UOMO E SPAZIO NELL`ALTO MEDIOEVO
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UOMO E SPAZIO NELL`ALTO MEDIOEVO
SE'ITlMANE DJ STUDIO DEL CENTRO ITALIANO DJ STUDI SULL'ALTO MEDJOEVO L UOMO E SPAZIO NELL'ALTO MEDIOEVO 4-8 aprile 2002 TOMO PRIMO IN SPOLETO PRESSO LA SE DE DEL CENTRO 2003 WERNER RÖSENER KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM: NORM UND PRAXIS DER HOF- UND REICHSVERWALTUNG IM KAROLINGERREICH Die großartigen Leistungen Karls des Großen beim Ausbau des Frankenreiches treten klar hervor, wenn man sich die Größe seines Reiches vergegenwärtigt und die Völker und Länder betrachtet, die es umschloß 1. Hier ist Einhard, der berühmte Biograph Karls, ein kompetenter Gewährsmann, wenn er schreibt: Haec sunt bella, quae rex potentissimus per annos XL VII - tot enim annis regnaverat - in diversis terrarum partibus summa prudentia atque felicitate gessit. Quibus regnum Francorum, quod post patrem Pippinum magnum quidem et forte susceperat, ita nobiliter ampliavit, ut poene duplum illi adiecerit 2. (Dies sind die Kriege, welche der großmächtige König während der siebenundvierzig Jahre, die er regierte, in verschiedenen Ländern mit der größten Einsicht und (1) Allgemein zum Frankenreich der Karolinger L. lIALPHEN, Charlemagne et l'Empire carolingienne, Paris, '1968; H. FICIITENAU, Das Karolingische Imperium, Zürich, 1949; Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, hg. von W. BRAUNFEU!, 5 Bde., Düsseldorf, 1965-68; J. FLECKENSTEIN, Das Großfränkische Reich: Möglichkeiten und Grenzen der Großreichsbildung im Mittelalter, in Historische Zeitschrift, 233 (1981), pp. 265-294, wieder in DERS.,Ordnungen und formende Kräfte des Mittelalters. Ausgewählte Beiträge, Göttingen, 1989, pp. 1-27; 799 - Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo Ill. in Paderborn. Beiträge zum Katalog der Ausstellung, Paderborn, 1999, hg. von Ch. STIEGEMANN und M. WEMHOf'F, Mainz, 1999. (2) Einhardi vita Karoli magni, ed. O. Holder-Egger (M.G.H. SS rer. Germ. 25) Hannover, 1911, p. 17. 444 WERNER ROSENER durchaus glücklich geführt hat. In ihnen hat er das Reich der Franken, das er nach seinem Vater Pippin schon groß und mächtig übernommen hatte, so herrlich erweitert, daß sein Umfang fast verdoppelt ward). Das Frankenreich Karls des Großen, das Einhard hier skizziert 3, umfaßte nicht nur die alten fränkischen Kernlande Neustrien und Austrasien, dazu Burgund, Aquitanien, die. Gascogne, Septimanien und die Provence, sondern auch sämtliche germanischen Stammesgebiete östlich des Rheins. Ferner den Ostalpenraum, den westlichen Teil der Pannonischen Tiefebene, die Lombardei und große Teile Italiens. Im Norden wurde das Karlsreich von der Nordsee begrenzt, im Nordosten reichte es sogar bis an die Ostsee, im Westen bespülten es die Wellen des Atlantischen Ozeans, und im Mittelmeerraum reichte es an das Ligurische und Tyrrhenische Meer und die Adria. Es war also ein gewaltiges Reich, ein Imperium, das sich vom Ebro bis zur EIbe und Saale erstreckte, von der Jütischen Halbinsel bis zu den Abruzzen. Mehr als tausend Kilometer waren es von der spanischen Mark bis zu den Marken östlich der EIbe, rund tausend von der Nordsee bis zum Mittelmeer und zwölfhundert von Aachen nach Rom. Die Entfernungen, die man zurücklegen mußte, waren in Wirklichkeit noch um einiges größer, denn Wege und Straßen paßten sich damals den von der Natur vorgezeichneten Verkehrslinien an. Der Lauf der Flüsse und Bäche, sumpfige Niederungen und Moore, Berge und Wälder waren natürliche Verkehrshindernisse und beeinflußten den Verlauf der Fernwege. Die Straßen des Karolingerreiches, auch die wichtigsten Fernverbindungen, konnten weder mit den rö(3) Ibid., pp. 17-18 (cap. 15). KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 445 mischen Straßen noch mit Handelswegen des Spätmittelalters konkurrieren \ Inwieweit gelang es Karl dem Großen und seinen Nachfolgern, den ausgedehnten Raum ihres Großreiches erfolgreich zu durchdringen und herrschaftlich zu erfassen? Welche Mittel standen den Frankenkönigen bei diesen schwierigen Aufgaben zur Verfügung? Welche Erfolge oder Mißerfolge sind bei diesen Integrationsbemühungen zu beobachten? Vor allem stellt sich die Frage, welche Rolle der Königshofals Instrument zur Raumerfassung im Karolingerreich spielte. Das Frankenreich Karls des Großen läßt sich in dieser Hinsicht mit anderen Großreichen der Weltgeschichte vergleichen, mit dem Römerreich der Antike oder mit dem byzantinischen Reich des Hochmittelalters, die vor ähnlichen Problemen der Durchdringung ihrer Herrschaftsräume und der Integration ihrer Reichsteile standen. Die deutsche Forschung hat sich erst seit einigen Jahren wieder verstärkt den Fragen der Raumerfassung und Raumgliederung zugewandt. Die Defizite der deutschen Geschichtsforschung bei der Raumthematik und in der Historischen Geographie hängen zweifellos damit zusammen, daß die ältere deutsche Forschung geohistorische Probleme politisch instrumentalisierte 5 und Fragen von Lebensraum und Raumeroberung zu bevorzugten Themendes Dritten Reiches gehörten 6. Erst der Trierer Historikertag von 1986 (4) Zu den Verkehrsverhältnissen im Karolingereich P. RICHE,La vie quotidienne dans l'empire Carolingienne, Paris, 1963, deutsch Die Welt der Karolinger, Stuttgart, 1981, S. 28-39; H.-D. HEIMANN, Verkehrswege und Reisen im Fruhmittelalter, in 799 - Kunst und Kultur cit. (wie Anm. I), pp. 417-423. (5) Dazu H.-J. ScHMIOT, Kirche, Staat, Nation. Raumgliederung der Kirche im mittelalterlichen Europa, Weimar, 1999, pp. 15 fT.; F. RATZEL, Politische Geographie, München, '1923; O. ScHLÜTER, Die Ziele der Geographie des Menschen, München u. a., 1906. (6) H.-D. ScHL1.TZE, Deutschlands "natürliche" Grenzen, in Deutschlands Grenzen in der Geschichte, hg. von A. DEMANOT, München, 1990, pp. 33-88; W. OBERKROME, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der 446 WERNER ROSENER stellte seine Vorträge und Diskussionen wieder unter das Leitthema "Räume der Geschichte - Geschichte des Raumes" und befaßte sich intensiv mit dem Verhältnis von Raum und Geschichte, mit den räumlichen Aspekten von historischen Ereignissen, Strukturen und Prozessen 7. Im Jahre 1995 behandelte dann eine Tagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte das Thema der Raumerfassung und des Raumbewußtseins in der Epoche des Spätmittelalters, wobei die Verknüpfung historischer und geographischer Tatbestände im Hinblick auf ganz Europa analysiert wurde. Die Beiträge dieser Tagung untersuchten verschiedene Aspekte geographischer Grundvorstellungen auf der einen Seite in der Kirche und auf der anderen Seite in Räumen weltlicher Herrschaft 8. Welche Vorstellung über Räume im Mittelalter vorhanden war, wurde in der Historiographie unterschiedlich beurteilt. Während A. J. Gurjewitsch 9 meinte, daß die Wahrnehmung des Raumes im Mittelalter auf mythologischen Deutungen und symbolischen Interpretationen beruhe und ein archaisches Verhältnis zur eigedeutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen, 1993, pp. 22 fT.; P_ ScHÖ'M'LER, Von der rheinischen Landesgeschichte zur nazistischen Volksgeschichte oder Die ·unerIWrte Stimme des Blutes", in Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, hg. von W. ScHUlZE und 0_ G_ OEXLl!,Frankfurt 8_ M., 1999, pp. 89-113. (7) VgL K FEHN, "Raume der Geschichte - Geschichte des Raumes·. Der 36. Deutsche Historikertag vom (8_-12. Oktober 1986) in Trier, in Siedlungsforschung, 4 (1986) pp. 253-263. (8)Raumerfassung und Raumbewußtsein im späteren Mittelalter, hg. v. P_ MORAw (Vorträge und Forschungen 49) (im Druck). Zur neueren Forschung M. BORN, Geographie der ländlichen Siedlungen, Stuttgart, 1977, pp, 16-17; K FEHN, Historische Geographie, in Landesgeschichte heute, hg. v, Co-H. HAlJPI'MEYER, Göttingen, 1987, pp. 55-76; F. IRSIGLER, Raumkonzepte in der historischen Forschung, in Zwischen Gallia und Germania, Frankreich und Deutschland. Konstanz und Wandel raumbezogener Kräfte, hg, von A. HEIT, Trier, 1987, pp. 11-27. (9) A. J. GUJlJEWJTSCH, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München, 1982, pp. pp. 28-43. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 447 nen Umwelt anzeige, wiesen andere Autoren auf die Rationalität und die genaue Beobachtung räumlicher Gegebenheiten während der mittelalterlichen Epoche hin 10. Durch Erfahrungen gewonnene geographische Kenntnisse und durch Kulturkontakte erprobte Vorstellungen über Räume und Grenzen wirkten damals stark nach. Die im Zuge der Reichsteilung von 806 erstellte descriptio Francie und die späteren Verfahren, das Erbe Karls des Großen und Ludwigs des Frommen aufzuteilen, setzten Wissen voraus, das aus der praktischen Erfahrung erwachsen war 11. Es gab den Raum, verstanden als politische Einheit, zweifellos auch im frühen Mittelalter, aber er war überwuchert von personalen Bindungen, die in Gefolgschaft, Vassalität, Verwandtschaft und Freundschaft verankert waren. Erst nach einem mühsamen Prozeß der Herrschaftsintensivierung ergab es sich im Laufe des Mittelalters, daß Räume nicht allein die Basis politischen Handels bildeten, sondern daß Herrscher auch über Räume verfügten, sie von anderen absonderten und sie durch Binnengrenzen gliederten. Bei der Analyse mittelalterlicher Herrschaftsformen ging man häufig der Frage nach, auf welche Weise eine räumliche und territoriale Grundlegung des Staates und der Staatlichkeit funktionieren konnte. In Auseinandersetzung mit der Lehre Theodor Mayers 12, der mit dem Begriff des "Personenverbandsstaates" die Eigenart mittelalterlicher Staatlichkeit charakterisiert hatte, beharr(10) P. G. DALCHE, Un problerne d'histoire culturelle: perception et representation de l'espace au moyen age, in Medievales. Langue, textes, histoire, 18 (1990): Espaces du moyen age, pp. 5·15. (11) E. EWIG, Descriptio Franciae, in Karl der Große cit. (wie Anm. 1) Bd. 1, pp. 143-177. (12) Th. MAYER, Der Staat der Herzöge von Zähringen, in DERS., Mittelalterliche Studien, Sigmaringen, 1959, pp. 300·364; DERS., Fürsten und Staat, Weimar, 1950. 448 WERNER ROSENER ten WaIter Schlesinger und Otto Brunner darauf, daß Herrschaft auch im Frühmittelalter die Beherrschung eines Landes bedeutete 13. Land und Leute schufen demnach gemeinschaftliche Loyalität, die auch unabhängig von kurzfristigen Herrschaftsinteressen und dynastischen Zufallen Bestand haben konnte. Land war in der Herrschaftspraxis des Frühmittelalters allerdings nicht mit einem abgegrenzten Territorium gleichzusetzen; Grenzen waren umkämpft, auch deswegen oft unbestimmt. Die Defizite der Herrschaftspraxis verhinderten eine vollständige Durchdringung festgelegter Räume. Die Schwierigkeiten der Kommunikation und die geringe administrative Ausstattung zentraler Machtträger engten im Früh- und Hochmittelalter die Handlungsmöglichkeiten stark ein 14. Intensivierung von Herrschaft bedeutete Monopolisierung von Kompetenz und Macht innerhalb eines bestimmten Raumes; der unmittelbare Kontakt und die häufige Präsenz, auf die archaische Herrschaft angewiesen waren, mußten erst durch das Funktionieren von Institutionen ersetzt werden, bevor Raumbeherrschung und Raumgliederung möglich waren. Erst wenn sich die Herrschaft administrativanreicherte und institutionell verdichtete, konnten Kontakte und Interaktionen innerhalb festgelegter Gebiete besser koordiniert werden 15. Rechtlich geformte Beziehungsmuster, die weit(13) W. 8cm.FstNGER, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte, in Historische Zeitschrift, 176 (1953) pp. 225-275; O. BRUNNER, Land und Herrschaft, Wien, '1965. (14) Vgl. H. C_ I'EvER, Das Reisekönigtum des Mittelalters, in Vierteljahrsschriften für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 51 (1964), pp. 1-21; Tb. Zarz, Präsenz und Repräsentation. Beobachtungen zur königlichen Herrschaftspraxis im hohen und späten Mittelalter, in Herrschaft als soziale Praxis, hg. von A. LÜIJTKE, Göttingen, 1991, pp. 168-194. (15) Vgl. Der deutsche Territorialstaat des 14. Jahrhunderts, hg, v. H. PATZE,2 Bde <Vorträge und Forschungen 13/14) Sigmaringen, 1970nl; E. SCHUBERT, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, München, 1996. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 449 räumig Menschen miteinander verbanden, konnten auf diese Weise entstehen. Dazu bedurfte es aber auch weiterhin der personalen Anbindung, da König und Krone Stützpfeiler der Legitimität blieben. Im Folgenden soll untersucht werden, welche Rolle der fränkische Königshof während der Karolingerzeit bei der Raumerfassung spielte. Inwieweit war der Hof mit seinen Amtsträgern und Beauftragten ein effizientes Instrument in der Hand Karls des Großen und seiner Nachfolger, mit dessen Hilfe sie den ausgedehnten Raum des Frankenreiches herrschaftlich durchdringen konnten? Norm und Praxis der karolingischen Hoforganisation sollen dabei erforscht werden, soweit es die Quellenlage und die knapp bemessene Zeit erlauben. In einem ersten Schritt wird das Frankenreich Karls des Großen in seinen spezifischen Strukturen kurz charakterisiert, bevor in einem zweiten Schritt die Konzeption der karolingischen Hoforganisation anhand einiger grundlegender Texte erläutert wird. In einem dritten Schritt soll dann vor allem die Praxis der karolingischen Hof- und Reichsverwaltung analysiert werden, wobei die Grundherrschaft des Königs und die Verhältnisse bei einigen Hauptpfalzen im Vordergrund des Interesses stehen. Abschließend werden in einem kurzen Resümee einige Ergebnisse zusammengefaßt. 1. DAS FRANKENREICH DER KAROLINGER ALS FRÜHMITIELALTERLI- CHES GROSSREICH Unter den Karolingerkönigen erreichte das Frankenreich seine größte Ausdehnung und stieg zu einem Großreich empor, das eine Vielzahl von Völkern und Stämmen umfaßte 16. Dieses Großreich zu beherrschen (I6) Vgl. J. FLECKENSTWI, Grundlagen und Beginn der deutschen Geschichte, 450 WERNER ROSENER war aufgrund der besonderen geographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse jener Epoche schwierig und aufreibend. Die unzulänglichen Verkehrsverbindungen, auf die bereits hingewiesen wurde, behinderten die herrschaftliche Durchdringung der zahlreichen Regionen des Frankenreiches. Wenig oder überhaupt nicht gepflegt, verliefen viele Straßen im offenen Gelände als breite Trassen, auf denen sich die Reisenden ihren Weg suchen mußten. Dies war vor allem im nordalpinen Raum der Fall, wo im rechtsrheinischen Gebiet nicht einmal die Überreste alter Römerstraßen zur Verfügung standen. Der schlechte Zustand der Landwege verwies die Reisenden, auch den König, auf die Wasserwege, die häufig ein bequemeres Fortkommen und einen leichteren Transport größerer Warenmengen gestatteten 17. Dabei spielten Rhein und Donau eine herausragende Rolle: der Rhein als zentrale Nord-Süd-Route und die Donau als Verbindung zwischen dem Reich und dem Südosten.Wichtige Wasserwege waren auch Main und Mosel, Maas und Scheide, Seine und Loire, Garonne und Rhone. Die große Bedeutung der Wasserstraßen für das Frankenreich zeigt sich bei dem berühmten Versuch Karls des Großen, Rhein und Donau mit Hilfe eines Kanals zu verbinden. Wichtig für Herrschaft und Wirtschaft waren auch die Übergänge über die Alpen 18. Die Italienpolitik der Karolinger war daher eng mit ihrem Kampf um die Sicherung und Beherrschung der Paßstraßen verknüpft. Man folgte auf dem Weg über die Alpen auch in der KaGöttingen, '1988, pp. 73 ff.; H. K ScHULZE, Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen. Merowinger und Karolinger, Berlin, 1994, pp. 209 fT. (17) RJ(m, Karolinger cit. (wie Anm. 4), pp. 38 0". (18) Ibid., p. 35; H. C. PEYER,Alpenpässe, in Lexikon des Mittelalters, 1 (1980), colI. 453 fT. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 451 rolingerzeit den Wegen, die schon in römischer Zeit begangen worden waren. Unter den Pässen über die Westalpen ragten der Große und Kleine St. Bernhard, der Mont Cenis sowie der -Iulier- und Septimerpaß heraus, während im mittleren und östlichen Alpenraum der Reschenpaß und der Brenner die am häufigsten benutzten Übergänge darstellten. Unter den Bedingungen des karolingischen Reisekönigtums und angesichts der zahlreichen Feldzüge Karls des Großen spielten Verkehrsprobleme zweifellos eine wichtige Rolle. Aus diesem Grunde bemühte sich Karl besonders um eine Verbesserung der Verkehrsverhältnisse, nicht nur durch spektakuläre Projekte wie die Errichtung einer Rheinbrücke bei Mainz, sondern auch durch alltägliche Maßnahmen zur Instandhaltung von Straßen, Wegen und Brücken 19. Das Reich der Franken umfaßte seit der Merowingerzeit bereits eine Vielzahl von Völkern und Stämmen, was durch die Expansionspolitik Karls des Großen noch verstärkt wurde 20. Das germanische Bevölkerungselement, zuerst von Franken, Burgundern, Thüringern, Alemannen und Bayern vertreten, war durch die Unterwerfung der Sachsen und Friesen beträchtlich vermehrt worden. Die Zahl der romanischen Untertanen wuchs gewaltig durch die Einverleibung der ober- und mittelitalischen Gebiete. Im Osten gerieten die Reste der Awaren und verschiedene slawische Völker und Stämme unter fränkische Herrschaft und Hegemonie. Trotz fränkischer Reichskultur und fränkischer Herrschaftsstruktur, die sich überall ausbreiteten, brauchten die Menschen nicht (19) Einhardi vita Karoli cit. (wie Anm. 2), pp. 20-21 (cap. 17). (20) Vg!. F. Sn:i:'o'!IACH,Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichle, Darmstadt, 1962; Siedlung, Sprache und Beuolkerungsstruntur im Frankenreieh, hg. v. F. PETRI,Darmstadt, 1973. 452 WERNER RÖSENER um ihre ethnische Identität zu fürchten; Prozesse einer Romanisierung oder Germanisierung vollzogen sich im Sinne einer allmählichen Assimilierung. Das Vielvölkergemisch und die multikulturelle Gesellschaft des Frankenreiches brachten aber viele Probleme mit sich 21. Die Verschiedenheit der Völker in Sprache, Recht, Lebensweise und Mentalität führte oft zu großen Verständigungsschwierigkeiten. Zwischen den einzelnen Reichsteilen bestanden zudem große Entwicklungsunterschiede in Bildungsstand, Wirtschaft und Lebensniveau, so daß die Wirtschaftskraft einiger Regionen wie Südfrankreich und Norditalien deutlich hervortrat 22. Weniger entwikkelt waren die Gebiete östlich des Rheins, die durch schlechte Verkehrsverbindungen, wenig Städte und ein niedriges Bildungsniveau geprägt waren. Die Kernregion des Frankenreiches war zweifellos das Gebiet zwischen Loire und Rhein; hier lagen die Hauptpfalzen, viele Königshöfe und große Abteien mit ihren reichen Grundbesitzungen. Wie war dieses riesige Reich überhaupt zu beherrschen? Welche Regierungsinstrumente standen dem Frankenkönig zur Verfügung? Gab es in diesem frühmittelalterlichen Großreich Institutionen, die bei der Aufrechterhaltung der politisch-administrativen Ordnung besonders hervorstachen? An erster Stelle ist hier der Hof zu nennen, der im Mittelpunkt der königlichen Herrschaftsausübung stand und die Zentrale des Frankenreiches bildete. (21) Vgl. RICH2, Karolinger cit. (wie Anm. I), pp. 15-27; FLECKENSTEIN, Das Gropfränkische Reich cit. (wie Anm. 1), pp. 22-23; R. ScHNEIDER, Das Frankenreieh, München u. a., 1982, pp. 40 fT. (22) Rum, KLuvlinger cit. (wie Anm. I), pp. 40-52; H. Sn:UER, Handel und Wirlschaft in der Karolingerzeit, in 799 - Kunst und Kultur cit. (wie Anm. I), pp. 406-416. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 2. DER KÖNIGSHOF 453 DER KAROLINGER ALS HERRSCHAFTSINSTRUMENT Der Hof 23 Karls des Großen und seiner Nachfolger heißt in den Quellen aula oder palatium und besitzt sowohl einen räumlichen als auch einen persönlichen Aspekt. Auf der einen Seite bezeichnet das Wort palatium, das sich ursprünglich auf den römischen Kaiserpalast auf dem Palatin bezog, die Palastgebäude einer Pfalz und auf der anderen Seite die persönliche bzw. institutionelle Umgebung des Königs 24, Zum Hof im weiteren Sinn gehörte eine Vielzahl an Personen, die im wesentlichen aus zwei verschiedenen Gruppen bestand. Die eine umfaßte einen größeren Personenkreis, zu dem alle gehörten, die gerade am Hof weilten, so vor allem Herzöge, Grafen und Bischöfe. Neben dieser wechselnden Schar von geistlichen und weltlichen Magnaten, die nur vorübergehend zum Hof gehörten, gab es einen engeren Hof: einen festen Personenkreis um den König, der sich aus den Inhabern der Hofämter und den königlichen Dienstleuten zusammensetzte 25. Über die Struktur die(23) Allgemein zum HofbegrifT W. ROSENER,Hof, in Lexikon des Mittelalters, 5 (1991), coli. 66 f. (mit Literatur); P. G. ScHMID, Curia und curialitas. Wort und Bedeutung im Spiegel der lateinischen Quellen, in Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch·ritterlichen Kultur, hg. v. J. FLECKENSTEIN,Göttingen, 1990, pp. 15 fT.; W. PARA\'C.,.,', Die ritterlich-hofisehe Kultur des Mittelalters, München, 1994, pp. 65 fT. (24) Zum QuellenbegrifT palatium Th. ZoTZ, Vorbemerkungen zum Repertorium der deutschen Konigspfaleen, in Blätter für deutsche Landesgeschichte, 118 (1982) pp. 178 fT.; C. BRÜHL,Fodrum, Gistum, Servitium regis. Studien zu den unrtschaftlichen Grundlagen des Königtums im Franhenreich und in den fränkischen Nachfolgestaaten Deutschland, Frankreich und Italien vom 6. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Köln u.a., 1968, pp. 91-92; H. HEIMPEL,Bisherige und künftige Erforschung deutscher Königspfalzen, in Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 16 (1965) pp. 474 fT. (25) Zum karolingischen Königshof J. FLECKENSTEIN,Karl der Große und sein Hof, in Karl der Große 1 eit. (wie Anm. I), pp. 24-50, wieder in DERS., Ordnungen und formende Kräfte des Mittelalters. Ausgewählte Beiträge, Göttingen, 1989, pp. 28-66; ScHNEIDER,Frankenreich. eit. (wie Anm. 21), pp. 54 fT. 454 WERNER ROSENER ses Hofes ist uns aus karolingischer Zeit eine instruktive Abhandlung erhalten: die Schrift De ordine palatii 26. Sie wurde um 882 von Erzbischof Hinkmar von Reims, einem ehemaligen Hofgeistlichen, verfaßt, ging aber in ihrem Kern bereits auf Adalhard von Corbie, einem Vetter Karls des Großen, zurück 27. Hinkmars Darlegung beginnt mit der grundlegenden Feststellung, daß nach Adalhard für den status regni zwei Momente wichtig seien, nämlich erstens die Leitung undOrdnung des Königshofes und zweitens der Dienst und die Sorge für die Bedürfnisse des Reiches 28. Hofordnung und Reichsordnung, ordo palatii und ordo regni, entsprechen sich demnach einander und gehören zusammen wie Hof und Reich, palatium und regnum. In der Hofordnung stehen König, Königin und die Königskinder an der Spitze der Hofhierarchie, gefolgt von den geistlichen und weltlichen Hofbeamten (ministri). Zu den wichtigsten Hofämtern, die sich ursprünglich aus den alten Hausämtern entwickelt haben, gehören: der Kämmerer tcamerarius), der Seneschall tsenescalcus), der Mundschenk (buticularius) und der Marschall (comes stabuli) 29 Eine Schlüsselfunktion besitzt das Amt des Kämme(26) Hinkmar von Reims: De ordine palatii, hg. von T. GROSS und R. &HIEFFER, (M.G.H. Fontes iuris 3), Hannover1980; ältere Edition M. PROU, Hincmar: De ordine palalii (Bibliotheque de I'Eeole des Hautes Etudes 58), Hannover, 1885. (27) Vg!. J. FLECKENSTEI:<, Die Struktur des Hofes Karls des Großen im Spiegel von Hinkmars De ordine palatii, in Zeitschrift des Aachener Ge.•chichtsoereins; 83 (1976), pp. 5-22, wieder in DERB.,Ordnungen und formende Kräfte des Mittelalters eit. (wie Anm, 25), pp. 67-83; J. ScH"IDT, Hinkmars De ordine palatii und seine Quellen, Diss., Frankfurt, 1962; H. LoWE, Hinkmar von Reims und der Aprocrisiar. Beiträge zur Interpretation von De ordine palatii, in Festschrift für Hermann Heimpel, 3, Göttingen, 1972, pp. 197-225. Zu Adalhard von Corbie B. KAsrEN, Adalhard von Corbie. Die Biographie eines karolingischen Politikers und Klosteroorstehers, Düsscldorf, 1986. (28) GROss/&HIEITER, Hinkmar cit. (wie Anm. 26), p. 56. (29) Ibid., p. 74. Vg!. W. RosENER, Hofämter an mittelalterlichen Furstenhofen, in Deutsches Archiv, 45 (1989), pp. 485-550. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 455 rers, da dieser zusammen mit der Königin die gesamte Haushaltsführung des Hofes kontrolliert; er verwaltet alle Einkünfte und Vorräte, nimmt die Jahresgaben der Vasallen (dona annualia militum) in Empfang und berechnet rechtzeitig den künftigen Bedarf der Hofhaltung 30. Seine Tätigkeit ist, wie die Hofordnung betont, vor allem darauf gerichtet, den König soweit wie möglich von den alltäglichen Sorgen der Hofhaltung zu entlasten und für die Aufgaben der Reichsverwaltung freizuhalten. Der Seneschall, der in späterer Zeit als Truchseß auftritt, ist für die allgemeine Hofverwaltung, die Aufsicht über das Dienstpersonal und für die Versorgung der Tafel mit ausreichend Lebensmitteln zuständig. Als regiae mensae praepositus, wie Einhard ihn in seiner Karlsbiographie nennt 31, ist der Seneschall, der ursprünglich als Oberknecht fungierte, für die Ausstattung der königlichen Tafel zuständig und hat hier vor allem eine Leitungsfunktion gegenüber den niederen Tischdienern inne. Der Marschall, der Pferdeknecht, ist für die Pferde und Stallungen des Hofes und darüber hinaus für das gesamte Transportwesen verantwortlich. Der Schenk, der offensichtlich ein geringeres Hofamt verwaltet, soll dagegen für die Getränke und den Keller sorgen und als magister pincernarum Aufsicht über die ihm unterstellten Diener führen. Neben diesen vier Hofämtern werden in Hinkmars Hofordnung weitere wichtige Hofämter aufgeführt und mit ihren Kompetenzen beschrieben: der Quartiermeister (mansionarius), vier Oberjäger (venatores principales), ein Falkner (falconarius) und der Pfalzgraf (comes palatii). Während die Jäger zusammen mit dem Falkner (30) GRosslScHIEFFER, Hinkmar cit. (wie Anm. 26), p. 72. (3ll Einhardi vita Karoli cit. (wie Anm. 2), p. 12. 456 WERNER ROSENER für das königliche Jagdwesen zuständig sind, besteht die Hauptfunktion des Pfalzgrafen in der Leitung des königlichen Hofgerichts, der höchsten Instanz für alle Rechtsfragen im Reich 32. Seine Aufgabe liegt darin, alle Streitigkeiten, die von den allgemeinen Richtern im Reich ungerecht entschieden sind, zu überprüfen und neu zu verhandeln. Der Pfalzgraf nimmt dem König dadurch den Großteil der Berufungsfalle ab, worin sicherlich der Hauptzweck seiner Tätigkeit liegt. Neben diesen Haupthotbeamten sind zwar noch andere Hotbeamte vorhanden, wie der Türhüter (ostiarius) und der Schwertträger (spatarius), doch sie spielen zusammen mit den sonstigen Hotbediensteten nur eine untergeordnete Rolle und sind in der Regel den höheren Amtsinhabern als Helfer zugeordnet. Überblickt man die Hofordnung des karolingischen Königshofes als Ganzes, so lassen sich einige Schlußfolgerungen ziehen. Von den bei Hinkmar genannten Hof- . beamten ragen einige, wie der Kämmerer und der Seneschall, aufgrund ihrer Machtfülle besonders heraus. Einige Ämter gehören verschiedenen Zeitschichten an und haben sich allmählich mit ihren Funktionen stark verändert. Das Wort marescaleus (Pferdeknecht) für den Marschall hält noch fest, daß dasAmt ursprünglich aus der knechtliehen Sphäre stammt 33. Die spätere Bezeichnung comes stabuli (Stallgraf) deutet die Höherentwicklung an, die dieses Amt wie auch andere Ämter am Königshof (32) G~ Hinkmar cit. (wie Anm. 26), p. 70; H. E. MEYER,Die Pfalzgrafen der Merowinger und Karolinger, in Zeitschrift der Savigny-Stiftung {Ur Rechtsgeschichte, 42 (1921), pp. 380-463; F. L. GANSHOF, Charlemagne et les institutions de la monarchie franque, in Karl der Große 1 cit. (wie Anm. I), pp. 349 fT. (33) Zum Marschallamt: GROSSIScHIEFFER, Hinkmar cit. (wie Anm. 26), p. 74; P. ScHUBERT, Die Reichshofämter und ihre Inhaber bis um die Wende des 12. Jahrhunderts, in Mitteilungen des Instituts für Osterreichische Geschichtsforschung, 34 (1913), p. 440. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 457 durchlaufen haben. Die niederen Dienste für Unterkunft, Stall und Verpflegung, für welche man seit Karl dem Großen entsprechend der Vergrößerung des Königshofes eine Vielzahl von Bediensteten benötigte, wurden dem Gesinde überlassen, während sich die Inhaber der Hofämter, die jetzt angesehene Männer des Reichsadels waren, auf Aufsicht und Leitung der ihnen untergeordneten Diener konzentrierten. Mit der Prestigesteigerung ging eine Ausweitung der Kompetenzen vieler Hofämter einher, da mit der Umwandlung alter Hausämter in höhere Hofämter auch die Funktionen der Ämter über den Hof hinaus in das Reich ausgedehnt wurden. Es ist daher bei den Hofamtern eine Entwicklung von der Haus- über die Hof- zur Reichsverwaltung zu erkennen ". In diesem Prozeß wurde der Kämmerer zu einer Art Vermögensverwalter des Königs; der Marschall, der immer stärker in militärische Bereiche hineinwuchs, stieg zum Heerführer auf. Diese Entwicklung war auch deshalb möglich, weil die Ämter in der Hand -mächtiger Adliger sich immer mehr in Ehrenstellungen verwandelten, die mit ihren ursprünglichen Aufgaben nur noch wenig zusammenhingen. Die Persönlichkeit des Amtsinhabers, der im Auftrag des Königs wirkte, wurde wichtiger als das Amt, das er formell verwaltete. Die bisher behandelten Ämter sind weltliche Hofämter. Neben den weltlichen werden in Hinkmars Hofordnung aber auch die geistlichen Hofämter angesprochen. An der Spitze der Hofgeistlichkeit steht der oberste Kapellan, der auch custos palatii genannt wird 35. Neben (34) FLECKEN!m:IN, Struktur cit. (wie Anm. 27), p. 80; RosENER, Hofämter cit. (wie Anm. 29), p. 502. (35) GROSSIScHIEFFER, Hinkmar cit. (wie Anm. 26), p. 62: Apocrisarius autem, quem nostrates capellanum vel palatii eustodem appellant, omnem clerum palatii 458 WERNER RÖSENER ihm fungiert der Kanzler (cancellarius) als selbständiger Leiter der Kanzlei und des königlichen Urkundenwesens. Der Kanzler, der ursprünglich dem obersten Kapellan unterstellt war, stieg mit der Ausweitung seines Pflichtenkreises und der Zunahme der Schriftlichkeit am Karolingerhof unaufhaltsam in die Führungsschicht auf ". Kanzler und oberster Kapellan gehörten der höfischkirchlichen Institution der Hofkapelle an, dem Zusammenschluß aller Geistlichen am Hof. Die herausragende Bedeutung der Hofkapelle unter Kar! dem Großen ist von Josef Fleckenstein ausführlich dargestellt worden 37, so daß nähere Ausführungen zur Hofkapelle hier unterbleiben können. Mit der Vergrößerung der Hofkapelle vermehrte sich auch die Zahl der Geistlichen am Königshof, so daß die geistlichen Diener neben den weltlichen zunehmend an Gewicht gewannen. In Hinkmars Hofordnung ist das komplizierte Beziehungssystem zwischen weltlichen und geistlichen Amtsträgern klar geregelt, um Konflikte zwischen beiden Gruppen in der Hofund Reichsverwaltung zu vermeiden. Außer Hinkmars Schrift De ordine palatii ist uns aus der Karolingerzeit eine weitere Quelle überliefert, die ebenfalls grundsätzliche Bestimmungen zur Hoforganisation der Karolingerkönige enthält: Das Capitulare Ludwigs des Frommen "De disciplina palatii Aquisgranensis" 38. Bei diesem Capitulare handelt es sich um eine Hofordnung, die wohl unmittelbar nach der Herrschaftsübernahme Ludwigs im sub curo et dispositione Bua regebat. Zur Gleichsetzung des obersten Kapellan mit dem Aprokrisiar LöWE, Hinkmar cit. (wie Anm. 27), pp. 197 ff. (36) GROSS"ScHIEFFER, Hinkmar cit. (wie Anm. 26), p. 62; LöWE, Hinkmar cit. (wie Anm. 27), pp. 205·206. (37)J. FLECKEN!rI"EIN, Die Hofkapelle der deutschen Könige, 2 Bde., Stuttgart, 1959/1965. (38) M.G.H. Capitularia regum Franeorum 1, hg. von A. BORETIus,Hannover, 1883, Nr. 146, pp. 297·298. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 459 Jahre 814 erlassen wurde 39. Der Herrscher verordnet eine Reihe disziplinierender Maßnahmen für das Hofleben in der Pfalz Aachen; einzelne Amtsträger werden sogar namentlich dazu verpflichtet, daß sie jede Woche samstags den Kaiser über ihre Inquisitionen berichten 40. So soll jeder ministerialis palatinus sorgfältig überprüfen, ob sich im Pfalzbereich bestimmte verdächtige Personen verborgen halten, und wenn diese aufgefunden werden, sollen sie festgehalten werden, bis dem Herrscher die Angelegenheit gemeldet ist. Diese Observation gilt nicht nur für das palatium des Königs, sondern auch für die Räume der Königin und der Königssöhne. Ferner ist das ministerium des actor Ratbertus, das heißt die Häuser der königlichenseroi in Aachen und den zu Aachen gehörenden Dörfern, zu inquirieren; auch sollen die Anwesen anderer actores durch die Hofamtsträger Petrus und Gunzo kontrolliert werden. Die mansiones aller christlichen und jüdischen Kaufleute sind ebenso zu observieren wie jene der Bischöfe, Äbte, Grafen und königlichen VasallEm. Ferner werden in dieser rigiden Hofordnung Strafen für diejenigen festgesetzt, welche Asylsuchende bei Hofe heimlich unterbringen; wer nicht in der Lage ist, Streithähne im Pfalzbereich ruhigzustellen, übernimmt eine Mitverantwortung für den angerichteten Schaden. Beide Schriftzeugnisse, Hinkmars De ordine palatii und das erwähnte Capitulare Ludwigs des Frommen, sind offenbar aus der konkreten Anschauung des Hoflebens ent(39) Zur Handschrift und ihrer Anlage H. MORDEK, Bibliotheca capitularium regum Franeorum manuscripta. Überlieferung und Traditionszusammenhang ehr fränkischen Herrschererlasse, München, 1995, pp. 546 fT. . (40) Vg!. D. FLACH, Untersuchungen zur Verfassung und Verwaltung des Aachener Reichsgutes von ehr Karolingerzeit bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Göttingen, 1976, pp. 67 fT.; E. BOSHOF, Ludwig der Fromme, Darmstadt, 1996, pp. 103-104. 460 WERNER RÖSENER standen und verbinden demnach Praxis und Norm des Königshofes. Der Hof Karls des Großen gelangte zu seiner vollen Entfaltung, seitdem Kar! in der Zeit nach 794 dazu übergegangen war, ständig in Aachen zu residieren ~l. Der Aachener Hof wurde kennzeichnend für Kar! auf dem Höhepunkt seiner Macht, war aber zugleich das Ergebnis eines jahrzehntelangen Herrschaftsausbaus und einer ambulanten Herrschaftspraxis im Wechsel von Pfalz zu Pfalz. Die Dauerresidenz in Aachen bot dem Hof ganz neue Möglichkeiten des Ausbaus, wozu der Aufbau einer Hofschule von Gelehrten und Dichtern gehörte ~2. Von Aachen aus schickte der König auch ausgewählte Hofbeamte mit Aufträgen in einzelne Reichsteile oder übertrug ihnen bestimmte Aufgaben. Fast alle Marschälle Karls des Großen sind gleichzeitig als Heerführer bezeugt, mehrere sind in Kriegen gefallen. Einer von den Marschällen, der comes stabuli Burchard, hat im Jahre 807 bei Korsika sogar eine Flotte gegen die Sarazenen befehligt 43. Die militärische Funktion und die Übernahme von Spezialaufgaben weit weg vom Aachener Hofzentrum haben also schon damals für das Hofamt des Marschalls eine wichtige Rolle gespielt. Von den Hofämtern des Seneschalls und des Mundschenks ist bekannt, daß sie am karolingischen Königshof stets aus vornehmer fränkischer Familie kamen und daß sie vom Kö(41) Vg!. FLECKENSTEIN, Karl der Große cit. (wie Anm. 25), p. 53; S. EpPERLEIN, Leben am Hofe Knrls des Großen, Regensburg, 2000, pp. 13 If.; D. HAGER.\IANN, Karl der Große, Herrscher des Abendlandes, Berlin u. B., 2000, pp. 334 If.; M. UNTERMANN, "opere mirabili constructa·. Die Aachener 'Residenz' Karls des Großen, in 799 - Kunst und Kultur cit. (wie Anm. 1), pp. 152-164. (42) F'ucKEN!m:JN, Karl' der Große cit. (wie Anm. 25), pp. 52 IT.; EPl'ERLEIN, Leben am Hofe cit. (wie Anm. 41), pp. 85 IT. (43)Annales regni Franeorum ad 807. ed. F. KURZE (M.G.H. SS rer. Germ). 1895, p. 124. 461 KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFrSRAUM nig auch über ihr Amt hinaus zu wichtigen diplomatisehen und militärischen Aufgabenin verschiedenen Reichsgebieten herangezogen wurden 44. Mit Vorliebe nahm der König ehemalige Hofbeamte oder Hofgeistliche, die eine Funktion im Reich übernommen hatten, in den Kreis der consiliarii, der Ratgeber des Königs, auf. Bei der Auswahl der Hofbeamten wurde besonders darauf geachtet, daß die Amtsinhaber nach Möglichkeit aus den verschiedenen Regionen des Reiches rekrutiert wurden, damit alle Reichsteile angemessen am Hof vertreten und Besucher aus den einzelnen Landschaften dort geeignete Ansprechpartner für ihre Anliegen vorfinden konnten 45. Die Ratgeber (consiliarii) am Hof wurden möglichst proportional aus dem Kreis der Laien und der Geistlichen gewählt 46, und auch bei den Missionen legten die Karolingerkönige Wert darauf, daß weltliche und geistliche Amtsträger sie gemeinsam durchführten. Die Kaiserkrönung Karls im Jahre 800 hat dem Königshof in Aachen zweifelloseinen neuen Schub gegeben; die vergrößerte Umgebung des Herrschers sollte offensichtlich den Glanz seiner Herrschaft im Zentrum des Reiches verstärken 47. Aber auch die Hofverwaltung machte bedeutende Fortschritte, wie sich besonders aus der starken Zunahme der schriftlichen Verwaltungstätigkeit ersehen läßt 48. Im Rahmen dieser vermehrten Schriftlichkeit am Aachener Karlshof ist auch das Capitulare de villis einzuordnen, das offenbar in der Zeit nach 800 ent(44) Fu:cKEN!m!IN, Struktur cit. (wie Anm. 27) pp. 74·75; S. AsEL, B. SIMSON, Jahrbücher des Fränkischen Reiches unter Karl dem Großen, 2 (1883), pp. 549 IT. (45) GROSSIScHIEFFER, Hinkmar (wie Anm. 26), p. 66. (46) Ibid., p. 86: Consiliarii autem, quantum possibile erat, tam clerici quam laici tales eligebantur, (47) FLECKEN!m!IN, Karl der Große cit, (wie Anm. 25), p. 50. (48) Vgl. F. L. GANSHOF, Charlemagne et l'usage de l'eerit en matiere admini· strative, in Le Moyen Age, 57 (1951), pp. 1 fr. J 462 WERNER RÖSENER stand 49 und das interessante Aufschlüsse zur Grundherrschaft des Königs und zur Herrschaftspraxis der Karolinger enthält. Inwieweit das Reichsgut und die großen Landgüter des Königs die materielle Grundlage des Hofes bildeten, soll im Folgenden untersucht werden. 3. DIE KÖNIGIJCHE GRUNDHERRSCHAFT ALS BASIS DES KÖNIGSHOFES Die enge Vernetzurig von Königshof und Grundherrschaft des Königs wird in Hinkmars De ordine palatii dort erkennbar, wo von der Planung der Reisen des Königs und seines Hofes durch das Reich die Rede ist. Seneschall, Mundschenk und Marschall, die Inhaber der wichtigsten Hofämter, sind verpflichtet, die actores regis, die Verwalter der königlichen Domänen, jeweils rechtzeitig über Zeit, Ort und Dauer des königlichen Aufenthaltes zu informieren 50, während der mansionarius mit Hilfe der gleichen actores die angemessene Unterbringung des Hofes vorzubereiten hat 51. Dabei wird hinter den Amtleuten ein weiterer Personenkreis erkennbar, der die gesamte familia regis, das heißt die königliche Hintersassenschaft auf den Domänen, umfaßt. Es wird nämlich ausdrücklich verlangt, daß man auf die familia regis Rücksicht nehmen soll und sie nicht bedrängen darf52• Die actores regis, die Amtmänner der Domänen an den (49) F. L. GANSHOFF, Zur Datierung eines Aachener Kapitulars Karls des Großen, in Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, 155/56 (1956) pp. 62 fT. Ein anderer Zeitansatz findet sich bei A. VERHULST, Karolingische Agrar· politik: Das Capitulare de uillis von 792/93 und 805/06, in Zeitschrift für Agrar· geschichte und Agrarsoziologie, 13 (1965), pp. 175-189. (50) GROSSIScHIEFFER, Hinkmar cit. (wie Anm. 26), p. 74. (51) Ibid., p. 76. (52) Ibid., p. 76: ne forte tarde scientes, dum inopportuno tempore vel cum ni· mia festinatione exigeretur, familia regalis per negligentiam sine necessitate opprimeretur. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 463 Zentren des Reichsgutes, stehen demnach in dauerndem Kontakt mit den obersten Hofbeamten; ihnen sind die Hintersassen des Königs, die Schar der abhängigen Bauern der königlichen Grundherrschaft, unterstellt. Das Reichsgut, das die unmittelbare Machtgrundlage der Karolinger bildete, bestand aus zahlreichen größeren und kleineren Besitzungen, die sich über das gesamte Reichsgebiet erstreckten 53, wobei allerdings zwischen den einzelnen Landschaften hinsichtlich der Dichte des Königsbesitzes beträchtliche Unterschiede bestanden. So hoben sich unter den Karolingerkönigen einige Regionen als Kernlandschaften der königlichen Gewalt und des Reichsgutes hervor, wie vor allem das Gebiet um Paris, der Maas-Mosel-Raum und das Rhein-Main-Gebiet bei Frankfurt 54. Das Reichsgut, auf dem neben den zahlreichen Wirtschaftshöfen und Domänen auch die Königspfalzen lagen, ermöglichte es dem Herrscher, daß er auf seinen Zügen durch das Reich in der Regel auf eigenem Grund und Boden verweilen konnte. Wichtige Anhaltspunkte für die Lage des Reichsgutes, das trotz einer intensiven Reichsgutforschung bis heute nur rudimentär bekannt ist, gibt daher das Itinerar des Königs, da dieses sich bei seinen Reisen durch das Reich an den Zen(53) Allgemein zum karolingischen Reichsgut D. HAGER:IIANN, Reichsgut, in Lexikon des Mittelalters, 7 (1995), coli. 620 If.; W. ME1'Z, Das karolingische Reichsgut. Berlin, 1960; DERS.,Zur Erforschung des karolingischen Reichsgutes, Darmstadt, 1971; BRCHL, Fodrum cit. (wie Anm. 24); Le grand domaine aux epoques merooingienne et corolingienne, hg. von A. VERHUlSI', Gent, 1985; W. ROSENER, Grundherrschaft im Wandel. Untersuchungen zur Entwicklung geistlicher Grundherrschaften im südwestdeutschen Raum vom 9. bis 14. Jahrhundert, Göttingen, 1991, pp. 361 If.; Th. Zorz, Beobachtungen zur königlichen Grundherrschaft entlang und östlich des Rheins vornehmlich im 9. Jahrhundert, in Strukturen der Grundherrschaft im frühen Mittelalter, hg. von W. ROSENER. Göttingen, 1993', pp. 29-46. (54) Eine Karte mit den Kerngebieten der königlichen Grundherrschoft findet sich bei Metz, Reichsgut cit. (wie Anm. 53). p. 135. 464 WERNER RÖSENER . tren orientierte, an denen die Versorgung seines Hofes gesichert war 56. Karls Interesse zielte aber darauf, über diese Zentren der königlichen Macht hinaus zu wirken und von ihnen aus den Herrschaftsraum des Reiches als Ganzes zu erfassen. Die Vermehrung des Reichsgutes und die effiziente Verwaltung der königlichen Grundherrschaft konnten dazu als Mittel dienen. Das Capitula re de villis, das durch Forschungen von Karl Lamprecht, Alfons Dopsch, Mare Bloch, Wolfgang Metz und anderen intensiv untersucht wurde, besitzt eine Schlüsselstellung bei der Erforschung des karolingischen Reichsgutes 56. Die Strukturen der königlichen Grundherrschaft treten in diesem wichtigen Schriftzeugnis, das von Ganshof auf die Jahre um 800 datiert wurde, klar hervor 57. Fragen, die sich auf die Technik der Agrarwirtschaft beziehen, werden in dieser Quelle nur am Rande gestreift; vielmehr geht es in erster Linie um eine ertragreiche Verwaltung der königlichen Villikationen, Domänen und Forsten sowie um Maßnahmen, die einen sicheren Unterhalt des Königshofes gewährleisten können. So heißt es kategorisch im Anfangskapitel: Volumus, et villae nostrae, quas ad opus nostrum serviendi institutas habemus, sub integritate partibus nostris de(55) Vg!. das Itinerar Karls des Großen, A. GAUERT,Zum Itinerar Karls des Großen, in Karl der Große 1 eit. (wie Anm. I), pp. 307·321. (56) K. LAMPRECHr, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelal~r, 1 (1885), pp. 719 fT., 801 fT.; A. DoP8CH, Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit vornehmlich in Deutschland, I, Darmstadt, '1962, pp. 28 fT.; M. BLOCH, La organizacion de los dominios reales carolingios ;y las teorias de Dopsch, in Annuario de Historia del derecho Espanol, 3 (1926), pp. 89 fT.; K. VERHEIM. Studien zu den Quellen zum Reichsgut der Karolingerzeit, in Deutsches Archiv, 10 (1953), pp. 313 fT.; MEn, Erforschung cit. (wie Anm. 53), pp. 8ff. - Editionen des Capitulare de villis: M.G.H. Capit. I, 1883, Nr. 32; B. FOlS ENNAS, 11 "Capitulare de villis", Milano, 1981; C. BRÜHL (Hg.), Capitulare de Villis, 1971. (57) GANSHOF, Datierung cit. (wie Anm. 49); anders VERHUU!T, Agrarpolitik eit. (wie Anm. 49); DERB.,Capitulare de villis, in Lexikon des Mittelaiters, 2 (1983), colI. 1482-1483. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 465 58. (Wir befehlen: unsere Güter, die wir eingerichtet haben, um unseren Hof zu beliefern, sollen allein unserem Bedarf dienen und niemandem sonst). An diesen Passus schließt sich die Forderung an, daß die iudices, die Verwalter der Villikationen, die Bauern der königlichen Grundherrschaftsbezirke nicht für ihre eigenen Bedürfnisse in Anspruch nehmen dürfen; vielmehr sollen die königlichen Hintersassen gut behütet werden. Neben dem Ackerbau gelten viele Bestimmungen des Capitulare der Viehhaltung, darunter der Zucht von Pferden, Rindern, Schweinen, Schafen und Geflügel. Weiterhin befaßt sich das Capitulare mit der Aufzucht von Hunden, mit der Anlage von Fischteichen und Tiergehegen sowie mit den verschiedenen Handwerkerzweigen. Einzelne Bestimmungen gelten der Forstwirtschaft, dem Mühlenbau, der Weinerzeugung und den Arbeitshäusern für Frauen. Die Menge der tierischen und pflanzlichen Produkte erfordert offenbar umfangreiche Betriebsvorrichtungen und Arbeitskräfte, wobeiTransportprobleme und Kriegslieferungeneine wichtige Rolle spielen. Die Güterkomplexe, die in Villikationen unter der Verwaltung von iudices, actores und maiores zusammengefaßt sind, haben zunächst die Grundversorgung des reisenden Hofes, sofern er eine benachbarte Pfalz aufsucht, zu gewährleisten, und zwar nach Weisung des Königs, der Königin und der obersten Hofbeamten 59. Eine weitere Verbindung zum Königshof ergibt sich aus der Bestimmung, Wein in genügender Menge bei den königlichen Kellern anzuliefern und Mastochsen für den Ver- serviant et non aliis hominibus (58) M.G.H. Capit. 1, Nr. 32 (cap. 1). (59) Ibid. (cap. 16). WERNER ROSENER· 466 zehr bei Hofe bereitzuhalten 60. Über diese Logistik der Versorgung des Hofes mit Grundnahrungsmitteln hinaus sind die königlichen Domänen voll in die Militärorganisation der Karolingerzeit eingeordnet. Dies gilt sowohl für die Pferdezucht als auch für die Herstellung geeigneter Kriegskarren, Waffen und militärischer Ausrüstungsgegenstände. Neben den konkreten Formen der Bewirtschaftung, Ablieferung und Vorratshaltung verlangt das Capitulare de villis eine bestimmte Art der Durchführung mit Aufzeichnungen über Einnahmen und Ausgaben, differen~ ziert nach Herkunft und Ausgang, um so dem Hof einen Überblick und zugleich ein Kontrollinstrument zu verschaffen .61. Dabei kommt der Versorgung des Königshofes das Hauptgewicht zu, wie die Vorschriften zur Vorratswirtschaft auf den königlichen Domänen zeigen. Ob diese Maßnahmen, die durch eine zunehmende Verschriftlichung der Verwaltung unterstützt wurden, Erfolg hatten, läßt eich schwer beurteilen. Die Schwierigkeiten, die mit der Erfassung des ausgedehnten Raumes des Karolingerreichesverbunden waren, wirkten sich auch auf die Kontrolle der Villikationen und königlichen Güter aus. Die unentschlossene Politik von Karls Nachfolger Ludwig trug wesentlich dazu bei, das Königsgut durch Vergabe an die großen Vasallen und an kirchliche Einrichtungen stark zu schwächen 62. Der Text des Capitulare de viZlis zeigt deutlich, in welchem Ausmaß das karolingische Königtum bei seiner wirtschaftlichen Versorgung auf die eigenbewirtschafteten Güter angewiesen (60) Ibid. (cap. 8). (61) Ibid. (cap. 62). (62) Zu Ludwig dem Frommen J. FRIED, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024, Berlin, 1994, pp. 341 fT.; E. BOSHOF, Ludwig der Fromme, Darmstadt, 1996. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 467 war. Auch der König war ein bedeutender Grundherr, der wie die weltlichen und geistlichen Herren auf die Erträge seiner Güter und Grundbesitzungen dringend angewiesen war. Struktur und Organisation einzelner Fiskalbezirke und Grundherrschaftskomplexe des Königs lassen sich aus einigen Urbaren und Aufzeichnungen detailliert erkennen. An erster Stelle ist hier das Lorscher Reichsurbar zu nennen, das Königsgüter im rheinfränkischen Raum aus der Zeit um 830 verzeichnet 63. Zu den einzelnen Haupthöfen, die in anderen Quellen als fisci oder villae in Erscheinung treten, gehören Salländereien mit Wiesen und Äckern sowie Hufen verschiedener Qualität und Belastung. Diese Haupthöfe liegen in Gernsheim, Nierstein, Frankfurt, Worms, Kaiserslautern und Niederflorstadt. Zum Hof in Gernsheim, der als Mittelpunkt eines fiscus fungiert, gehört ein Sallandareal von 264 Tagwerk, denen 55 Zinshufen gegenüberstehen 64. Die angeschlossenen freien und unfreien Hufen sind in unterschiedlichem Maße mit Abgaben in Naturalien und Geld sowie mit schweren Frondiensten belastet. Die Hufenbauern sind verpflichtet, auf dem Salland zu pflügen, zu ernten und die Ernte einzufahren. Bei diesen rheinfränkischen Königsgütern ist demnach eine Villikationsverfassung mit ausgedehnter Eigenwirtschaft und umfangreichen Frondiensten der Hintersassen zu erkennen, wie sie auch in vielen anderen Gebieten der karolingi(63) Codex Laureshamensis. Bearb. und hg. von K. Glöckner, Bd. 3, 1936, Nr. 3671-3675. Dazu M. GocKEL, Karolingische Königshöfe am Mittelrhein, Göttingen, 1971; K. GLÖCKNER, Ein Urbar des rheinfränkischen Reichsgutes aus Lorsch ; in Mitteilungen des Instituts für Osterreichische Geschichtsforschung, 38 (1920) pp. 381 If. (64) Codex Laureshamensis cit. (wie Anm. 63), Nr. 3671. Dazu GOCKEL, Königs. höfe cit. (wie Anm. 63), pp. 46 fT. 468 WERNER RÖSENER sehen Kernlande verbreitet war. In einigen anderen Landschaften des Frankenreiches spielte die königliche Fronhofswirtschaft keine erwähnenswerte Rolle, wie z. B. in Churrätien, in der Bretagne oder in Aquitanien. In diesen Gebieten war das Königsgut entweder als Rentengrundherrschaft organisiert oder als Lehen an Vasallen ausgegeben 65. . Ein dem Lorscher Reichsurbar vergleichbares Schriftzeugnis ist die Beschreibung des niederrheinischen Hofes Friemersheim in den Werdener Urbaren aus der Zeit um 890 66. Zur curtis dominica in Friemersheim gehört ein ausgedehntes Sallandareal, das sich sowohl in Friemersheim selbst als auch in einigen Nachbarorten befindet. Die dort ansässigen Hufenbauern sind zu beträchtlichen Frondiensten und vielfaltigen Abgaben verpflichtet. Dazu gehört die Feldbestellung in Herbst und Frühjahr, ferner Hilfsdienste bei der Heuernte, Gartenarbeiten, Schweinernast, Instandsetzung von Hofzäunen und Bauten. In Friemersheim befindet sich demnach ein königlicher Wirtschaftshof ", der den Bestimmungen des Capitulare de villis nicht allzu fernsteht. Die Brevium exempla, die derselben Handschrift wie das Capitulare de villis angehören und der Beschreibung (65) Vg!. W. METl, Die Agrarwirtschaft im karolingischen Reich, in Karl der Große 1 cit. (wie Anm. 1), p. 496. (66)Die Urbare der Abtei Werden an der Ruhr. A. Die Urbare vom 9.-13. Jahrhundert, Bd. 2, hg. von R KÖTZSCIIlJKE, Bonn, 1906, pp. 15 fT.; dazu R KorzscnKE, Studien zur Verwaltungsgeschichte der Großgrundherrschaft Werden an der Ruhr, Leipzig, 1901, pp. 7-8; W. RosENER, Zur Struktur und Entwicklung der Grundherrschaft in Sachsen in karolingischer und ottonischer Zeit, in Verhulst, Le grand domaine cit. (wie Anm. 53), p. 189. (67) RosENER, Zur Struktur cit. (wie Anm. 66), pp. 189-190; D. KAsnlER, Zur Lage des Hofes Karls des Großen in Friemersheim, in Duisburger Forschungen, 27 (1979), pp. 1 fT. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 469 von Kirchen- und Fiskalgut dienen 68, liefern aufschlußreiche Angaben zum baulichen Aussehen von Königshöfen und ihrem Inventar. Zum Königshof Annappes bei LilIe gehörten ein Haupthaus und 17 weitere Gebäude, darunter ein Stall, ein Küchengebäude, eine Bäckerei, zwei Speicher und drei Scheunen. Dies alles war von einem Zaun umgeben, in den ein steinernes Tor Einlaß gewährte. In den Ställen des Königshofes standen Pferde, Rinder und Kleinvieh in beträchtlicher Zahl: 98 Pferde, 16 Zugochsen, 2 Esel, 111 Rinder, 50 Kühe, 365 Schweine, 470 Schafe und etliches Geflügel. Die vielen Pferde des Hofes dienten offenbar den Fuhr- und Botendiensten, die man dem königlichen Grundherrn zu leisten hatte. Da der König mit seinem Gefolge in manchen Königshöfen tatsächlich geweilt hat, so auch in Annappes, ist es nur eine Frage der Bezeichnung, ob diese Königshöfe 'Pfalzen' waren oder nicht 69. Da die ländlichen Pfalzen der Karolinger ihrer Struktur nach mit Palastbauten ausgestattete Gutshöfe waren, ist es verständlich, daß die Quellen palatium und curtis in nicht wenigen Fällen abwechselnd zur Kennzeichnung königlicher Aufenthaltsorte gebrauchen. Sofern die palatium-Belege mit Sicherheit die Baulichkeiten meinen, wird man die betreffenden Orte zu Recht als Pfalzen ansprechen dürfen. Über die Topographie und das äußere Erscheinungsbild einer ländlichen karolingischen Pfalz hat sich Adolf (68) Brevium exempla ad describendas res ecclesiasticas et fiscales, ed. A. BOo in M.G.H. Capit. I, 1883, Nr. 128, pp. 250 fT. Zur Quelle vgl. METZ, Erforschung eit, (wie Anm. 53), pp. 23 fT.; DERB., Die Königshöfe der Brevium Exempla, in Deutsches Archiv, 22 (1967), pp. 598-617. (69) Zur Diskussion um den Pfalzenbegriff A. GAUERT, Zur Struktur und Topographie der Konigspfaleen, in Deutsche Kimigspfalzen: Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung, 2, Göttingen, 1965, pp. 1 fT.; ZOTZ,Vorbe· merkungen eit, (wie Anm. 24), pp. 184 fT. RE11US, 470 WERNER RÖSENER Gauert grundlegend geäußert 70. Demnach setzte sich eine Pfalz in der Regel aus dem palatium, das den Saalbau (aula), die Wohnräume (caminata) und die Pfalzkapelle umfaßte, und der curtis, dem Wirtschaftshof, zusammen; in spätkarolingischer Zeit trat als drittes Element die Burg, die Befestigung, hinzu 71. Die Kombination von palatium und curtis, von Palastbauten und Wirtschaftshof, tritt bei vielen Pfalzen im Karolingerreich in Erscheinung. Im Nachbarbereich der Pfalz liegt in der Regel auch der Fiskus, der Güterkomplex der königlichen Grundherrschaft, der auf die Versorgung der Pfalz und des Königshofes ausgerichtet ist 72. Zur Pfalz Aachen mit ihren eindrucksvollen Wohn- und Repräsentationsbauten gehörten im Nahbereich auch ein Wirtschaftshof und ein Fiskus, dessen Güterorganisation von Dietmar Flach detailliert aufgehellt wurde 73. Mit der villa Aachen sind gemäß dem Capitulare de disciplina palatii Aquisgranensis von 814 mehrere näher und ferner gelegene villulae verbunden, die offenbar als Nebenhöfe zu verstehen sind 74. Der Aachener Fiskus des 9. Jahrhunderts setzte sich demnach aus dem Aachener Haupthof und mehreren Nebenhöfen zusammen, die von einem Amtmann (actor) verwaltet wurden 75. Organisatorisch war das Aachener Fiskalgut in das von der Herrschaft eigenbewirtschaftete .Salland und das gegen Abgaben und Dienste an bäuerliche Hintersassen ausgeta(70) GAUERT, Zur Struktur cit. (wie Anm. 69), pp. 1-60. (71) Ibid., pp. 4-5. (72) Vg!. A. VERHUUIT, Fiscus, in Lexikon des Mittelalters, 4 (1987), colI. 502; DoPSCH,Wirtschaflsentwicklung cit. (wie Anm. 56), S. 153 fT.; METZ,Reichsgut eit. (wie Anm. 53), pp. 106 fT. (73) FLACH,Untersuchungen eit. (wie Anm. 40), pp. 92 fT.; DERS.,Das Reichsgut im Aachener Raum, in Rheinische Vierteljahrsblätter, 51 (1987), pp. 22 fT. (74) M.G.H. Capit, I, Nr. 146, cap. 2, p. 298. (75) FLACH,Untersuchungen eit. (wie Anm. 73), p. 387. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 471 ne Zinsland untergliedert. Angesichts seiner Größe und Bedeutung war der Fiskus Aachen offenbar besonders effizient strukturiert, um so die Versorgung der Aachener Pfalz gewährleisten zu können 76. Die Pfalz Frankfurt gehörte in der Karolingerzeit zu den Hauptpfalzen im Mittelrheingebiet, wie zahlreiche Königsaufenthalte belegen 77. Das palatium der Pfalzanlage lag im Kern der späteren Stadt Frankfurt nahe dem Mainufer in einem zusammenhängenden Komplex von Wohngebäuden mit Pfalzkapelle 78. Stand die Aachener Pfalz eher im Banne antiker Tradition, so dürften für Frankfurt mehr einheimische Vorbilder maßgebend gewesen sein. Die Frankfurter Pfalz ist zu den von den Karolingern bevorzugten ländlichen Pfalzen zu rechnen, die zumeist in Flußnähe bei königlichen Wirtschaftshöfen erbaut wurden 79. Ihre Gesamtlänge war aber wesentlich kleiner als die Aachener Pfalz, die allmählich zur Hauptresidenz Karls des Großen wurde. Westlich der Pfalz lag nach Schalles-Fischer der Wirtschaftshof, der als Mittelpunkt des in Frankfurt und seiner Umgebung vorhandenen Reichsgutes diente 80. Frankfurts Stellung als Zentrum eines bedeutenden Reichsgutkomplexes war (76) Zur Pfalz Aachen L. FALKE."iSTEIN.Der 'Lateran' der karolingischen Pfalz zu Aachen. Köln u. a .• 1966; W. KAEMERER. Die Aachener Pfalz Karls des Großen in Anlage und Überlieferung. in Karl der Große 1 cit. (wie Anm. 1). pp. 322-348; UNTER.\tA....'N. Die Aachener 'Residenz' Karls des Großen cit. (wie Anm. 41). pp. 152164. (77) Zur Pfalz Frankfurt M. ScHALLES-FISCHER. Pfalz und Fiskus Frankfurt. Eine Untersuchung zur Verfassungsgeschichte des fränkisch-deutschen Königtums. Göttingen. 1969; K. HEINE"EYER. E. ORTH. Frankfurt. in Die deutschen Königspfalzen, Bd. 1: Hessen. Göttingen, 1985-1996. pp. 131-456; O. STA.\lM, Zur karolingischen Königspfalz in Frankfurt am Main. in Germania, 33 (1955). pp. 391-401; W. ScHLESINGER. Die Pfalzen im Rhein-Mein-Gebiet, in Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. 16 (1965). pp. 487-504. (78) ScHALLES-FISCHER. Pfalz und Fiskus eit. (wie Anm. 77). p. 237. (79) GAl"ERT. Zum Itinerar cit. (wie Anm. 53). p. 315. (80) ScHALLES-FISCHER, Pfalz und Fiskus cit. (wie Anm. 77). p. 240. 472 WERNER RÖSENER eine der Voraussetzungen, die hier zur Errichtung der karolingischen Pfalzanlage führten. Die Abgrenzung des Fiskus Frankfurt und der dazugehörigen' Besitzungen läßt sich aus den Quellen nur ungefähr erschließen 81. In vielen Orten des Frankfurter Umlandes verfügte das Reich offenbar über umfangreiche Güter und Rechte, so daß die Versorgung der Frankfurter Pfalz bei Königsbesuchen gesichert war. Mit dieser Pfalz war in nächster Nähe in Sachsenhausen ein Wildpark verbunden, ferner weiter im Süden der Forst Dreieich 82, der von den Karolingerkönigen häufig als Jagdgelände gewählt wurde. Als drittes Beispiel einer karolingischen Pfalzanlage mit Zubehör soll hier die Pfalz Bodman skizziert werden, die ebenfalls mit einem Wirtschaftshof und einem Fiskus verbunden war 83. Nach der Abschaffung des alemannischen Herzogtums im Jahre 746 gelangte Bodman im Zuge der Konfiskation herzoglicher Güter noch stärker in die Hand der Karolinger, die den Bodmaner Wirtschaftshof um eine Pfalzanlage zur Beherbergung des Königs und zur Verwaltung des karolingischen Fiskus ergänzten. Die Pfalz leitete ein königlicher Verwalter, der für den in Eigenregie betriebenen Bodmaner Haupthof und die diesem zugeordneten Nebenhöfe, ferner für (81) Ibid., pp. 265 If.; F. 8cuwINn, Die "Grafschaft" Bornheimer Berg und die Königsleute des Fiskus Frankfurt, in Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 14 (1964), pp. 1-21. (82) Sctw.u!&FISCHER,Pfalz und Fiskus eit. (wie Anm. 77), pp. 252, 360; K Bost, Pfalzen und Forsten, in Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung, I, Göttingen, 1963, p. 5. (83l Zu Pfalz und Fiskus Bodman: Tb. MAYER, Die Pfalz Bodman, in Deutsche Känigsfalzen 1 eit. (wie Anm. 82l, pp. 97-112; A BoRSl', Die Pfalz Bodman, in Bodman. Dorf, Kaiserpfalz, Adel, Bd. I, hg. von H. BERNER,Sigmaringen, 1977, pp. 169-230; H. G. WALmER, Der Fiskus Bodman, in Ibid., pp. 231-275; W. ERDMANN, Zur archäologischen Erforschung der Pfalz Bodman, in Ibid., pp. 69·144; H. MAuRER,Bodman, in Die deutschen Königspfalzen, Bd. 3: Baden-Württemberg, Göttingen, 1988, pp. 18-45. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 473 die in benachbarten Orten des Fiskus Bodman liegenden Höfe und für die Gerichtsbarkeit im Namen des Königs verantwortlich war 84. Auf den Hufen der Villikation Bodman saßen neben einigen Freien überwiegend unfreie, zu Dienstleistungen und Abgaben verpflichtete Hörige. Sie sorgten durch ihre Arbeit in Landwirtschaft, Forst und Handwerk und durch ihre N aturallieferungen für die Sicherung der wirtschaftlichen Basis der Königsherrschaft im Bodenseeraum 85. Zum Fiskus Bodman 86 gehörten ebenso wie in Frankfurt und Aachen umfangreiche Forst- und Wildbannrechte. Karl Bosl hat zu Recht auf die Königsforsten hingewiesen, die die Karolinger in der Nähe zahlreicher Pfalzen zu Zwecken der Jagd, aber auch zur Viehweide, Holzgewinnung und Rodung besaßen 87. Regelmäßig bildeten die Forsten ein Zubehör der bedeutenden Pfalzen und vor allem der sogenannten Winterpfalzen wie Frankfurt, Aachen und Ingelheim 88. Als weitere wichtige karolingische Pfalzen mit Forstrechten nennt Bosl Salz und Forchheim in Ostfranken sowie Theux in den Ardennen 89. Von diesen königlichen Forsten als Pertinenz von Pfalzen muß der Rechtsanspruch des Königs auf das unbebaute Land (eremus) unterschieden werden; an einen solchen läßt sich an der spanischen Grenze und im fränkisch-sächsischen Grenzgebiet bei Kassel denken 00. Grundsätzlich muß der Rodung auf unerschlossenem Land und dem Landesausbau in karolingischer Zeit (84) BofC,'T, Die Pfalz Bodman eit. (wie Anm. 83), p. 189. (85) F. Gon, Zur Geschichte von Dorf und Herrschaft Bodman, in Bodman. Dorf, Kaiserpfalz. Adel, Bd. 1, hg. von H. BERNER,Sigmaringen, 1985, p. 39. (86) WALTHER, Fiskus Bodman eit. (wie Anm. 83), pp. 231 ff, (87) Bosi, Pfalzen und Forsten eit. (wie Anm. 82), pp. 1·29. (88) MEn, Erforschung eit. (wie Anm. 53), pp. 78-79. (89) Bost, Pfalzen und Forsten eit. (wie Anm. 82), pp. 13 fT. (90) MEn, Reichsgut eit. (wie Anm. 53), pp. 213 fT. 474 WERNER RÖSENER eine große Bedeutung bei der Raumerschließung zugekommen sein 91. Grundherrliche Rodung von seiten des Königtums fand offenbar auch bei den Königsforsten im Nahbereich vieler Pfalzen statt; dazu heißt es im CapituZare de viZlis: "Unsere Wälder und Forsten sind sorgsam zu beaufsichtigen. Zur Rodung geeignetes Land soll man roden und verhindern, daß Ackerland wieder von Wald bewachsen wird" 92. Die mansioniles im königlichen Forst können gemäß den Forschungen von A. E. Verhulst als vorwiegend viehwirtschaftliche Siedlungen mit geringen Verpflichtungen gegenüber dem Fronhof erklärt werden 93. Dieser Vergabe von Königsland im grundherrlichen Verband stehen die Bifänge (aprisiones) königlicher Vasallen gegenüber. Königliche Getreue und Angehörige der Reichsaristokratie, die im Besitz großer königlicher Lehen waren, leisteten in der Karolingerzeit offenbar einen wichtigen Beitrag zur Erschließung des Frankenreiches 94. 4. SCHLUSS Wenn wir abschließend eimge Ergebnisse zur Rolle des karolingischen Königshofes bei der Raumerfassung im Karolingerreich zusammenfassen, so müssen die Möglichkeiten und Grenzen der königlichen Einwirkung auf (91) Dazu H.-J. Nm, Siedlungsstrukturen der königlichm und adeligen Grund· herrschoft der Karolingerzeit - der Beitrag der historisch-genetischen Siedlungsgeographie, in RosESER, Strukturen cit. (wie Anm. 53), pp. 411-482. (92) M.G.H. Capit. 1, Nr. 32 (cap. 36). (93) A. VERHUISr, Probleme der mittelalterlichen Agrarlandschaft in Flandern, in Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 9 (1961), pp. 15fT. (94) F. L. GANSHOF, Das Lehnswesen im fränkischen Reich, in Studien zum mittelalterlichen Lehnswesen (Vorträge und Forschungen, 5), Sigmaringen. 1960, pp. 44 fT.; K Hw;nIEYER, Königshöfe und Königsgut im Raum Kassel, Göttingen, 1971, pp. 127 fT. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 475 das Reich realistisch eingeschätzt werden. Aus den Schriftzeugnissen De ordine palatii, dem Capitulare de villis und aus anderen Texten erhalten wir wichtige Hinweise zur Position des Königtums bei der räumlichen Durchdringung des Frankenreiches, wobei konzeptionelle Vorstellungen sich mit praktischen Erfahrungen vermischen. Unter den Karolingern stand der Königshof, der eine persönliche und eine räumliche Komponente besaß, zweifellos im Mittelpunkt der Herrschaft. Der Hof im räumlichen Sinne bestand aus einer Vielfalt von Pfalzen, die sich über das ganze Reich verteilten und die der König regelmäßig mit seinem Gefolge aufsuchte. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten der Regierungszeit Karls des Großen wurde die Aachener Pfalz zu einer Dauerresidenz, wo sich der Königshof ständig aufhielt und seine größte Ausstrahlung erreichte 95. Zum engeren Hof gehörte ein fester Personenkreis um den König, der sich im wesentlichen aus den Inhabern der Hofämter und den königlichen Dienstleuten zusammensetzte. Bei diesen Hofämtern, die sich aus den alten Hausämtern entwikkelt haben, ist ein Prozeß des Aufstiegs aus einer niederen in eine höhere Sphäre zu beobachten. Das höhere Ansehen und der größere Bedarf am Königshof bewirkten, daß die Ämter als königliche Hofämter aufstiegen und sich gleichzeitig vermehrten. Die niederen Dienstleute hatten die praktische Arbeit zu verrichten, während der nominelle Inhaber eines Hofamtes nur noch die Oberaufsicht ausübte. Das hohe Ansehen des Karolingerhofes bewirkte, daß fast alle Hofämter einen Aufwertungsprozeß erlebten, so daß auch vornehme Adelige (95) Vg!. M. KER."ER, Karl der Grope und die Grundlegung Europos, in Kriinungen. Könige in Aachen - Geschichte und Mythos. Katalog der Ausstellung, Bd. I, Mainz, 2000, pp. 174-184; FRIED, Der Weg cit, (wie Anm. 62), pp. 324 fT. 476 WERNER RÖSENER sich dazu bereitfanden, Hofämter zu übernehmen, mit denen wichtige Funktionen in der Hof- und Reichsverwaltung verbunden waren. Die vielfältigen Funktionen der Hofbeamten und Dienstleute des Königs zeigten sich vor allem in der königlichen Grundherrschaft, da eine effiziente Verwaltung des Reichsgutes die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Reiseherrschaft des Königs im ausgedehnten Frankenreich war. Das Capitulare de viIlis gewährt aufschlußreiche Einblicke in die Verwaltung der königlichen Grundherrschaft, wobei sich normative und praktische Elemente verbinden. Die Kernlandschaft des karolingischen Reichsgutes befand sich zweifellos zwischen Loire und Rhein; hier lagen neben zahlreichen Wirtschaftshöfen auch die Hauptpfalzen, die es dem König ermöglichten, daß er von ihnen aus das Reich herrschaftlich erfaßte 96. Am Beispiel der Pfalzen in Aachen, Frankfurt und Bodman läßt sich anschaulich das Zusammenspiel von Pfalz, Wirtschaftshof und Fiskus erkennen. Die mittelalterliche Herrschaftstheorie und die Herrschaftspraxis forderten vom König eine persönliche Herrschaftsausübung, da man allgemein erwartete, daß der Herrscher das Königtum so weit wie möglich in eigener Person zur Geltung brachte. Karl der Große, der mit seiner starken Persönlichkeit weithin ausstrahlte, hat diese Präsenz bis ins hohe Alter wahrgenommen und das Reich erfolgreich regiert 97. Unter ihm ging die Herrschaft unangefochten vom König und seinem Hof aus, und die (96) Vgl. RICHt, Welt cit. (wie Anm. 4), pp. 59 IT.; A. RENOUX, Karolingische Pfalzen in Nordfrankreich. (751-987), in 799 - Kunst und Kultur cit. (wie Anm. 1), pp. 130 IT. (97) Zur Persönlichkeit Karls des Großen J. FLECKEN!ITEIN", Karl der Große, Göttingen, 1962; M. BECHER,Kari der Große, München, 1999; HAGERMAN"N, Karl der Große cit. (wie Anm. 41); M. KERNER,Karl der Große. Entschleierung eines Mythos, Köln u. B., 2000. KÖNIGSHOF UND HERRSCHAFTSRAUM 477 Hofverwaltung war zugleich die zentrale Reichsverwaltung. Die Inhaber der Hofämter übernahmen unter ihm neben ihren speziellen Ressorts bei Hof auch wichtige Aufgaben in der Heerführung, im Königsgericht oder als Leiter von Gesandtschaften. Vom Hof aus wurden in großer Fülle Gesetze und Verordnungen erlassen, vielfach mit Rat und Zustimmung der Großen des Reiches. In der Form der Kapitularien wurden viele dieser Verordnungen festgehalten, so daß sich am Inhalt dieser Texte das innenpolitische Regierungsprogramm Karls des Großen ablesen läßt. Den programmatischen Charakter dieser Verfügungen muß man aber stets bedenken, da die Diskrepanz zwischen dem Wortlaut der Gesetze und den Chancen ihrer Realisierung offenkundig ist 98. Unter Ludwig dem Frommen und den übrigen Nachfolgern Karls des Großen traten die Schwierigkeiten der Reichsverwaltung und der herrschaftlichen Erfassung des Großreiches immer stärker hervor 99. Ludwig der Fromme, der schwache Sohn Karls des Großen, war nicht in der Lage, das riesige Frankenreich fest zusammenzuhalten, so daß das Frankenreich schließlich unter seine Söhne aufgeteilt wurde. Der Zerfall des Karolingerreiches geht zu einem wesentlichen Teil auf die Unzulänglichkeit der damaligen Verkehrs- und Wirtschaftsverhältnisse zurück, was nach Ganshof eine effiziente Reichsverwaltung erschwerte lOO. Trat zu diesen Schwierig(98) Zu den Kapitularien F. L. GANSHOF,Was waren die Kapitularien?, Darmstadt, 1961; ScH~"EIDER, Frankenreich eit. (wie Anm. 21), pp. 34·35; Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters, hg. von H. MORDEK, Sigmaringen, 1986. (99) Vgl. BOSHOF, Ludwig der Fromme eit. (wie Anm. 62). (lOO) In diesem Sinne F. L. G"'''ISHOF,La fin du regne de Charlemagne. Une decomposition, in Zeitschrift für schweizerische Geschichte, 28 (l948), pp. 433-452, hier pp. 434 fT. Er weist auf deutliche Symptome der Ermattung am Ende der Regierung Karls des Großen hin und zeigt die Schwierigkeiten auf, die mit der Größe des Frankenreiches verbunden waren. 478 WERNER RÖSENER keiten noch das Moment einer schwachen Herrscherpersönlichkeit hinzu, potenzierten sich die Kräfte des Zerfalls. Unter Ludwig dem Frommen gingen Elemente der Desintegration des Reiches aber auch von der Zentrale aus: vom König und vom Königshof. Als Ludwig der Fromme im Jahr 829 die von ihm selbst erlassene Ordinatio imperii von 817 durch eine neue Teilung umstieß, war dies der Beginn heftiger Kämpfe und neuer Teilungen 101. Institutionelle Momente, die in der Unzulänglichkeit damaliger Ämter und Verwaltungsorgane begründet sind, verbinden sich demnach bei der Auflösung des Karolingerreiches mit personalen Faktoren und der Schwäche einzelner Herrscher. Das Riesenreich der Karolinger war unter solchen Bedingungen auf die Dauer nicht zusammenzuhalten. Daher stießen alle Integrationsbemühungen und die Erfassung des Herrschaftsraumes im Karolingerreich unverkennbar an ihre Grenzen. (101) Dazu Th. ScttIEFFER, Die Krise des karolingischen Imperiums, in Festschrift für Gerherd Kallen, Bonn, 1957, pp. 1·15; W. ScHLESINGER, Die Auflösung des Karlsreiches, in Karl der Große 1 cit. (wie Anm. I), pp. 792·857; FRIED, Der Weg cit. (wie Anm. 62), pp. 366 If.