habe ich seitdem nichts anderes getan.»
Cage heiratet Xenia Andreyevna Kashevaroff, die Buch­binden lernt und später Duchamps Große Schachteln
anfertigen wird.
Werke: Quartet; Quest; Two Pieces for Piano (1974 überarbeitet); Three Pieces for Flute Duet.
1936
Mit Xenia übersiedelt Cage nach Santa Monica, wo beide als Buchbinder tätig sind und Cage mit Vorliebe Buchdeckel
entwirft. Durch den Umgang mit Oskar Fischinger wird Cage auf einen neuen Aspekt von Musik aufmerksam: «Er
machte eine Bemerkung, die mich beeindruckte: ‹Jeder Gegenstand hat eine Seele, und diese Seele kann befreit werden, indem der Gegen­stand in Schwingung versetzt wird.› Daraufhin begann ich, auf Gegenstände zu schlagen, sie zu
stoßen, zu reiben, mit Perkus­sion zu arbeiten und mich für Geräusche zu interessieren.»
In der Folge umgeht Cage die für ihn problematische Har­monik und schreibt Perkussionsmusik mit rhythmischen
Struk­­turen. Das Interesse für die «Seele der Gegenstände», für Geräusche, wird auf den ganzen späteren Verlauf
seiner kompositorischen Tätigkeit einwirken.
Die ersten Resultate dieser Arbeit bringt Cage in der Buchbinderei zur Aufführung: «Abends wurden dann alle
Buchbinder zu Musikern und spielten in meinem Orchester. Da es sich um Perkussion handelte, erregte die Musik
das Interesse moderner Tänzer. Ich schrieb ein paar Stücke für eine Tanzgruppe der nahe gelegenen UCLA und für
das Unter­wasserballett des Sportinstituts.»
Werke: String Quartet; Trio.
1937
Cage beendet nach zwei Jahren seinen Unterricht bei Arnold Schönberg: «Obwohl wir zwei Jahre sehr gut miteinander ausgekommen sind, wurde mir immer klarer – und ihm auch –, dass für ihn die Harmonielehre etwas grundsätzlich sehr Wichtiges war, für mich dagegen nicht. Und das, obwohl ich mich noch nicht einmal mit ZenBuddhismus auseinander gesetzt hatte.»
Aus der Zusammenarbeit mit Tänzern ergeben sich verschiedene Angebote. Cage entschließt sich, mit der
Choreo­graphin Bonnie Bird von der Martha-Graham-Truppe nach Seattle an die Cornish School zu gehen, wo er die
Musik zu Birds Modern-Dance-Unterricht schreibt und spielt. Einer der dortigen Studenten ist der 18jährige Tänzer
Merce Cunning­ham, mit dem Cage hier zum ersten Mal in Kontakt kommt. An einer Veranstaltung der Seattle Arts
Society hält Cage seinen Vortrag The Future of Music: Credo, in dem er Musik als Klang-Geräusch-Organisation
definiert: «If this word ‹music› is sacred and reserved for eighteenth- and nineteenth-century instruments, we can
substitute a more meaningful term: organization of sound.»
1938
Cage gründet ein Schlagzeugorchester, mit dem er Tourneen durch den Nordwesten Amerikas unternimmt. Bei dieser Gelegenheit lernt er viele Tänzer, Musiker und Künstler kennen, darunter László Moholy-Nagy, der an der
Chicago School of Design – Refugium und Treffpunkt ehemaliger Bauhaus-Künstler – unterrichtet.
Neben anderen Stücken komponiert Cage die Five Songs for Contralto auf Texte von E. E. Cummings, die er selbst
als «Chromatic songs employing unorthodox uses of twelve-tone composing means» beschreibt. Titel der Lieder: 1.
Little four paws; 2. Little Christmas tree; 3. In Just; 4. hist whist; 5. An­other comes (Tumbling-hair).
Werke: Music for an Aquatic Ballet; Metamorphosis; Five Songs for Contralto [5.11.2004]; Music for Wind Instruments.
1939
Cage übersiedelt nach San Francisco. Beginn des Zweiten Weltkrieges. «Glücklicherweise musste ich nie am Krieg
teilnehmen. Mein Vater war Erfinder und ich übernahm For­schungsarbeiten für ihn.»
Cage komponiert Imaginary Landscape No. 1, ein Auftrag der «Works Progress Administration»
(Freizeitgestaltung für Kinder), für zwei Schallplattenspieler, Schallplatten mit Auf­nahmen von Sinustönen,
gedämpften Flügel und Becken – eines der ersten elektronischen Stücke der Musikgeschichte.
Werke: 25 Ballets in 1 act for a solo dancer; Ho to AA; Marriage at the Eiffel Tower; Imaginary Landscape No. 1; First Construction (in Metal).
1940
Cage zieht nach San Francisco, wo er mit Lou Harrison Schlag­zeugkonzerte gibt. Während des ganzen Jahres versucht
er vergeblich, mit der Hilfe von Sponsoren ein Zentrum für ex­peri­mentelle Musik zu gründen. Obwohl Cages Musik
auf Interesse stößt, ist niemand bereit, sie finanziell zu unterstützen.
Für die Tänzerin Syvilla Fort komponiert Cage im Herbst Bacchanale und erfindet damit das präparierte Klavier.
«Uns stand nur eine kleine Fläche zur Verfügung, gerade groß genug für einen Flügel. Das Schlagzeug nahm zu viel
Raum ein, deshalb musste ich mir für sie etwas Passendes mit diesem Flügel einfallen lassen. […] Seinerzeit, kurz
nach dem Studium bei Arnold Schönberg, schrieb ich entweder Zwölftonmusik oder Schlagzeugmusik. Anfangs
versuchte ich, eine Zwölftonmusik zu finden […], aber ich scheiterte. Dann erinnerte ich mich an die Klänge des
Klaviers, das Henry Cowell auf den Saiten klimperte, sie zupfte oder mit Nähnadeln usw. darüber fuhr. Ich ging in
die Küche, holte eine Tortenplatte und legte sie mit einem Buch beschwert auf die Saiten. Ich stellte fest, dass ich
auf dem richtigen Weg war.» Zur Präparation des Flügels werden verschiedene Gegenstände (Schaumgummi,
Schrauben, Holz, Bolzen mit frei beweglichen Metallringen usw.) zwischen die Saiten geklemmt, was eine enorme
Klangvielfalt des Instrumentes zur Folge hat und seinen perkussiven Charakter verstärkt. Noch in einem weiteren
Werk dieses Jahres kommen Alltagsgegenstände zum Einsatz: Living Room Music mit Texten von Gertrude Stein.
Werke: A Chant With Claps (ev. 1947); America was Promises; Four Songs of the Moment; Spiritual; Dance Music: for Elfrid Die; Second Construction;
Bacchanale [4.11.2004]; Imaginary Landscape No. 2 (erste Version); Fads and Fancies in the Academy; Living Room Music [5.11.2004].
1941
Auf Einladung von László Moholy-Nagy unterrichtet Cage eine Klasse in experimenteller Musik an der Chicago
School of Design.
Cage verkehrt im Arts Club, wo er Max Ernst und dessen Frau Peggy Guggenheim begegnet. «Xenia und ich trafen uns häufig mit den Ernsts, sodass ich ihn gut kennen lernte. Da wir uns so gut verstanden, sagte Max Ernst zu
Xenia und mir: ‹Wenn ihr nach New York kommt, könnt ihr bei uns wohnen.›»
Werke: Opening Dance for Sue La[ub] (um 1941); Third Construction; Double Music.
1942
Im Frühling zieht Cage mit Xenia nach New York, wo er Merce Cunningham, der der Martha Graham Dance Com­
pany angehört, zum zweiten Mal begegnet. Mit Credo in Us, für einen Tanz von Cunningham komponiert, beginnt
eine lebenslange Zusammenarbeit. Im selben Jahr schreibt Cage The Wonderful Widow of Eighteen Springs. Zum
ersten Mal verwendet er darin einen Text aus James Joyces Finnegans Wake, zu dem mit den Fingerknöcheln auf
den Deckel eines geschlossenen Flügels geklopft wird.
Über Max Ernst und Peggy Guggenheim lernen die Cages viele Künstler kennen: «Die ganze Welt der Malerei
stand uns offen. Wegen der Situation in Europa lebten viele Künstler hier in New York, zum Beispiel Mondrian und
Breton. Sehr schnell, nach ein paar Abenden bei Peggy Guggenheim, lernte man das ganze Spektrum amerikanischer und europäischer Künstler kennen. Schon damals interessierte sie sich für Jackson Pollock, auch Joseph
Cornell kam regelmäßig zu Besuch. Marcel Duchamp ging dort ein und aus und ich lernte sogar Gypsy Rose Lee
kennen.»
Mit Duchamp freundet sich Cage an und verbringt viel Zeit bei den Duchamps zu Hause, wo Schach gespielt
wird: «Ich habe selten gespielt, weil er so gut und ich so schlecht war. Aus diesem Grund habe ich mit Teeny
gespielt, aber auch sie war viel besser als ich. Hin und wieder pflegte Marcel einen flüchtigen Blick auf unsere
Partie zu werfen, dann machte er wieder ein Nickerchen. Er meinte, wir seien beide dumm. Manchmal wurde er
sehr ungeduldig mit mir. Er warf mir vor, dass ich offenbar nicht gewinnen wollte. Um gut zu spielen, muss man
eine außergewöhnliche Aggressivität besitzen. Ich war so glücklich, mit ihm zusammensein zu können, dass mir der
Gedanke zu gewinnen überhaupt nicht in den Sinn kam.» Cage findet in Duchamp auch einen Geistesverwandten:
«Wie er möchte ich die Unterschiede zwischen Kunst und Leben, zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Darsteller
und Publi­kum usw. aufheben.»
Werke: Dance; Forever and Sunsmell; Opening Dance; Totem Ancestor; Jazz Study; Fourth Construction; Imaginary Landscape No. 2 (March); Imaginary
Landscape No. 3; The City Wears a Slouch Hat; Credo in Us; And the Earth Shall Bear Again; The Wonderful Widow of Eighteen Springs [5.11.2004];
Primitive; In the Name of the Holocaust; Shimmera.
1943
Im Februar leitet Cage eine Aufführung seiner Percussion-Musik im Museum of Modern Art. Mit dem Konzert
beginnt Cage, sich als eine zentrale Figur der Avantgarde zu etablieren. «Ich entdeckte aber sehr schnell, dass der
Bekanntheitsgrad keine Wirkung darauf hat, ob man eine Arbeit bekommt oder ob jemand deine Arbeit fördert
oder irgendetwas für dich tut.» Ein Mitglied des Musikausschusses des Museums ist der 1896 geborene Komponist
und Musikkritiker Virgil Thomson. «Er schrieb einen Artikel über meine Musik, und dieser Text war der Ursprung
des Interesses, das damals für das, was ich tat, erwachte.»
Werke: Ad Lib; Chess Pieces; Lidice; Our Spring Will Come; A Room [16.11.2004]; She Is Asleep; Amores; Four Dances; What So Proudly We Hail; Meditation;
Tossed As It Is Untroubled; Triple-Paced No. 1.
1944
In den letzten beiden Kriegsjahren komponiert Cage vornehm­lich für präpariertes Klavier, zumeist Stücke, die als
Begleitung zu Tanzproduktionen dienen.
Werke: Arrangement of «Socrate» (Erik Satie) (1944 oder 1947); Four Walls; Prelude for Meditation [16.11.2004]; Root of an Unfocus; Spontaneous Earth; The
Unavailable Memory of; Triple-Paced No. 2; The Perilous Night; A Valentine Out of Season; A Book of Music.
1945
Scheidung von John und Xenia Cage.
Werke: Party Pieces; Mysterious Adventure [16.11.2004]; Soliloquy; Experiences I; The Feast; Thin Cry; Three Dances; Daughters of the Lonesome Isle; Crete
(1944/45); Dad (1944/45).
1946
«Mitte der 40er Jahre brauchte ich aufgrund persönlicher Schwierigkeiten, die zur Scheidung mit Xenia führten,
Hilfe, die man normalerweise in der Psychoanalyse findet. Statt dessen habe ich mich mit fernöstlicher Philosophie
beschäftigt. Zen zu praktizieren heißt, an die Dinge realistisch und letzten Endes humorvoll heranzugehen.» In dieser allgemeinen Sinn­krise findet Cage eine Spezialistin für indische Philosophie und Musik: «Ich beschloss, das
Komponieren aufzugeben, wenn ich nicht einen besseren Grund dafür finden würde als Kommunikation. Ich fand
diese Antwort bei Gira Sarabhai, einer indischen Sängerin und Tabla-Spielerin: Der Zweck der Musik besteht darin,
die Seele zu läutern und zu beruhigen und sie so empfänglich für göttliche Einflüsse zu machen.»
Cage studiert an der Columbia University, New York,
östliche Philosophie und die klassische Musik Indiens bei Gira Sarabhai. Von dieser Begeg­nun­g gehen zentrale
Einflüsse auf Cages Leben und Kompo­nieren aus. Aus der immer intensiver werdenden Zusammen­arbeit mit
Cunningham wird eine Lebenspartnerschaft. «Als ich heiratete, war ich 23, aber die Ehe dauerte nur zehn Jahre.
Jetzt lebe ich mit Merce Cunningham in einer Wohnung.»
Werke: Encounter; Foreboding; Ophelia; Prelude for Six Instruments in A Minor; Two Pieces for Piano.
1947
The Seasons, ein Kompositionsauftrag der New Yorker Ballet Society, wird im Mai uraufgeführt. Es ist Cages erstes
Orche­sterstück und zeigt starke Einflüsse indischer Ästhetik. Cho­reo­graphie: Cunningham; Bühnenbild: Isamu
Noguchi.
Für Hans Richters Film Dreams That Money Can Buy schreibt Cage die Musik zur Duchamp-Sequenz, Music for
Marcel Duchamp für präpariertes Klavier.
Werke: Arrangement of «Socrate» (Erik Satie) (1944 oder 1947); Music for Marcel Duchamp [19.–21.11.2004]; Nocturne for Violin and Piano [28.11.2004]; The
Seasons, Ballet in One Act [2.11.2004, Orchesterfassung].
1948
«Ich beschäftigte mich sehr intensiv mit den Jahreszeiten und der indischen Vorstellung von Emotionen, die die
Grundlage der künstlerischen Tätigkeit sind: die vier weißen und vier schwarzen Gefühlszustände sowie der zentrale Gefühlszu­stand, dem keine Farbe zugeordnet ist, der alles bestimmende Seinszustand, der alles dominiert,
gleichgültig welche anderen Emotionen noch zum Tragen kommen. All dem versuchte ich in bestimmten Arbeiten
Ausdruck zu verleihen. Dann begann ich, diese Ideen kompositorisch umzusetzen, zuerst auf Karten und
Diagrammen, ohne meine eigenen Absichten einzubringen. In anderen Worten, ich arbeitete in dem Bewusstsein,
das Gegebene zu akzeptieren, anstatt es kontrollieren zu wollen. Auch wollte ich mein Leben an meiner Kunst messen.» Damit ist dem Zufall der Weg bereitet, der wenig später Eingang in Cages Werk finden wird. Direktes Resultat
dieser Studien sind die 1948 vollendeten Sonatas and Interludes für präpariertes Klavier, bei denen Cage die
beschriebenen neun Gefühlszu­stände der indischen Ästhetik zum Ausdruck bringen möchte. Dabei stützt er sich
auf Schriften von Ananda K. Coomaras­wamy.
Am Vassar College in Poughkeepsie hält Cage den Vortrag A Composer’s Confessions, in dem er zum ersten Mal
eine Musik ohne Töne vorschlägt.
Im Sommer doziert Cage, wie Merce Cunningham auch, am Black Mountain College in North Carolina, wo er das
«Amateur Festival of the Music of Erik Satie»organisiert. Cage hält in diesem Rahmen den Vortrag Defense of Satie
und provoziert mit seinen Bemerkungen über den negativen Ein­fluss Beethovens auf die Entwicklung der westlichen Musik einen Skandal.
Am Black Mountain College lernt Cage R. Buckminster Fuller kennen, dessen Ideen – wie auch die Theorien
Marshall McLuhans – immer wichtiger für ihn werden. Buckminster Fuller erinnert sich: «John Cage and Merce
[Cunningham] and I had breakfasts every morning together out under trees. […] And we really did have a great deal
of fun because I spent that summer with them on a fun, schematic new school, and I called it ‹the finishing school.›
We would finish anything. In other words, we would really break down all of the conventional ways of approaching
school. And the finishing school was going to be a caravan, and we would travel from city to city, and it would be
posted outside of the city that the finishing school was coming. And then we spent the summer trying to decide who
would teach what in the finishing school. We had some devastating portfolios. […] It was really great fun.» Cage: «Es
ist wichtig, dass man die Welt wie Bucky Fuller als Ganzes betrachtet, unsere Probleme als globale Probleme sieht,
die Streitigkeiten zwischen den Nationen so schnell wie möglich aus der Welt schafft und die Welt zu einem Ort
macht, an dem man mit Intelligenz Schwierigkeiten löst.»
Im August komponiert Cage am Black Mountain College die fünfsätzige Suite for Toy Piano für Spielzeugklavier.
Es ist eines der charmantesten und ironischsten Stücke Cages, das – dem Instrument entsprechend – mit äußerst
reduzierten musikalischen Mitteln (Tonvorrat und Dynamik) arbeitet.
Werke: Dream [4.11.2004]; Experiences II; In a Landscape; Orestes; Sonatas and Interludes [30.10.2004]; Suite for Toy Piano [4.11. & 19.–21.11.2004]; Triple
Music.
1949
In der Carnegie Hall kommt es im Januar zur ersten New Yorker Aufführung der Sonatas and Interludes durch Maro
Ajemian. Für ein Mal paaren sich Ruhm und finanzieller Erfolg: Cage erhält ein Guggenheim-Stipendium über 2400
Dollar und eine Auszeichnung von der American Academy und dem National Institute of Arts and Letters über 1000
Dollar. Mit dem Geld leistet Cage sich eine Reise nach Amsterdam, Brüssel, Palermo, Mailand und Paris, wo er auf
Empfehlung Virgil Thomsons beim 24jährigen Boulez in der Rue Beautreillis anklopft. Zwischen den Konzerten und
Tanzrecitals, die er zusammen mit Cunningham in Paris gibt, verbringt er viel Zeit mit Boulez. Nach seiner
Heimreise nach drei Monaten Europa treten Cage und Boulez in einen intensiven Briefwechsel, der bis 1954 andauert.
Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre schreibt Cage zwei seiner bekanntesten und einflussreichsten Texte, die
Lecture on Nothing (1949/50) und die Lecture on Something (zwischen 1949 und 1952). «What we require is silence;
but what silence requires is that I go on talking.» «This is a talk about something and naturally also a talk about
nothing. About how something and nothing are not opposed to each other but need each other to keep on going.»
1950
Cage lernt den 1926 geborenen Pianisten und Komponisten David Tudor kennen, der viele seiner Kompositionen für
Kla­vier uraufführen und mit dem er oft zusammenarbeiten wird. Mit David Tudor und den Komponisten Morton
Feldman, Christian Wolff und Earle Brown, die alle eng miteinander ver­bunden sind, arbeitet Cage daran, die
Klänge von Erin­nerung, Gewohnheit und von ihrer festen Beziehung untereinander zu befreien. Während der
nächsten Jahre macht diese Gruppe laufend gemeinsame Experimente und Entdeckungen.
Im Februar vollendet Cage sein String Quartet in Four Parts, das im Sommer am Black Mountain College uraufgeführt wird. Die darin zur Anwendung kommende «mikrokosmische und makrokosmische Phrasierung» ist Cage
zufolge typisch für seine Kompositionsweise von 1939 bis 1956.
Für ein Filmporträt über den amerikanischen Bildhauer Alexander Calder schreibt Cage in den Jahren 1949/50
die Filmmusik – Music for «Works of Calder» – und erhält dafür 1951 beim ersten amerikanischen Art Film Festival in
Wood­stock den Preis für die beste Filmmusik.
Cage verkehrt im von Robert Motherwell gegründeten «Artist’s Club» in New York und freundet sich mit vielen
Malern des abstrakten Expressionismus an, die ein begeistertes Publikum für seine Musik und Cunninghams Tanz
bilden. «Schon früh habe ich mitbekommen, dass gerade Musiker mich nicht mochten. Die Maler mochten mich
dagegen.»
Werke: A Flower; Music for «Works of Calder» [4.11.2004, mit Film]; Six Melodies for Violin and Keyboard [28.11.2004]; String Quartet in Four Parts
[18.11.2004].
1951
Cage vollendet seine Sixteen Dances für Merce Cunningham, bei denen er die Tonfolgen mittels Diagrammen
bestimmt. «Mein Ballett The Seasons und die Sonatas and Interludes für das präparierte Klavier waren, ebenso wie
mein String Quar­tet, vollkommen expressive Werke. 1950 komponierte ich Sixteen Dances für Merce Cunningham
und es interessierte mich, wie ich einen klaren graphischen Überblick der von mir gewünschten rhythmischen
Struktur zustande bringen konnte. Ich kam auf die Idee, Karten und Diagramme zu benutzen. Und während ich die
Töne und Klangaggregate auf diese Diagramme notierte, erkannte ich, dass sie sich, indem ich sie folgendermaßen
umschrieb, selbst genügten. Anstatt sie, wie ich es vorhatte, auf die Diagramme zu übertragen, hätte ich ebenso gut
anfangen können, die kombinierten Tonsätze direkt zu zeichnen, ohne mich von vornherein für einen be­stimmten
Satz entscheiden zu müssen. Die Entscheidung würde von selbst fallen, ohne mich ‹ebenso gut› wie mit mir. Mein
Geschmack schien mir zweitrangig.»
Christian Wolff macht Cage mit dem I Ging bekannt, dem Buch der Wandlungen. Zum ersten Mal arbeitet Cage
nun mit dem Zufall, indem er seine Verantwortung als Komponist darauf beschränkt, Fragen zu stellen und diese
durch das Mün­zen­werfen des I Ging zu beantworten. Später wird er diese Methode auch auf Texte, Drucke und
sogar auf den Film anwenden. Cage arbeitet an der Music of Changes für Klavier, die vollständig aus
Zufallsoperationen hervorgeht. Seine Kollegen und Kritiker stehen der Entscheidung, den Zufall in die kompositorische Arbeit einzubeziehen, skeptisch gegen­über, da er den Komponisten seiner Verantwortung enthebt und ihm
die Kontrolle über sein Werk nimmt. Cage sieht die Ver­antwortung darin, die richtigen Fragen zu stellen, und möchte sich von Intentionalität befreien.
Cage belegt für drei Jahre die Zen-Kurse von Daisetz T. Suzuki an der Columbia University: «Das hatte zur Folge,
dass sich einerseits das, was ich mit meiner Arbeit sagen wollte, und andererseits die Methode, wie ich meine Arbeit
machte, veränderte. Der Inhalt meiner Arbeit, ihre Aus­sage, war sehr stark von fernöstlichen Begriffen wie
Schöpfung, Bewahrung, Zerstörung und Ruhe geprägt.»
In einem echofreien Raum wird Cage klar, dass Stille nicht existiert, da er seinen eigenen Blutkreislauf hört. Dies
führt ihn zu einer neuen Definition der Stille.
Werke: Concerto for Prepared Piano and Chamber Orchestra; Haiku; Imaginary Landscape No. 4 (March No. 2); Music of Changes; Sixteen Dances
[25.11.2004].
1952
Die Music of Changes wird im Cherry Lane Theater in New York uraufgeführt. Für den Tänzer Jean Erdman schreibt
Cage Imaginary Landscape No. 5, sein erstes Tonbandstück.
Cage komponiert sein Stück Water Music für präpariertes Klavier, Radio, drei Pfeifen, einen Wasserball, zwei
Wasserbe­hälter, ein Kartenspiel und einen Holzstock: «Die Water Music sollte ein Musikstück sein, das aufgrund
seiner visuellen Elemente als Theaterstück rezipiert werden kann. Das heißt, das Musikstück nimmt Elemente des
Theaters auf. Das erste theatermäßige Moment besteht darin, dass der Klavier­spieler auf die Partitur sieht.
Gewöhnlicherweise kann sie außer ihm niemand sehen. Da nun der Akt des Sehens thematisiert werden soll, versuchen wir, diese Handlung zu betonen, damit sie vom Publikum wahrgenommen wird.»
Den Sommer verbringt Cage wieder als Lehrer am Black Mountain College, wo er im Speisesaal des Colleges das
Black Mountain Piece durchführt, eine konzertierte Aktion vor, zwischen und hinter dem Publikum; beteiligt sind –
neben Cage selbst (Koordination, Lesung) – Merce Cunningham (Tänzer), Robert Rauschenberg (Maler), David
Tudor (Musiker), Char­les Olson (Dichter), Jay Watt (Musiker) und Mary Caro­line Richards (Dichterin). Das Stück
gilt als Vorläufer der ersten Happenings. «Rauschenbergs White Paintings (1951) hingen zusammen mit einem großen schwarz-weißen Gemälde, das Franz Kline in diesem Sommer am College gemalt hat, in Form eines Kreuzes von
den Dachbalken herab […].»
Von Rauschenbergs weißen Monochromen lässt sich Cage zu seinem wohl berühmtesten Stück, 4’33’’, anregen, das
im August in Woodstock uraufgeführt wird. «Während des ersten Satzes [bei der Premiere] konnte man draußen den
Wind heulen hören. Im zweiten Satz prasselte der Regen aufs Dach und während des dritten machte das Publikum
allerhand interessante Geräusche, indem sie sich unterhielten oder hinausgingen.»
Werke: Black Mountain Piece; For M. C. and D. T.; 4’33’’ [4.11., 19.–21.11.]; Imaginary Landscape No. 5; Music for Carillon No. 1; Music for Piano 1; Seven
Haiku (1951/52); Two Pastorales; Water Music [4.11.2004]; Waiting [19.–21.11.2004]; Williams Mix.
1953
Merce Cunningham gründet die Cunningham Dance Compa­ny, Cage wird musikalischer Direktor. Ihre Erfindung
einer unabhängigen, aber kooperativen Beziehung von Musik und Tanz wird tiefen Einfluss auf die internationale
Musik- und Tanzwelt ausüben.
Werke: 1’ 1⁄2” for a String Player; 1’ 14” for a String Player; 1’ 18” for a String Player; 1’ 51⁄2” for a String Player; 571⁄2” for a String Player; 591⁄2” for a String
Player; Music for Piano 2; Music for Piano 3; Music for Piano 4–19; Music for Piano 20; Unfinished Work for Voice; Unfinished Work for Magnetic Tape.
1954
In Stony Point, Rockland County, am Oberlauf des Hudson im Staat New York, gründen Freunde von Cage, die sich
am Black Mountain College kennen gelernt haben, eine kooperative Kommune. Cage zieht dorthin, teilt zunächst
ein Quartier mit vier Leuten, lebt bis 1966 in einem kleinen Haus mit drei Zimmern in Stony Point und zieht 1971 aus.
«Ich musste mein Quartier mit vier Leuten teilen, eine Einschränkung meiner Privatsphäre, die ich nicht gewohnt
war. Deshalb bin ich viel in den Wäldern spazieren gegangen. Es war August und zu dieser Jahreszeit sind die Pilze
die Flora des Waldes. Ich sah die leuchtendsten Farben, die man sich vorstellen kann (sind wir nicht alle wie
Kinder?). Ich erinnere mich noch, dass ich mich während der Weltwirtschaftskrise eine Woche nur von Pilzen
ernährte. Zu dieser Zeit beschloss ich, mich intensiver mit Pilzen zu beschäftigen.» «Ein Pilz existiert nur eine kurze
Zeit und wenn man einen Pilz sieht, ist das wie die Begegnung mit einem Klang, der auch nur von kurzer Dauer ist.»
Mit David Tudor beginnt Cage eine Konzerttournee durch Europa, die nachhaltigen Einfluss auf die experimentelle Mu­sik des Kontinents nehmen wird. Die Tournee führt von Do­nau­eschingen über Köln, Paris, Brüssel,
Stockholm, Zürich, Mailand nach London. In Paris trifft Cage erneut Boulez. In diesem Jahr bricht der Briefwechsel
zwischen den beiden ab.
Im Oktober wird Cages Vortrag 45’ for a Speaker erstmals aufgeführt: Texte unterschiedlicher Länge werden
innerhalb einer gleich bleibenden Zeitdauer gelesen.
Werke: Music for Carillon No. 2; Music for Carillon No. 3; 34’46.776” For a Pianist; 31’57.9864” for a Pianist.
1955
Zurück in den USA lernt Cage den Maler Jasper Johns kennen. «Es war ein Glücksfall, dass wir zusammentrafen. Bei
Gesprächen mit Tudor oder Cunningham oder Johns kommt es vor, dass mir das, was sie sagen, wieder Rätsel aufgibt, selbst nach so vielen Jahren. Bei den dreien weiß ich nie im voraus, was sie sagen werden.» Mit Cunningham
geht Cage auf Tournee an der Ost- und Westküste und in Kanada.
Mit Hilfe David Tudors stellt Cage die graphische Partitur von 26’1.1499” for a String Player fertig, ein Stück, das
mehrere der früheren Zeitdauern-Stücke von Cage in sich aufnimmt und in unterschiedlicher Streicherbesetzung
gespielt werden kann. Kompositorische Grundlage des Werks sind Zufallsoperationen sowie Unregelmäßigkeiten im
Noten­papier.
Werke: 26’1.1499” for a String Player [10.11.2004]; Music for Piano 21–52; Speech 1955.
1956–58
Cage unterrichtet an der New School for Social Research in New York. «Es ergab sich, dass viele Leute gekommen
sind, um bei mir zu studieren. Aber bei jedem habe ich versucht, herauszufinden, wer er war und was er tun könnte. Folglich bin meistens ich der Schüler.» Zu seinen Schülern gehören die späteren Protagonisten der FluxusBewegung: George Brecht, Al Hansen, Dick Higgins, Toshi Ichiyanagi, Allan Kaprow und Jackson MacLow.
«Wenigstens haben sie [die Studenten] mir beigebracht – zumindest diejenigen von der New School for Social
Research –, dass ich es vorzog, nicht zu lehren.»
Werke 1956: 27’10.554” for a Percussionist [10.11.2004]; Music for Piano 53–84; Radio Music.
1957
Cage beginnt mit der Arbeit an seinem Concert for Piano and Orchestra, das er 1958 vollendet. Das Stück besteht aus
autonomen Einzelstimmen und kann ganz oder teilweise, in jeder Zeit, als Solo, Kammermusik, Symphonie,
Konzert für Klavier und Orchester, Arie oder anderes aufgeführt werden; alle Stimmen, außer dem Part des
Klaviers und des Dirigenten, können doppelt besetzt werden.
Werke: For Paul Taylor and Anita Dencks; Winter Music [30.10.2004].
1958
Jasper Johns, Robert Rauschenberg und Emile de Antonio organisieren im Mai ein retrospektives Konzert als
Rückblick auf «25 Jahre Musik von John Cage» in der New Yorker Town Hall. Zum ersten Mal wird Cages später
berühmtes Concert for Piano and Orchestra, für dessen Solo 84 verschiedene Kompositionsmethoden zum Einsatz
gekommen sind, von David Tudor aufgeführt. Merce Cunningham fungiert dabei als «Metronom veränderlichen
Taktschlages». In der Stable Gallery wird eine Reihe von Cages Partituren ausgestellt.
Mit David Tudor reist Cage im Sommer nach Europa (Stock­holm, Kopenhagen, Köln, Hamburg, Oxford) und hält
an den «Internationalen Ferienkursen für Neue Musik» in Darmstadt drei Vorträge unter dem Titel Composition as
Process, in denen er über seine Music of Changes spricht. Die Längen der einzelnen Paragraphen (und der Pausen)
werden vom Zufall bestimmt. Wird der Vortrag im Takt gelesen, dauert er genauso lang wie das Klavierstück. In
Darmstadt trifft Cage auch den Koreaner Nam June Paik. An der Weltaus­stellung in Brüssel hält Cage seinen
Vortrag Indeterminacy, New Aspects of Form in Instrumental and Electronic Music. Er besteht aus 30 Geschichten,
die je eine Minute dauern.
Auf Einladung von Luciano Berio verbringt Cage vier Monate in Mailand und komponiert in einem Studio des
Mai­länder Radios Fontana Mix. Die Partitur besteht aus transparenten Plastikfolien, die bei verschiedener
Überlagerung unterschiedliche Realisationen des Stücks ergeben.
Werke: Concert for Piano and Orchestra (1957/58) [30.10.2004], darin enthalten zahlreiche auch als Solo realisierbare Instrumentalstücke; Adaptation of
«Ixion» (Morton Feldman); Aria [30.10.2004]; Fontana Mix [9.11.2004]; Haiku; Music Walk; Six Short Inventions (Umarbeitung des Stückes von 1934); Solo
for Voice 1; TV Köln [16.11.204]; Variations I.
1959
Cages Pilzkundigkeit macht sich im Wortsinn bezahlt: In der italienischen Fernsehquizshow «Lascia o Raddoppia»,
bei der auch Water Walk und Sounds of Venice – zwei audiovisuelle Stücke, die Ausarbeitungen von Fontana Mix
sind – zur Auf­führung gelangen, gewinnt Cage 6000 Dollar als Pilzexperte. Den größten Teil des Gewinns investiert
er in einen kleinen Bus für die Cunningham Dance Company.
Im März kehrt Cage aus Europa zurück und lehrt erneut an der New School for Social Research zu den Themen
Pilzidenti­fi­kation, Die Musik von Virgil Thomson, Experimentelle Komposition.
Werke: Sounds of Venice; Water Walk.
1960
Cage wird sich seiner editorischen Inexistenz bewusst: «Eines Tages […] legte ich meinen Stift beiseite und fasste
den Be­schluss, keine einzige Note mehr zu schreiben, bis ich einen Verleger gefunden hatte. Ich nahm die Gelben
Seiten und ging alle Musikverlage durch, bis ich auf Peters stieß. Meine Wahl fiel auf diesen Verlag, weil mir irgend
jemand einmal gesagt hatte, dass Mr. Hinrichsen an amerikanischer Musik interessiert sei. Also rief ich einfach an
und bat um ein Gespräch mit ihm. Er hörte sich sehr begeistert an und sagte: ‹Ich freue mich, dass Sie mich anrufen.
Meine Frau [die Cage vom Mills College her kennt] wollte schon immer, dass ich Ihre Musik herausgebe.› Am selben
Tag trafen wir uns zum Essen und unterzeichneten den Vertrag.»
Für längere Zeit verlässt Cage Stony Point, da er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Wesleyan University
in Middle­town, Connecticut, berufen wird. Hier arbeitet er an Silence, der ersten Anthologie seiner Vorträge und
Schriften.
Im August geht Cage mit Tudor und der Cunningham Com­pany auf Tournee nach Bremen, Venedig, Berlin, Mün­
chen, Köln und Stockholm. Im Kölner Atelier von Mary Bauer­meister wird Cartridge Music mit Cornelius Cardew,
Hans G Helms, Christian Wolff, Mauricio Kagel, Benjamin Patterson, Kurt Schwertsik und David Tudor uraufgeführt.
Nam June Paik führt am selben Abend seine Etude for Piano auf.
Im Umfeld der Entstehung des Klavierkonzerts schreibt Cage Solo for Voice 2 für eine oder mehrere Stimmen. Das
Stück liegt dem Solo for Voice 45 aus den 1970 komponierten Song Books zugrunde und kann gemeinsam mit dem
Concert for Piano and Orchestra, Fontana Mix, Cartridge Music oder den Song Books aufgeführt werden.
Werke: Cartridge Music; Duet for Cymbal; Music for Amplified Toy Pianos; Music for «The Marrying Maiden»; Piano Duet; Solo for Voice 2 [9.11.2004];
Theatre Piece; WBAI; Where Are We Going? And What Are We Doing?
1961
Cages Anthologie Silence erscheint in der Wesleyan University Press und enthält eine Sammlung älterer Texte, darunter die Lecture on Nothing, die Lecture on Something und Indeterminacy. Gewidmet ist das Buch «To Whom It
May Concern».
Werke: Music for Carillon No. 4; Variations II.
1962
Cage gründet mit Freunden die «New York Mycological Society».
Im Herbst geht Cage mit David Tudor auf eine sechswöchige Konzerttournee durch Japan. Dort entsteht unter
anderem sein Stück 0’00” (4’33” No. 2), dessen Uraufführung mit der Niederschrift des einseitigen Textes identisch
ist. Der Text der Partitur lautet: «Solo to be performed in any way by anyone | For Yoko Ono and Toshi Ichiyanagi
1962. | In a situation provided with maximum amplification (no feedback), perform a disciplined action.»
1962/63 werden auf Fluxus-Konzerten in Europa (Kopen­hagen, Paris, London, Düsseldorf und Wuppertal) verschiedene Stücke von Cage realisiert.
Werke: Atlas Eclipticalis (1961/62); Music for Piano 85; 0’00” (4’33” No. 2) [19.–21.11.2004].
1963
Cage organisiert und präsentiert im September die erste New Yorker Aufführung von Saties Vexations, ein kurzes
Stück mit 840 Wiederholungen: die Vorstellung dauert 18 Stunden und 40 Minuten. «Mitten in der achtzehnstündigen Vorführung änderte sich unser Leben. Wir waren sprachlos, weil etwas geschah, das wir nicht in Betracht gezogen hatten und meilenweit davon entfernt waren, es vorhersehen zu können.»
Cage vollendet Variations IV, wie die anderen Stücke dieses Zyklus ein unbestimmtes Werk für eine unbestimmte Zahl von Interpreten und beliebige geräuscherzeugende Mittel. Bei Variations IV steht der Raum im
Vordergrund, Geräusche wandern um das Publikum herum – was durch Audiotechnik und/oder Umhergehen des/
der Interpreten bewerkstelligt wird.
Marcel Duchamps Einfluss auf Cages Werk gewinnt an Bedeutung. Dem verleiht Cage mit seinen 26 Statements
re Duchamp Ausdruck, eines der 26 Statements lautet: «One way to write music: study Duchamp.»
Für eine japanische Radiostation verfasst Cage die Neu­jahrsansprache und wünscht allen Hörern «Happy New
Ears!»
Werke: Variations III (1962/63); Variations IV.
1964
Auf Betreiben von Leonard Bernstein führt das New York Philharmonic Orchestra Atlas Eclipticalis im Lincoln
Center auf: gemischte Reaktionen beim Publikum wie beim Orchester selbst.
Zusammen mit der Cunningham Dance Company geht Cage auf eine Welttournee, die über Thailand, Japan,
Indien und Europa führt. Cages Vater stirbt.
Werke: Collage of some «Studies for Player Piano» (Conlon Nancarrow); Electronic Music for Piano.
1965
Zu Ehren der Ideen Buckminster Fullers beginnt Cage sein Text-Projekt Diary: How to Improve the World (You Will
Only Make Matters Worse), dessen Struktur durch Zufalls­operationen bestimmt wird.
Gemeinsam mit Alvin Lucier realisiert Cage im April Rozart Mix. Die Partitur besteht aus Fotokopien von Briefen
zwischen Cage und Lucier, in denen die Vorbereitungen für die Uraufführung an der Brandeis University besprochen werden.
Cage wird Präsident der Cunningham Dance Foundation und Direktor der Foundation for Contemporary
Performance Arts.
Werke: Rozart Mix; Variations V [Film 31.10.2004].
1966
Abgesehen von Auftritten in Frankreich und in New York zieht sich Cage nach Stony Point zurück. Im Oktober wird
seine multimediale Komposition Variations VII während der von Robert Rauschenberg finanzierten und von dem
Ingenieur Billy Klüver mit Kollegen der Bell Laboratories organisierten Nine Evenings: Theater and Engineering
uraufgeführt.
Werke: Variations VI; Variations VII [Film 31.10.2004].
1967
Vor einem Rekordpublikum von 5000 Besuchern findet in Illinois Cages erster Musicircus statt. Dabei werden
gleichzeitig und unabhängig voneinander so viele musikalische Aktio­nen durchgeführt, wie die Zahl der
Beteiligten, der zur Ver­fügung stehende Raum und die zur Verfügung stehende Zeit erlauben. «Es ist das Prinzip
einer flexiblen Beziehung, einer Flexibilität von Beziehungen. Gegenseitige Durchdringung muss durch die NichtBehinderung entstehen.»
Cages Buch A Year from Monday. New Lectures and Writings erscheint in der Wesleyan University Press.
Werke: Music for Carillon No. 5; Music for «Museum Event No. 5»; Musicircus; Newport Mix.
1968
Auf die Frage, ob er sich mit der Studentenbewegung einverstanden erkläre, antwortet Cage, der sich selber von
den Zwän­gen der Gesellschaft und die Töne aus ihrem traditionellen Zeit- und Klanggehege befreit hat, mit einem
kurzen «Ja» und einem längeren «Aber», an das er eine Geschichte von seiner Zusammenarbeit mit einem
Revolutionären Studenten­kon­gress anschließt, in der er der Bewegung vorwirft, technisch ungenügend organisiert
zu sein. «Ich bin an der Anwen­dung von Intelligenz und an der Lösung unmöglicher Proble­me interessiert […],
darum geht es in unserer Gegenwart. Der Unterschied zwischen Kommunismus und Kapitalismus oder zwischen
Demokraten und Republikanern ist mir egal. Ich finde sie alle unausstehlich.» Selten hört man vom milden Gage,
der die Abschaffung von Aggressionen proklamiert, so kräftige Ausdrücke, wie wenn er seinen Standpunkt des
ge­mäßigten Anarchismus erläutert: «Was das Wort ‹Anarchist› nun ganz streng genommen oder im philosophischen
Sinne heißt, weiß ich nicht, aber ich mag keine Herrschaft! Und ich mag keine Institutionen!»
Cage wird zum Mitglied des Institute of American Acade­my und des National Institute of Arts and Letters
gewählt. Außerdem erhält er ein Thorne-Stipendium über 10000 Dollar.
Im selben Jahr entwickelt Cage Reunion, bei dem eine Vielzahl von Geräuschsystemen durch die Züge auf einem
elektronisch präparierten Schachbrett beeinflusst werden. Aufgeführt wird Reunion von Marcel und Teeny
Duchamp, David Behrman, Loweli Cross, Gordon Mumma und David Tudor in Toronto.
Im Oktober sterben Cages Mutter und Marcel Duchamp.
Werke: Arrangement of «Socrate» (Erik Satie); Assemblage; Reunion [Film 31.10.2004]; 0’00” No. 2.
1969
9000 Besucher aus den Vereinigten Staaten und Europa er­scheinen in Illinois zur Aufführung von HPSCHD, einem
multimedialen Spektakel, zu dessen Komposition ein Computer eingesetzt wird und an dessen Entwicklung Cage
gemeinsam mit Lejaren Hiller zwei Jahre lang gearbeitet hat.
Zusammen mit Calvin Sumsion arbeitet Cage an seinem ersten größeren bildnerischen Werk: Not Wanting to Say
Anything About Marcel. In seinen Schriften interessiert er sich zunehmend für die Befreiung der Worte von der
Syntax und ihrer festgelegten Bedeutung. Damit möchte er Sprache im Sinne von Norman O. Brown «entmilitarisieren» und die Grenzen zwischen verschiedenen Sprachen überschreiten.
Cage übersiedelt teilweise wieder nach New York an die Bank Street, später in ein Loft an der 6th Avenue: «Alles
in diesen Räumen ist sichtbar, wie Musik hörbar ist. Die un­gleich­mäßig aufgehängten Bilder ähneln Noten in einem
Notensystem. Aber die Musik, die in den Räumen zu hören ist, sind vorwiegend die Straßengeräusche der 6th
Avenue.» In den 70er Jahren wird Cunningham bei Cage einziehen.
Im Rahmen des Mewantemooseicday, eines Events für Sprecher, Sänger, Klavier, Orchester und Publikum auf
dem Campus der University of California in Davis realisiert Cage sein Pro­jekt 33 1/3: «Als wir es das erste Mal präsentierten, hatten wir ein Dutzend Phonographen und fast 250 Platten zur Hand. Als das Publikum den Saal betrat,
konnte es keine Sitzgelegen­heiten vorfinden. Rings um den Raum gab es nur Tische mit Bergen von Schallplatten
und Lautsprechern, die überall im Raum verteilt waren. Jedem Mitglied des Publi­kums wurde sehr schnell klar, dass
sie, wenn sie Musik wollten, sie sich selber produzieren mussten.»
Werke: Bearbeitung von «Studies for Player Piano» (Conlon Nancarrow); Cheap Imitation (piano); HPSCHD; Mewantemooseicday; Program (KNOBS) for
the Listener; Sound Anonymously Received (ev. 1978); 33 1/3 [19.–21.11.2004]; Untitled (Work for Antoinette Vischer).
1970
Erneut arbeitet Cage als Fellow for Advanced Studies an der Wesleyan University. Immer mehr macht er von Henry
David Thoreaus Schriften Gebrauch, um daraus eigene Musik und Texte abzuleiten. Er komponiert Song Books für
Solostimmen mit Textmaterial von Merce Cunningham, Marcel Duchamp, Buckminster Fuller, James Joyce,
Marshall McLuhan, Erik Satie, Henry David Thoreau und anderen.
Im November stellt Cage Mureau (eine Fusion der Worte «Music» und «Thoreau») fertig: Mittels des
Sachregisters der Dover-Ausgabe von Henry David Thoreaus Journal wählt er aus Textstellen, in denen Klänge,
Stille und Musik erwähnt werden, per Zufallsoperationen Sätze, Satzteile, Wörter, Sil­ben und Buchstaben aus.
Konzipiert als Lesetext, ist Mureau in Kolumnen und mit verschiedenen Schrifttypen desselben Schriftgrades
(Größe, Strichstärke) gesetzt.
Werke: Dialogue or Dialog (ev. 1977); First Week of June; Mureau [9.11.2004]; Song Books (Solos for Voice 3–92) [30.10.2004]; Untitled (work for Joao Miró).
1971
Cage übersiedelt endgültig von Stony Point nach Manhattan. Er übergibt seine Privatbibliothek über Mykologie,
die als beste in Amerika angesehen wird, der University of Califor­nia, Santa Cruz. Druckt 62 Mesostics re Merce
Cunningham. Nebenbei studiert er die Schriften von Mao Tse-tung.
Im Herbst findet Demonstration of the Sounds of the Environment an der University of Wisconsin, Milwaukee, statt:
«Es kamen ungefähr 300 Leute in den Konzertsaal und ich sprach zu ihnen darüber, welches Vergnügen Umweltge­
räusche bereiten. Anschließend ermittelten wir anhand von I Ging-Zufallsoperationen auf der Karte des Universitäts­
gelän­des eine Route, die wir gemeinsam innerhalb von 45 Minuten oder einer Stunde zurückzulegen hatten. Dann sind
wir so ruhig wie möglich und auf jedes Geräusch achtend diese Route durch das Universitätsgelände gelaufen. Es war
eine soziale Erfahrung […]»
Werke: Demonstration of the Sounds of the Environment [19.–21.11.2004]; Les chants de Maldoror pulvérises par l’assistance même; WGBH-TV.
1972
Auf einer großen Europatournee führen Cage und Tudor vor allem 62 Mesostics re Merce Cunningham oder Mureau
auf.
Werke: Bird Cage; Cheap Imitation (orchestra); 52/3.
1973
Ein Wochenendkurs in Chinesisch liefert Cage die Basis für einen größeren poetischen Text nach Zeichnungen von
Henry David Thoreau: Empty Words, ein «Übergang von Sprache in Musik». Häufig werden bei Aufführungen die
zugehörigen Zeichnungen von Thoreau projiziert.
Publikation von M: Writings ’67–’72 (Wesleyan University Press, Middletown/Connecticut).
Werke: Etcetera; Exercise (1973–84).
1974
Cage beginnt mit der Arbeit an den Etudes Australes für Solo­klavier, wobei er wieder Sternkarten verwendet. Der
Kompo­si­tion Score (40 Drawings by Thoreau) and 23 Parts: Twelve Haiku … legt Cage Thoreaus Zeichnungen
zugrunde.
Werke: Music for «Westbeth»; Score (40 Drawings by Thoreau) and 23 parts: Twelve Haiku followed by a Recording of the Dawn at Stony Point, New York,
August 6, 1974. [9.11.2004]; Two Pieces for Piano (Bearbeitung der Fassung von 1935).
1975
Cage schreibt Child of Tree für akustisch verstärktes pflanzliches Material. Im Sommer geht er auf Konzertreise nach
Deutschland, später mit Cunningham nach Mexiko, Südamerika, Japan und Australien.
Zwischen September 1975 und April 1976 entsteht Renga für beliebige Instrumente und/oder Stimmen (bis zu 78
Aus­führende), eine graphische Notation, in der 361 Zeichnungen aus Henry David Thoreaus Journal in
Miniaturfragmente zerschnitten und auf Notenlinien übertragen werden.
Werke: Etudes Australes (1974/75); Child of Tree (Improvisation I) [30.10. & 9.11.2004]; Lecture on the Weather.
1976
Von Mai bis August ist Cage in Frankreich unterwegs, wo unter anderem Atlas Eclipticalis uraufgeführt wird. Im
Zusammen­hang mit der 200-Jahr-Feier der Amerikanischen Unabhängig­keitserklärung werden in Boston Renga und
Apartment House 1776, das aus Liedern von Protestanten, Sklaven und Indianern besteht, uraufgeführt. Cage beginnt,
sich intensiv mit Finnegans Wake von James Joyce zu beschäftigen.
Werke: Renga (1975/76) [30.10.2004]; Branches; Imitations II; Quartets I–VIII 24 players; Quartets I–VIII 41 players; Quartets I–VIII 93 players; Apartment
House 1776 [30.10.2004].
1977
Cage beginnt auf Empfehlung von Yoko Ono eine makrobiotische Diät unter Anleitung von Shizuko Yamamoto, um –
nach vergeblichen ärztlichen Bemühungen mit hohen Dosen Aspirin – sein Gelenkleiden (Arthritis) zu heilen. Mit 65
Jahren fühlt sich Cage zu jung für Altersbeschwerden. Er trinkt keinen Alkohol mehr und hört auf zu rauchen. Die
Schmerzen vergehen nach wenigen Monaten. «Wahrscheinlich werde ich zum Zeitpunkt meines Todes in bester
Verfassung sein.»
Cage beginnt mit der Arbeit an einem Projekt, das ihn, mit Unterbrechungen, bis 1990 beschäftigen wird: die
Freeman Etudes für Violine solo. Der erste Teil (1977–80) dieser technisch sehr anspruchsvollen Partitur entsteht in
enger Zusam­menarbeit mit dem Geiger Paul Zukofsky; der zweite Teil (1989/90) wird durch das virtuose Spiel Irvine
Ardittis angeregt: «Ich habe ganz bewusst versucht, die Stücke so schwierig wie möglich zu gestalten, weil ich der
Ansicht bin, dass wir in unserer Gesellschaft mit sehr ernsten Problemen konfrontiert sind. Wir neigen sogar dazu,
die Situation als hoffnungslos zu bezeichnen, sodass es unmöglich scheint, etwas zu unternehmen, um alles zum
Besseren zu wenden. Ich glaube, dass die Musik, die man kaum spielen kann, als Beispiel für die Mach­barkeit des
Unmöglichen dient.»
Werke: Address; Alla Ricerca del Silenzio Perduto; Cassette; Cheap Imitation (violin); Dialogue or Dialog (ev. 1970); 49 Waltzes for the Five Boroughs;
Freeman Etudes (1977–80, 1989/90) [1.11.2004]; Il Treno; Inlets (Improvisation II); Quartets I, V and VI; Telephones and Birds.
1978
Auf Einladung von Kathan Brown geht Cage nach Oakland, um mit Zufallsoperationen und verschiedenen Techniken
Ra­die­rungen herzustellen. «Ich wurde gebeten, bei der Crown Point Press Radierungen herzustellen. Obwohl ich keine
Ahnung davon hatte, habe ich sofort zugesagt, weil ich 20 Jahre zuvor eine Einladung zu einer Himalaja-Reise abgelehnt hatte. Nach­dem ich erfahren hatte, dass die Reise auf Elefantenrücken mit Elefantenboys stattfinden sollte, habe
ich immer bedauert, diese Gelegenheit nicht wahrgenommen zu haben.» Die Arbeit bei der Crown Point Press wird in
den folgenden Jahren fortgesetzt.
Im selben Jahr erscheint Cages Text Writing through Finnegans Wake und Cage wird zum Mitglied der American
Academy of Arts and Sciences gewählt.
Werke: A Dip in the Lake: Ten Quicksteps; Sixty-two Waltzes, and Fifty-six Marches for Chicago and Vicinity; Chorals; Etudes Boreales I–IV; Pools; Sound
Anonymously Received (ev. 1969); Sounday; Some of «The Harmony of Maine» (Supply Belcher); Variations VIII [25.11.2004].
1979
Auf Anregung von Klaus Schöning vom Studio Akustische Kunst des WDR Köln und im Auftrag verschiedener
europäischer Radiostationen produziert Cage Roaratorio: An Irish Circus on Finnegans Wake. Das radiophone Stück
besteht aus mehreren tausend Geräuschen, die in Joyces Buch erwähnt werden oder die Cage an Orten, die im Buch
erwähnt werden, aufgenommen hat. Cage entwickelt eine Matrix, Bücher in Musik zu «übersetzen», und veröffentlicht sie unter dem Titel ___ , ___ ___ Circus on ___ .
In Bonn findet ein Cage-Festival statt, bei dem er selbst Empty Words aufführt. Cage vollendet James Joyce,
Marcel Duchamp, Erik Satie: An Alphabet.
Werke: ___ , ___ ___ Circus on ___ ; Concerto Grosso; Hymns and Variations; Paragraphs of Fresh Air; Roaratorio: An Irish Circus on Finnegans Wake
[30.10.2004]; Silent Environment.
1980
Cage schreibt Writing for the Third und Fourth Time through Finnegans Wake. Im Januar macht er weitere Drucke
bei der Crown Point Press, im Sommer reist er mit Cunning­ham nach Reykjavik, Liverpool, London – wo die beiden
eine Reihe von interdisziplinären Workshops veranstalten –, Straß­burg und Mailand.
Werke: Furniture Music Etcetera; Improvisation III; Litany for the Whale.
1981
Cage komponiert die Thirty Pieces for Five Orchestras, nimmt an der Aufführung von Roaratorio in Paris teil und
schreibt Composition in Retrospect, ein Text, in dem er sich, wie schon in seinen «Lectures», auf seine eigene
Arbeitsform bezieht.
Im Bahnhofsrestaurant der französischen Stadt Metz realisiert Cage sein Stück Evéne/Environne METZment, «for
an audience that might produce sounds», das im Wesentlichen aus dem Geräusche erzeugenden und hörenden
Publikum besteht.
Werke: Evéne/Environne METZment [19.–21.11.2004]; Thirty Pieces for Five Orchestras.
1982
Zu Cages 70. Geburtstag finden zahlreiche Festivals, Projekte, Radiosendungen und Ausstellungen in aller Welt
statt. Beim Bremer Festival «Pro Musica Nova» organisiert Cage A House Full of Music, einen «Circus» mit
Schulkindern. Aus dem Katalog der Uraufführung: «Mit dieser neuen Komposi­tion macht Cage einen alten Traum
wahr: Gleichzeitig in einer Vielzahl von Räumen Musik aller Zeiten und aller Arten miteinander zum Erklingen zu
bringen […] Es werden an 37 verschiedenen Orten […] und auf mehreren Etagen, die allesamt in gemeinsame
Innenhöfe münden, über 800 Kinder Musik­stücke der eigenen Wahl und in allen Besetzungen, vom Solo bis zum
Orchester, von der Klassik bis zum Jazz, aufführen, wie wiederum John Cage diese Vielzahl von Klängen zu einem
einzigen Klangereignis zusammenführen wird.»
Werke: Alphabet; Dance/4 Orchestras; Fifteen Domestic Minutes; A House Full of Music [19.–21.11.2004]; Improvisation IV; Instances of Silence; Postcard from Heaven.
1983
Roaratorio wird in Lille und Frankfurt aufgeführt. Cage be­ginnt eine Serie von Bleistiftzeichnungen unter dem Titel
Where R = Ryoanji; der Titel nimmt Bezug auf den berühmten japanischen Garten Ryoanji in Kyoto.
Publikation von X: Writings ’79–’82 (Wesleyan University Press, Middletown/Connecticut).
Werke: ear for EAR (Antiphonies); R/13 (Where R=Ryoanji); Souvenir; Thirty Pieces for String Quartet.
1984
Cage beginnt mit der Arbeit an Music For ___ (der Titel wird durch die Zahl der Interpreten ergänzt) und produziert
in Köln HMCIEX, das er im Rahmen des Olympic Arts Festival in Los Angeles aufzeichnet. Mit Cunningham tritt
Cage in Madras, Korea und Norwegen auf. Beginn der Arbeit mit einem Personal Computer.
Werke: HMCIEX (1983/84); A Collection of Rocks; Eight Whiskus (voice) [9.11.2004]; Exercise (1973/84); Haikai; Mirakus2; Music For ___ (1984–87) [Version
Music for Four: 5.11.2004]; Musicircus for Children; Nowth Upon Nacht [5.11.2004]; Perpetual Tango; Selkus2.
1985
Gruppenausstellung «Raum Zeit Stille» im Kölner Kunst­verein mit Partituren und Zeichnungen von John Cage. Im
Januar arbeitet Cage wieder bei der Crown Point Press. A Collection of Rocks hat in Zagreb Premiere; Music for Nine
wird in São Paulo aufgeführt.
Cage erhält den Auftrag für Europeras I & II von den Städtischen Bühnen in Frankfurt.
Werke: The First Meeting of the Satie Society the Socie Satiety (1984/85); ASLSP; But What About the Noise of Crumpling Paper; Eight Whiskus (violin)
[Version für Violoncelli: 9.11.2004]; Etcetera 2/4 Orchestras; Ryoanji (1983–85); Sonnekus2; Thirteen Harmonies.
1986
Das California Institute of the Arts verleiht Cage den Ehren­doktor. Cage machte The First Meeting of the Satie
Society im Art Com Electronic Network elektronisch zugänglich, das durch WELL (Whole Earth Electronic Link)
über Telenet übermittelt wird. Damit wird ein alter Traum von Cage wahr: Austausch von Informationen, die auf der
ganzen Welt jederzeit über Computer abrufbar sind. Für Gamelan-Ensemble komponiert Cage Haikai.
Werke: Haikai [15.11.2004]; Hymnkus; Improvisation A+B; Rocks; Vis-à-vis; Voiceless Essay (1985/86); Wishing Well.
1987
Wieder arbeitet Cage bei Crown Point Press. Der WDR in Köln widmet Cages Werk eine 24stündige Sendung unter
dem Titel «Nachtcagetag», an der Cage selbst mitwirkt. Das Los Angeles Festival würdigt Cages 75. Geburtstag mit
Konzerten. Mit Two beginnt Cage eine Reihe von Stücken, deren Titel sich aus der Zahl der beteiligten Interpreten
ergibt, die keine gemeinsame Idee haben. Cage: «Genau das ist die Idee dabei.»
Am 12. Dezember findet in Frankfurt die Uraufführung von Europeras I & II statt.
Werke: Essay; Europeras I & II; One; Organ2/ASLSP; Truckera; Two.
1988
Reise nach Leningrad und Moskau. Dreiwöchiger Workshop mit Konzerten im Königlichen Konservatorium in Den
Haag.
Auf Anregung von Ray Kass führt Cage die New River Watercolors, eine Serie von 52 Bildern, aus.
Als Charles-Eliot-Norton-Professor für Poesie im Studien­jahr 1988/89 hält Cage eine Reihe von sechs
Vorlesungen und sechs Seminaren an der Harvard University.
Cage schreibt eines seiner frühen «Nummernstücke» für die Wittener Tage für neue Kammermusik: Five, für
variable Besetzung.
Werke: Five [5.11.2004]; Five Stone; Five Stone Wind; Four Solos for Voices; 101; Seven; Twenty-Three.
1989
Die Cunningham Dance Company produziert einen Gala­abend, um Cage zu feiern. Die Inamori Foundation verleiht
Cage den Kyoto-Preis 1989. Mit Stones, Dramatic Fire, The Missing Stone und 75 Stones realisiert Cage weitere Bild­
zyklen an der Crown Point Press.
Werke: Four [18.11.2004]; One2 [4.11.2004]; One3; Sculptures Musicales; Sports: Swinging [16.11.2004]; Three; Two2.
1990
Unter dem Titel I–VI erscheinen Cages Norton-Lectures bei der Harvard University Press, Cambridge. Im November
schließt Cage die langwierige Arbeit an seinen Freeman Etudes ab. Am 17 Juni wird Europeras III & IV beim Almeida
Festival in London uraufgeführt.
Werke: c Composed Improvisations; Europeras III & IV; Four2; Fourteen; One4; One5; One6; One7; Scottish Circus;
Seven2; The Beatles 1962–1970.
1991
Die Zürcher Festwochen sind dem Werk James Joyces und John Cages gewidmet. Cage wird mit einer Aufführung
der Europeras I & II und der Ausstellung «John Cage: Zeich­nun­gen und Partituren» im Kunsthaus Zürich geehrt.
Cage erstellt das Konzept für einen Raum in der Aus­stel­lung «Kunst als Grenzbeschreitung. John Cage und die
Moderne» in der Neuen Pinakothek in München: Aus den Beständen an­derer Münchner Museen werden Objekte
durch Zufalls­opera­tionen ermittelt und präsentiert.
Unter dem Titel Smoke Weather Stone Weather macht Cage eine neue Serie von Radierungen.
Werke: Eight; Europera V; Five2; Five3; Five4; Five5; Five Hanau Silence; Four3; Four4; Four5; Lullaby; Mozart Mix; One8; One9; 103 [Film 7.11.2004]; 108;
Six; Ten [25.11.2004]; Three2; Twenty-Six, Twenty-Eight and Twenty-Nine; Twenty-Six; Twenty-Eight; Twenty-Nine; Two3; Two4; Two5.
1992
Gemeinsam mit Henning Lohner realisiert Cage in München seinen einzigen Film, das Stück One11 for solo camera
man und erprobt damit neue Anwendungsfelder seinempositorischen Methodik der Zufallsoperation. «Ich werde
jetzt ziemlich alt, wenn ich also die Gelegenheit bekomme, etwas zu machen, greife ich sofort zu, anstatt zu zögern,
denn es bleibt nicht mehr viel Zeit.» «Der Film wird natürlich über die Wir­kung von Licht in einem leeren Raum
sein. Aber kein Raum ist tatsächlich leer und das Licht wird zeigen, was darin ist. Und all dieser Raum und dieses
Licht werden mittels Zufalls­operationen gesteuert werden.»
Im März vollendet Cage eines seiner letzten Stücke, Fifty-Eight, geschrieben für das Pannonische Blasorchester
Ober­schützen und den steirischen herbst.
Am 12. März stirbt John Cage, kurz vor seinem 80. Geburtstag, in seiner New Yorker Wohnung an einem
Schlaganfall.
Werke: Eighty; Fifty-Eight [30.10.2004]; Four6; Muoyce II; One10; One11 [Film 7.11.2004]; One12; One13; Otte; Seventeen; Seventy-Four; Sixteen; Sixty-Eight;
Thirteen; Two6.
Berno Odo Polzer: «Ich möchte immer wieder bei null beginnen …». Eine John-Cage-Chronologie,
in: Katalog Wien Modern 2004, hrsg. von Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer,
Saarbrücken: Pfau 2004, S. 15-25.