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Italienisches Tagebuch D. Heim Eigentlich sollte er längst abfahren, der Pendolino nach Brig, in der Stazione Centrale von Milano. Der 12. Kongress der European Society for Trauma and Emergency Surgery ESTES in der grossen Fiera Milano Halle in Mailand ist zu Ende, 3 Tage hat er gedauert, vom 28. bis 30. April 2011, und vorgängig waren die üblichen Vorstandssitzungen am 27.April. Man berichtete aus den 5 Sektionen Disaster and military surgery, Education, Visceral trauma, Emergency surgery und Skeletal trauma and sports medicine von den Aktivitäten im vergangenen Jahr, vom ersten Emergency Surgery Course, ESC, der vor kurzem zum ersten Mal in Istanbul durchgeführt wurde – man betrachtet diesen Kurs so quasi als baby der ESTES. Man spricht von neuen guidelines der Gesellschaft für die Organisation von den Jahreskongressen („white paper“), zum Teil neu geregelt werden muss die Zusammenarbeit mit der Kongressorganisation Mondial, wer trägt das Defizit des Kongresses, sollte es ein solches geben. Man bespricht den neuen Vorstand, schlägt als Nachfolger von Prof. Ingo Marzi, Frankfurt, ESTES Präsident 2011/ 2012, Prof. Korhan Taviloglu, Istanbul, vor, schafft neu die wichtige Position eines general secretary (Prof. Pol Rommens, Mainz) und behandelt die Kandidaturen für den ESTES Kongress 2015. Mir gefällt Madrid besser als Amsterdam… Jetzt ist er abgefahren. Und Francesco Guccini singt „Bisanzio“ von 1981. Ganz in der Nähe des Domes hatte es einen (unpersönlichen) Musikladen, wo man in einer riesigen Sammlung von italienischen Cantautori wühlen konnte, da waren sie alle, die Fabrizio de Andre, Francesco de Gregori, Lucio Dalla und viele mehr, die wir als junge Assistenten in der WG immer wieder gespielt haben. Und man erinnerte sich an den roten Schallplattenumschlag der „Signora Bovary“ von Francesco Guccini und findet von ihm eine DoppelCD aus dem Jahre 2010. Es gibt ihn also noch, den bärtigen Barden, mit seiner spröden Stimme und dem eigenartigen Akzent aus Bologna, sein letztes Stück „nella giungla“ ist Ingrid Betancourt, 2002 entführt von den Farc, gewidmet, und man spürt sie wieder und immer noch, die damalige gesellschaftliche Aufbruchstimmung der Assistentenzeit (in Basel). Milano 2011 war – wie alle Jahre – eine gelungene Mischung von Notfallthemen, man behandelte die offene Unterschenkelfraktur und hätte gleichzeitig etwas über die penetrierenden Gefässverletzungen hören können. Dann fragte am Folgetag Eric Voiglio (Kongresspräsident ESTES Lyon 2013) „24, 48 oder 72 Stunden bis zur Cholecystectomie?“ bei der akuten Cholecystitis, und dass man es unbedingt laparoskopisch versuchen soll. Da zeigte dann aber ein Referent in einer interaktiven Viszeralsitzung einen Film von einer äusserst mühsamen laparoskopischen Cholecystectomie bei einer 82-jährigen Patientin, und da war sich das panel dann einig, das ist „ego surgery“! Milano 2011 war also auch einmal mehr die Qual der Wahl, man konnte aus 5 Sälen auswählen und bedauerte, dass man wegen der proximalen Humerusluxationsfraktur nicht bei der Sitzung über Trauma-scores im Viszeral Trauma dabeisein konnte, und dann musste man selbst in einer keynote lecture über die schwierige Malleolarfraktur sprechen und verpasste damit die andere, an sich eben auch sehr spannende Sitzung über Stomas in der Notfallsituation. Richtig schwierig wurde es dann in den „12 to 12 sessions“, wo die Referenten in 4 Sälen gleichzeitig in 12 Minuten vor der Mittagspause ganz pointiert ihr Thema darlegen mussten. Da sagte dann Richard Kdolsky, dass das Logensyndrom nach wie vor eine klinische Diagnose ist und dass man, wenn man daran denkt, eigentlich schon fast zu spät ist, und nebenan sprach Vilmos Vecsei über die Weichteildeckung an den Extremitäten. Diese erstmals durchgeführten „Kurzmittagssitzungen“ waren eine ausgezeichnete Idee des Kongresspräsidenten Mauro Zago und seines Sekretärs Hayato Kurihara, und sie werden sicher auch im Basler Programm 2012 wieder zu finden sein. Die Zuhörer kamen in Scharen, es war kurz, es war (meist) eloquent, es war spannend und man verdrängte den Gedanken an die Pizza noch für 12 Minuten. Rund 1300 Teilnehmer waren es in Milano, rund 900 abstracts wurden eingereicht, 240 Vorträge wurden akzeptiert und 400 Posters (incl. Fallvorstellungen) standen zum Studium da. Die 12 besten wurden ausgewählt und in einer Postersitzung mündlich vorgestellt, die 3 besten wurden prämiert und erhielten einen Preis. Auch Videos wurden erstmals gezeigt und wie jedes Jahr gab es wieder ausgezeichnete, engagierte und rhetorisch brilliante Beiträge aus den USA. Einen Preis erhielt auch die beste Publikation im EJTES, diese Arbeit wurde dann vom Autor an der closing ceremony nochmals vorgestellt. Milano 2011 war ein animierter Kongress und ein inspirierender auch. Vielleicht schenkte man (ich) unter dem Eindruck des kommendes ESTES Kongresses in Basel im Mai 2012 dem wissenschaftlichen Programm diesmal etwas weniger Aufmerksamkeit. Man schaute genau hin, wie was wo abläuft, freute sich am ESTES Stand am Basler Poster, an den Basler Läckerli und war froh, wenn wieder einer ein 2nd announcement in seine Kongressmappe steckte. Man hörte genau hin, befand, dass bei der Eröffnungszeremonie der Gesundheitsminister von Milano auch englisch sprechen könnte, schwor sich, die schweizerische Nationalhymne in Basel nicht abzuspielen (sonst stehen wieder alle auf) und nahm sich vor, mit Eliana Burki und iAlpinisti diese opening ceremony etwas musikalischer und rassiger zu gestalten. Man stellte sich allen Ausstellern in der Halle als Veranstalter des Basler Kongresses vor, hörte mit Genugtuung, wenn gesagt wurde, dass man auch in Basel wieder dabeisein wolle, freute sich, als eine Firma gar die Lancierung ihres neues Produktes für Basel in Aussicht stellte (es war nicht die Synthes!) – Kongresse haben zwar eine ganz wichtige wissenschaftliche Seite (sonst kommen die Teilnehmer schon gar nicht, es gibt genügend Kongresse!), als Mediziner verdrängt man dabei gerne etwas, dass auch die wirtschaftliche Seite für den (finanziellen) Erfolg oder Misserfolg ausschlaggebend sein kann, und auch, dass der soziale Rahmen für die Nachhaltigkeit eines solchen Anlasses auch nicht unbedeutend ist. Und diesem wurde in Milano vollends Rechnung getragen. Dass es regnete, als man in der Villa „La Valera di Arese“ mit dem wunderschönen Park den Italian evening genoss, war Pech, dass die 3 Tenöre bei den Zuhörern mit ihren bekannten Melodien „einschlugen“, das war der „Nase“ der Organisatoren zuzuschreiben. Milano 2011 ist vorbei, war aber erst vorbei, als die Fasnachtsclique „Naarebaschi“ aus Basel (gesponsort von BaselTourismus) an der closing ceremony das Promotionsvideo für den Basler ESTES Kongress so richtig laut eintrommelten und einpfiffen. Die Basler Ueberraschung war gelungen. Man schmunzelte, man sah sich vielversprechend an und notierte sich im Geiste das Datum für den nächsten Kongress, eben in Basel. Man beklatschte die Uebergabe der Kongressmedaille von Mauro Zago an die beiden Kongresspräsidenten von Basel und nahm sich vor, am Abend noch schnell zum Mailänder Duomo zu gehen und einen „Gelato al limon“ (Paolo Conte 1979) zu essen… Jetzt fährt der „Lötschberger“ im Bahnhof in Frutigen ein, es windet, man ist etwas müde, man denkt an Milano zurück, und man freut sich auf die Zugfahrt in einem Jahr an den ESTES Kongress 2012 in Basel. im Zug 1.5.11