Skript 2
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Skript 2
In einem Lager werden von der Produktion gefertigte Waren zwischengelagert, bevor diese zum Kunden geliefert werden. Die Lagerbestandskontrolle kann als betriebswissenschaftliches Problem in Diagrammform dargestellt werden. Wie bei einem regelungstechnischen Wirkungsplan lassen sich Führungsgrößen wie der gewünschte Lagerbestand und die gewünschte Ausgleichszeit, Stellgrößen wie die Zugangsrate aus der Produktion sowie die Regelgröße Lagerbestand als Zustandsvariable, über die die Rückkopplung erfolgt, unterscheiden, die das Lager auf der taktischen Ebene „steuern“. Die Nachfrage nach Produkten wird als exogene Variable betrachtet, die das Lagermanagement „stört“. Zur einfacheren Vorstellung kann für das Lager eine Analogie zu einem Hydraulikmodell gezogen werden: Die Produktion ist dabei die Quelle, die (zumindest theoretisch) unbegrenzt Ressourcen in Form von Produkten zur Verfügung stellen kann. Diese Ressourcen fließen durch ein Ventil gesteuert (Zugangsrate) dem Stock (Lagerbestand) zu. Die Ressourcen fließen vom Stock zur Senke (Kunden). Dabei wird der Abfluss durch die Nachfrage nach Produkten durch das Abflussventil (Abgangsrate) reguliert. Die derzeitig vorhandene Abgangsrate beeinflusst die Entscheidung des Managers bzgl. der erwarteten Abgangsrate. Aus der erwarteten Abgangsrate ergibt sich zusammen mit der Abweichung des Lagerbestands die gewünschte Zugangsrate, aus der die tatsächliche Zugangsrate der Waren aus der Produktion ins Lager resultiert. Aus dem derzeitigen Lagerbestand lässt sich zusammen mit den Führungsgrößen gewünschter Lagerbestand unter Berücksichtigung der gewünschten Ausgleichzeit des Lagerbestands die Abweichung des Lagerbestands ableiten. Im Gleichgewichtszustand stimmen gewünschter Lagerbestand und aktueller Lagerbestand überein. Nach einer Zeiteinheit sinkt der gewünschte Lagerbestand auf 100 Einheiten, wodurch es zu einer Abweichung von 20 Einheiten zwischen gewünschtem und aktuellem Lagerbestand kommt. Diese Abweichung hat ein plötzliches Sinken der gewünschten Zugangsrate und damit auch der realen Zugangsrate zur Folge. Hierdurch wird nach der Produktion der Einheiten ein Sinken des Lagerbestands erfolgen, was eine verringerte Abgangsrate nach sich zieht. Durch den niedrigeren Lagerbestand wird die Differenz zwischen gewünschtem und aktuellem Lagerbestand verringert. Die gewünschte Zugangsrate und damit auch die reale Zugangsrate werden somit wieder größer und es kommt zu einem neuen Gleichgewicht zwischen Zugangs- und Abgangsrate. Man erkennt, dass eine negative Rückkopplungsschleife zu einem asymptotischem Abklingen des Lagerbestands auf den gewünschten Lagerbestand führt. Rückwirkungen kommen nicht nur überall in technischen Systemen vor, sondern auch in (soziotechnischen) Geschäftssystemen. Wie aus der Regelungstechnik bekannt ist, kommt es je nach Art und Richtung der Rückkopplung der Zustandsgrößen (siehe LE_1) zur Selbstverstärkung der durch das Geschäftssystem geführten Geschäfts- und Arbeitsprozesse oder deren Abschwächung bzw. Selbstbegrenzung. Findet durch die Rückführung eine Selbstverstärkung statt, so spricht man von einer sog. positiven Rückkopplung, wohingegen bei einer Abschwächung bzw. Selbstbegrenzung von einer negativen Rückkopplung gesprochen wird. In der Regelungstechnik wird der erste Fall auch als „Mitkopplung“ bezeichnet. Im anderen Fall findet eine „Gegenkopplung“ statt (Abel 2007). Wie im weiteren Verlauf noch ausführlich dargestellt werden wird, determinieren Art und Richtung der Rückführung der Zustandsgröße das Verhalten des Systems im Zeitbereich. Hier lassen sich mit dem exponentiellen Wachstum, dem asymptotischen Wachstum und Abklingen sowie der (streng periodischen) Oszillation drei grundlegende Verläufe der korrespondierenden Verhaltensgrößen differenzieren, die oben im Bild skizziert sind. Das initiale Entstehen von Oszillation tritt häufig ein, wenn zunächst eine positive Rückkopplung und dann zeitlich verzögert eine negative Rückkopplung einsetzt (Abel 2007). Weitere, deutlich komplexere Verläufe der Verhaltensgrößen im Zeitbereich werden durch nichtlineare Wechselbeziehungen zwischen den zuvor dargelegten grundlegenden Rückkopplungsstrukturen hervorgerufen. Wie oben im Bild skizziert, lassen sich diesbezüglich das S-förmige Wachstum, das S-förmige Wachstum mit Überschwingen, das Überschwingen und Kollabieren (engl. overshoot and collaps) sowie chaotische Verhaltensweisen differenzieren. Zur Erzeugung eines überschwingenden und danach kollabierenden Verhaltens ist dabei die Einführung einer zusätzlichen Zustandsgröße, die mit der sog. maximalen Aufnahmekapazität zusammenhängt (siehe Folie 2-33), notwendig. Chaotisches Verhaltensweisen sind – wie in der Technik – oft anzutreffen, wenn eine nichtlineare Gegenkopplung vorliegt. Zur mathematischen Beschreibung und Simulation von komplexen Geschäftssystemen wird in der Forschung gerne auf Differential- und Differenzengleichungen zurückgegriffen. Für Anwendungen im Unternehmen sind Differential- und Differenzengleichungssysteme jedoch wenig verbreitet, da sie schwer zu verstehen sind und ihre systematische Entwicklung und Parametrisierung den Praktikern oft Probleme bereitet. Statt dessen lassen sich Kausalitätskreisdiagramme (engl. causal loop diagrams) verwenden, die auf einfachen graphentheoretischen Konstrukten basieren, wie oben im Bild in abstrakter Form dargestellt. Diese Diagrammform kann, wie im einleitenden Beispiel zum Lagermanagement (siehe Folie 2-2) bereits gezeigt wurde, für praktische Anwendungen im Unternehmen auch durch „Hydraulikmodelle“ mit Beständen und Flüssen ergänzt werden. Hierfür gibt es unterschiedliche Software-Werkzeuge, die auch Simulationsrechnungen und Ergebnisdatenanalysen ermöglichen. Alternativ können auch regelungstechnische Wirkungspläne verwendet werden. Wie in der ersten Lehreinheit erwähnt, muss die Rückkopplung über mindestens eine Zustandsgröße erfolgen. Durch die Analyse der im Diagramm repräsentierten Kausalbeziehungen kann auf die Art der Rückkopplung geschlossen werden und damit die für das Verhalten bestimmende Rückkopplungsschleife ausfindig gemacht werden. Wie bereits zu Beginn erwähnt, wird in der Regelungstechnik eine Rückkopplungsschleife mit positiver Polarität einfach als positive Rückkopplung oder auch als Mitkopplung bezeichnet (Abel 2007). Hierbei erfolgt eine vorzeichenrichtige (oder ggfs. phasenrichtige) Rückführung der Zustandsgröße, ggf. im Zusammenspiel mit weiteren Funktionselementen. Analog spricht man bei einer Rückkopplungsschleife mit negativer Polarität von einer negativen Rückkopplungsschleife oder Gegenkopplung. Hierbei erfolgt eine vorzeichenumkehrende (oder ggfs. phasenumkehrende) Rückführung der Zustandsgröße auf den Eingang. Bei der Mitkopplung besteht die grundlegende Gefahr, dass durch die vorzeichenrichtige Rückführung der Zustandsgröße im Wechselspiel mit verstärkenden Systemelementen die beteiligten Größen gefährlich anwachsen, solange Personal und Ressourcen bereitstehen. Wenn nicht zusätzliche den Prozess dämpfende Elemente bereitgestellt werden, kann es zu einem Funktionsausfall oder gar zur Zerstörung des Systems kommen. Dies ist unter allen Umständen zu vermeiden. Die Gegenkopplung wird in Geschäftsprozessen typischerweise so eingerichtet, dass ein stabiler Verlauf der Verhaltensgrößen erzielt wird und inhärente Ziele das System, die bereits bei der Konstruktion definiert wurden, schnell und sicher erreicht werden. Zu 1: In einigen US-amerikanischen Bundesstaaten bspw. korrelieren die Mordrate und die Verkaufsmengen von Eiskreme pro Kopf miteinander, es besteht jedoch kein kausaler Zusammenhang zwischen diesen beiden Variablen, sondern nur eine gleichgeartete kausale Beziehung zur Durchschnittstemperatur im jeweiligen Monat. Beispiel: Problem des Zeitdrucks bei Projektbearbeitung Wenn die Zeit bis zum Endtermin abnimmt, steigt der Zeitdruck. Entsprechend werden mehr Überstunden gemacht, was zu einer erhöhten Fertigstellungsrate und damit zu einem Absinken des verbleibenden Arbeitsaufwands (vgl. Beispiel in LE1) und somit zu einem abnehmenden Zeitdruck führt. Die Rückkopplungsschleife „Nachtschichten“ ist also eine negative (ungerade Anzahl negativer Vorzeichen in der Schleife). Gleichzeitig führen jedoch die ansteigenden Überstunden nach einiger Zeit (Verzögerung) zu einer erhöhten Müdigkeit, die sich negativ auf die Produktivität auswirken wird. Durch eine niedrigere Produktivität sinkt die Fertigstellungsrate und der verbleibende Arbeitsaufwand verringert sich langsamer, wodurch der Zeitdruck wieder größer wird. Die Rückkopplungsschleife „Burnout“ ist also eine positive Schleife, höherer Zeitdruck führt hier zu noch höherem Zeitdruck (gerade Anzahl negativer Vorzeichen in der Schleife). Flüsse, insbesondere Materialflüsse können in Analogie zum Hydraulikmodell über Bestand (engl. stock) und Fluss-Diagramme dargestellt werden. Bei Bestand/FlussDiagrammen erzeugt eine Quelle (z.B. Produktion) die Ressourcen (z.B. Waren), die über einen Zufluss in den aktuellen Bestand (z.B. Lagerbestand) einfließen. Der Zufluss wird dabei durch ein Ventil geregelt. Hierbei wird typischerweise die Zuflussrate eingestellt. Ebenso wird der Abfluss über ein Ventil geregelt, dieser mündet in eine Senke. Eine Senke ist als Systemgrenze zu verstehen, an denen Ressourcen das System verlassen können. Ebenso lässt sich die Quelle als Systemgrenze interpretieren. Wie auf Folie 2-2 bereits gezeigt, können Flussdiagramme und Kausalitätskreisdiagramme miteinander kombiniert werden. Auf diese Weise können dynamische Zusammenhänge in Form zeit- und zustandskontinuierlicher Modelle dargestellt werden. Wie erwähnt, sind hier vor allem Ein-, Rück- und Wechselwirkungen von Interesse. Insbesondere den Rückkopplungsbeziehungen sollte besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, da das Verhalten eines Geschäftssystems oft sehr wesentlich durch die Struktur der Rückkopplungen im System beeinflusst wird. Das Mooresche Gesetz wurde erstmals im Jahre 1965 von Gorden Moore, einem Mitbegründer von Intel, formuliert. Nachdem er zunächst eine jährliche Verdopplung der Anzahl an Transistoren pro Flächeneinheit prognostizierte, sprach er zehn Jahre später von einer Verdopplung alle zwei Jahre. Heute geht man in der Halbleiterindustrie davon aus, das der Zeitraum einer Verdopplung der Transistorendichte im Mittel 18 Monate beträgt. Zum Kausalitätskreisdiagramm: Eine Erhöhung der Transistorenanzahl auf einem Chip führt zu einer Erhöhung der Rechenleistung. Aufgrund erhöhter Rechenleistung wird auch der technische Fortschritt vorangetrieben, welcher wiederum zu einer Erhöhung der Transistorenanzahl pro Chip führt. Es handelt sich hier also eindeutig um eine positive Rückkopplungsschleife, bei der das Wachstum vom aktuellen Funktionswert abhängig ist. Dies lässt sich auch als lineare Differentialgleichung erster Ordnung darstellen. Für die Entwicklung eines Analogiemodells wird zum besseren Verständnis die eingeführte „Bestand/Fluss“ Notation von Folie 2-12 verwendet: Dabei erzeugt eine Quelle (z.B. Produktion) die Ressourcen (z.B. Waren), die über den Fluss in den aktuellen Bestand (z.B. Lagerbestand) einfließen. Der Zufluss wird dabei durch das Ventil (Wachstumsrate) geregelt. Je höher der Bestand ist, desto weiter öffnet sich das Ventil (höhere Wachstumsrate) und desto mehr Ressourcen kommen in den Bestand (positive Rückkopplungsschleife). Diese dynamischen Zusammenhänge können auch durch einen regelungstechnischen Wirkungsplan dargestellt werden. Er ist unten im Bild wiedergegeben. Zum Kausalitätskreisdiagramm: Ein Absinken des aktuellen Lagerbestands führt zu einer größeren Differenz von aktuellem und gewünschtem Lagerbestand. Durch die höhere Differenz ist eine größere Bestandsveränderung notwendig, die den aktuellen Lagerbestand wieder erhöht. Es handelt sich hierbei also eindeutig um eine negative Rückkopplungsschleife. Im hydraulischen Analogiemodell werden die Ressourcen von der Quelle zum Bestand transportiert. Der vorhandene Bestand soll dem gewünschten Bestand entsprechen. Je geringer der vorhandene Bestand ist, desto größer ist die Differenz zwischen realem und gewünschtem Bestand. Je größer die Differenz ist, desto höher ist die Zugangsrate. Die Zugangsrate erhöht sich dabei nicht plötzlich, sondern mit der Zeitkonstanten . Dies bewirkt eine zielgerichtete Anpassung im Bestand des Lagers, die sich durch asymptotisches Wachstum bzw. Abklingen äußert. Zum Kausalitätskreisdiagramm: Eine erhöhte Kundennachfrage führt zu einem Absinken der Servicequalität. Dieses hat eine Erhöhung der Differenz von Servicequalität und Servicestandard zur Folge. Mit einer Verzögerung führt dieses zu einer geringeren Servicereputation und damit wieder zu einer sinkenden Kundennachfrage. Es handelt sich hier also um eine negative Rückkopplung mit Verzögerung. Verzögerungen zwischen Ursache und Wirkungen können in „verschleppten“ Entscheidungen, erst langsam eintretenden Wirkungen der korrigierenden Maßnahme oder verspäteten Berichten bzw. Beobachtungen begründet sein. Die im Bild als unabhängiger Parameter angegebene „Brutto-Wachstumsrate“ beschreibt die maximale Wachstumsrate der Zustandsgröße. Sie wird bei Populationsmodellen auch als Malthusianischer Parameter bezeichnet (Pollak und Kempthorne 1970). Die Aufnahmekapazität gibt den maximal erreichbaren Wert der Zustandsgröße an. Es existieren zwei Rückkopplungsschleifen, eine positive und eine negative. Eine Erhöhung der Produktivität bewirkt bei konstantem Stückpreis einen höheren Erlös, damit bessere Verdienstmöglichkeiten und deshalb eine höhere Arbeitsmoral, die die Produktivität weiter ansteigen lässt (positive Rückkopplung). Ein höherer Erlös führt aber gleichzeitig zu einer größeren Sättigung der Marktnische, was sich wiederum negativ auf den Umsatz auswirkt. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurde im obigen Kausalitätskreisdiagramm die Brutto-Wachstumsrate r (siehe DGL) nicht als unabhängiger Parameter eingezeichnet, der auf die Netto-Wachstumsrate wirkt. Dies gilt auch für das nachfolgende Beispiel zum „Überschwingen und Kollabieren“, siehe Folie 2-34. Im Vergleich zum S-förmigen Wachstum ist hier in der negativen Rückkopplungsschleife eine Verzögerung hinzu gekommen. Es handelt sich hier also um eine Kombination von exponentiellem Wachstum (positive Rückkopplungsschleife) und Oszillation (negative Rückkopplungsschleife mit Verzögerung). Dies führt dazu, dass der Wert für die maximale Aufnahmekapazität überschritten wird und die Funktion um diesen Wert oszilliert. Der Funktionswert ist nicht mehr alleine vom vorherigen Wert (t–1) abhängig, sondern auch vom Wert vor zwei Zeitschichten (t–2). Die Abweichung wird zu spät erkannt und dieses führt zur Oszillation. Diese Verhaltensweise lässt sich als nichtlineare Differenzengleichung zweiter Ordnung darstellen, wie zuvor gezeigt. Ein Beispiel für das idealtypische Systemverhalten „Überschwingen und Kollabieren“ ist ein Markt, auf dem potenzielle Käufer beispielweise durch den Umstieg auf Substitutionsprodukte „wegbrechen“, wodurch die Aufnahme-kapazität für Neukunden der Verkäufe und damit später auch die reale Anzahl der Verkäufe immer stärker abnimmt. Der Umsatz von Atari Corporation ist ein Beispiel für einen kollabierenden Markt. Das Unternehmen war Ende der 1970er Jahre Marktführer für Videokonsolen. Bis 1982 stiegen die Verkäufe rasant an. Durch das Aufkommen der PCs und den Umstieg vieler Kunden auf diese neuen Geräte brach ein Großteil der Käuferschicht weg, die Verkäufe kollabierten und führten fast zum Ende von Atari. Anmerkung: Bei den Systemen 4 und 5 war die maximale Aufnahmekapazität konstant. Fällt diese Kapazität jedoch durch den Anstieg des Funktionswertes ab, so bildet sich eine zweite negative Rückkopplungsschleife. Die in der Gleichung enthaltene Differenz von Funktionswert und maximaler Aufnahmekapazität wird komplizierter, da die Änderung der maximalen Aufnahmekapazität vom Funktionswert abhängt (x'(t) = –Cy(t)). Ein weiteres Beispiel für „Überschwingen und Kollabieren“ ist die Bevölkerungsentwicklung auf den Osterinseln. Durch den Anstieg der Bevölkerungszahl wurden die Wälder immer stärker abgeholzt. Dieser Effekt überstieg das Nachwachsen des Holzes. Wind und Regen trugen den nicht mehr geschützten Boden ab, der dadurch immer weniger Menschen ernähren konnte. Die maximale Aufnahmekapazität nahm dadurch stark ab. Die Bevölkerung erreichte um 1600 ihre Maximalzahl von 8.000 bis 10.000 Menschen und sank dann durch den beschriebenen Effekt auf ca. 110 Menschen um 1817. Geschlossene Lösung des oben vorgestellten Differentialgleichungssystems können nur für ganzzahlige Parameter Y0, r, X0 und C gefunden werden. Sieben geschlossene Lösungen für y(t) sind unten für verschiedene Parameterkonstellationen beispielhaft dargestellt. Aus Platzgründen wurde auf die Angabe der geschlossenen Lösungen für x(t) verzichtet. Sie sind auf den nächsten Folien für ausgewählte Parameterkonstellationen in grafischer Form wiedergegeben. Bereits die auf Folie 2-25 eingeführten Wirkzusammenhänge und Rückkopplungsbeziehungen reichen aus, um chaotisches Systemverhaltensweisen zu erzeugen. Hierbei muss lediglich auf eine zeitdiskrete Modellformulierung zurückgegriffen werden, die oben wiedergegeben ist. Hierbei handelt es sich um eine nichtlineare Differenzengleichung erster Ordnung. Wendet man diese Gleichung an, so führen sehr kleine Änderungen an der Zustandsgröße (hier Y0 als Anfangsbestand) zu völlig unterschiedlichen Funktionsverläufen. Zu Beginn (t < 10) ist der Effekt der Anfangszustandsabweichung noch nicht erkennbar, jedoch ergeben sich mit fortlaufender Zeit grundlegend andere, chaotische Verläufe. Die kleine Abweichung hat also eine sehr große Wirkung auf das Systemverhalten. Ein derartiges Verhalten ist beispielsweise bei ökologischen Systemen zu beobachten. Während auf der einen Seite eine Population aufgrund von Geburten exponentiell wächst, sterben ab einer gewissen Populationsgröße Individuen aufgrund von Verhungern, da (konstante) Nahrungsvorräte knapp werden. Gleichen sich Geburtenrate und Sterberate aus herrscht Stabilität. Im Falle einer gegenüber der Geburtenrate größeren Sterberate bei einer aktuellen Generation, benötigt die Folgegeneration aufgrund einer geringerer Populationsgröße weniger Nahrung, sodass die Sterberate der Folgegeneration geringer und die Größe der Population größer wird. Je größer die Geburtenrate ist, um so mehr schwankt die Populationsgröße periodisch. Ab einer Geburtenrate von 4 liegt schließlich Chaos vor (Kinnebrock 2013). Das Beispiel von Folie 2-2 wird nun um die Funktionselemente eines einfachen Produktionsplanungs- und -steuerungssystems erweitert. Die Nachfrage nach Produkten steuert nun die Produktion. Die Zeitverzögerung, die beispielsweise aufgrund einer verzögerten Bearbeitung durch verschiedene Disponenten oder begrenzte Maschinenverfügbarkeit eintritt, bewirkt, dass sich die Zugangsrate von Produkten von der Produktion ans Lager später verändert als die tatsächlich gewünschte Produktionsmenge (Ausgleichzeit des Lagerbestands), wodurch es zu Abweichungen vom gewünschten Lagerbestand kommt. Auch die Abgangsrate von Produkten vom Lager zum Kunden ist zeitversetzt, wodurch sich die erwartete Abgangsrate zeitverzögert verändert. Durch die Zeitverzögerungen in der Prozesskette kann es zu einem Aufschwingverhalten kommen (sog. Bullwhip-Effekt, siehe Folie 2-41), das möglicherweise auch in der Übung bei der Live-Simulation einer Lieferkette zu beobachten sein wird. Die oben im Bild vereinfachend als „Umlaufbestand“ gekennzeichnete Zustandsgröße beschreibt alle durch früher gegebene Aufträge gebundene Bestände an Produkten in den einzelnen Stufen der Fertigung (engl. work in process). Ziel zum Zeitpunkt 1 ist es, den Lagerbestand um 20 Einheiten zu senken, da die Nachfrage nach Produkten sinkt. Die Absenkung des Lagerbestands kann im Gleichgewichtszustand nicht plötzlich geschehen, sondern es bedarf einige Zeit, den IstLagerbestand an den gewünschten Lagerbestand anzupassen. Zunächst wird die Bestellrate auf null abgesenkt, d.h. das Lager bestellt keine Ware bei der Produktion. Dies bewirkt, dass die Zugangsrate von Waren aus der Produktion ins Lager absinkt. Durch geringere Verkäufe sinkt die Abgangsrate von Waren aus dem Lager an den Kunden. Der Bullwhip-Effekt wird auch als Peitscheneffekt bezeichnet und beschreibt ein zentrales Problem des Supply-Chain-Managements, das durch dynamisches Verhalten entlang von Lieferketten entsteht. Dabei führen bereits kleine Veränderungen in der Nachfrage des Endkunden (Senke) zu Schwankungen in den Bestellmengen der vorgelagerten Lieferanten, die sich zum Ursprung der Lieferkette (Quelle) hin vergrößern. Ursächlich für diesen Effekt ist hauptsächlich ein mangelnder Informationsaustausch zwischen den einzelnen Lieferanten entlang der Lieferkette. Die damit verbundene Informationsasymmetrie führt dazu, dass jeder Lieferant bei der Entscheidung über seine Bestellmenge nur die Bestellmengen seiner direkten Kunden berücksichtigen kann. Jede Stufe der Lieferkette wird also einzeln bzw. lokal optimiert – eine Gesamtbetrachtung bzw. Gesamtoptimierung bleibt aus. In der Folge sind die Bestell- und Liefermengen entweder zu hoch oder zu niedrig, so dass Perioden übervoller Lager auftreten, die gefolgt werden von Perioden der Knappheit. Damit verbunden sind schlechter Lieferservice, Einnahmeausfälle und zu große Transportkapazitäten. Vor diesem Hintergrund zielen Maßnahmen gegen den Bullwhip-Effekt auf die Verbesserung der Kommunikation zwischen den Lieferanten entlang der Lieferkette, so dass eine Gesamtoptimierung erfolgen kann.