Die Lebensunzulänglichkeit der Jünglinge der
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Die Lebensunzulänglichkeit der Jünglinge der
Die Lebensunzulänglichkeit der Jünglinge der Jahrhundertwende – Ästhetizismuskritik in den Werken Hofmannsthals und Schnitzlers Hiermit bestätige ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig angefertigt habe und keine anderen als die im Literaturverzeichnis angegebenen gedruckten und elektronischen Quellen benutzt habe. Alle Stellen, die dem Wortlaut oder dem Sinn nach diesen Quellen entnommen sind, habe ich unter genauer Angabe der Quelle deutlich als Entlehnung kenntlich gemacht. Luxemburg, den 27. September 2014 _____________________________ Diane Dockendorf 2 Dockendorf Diane professeure-candidate au Lycée Michel Lucius Die Lebensunzulänglichkeit der Jünglinge der Jahrhundertwende – Ästhetizismuskritik in den Werken Hofmannsthals und Schnitzlers Luxembourg, 2014 3 Zusammenfassung Das Wien der Jahrhundertwende ist geprägt von einem Gefühl der Verunsicherung: Aufkommender Kapitalismus, Hinwendung zu den Naturwissenschaften, Industrialisierung, Verstädterung und Entstehung einer pluralistischen Massengesellschaft verändern die Gesellschaft des Habsburgerreiches rapide und erschüttern das Selbstverständnis des gehobenen Bildungsbürgertums. Als Reaktion auf diese epochale Verunsicherung lässt sich vielfach eine starke Tendenz zur Wirklichkeitsflucht, zur Flucht in eine „museale Kunstwelt“1, in ein reines Ästhetentum, beobachten. In dieser Arbeit wird untersucht, inwiefern diese Wirklichkeitsflucht in drei Schriften der Jahrhundertwende in Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht (1895), in dessen lyrischem Drama Der Tor und der Tod (1894) sowie in Arthur Schnitzlers Drama Der einsame Weg (1904) dargestellt und zugleich kritisch reflektiert wird. Mittels einer textnahen Analyse der drei Werke sowie unter Einbeziehung älterer und aktueller Forschungsliteratur wird zunächst dargelegt, inwiefern die Protagonisten dieser Werke infolge ihrer sich auf mehreren Ebenen manifestierenden Lebensunfähigkeit in eine ästhetizistische Scheinwelt flüchten, um so ebenjener Lebensunzulänglichkeit zu entgehen. In einem zweiten Schritt wird nachgewiesen, inwiefern in den Texten Anklage gegen ebenjene ästhetizistische Lebensweise erhoben wird und inwiefern die Protagonisten ihre Lebensunfähigkeit in Folge dieser Anklage reflektieren. In einem dritten Schritt wird anschließend untersucht, inwiefern die dem Ästhetizismus verschriebenen Jünglinge notwendig scheitern. Es wird abschließend belegt, dass der Tod der Jünglinge als notwendige Konsequenz eines „ungelebten“ Lebens gesehen werden kann und dass Hofmannsthal und Schnitzler hierdurch implizite Kritik an besagtem Lebensentwurf üben. Die drei Werke bieten in diesem Sinne Raum für einen literarischen Diskurs über die ästhetizistische Lebensweise, welche die Autoren in den drei zur Untersuchung herangezogenen Schriften zunächst exponieren, um sie alsdann kritisch zu beleuchten. 1 Wucherpfennig, Wolf: Die Jünglinge und der Tod von Wien. Hofmannsthal, Beer-Hoffmann, Schnitzler. In: Jugend. Psychologie – Literatur – Geschichte. Hrsg. von Klaus-Michael Bogdal. Würzburg 2001, S. 193. 4 Inhaltsverzeichnis 1. 2. 3. Einleitung ........................................................................................................................... 7 1.1. Die gesellschaftlich-kulturelle Krisensituation ........................................................ 10 1.2. Die Wiener Moderne und die Schriftsteller des Jungen Wien ................................. 20 1.3. Der Ästhetizismus als Fluchtmöglichkeit................................................................. 24 Hugo von Hofmannsthal: Das Märchen der 672. Nacht.................................................. 31 2.1. Zusammenfassung des Werkes ................................................................................ 31 2.2. Die vierfache Lebensunfähigkeit.............................................................................. 36 2.2.1. Gesellschaft ...................................................................................................... 36 2.2.2. Zwischenmenschliche Beziehungen................................................................. 38 2.2.3. Ersatzuniversum Kunst .................................................................................... 40 2.2.4. Vergangenheit .................................................................................................. 44 2.2.5. Die indirekte Wahrnehmung der Wirklichkeit ................................................. 46 2.2.6. Die den Kaufmannssohn ergreifende Angst ..................................................... 49 2.3. Die Anklage gegen die ästhetizistische Lebensweise des Kaufmannssohnes .......... 50 2.4. Die Reaktion des Kaufmannssohnes ........................................................................ 52 2.5. Der Tod des Kaufmannssohnes ................................................................................ 58 Hugo von Hofmannsthal: Der Tor und der Tod ............................................................... 63 3.1. Zusammenfassung des Werkes ................................................................................ 63 3.2. Die Lebensunzulänglichkeit Claudios ...................................................................... 67 3.2.1. Rückzug aus dem sozialen Leben .................................................................... 67 3.2.2. Zwischenmenschliche Kontakte ....................................................................... 69 3.2.3. Kunst ................................................................................................................ 71 3.2.4. Die indirekte Wahrnehmung der Wirklichkeit ................................................. 76 3.2.5. Vergangenheit .................................................................................................. 79 3.3. Die Anklage gegen die ästhetizistische Lebensweise Claudios ............................... 80 3.4. Die Reaktion Claudios ............................................................................................. 87 3.4.1. Reflexion in Bezug auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Gesellschaft ...................................................................................................................... 88 3.4.2. 3.5. 4. Kunst und Vergangenheit ................................................................................. 91 Der Tod Claudios ..................................................................................................... 94 Arthur Schnitzler: Der einsame Weg ............................................................................... 99 4.1. Zusammenfassung des Werkes ................................................................................ 99 4.2. Die Lebensunzulänglichkeit Stephan von Salas ..................................................... 101 5 4.2.1. Rückzug aus der Gesellschaft in die Welt der Kunst ..................................... 102 4.2.2. Vergangenheit ................................................................................................ 107 4.2.3. Zwischenmenschliche Beziehungen............................................................... 109 4.3. Reflexion des Ästheten........................................................................................... 116 4.4. Die Kritik an der ästhetizistischen Lebensweise Salas und der Tod des Ästheten. 119 5. Sprachkrise ..................................................................................................................... 123 6. Schlussbemerkungen ...................................................................................................... 131 Literaturverzeichnis................................................................................................................ 139 6 1. Einleitung Ich glaube immer noch, dass ich imstande sein werde, mir meine Welt in die Welt hineinzubauen. […] Es handelt sich […] darum, ringsum an den Grenzen des Gesichtskreises Potemkin’sche Dörfer aufzustellen, aber solche, an die man selber glaubt. Und dazu gehört ein Centrumsgefühl, ein Gefühl von Herrschaftlichkeit und Abhängigkeit, ein starkes Spüren der Vergangenheit und der unendlichen gegenseitigen Durchdringung aller Dinge […].2 So schreibt Hugo von Hofmannsthal am 15. Mai 1895 in einem Brief an Richard Beer-Hofmann. Hofmannsthals Brief, welcher Hartmut Scheible nach als „Manifest des Ästhetizismus“ gelten kann,3 fasst das Lebensgefühl einer Generation von Wiener Schriftstellern um 1900 zusammen. Im Wien der Jahrhundertwende, gekennzeichnet durch eine allgegenwärtige und prestigeträchtige K.-u.-k.-Monarchie, steht die Gesellschaft auf der Schwelle zur Moderne und ist großen soziologischen und technischen Umbrüchen unterworfen. Industrialisierung und daraus folgende Landflucht, Verstädterung und Entstehung einer pluralistischen Massengesellschaft sowie aufkommender Kapitalismus, Technisierung und Hinwendung zu den Naturwissenschaften erschüttern das narzisstisch geprägte Selbstbildnis sowie das Selbstverständnis des gehobenen Bildungsbürgertums und stürzen dieses in eine „Gefühlswelt der Unsicherheit“4. Hierauf reagiert besagte Bevölkerungsschicht nicht etwa mit einer Anpassung an die neuen Umweltverhältnisse, vielmehr lässt sich eine starke Tendenz zur Absonderung, zur Subjektivierung und Wirklichkeitsflucht beobachten, welche auch in der zeitgenössischen Literatur exponiert wird. Diese Wirklichkeitsflucht kann als Flucht in eine „museale Kunstwelt“5 beschrieben werden, in ein reines Ästhetentum, das im Sinne von Mallarmés und Georges „l’art pour l’art“ jegliche Möglichkeit der Wirklichkeitsbeschreibung und -erfahrung ablehnt. Stattdessen wird bewusst ein 2 Hofmannsthal, Hugo von; Beer-Hofmann, Richard: Briefwechsel. Hrsg. von Eugene Weber. Frankfurt am Main 1972, S. 47. 3 Scheible, Hartmut: Nachwort. In: Beer-Hofmann, Richard: Der Tod Georgs. Stuttgart 1980, S. 120. 4 Vgl. Grote, Katja: Der Tod in der Literatur der Jahrhundertwende. Der Wandel der Todesthematik in den Werken Arthur Schnitzlers, Thomas Manns und Rainer Maria Rilkes. Frankfurt am Main 1996, S. 26-28. 5 Wucherpfennig, Wolf: Die Jünglinge und der Tod von Wien. Hofmannsthal, Beer-Hoffmann, Schnitzler. In: Bogdal, Klaus-Michael (Hrsg.): Jugend. Psychologie – Literatur – Geschichte. Würzburg 2001, S. 193. 7 Rückzug in den Elfenbeinturm der Kunst propagiert, um somit eine neue unabhängige Welt der Schönheit zu erschaffen.6 In dieser Arbeit soll untersucht werden, inwiefern diese, auch in Hofmannsthals Brief aufgeworfene, Wirklichkeitsflucht in den Schriften der Jahrhundertwende dargestellt und zugleich kritisch reflektiert wird. Hierzu sollen Hugo von Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht (1895), Hofmannsthals lyrisches Drama Der Tor und der Tod (1893) sowie Arthur Schnitzlers Drama Der einsame Weg (1904) untersucht werden. Die Protagonisten der drei Werke erweisen sich zunächst auf mehreren Ebenen als lebensunzulänglich: Sie ziehen sich weitgehend aus dem sozialen Leben zurück, weisen eine Unfähigkeit zu zwischenmenschlichen Beziehungen auf und wenden sich der Vergangenheit zu. Sie flüchten hieraufhin in eine ästhetizistische Scheinwelt, um so ebenjener Lebensunzulänglichkeit zu entgehen: Genießende Betrachtung soll die verloren gegangene Unmittelbarkeit des Lebens ersetzen. Letztendlich aber „vermitteln“ alle von Hofmannsthal evozierten „Lösungsversuche“ der Protagonisten zwar die „Illusion eines umfassenden Zusammenhangs“, können aber deren innere Leere nicht füllen. Sie können die „abgerissene Verbindung von Ich und Welt“ nicht „neu knüpfen“7, sodass die in den Werken der Autoren der Jahrhundertwende gezeichneten Protagonisten, welche sich dem Lebensstil des Ästhetizismus verschrieben haben, notwendig scheitern, wodurch die Autoren implizite Kritik an besagtem Lebensentwurf üben. Mittels einer textnahen Analyse der drei Werke sowie unter Einbeziehung älterer und aktueller Forschungsliteratur soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich die Lebensunzulänglichkeit der Jünglinge der Jahrhundertwende in den drei zu untersuchenden Werken manifestiert, inwiefern Kritik an ebenjener Lebensweise geübt wird und inwiefern der Tod der Jünglinge als notwendige Konsequenz eines ungelebten Lebens gesehen werden kann. Die Analyse der beiden Werke Hofmannsthals, in welchen die Ästheten als alleinige Hauptfiguren auftreten, soll hierbei im Zentrum der Arbeit stehen. Das Werk Schnitzlers wird lediglich vergleichend hinzugezogen, da der Ästhet Sala zwar eine der Hauptpersonen des Dramas ist, die Darstellung der bürgerli6 Vgl. Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon. Stuttgart 1990, S. 451-452. 7 Scheible, Hartmut: Nachwort, S. 121-122. 8 chen Familie Wegrat aber ebenfalls großen Raum einnimmt, sodass das Drama nicht als reines „Ästhetendrama“ gelten kann, sondern zugleich als Familiendrama anzusehen ist. Das vergleichende Heranziehen von Schnitzlers Werk soll es zudem erlauben, darzulegen, dass die Kritik an einer einseitig ästhetizistisch ausgelegten Existenzweise nicht allein auf Hofmannsthal zurückgeht, sondern sie auch von anderen Autoren aufgegriffen wird. In einem ersten Schritt soll so nachgewiesen werden, dass die Lebensunzulänglichkeit der drei Protagonisten sich jeweils auf mehreren Ebenen manifestiert: Sowohl der Kaufmannssohn (Märchen der 672. Nacht) als auch Claudio (Der Tod und der Tod) und der Künstler Stephan von Sala (Der einsame Weg) haben sich weitgehend aus dem sozialen Leben zurückgezogen. Sie sind des „gesellschaftlichen Lebens überdrüssig geworden“8, wobei dieser Rückzug aus einer „inneren Zwanghaftigkeit“ aufgrund der „Unerträglichkeit von Lebensverhältnissen“9 erwachsen ist, wie Wolfram Mauser unterstreicht. Die Protagonisten weisen zudem ein Unvermögen, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen, auf, ästhetisieren die Vergangenheit als Gegenpol zu einer als negativ erfahrenen Gegenwart und schaffen sich in der Kunst ein ästhetizistisches Ersatzuniversum. In einem zweiten Schritt soll herausgearbeitet werden, inwiefern in den Texten implizit – im Märchen der 672. Nacht erfolgt die Anklage mittels eines den Kaufmannssohn anonym erreichenden Briefes – oder explizit – in Der Tor und der Tod tritt der personifizierte Tod auf die Bühne und klagt Claudio an – Anklage gegen die gewählte Lebensweise erhoben wird. Anschließend soll untersucht werden, wie der jeweilige Protagonist auf die gegen ihn erhobene Anklage reagiert, um herauszuarbeiten, ob und inwiefern die Reaktion des jeweiligen Protagonisten eine kritische Reflexion in Bezug auf die gewählte Lebensweise erkennen lässt. In einem letzten Schritt soll alsdann nachgewiesen werden, dass ebenjene kritische Reflexion nur ansatzweise stattfindet, sodass der frühe Tod der Protagonisten letzt8 Hugo von Hofmannsthal: Das Märchen der 672. Nacht. In: Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Hrsg. von Otto F. Best und Hans-Jürgen Schmitt. 16 Bde. Bd. 13: Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil. Hrsg. von Ulrich Karthaus. Stuttgart 1977, S. 205-225. 9 Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare: zur Aporie der Moderne in Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht. In: Brueckel, Ina (Hrsg.): Bei Gefahr des Untergangs. Würzburg 2000, S. 163. 9 endlich als notwendige Konsequenz eines „ungelebten“ Lebens gesehen werden kann. Das verfehlte Leben der Protagonisten führt unweigerlich zu deren fatalem Ende, wie es Köster pointiert zusammenfasst: „Wer so lebt, wie der Kaufmannssohn, der muss sterben, ohne je gelebt zu haben“10. Wie im Vorherigen bereits angedeutet, soll nachgewiesen werden, dass die Werke der Jahrhundertwende insofern über sich hinausweisen, als sie durch die Darstellung der „existentiellen Desorientierung“11 der Protagonisten eine „allgemeinere soziokulturelle Befindlichkeit“ ihrer Zeit „repräsentieren“12. Die untersuchten Schriften stellen die ästhetizistische Wirklichkeitsflucht als Reaktion einer bestimmten Bevölkerungsgruppe auf die sich um 1900 verändernden Lebensbedingungen dar und beleuchten diese Wirklichkeitsflucht kritisch. Die Werke bieten somit Raum für einen literarischen Diskurs über die ästhetizistische Lebensweise, welche die Autoren in ihren Werken zunächst exponieren, um sie alsdann kritisch zu reflektieren und hierdurch implizite Kritik am Ästhetizismus zu üben. Bevor näher auf die in den Werken dargelegte Wirklichkeitsflucht eingegangen wird, sollen zunächst die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert verändernden Lebensbedingungen sowie die zu dieser Zeit im Habsburgerreich vorherrschende Krisenstimmung überblicksweise dargelegt werden. 1.1. Die gesellschaftlich-kulturelle Krisensituation Die Stimmung im Habsburgerreich am Ende des 19. Jahrhunderts ist durch mehrere Faktoren geprägt: Das Nationalitätenproblem, der verlorene Krieg gegen Preußen von 1866, Veränderungen im sozialen Gefüge sowie wirtschaftliche Entwicklungen beeinflussen die Stimmung im Vielvölkerstaat, einem heterogenen Gebilde, welches fünfzehn ethnische Gruppen, zwölf Hauptsprachen, fünf Religionen und mindestens fünf eigenständige kulturelle Traditionen umfasst.13 An der Spitze der Donaumonarchie steht Kaiser Franz Josef, welcher zwar als „Garant für das Bewährte und Bestän- 10 Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt: zur verlorenen Unschuld in Hugo von Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht. In: Literatur für Leser (1989), S. 157. 11 Saße, Günter: Vorwort. In: Saße, Günter; Kim, Hee-Ju (Hrsg.): Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen. Stuttgart 2007, S. 10. 12 Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg. In: Saße, Günter; Kim, Hee-Ju (Hrsg.): Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen. Stuttgart 2007, S. 117. 13 Vgl. Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte. Band 8: Wege in die Moderne 1890-1918. München 2004, S. 13-15. 10 dige“14 gilt, gleichzeitig aber derart in einem „Netz archaischer Hofkonventionen“ erstarrt ist, dass er „zusehends den Kontakt zu den gesellschaftlichen Realitäten seiner Zeit“ verliert.15 Dem Konvolut Vielvölkerstaat ist ebenfalls eine Ambivalenz immanent, wie Lorenz unterstreicht: Einerseits „[sorgen] divergierende soziale, wirtschaftliche, juristische und kulturelle Entwicklungen […] für ein latentes Spannungsgefühl zwischen den einzelnen Nationalitäten“ und stellen zugleich die „Zentralmacht“ in Frage, die immer größere Schwierigkeiten hat, die „jeweiligen nationalen Autonomiebestimmungen“ zu kontrollieren. 1897 kommt es so beispielsweise zu fast bürgerkriegsähnlichen Unruhen, als im Kabinett ein Erlass gestimmt werden soll, der in Böhmen die tschechische Sprache der deutschen Sprache gleichstellen soll. Andererseits definiert gerade jene „Heterogenität das übernationale Selbstverständnis der Donaumonarchie“.16 Auch die Hauptstadt der Donaumonarchie, Wien, ist großen Veränderungen unterworfen: Aufgrund der industriellen Revolution und der durch sie bedingten Verstädterung sowie aufgrund von Zuwandererströmen aus dem Osten des Reiches verdoppelt sich die Einwohnerzahl Wiens zwischen 1869 und 1910 von einer auf zwei Millionen. Gleichzeitig entstehen im Zuge ebenjener industriellen Revolution neue Gesellschaftsschichten, wie beispielsweise die des Industrieproletariats, die sich in den Randbezirken Wiens niederlassen. Die Bevölkerungsstruktur Wiens ändert sich infolge dieser Zuwanderung rapide: Arbeiter stellen nunmehr 52% der Bevölkerung, die mittlerweile aus 55% Zugezogenen und nur noch aus 45% Einheimischen besteht. Der stattfindende gesellschaftliche Wandel wird von den alteingesessenen Wienern als „potenti- 14 Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 20. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne. Stuttgart 2007, S. 14, S. 25: Zudem erschüttern Ende des 19. Jahrhunderts zwei Ereignisse die Grundfeste der Monarchie: Der mysteriöse Selbstmord des liberalen Kronprinzen Rudolf ist Lorenz nach als Zeichen für die „Unfähigkeit der Habsburgerherrschaft, sich in einer wandelnden Gesellschaft selbst zu erneuern“, zu werten. Rudolf hatte aus der streng abgeschirmten Welt der Monarchie den Anschluss an die politische Öffentlichkeit gesucht und symbolisierte so für viele Liberale „die Hoffnung auf eine Überwindung der erzwungenen politischen Machtlosigkeit“ (unter Verweis auf Johnston, William M.: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848-1938. Wien 1974, S. 48f.). Der Mord an Kaiserin Elisabeth durch einen italienischen Anarchisten im Jahr 1898 schockiert die Öffentlichkeit ebenfalls, so Lorenz. 16 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 14. 15 11 elle Bedrohung“ empfunden und verstärkt das bereits aufgrund der politischen Situation vorhandene Gefühl einer Krisensituation.17 Parallel zum altösterreichischen Adel und der kaiserlichen Verwaltungsbürokratie entwickelt sich – im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs in den 1860er Jahren – eine neue Oberschicht, die des liberal orientierten Bürgertums, „die bürgerlich[e] Aufsteiger-Schich[t] der Gründerzeit“.18 Diese Schicht verspürt ein großes Sicherheitsbedürfnis und hat, wie Stefan Zweig festhält, große „Angst vor dem in ihre Welt einbrechenden Unberechenbaren“,19 wie einer wirtschaftlichen Rezession, die sich mit der wirtschaftlichen Schwächeperiode nach 1873 abzeichnet und die Generation der „Gründerväter“ stark verunsichert. Neue gesellschaftliche Gruppierungen, wie beispielsweise die Sozialisten oder die in den 1880er Jahren gegründete Partei der Christlichsozialen, stehen der auf dem Liberalismus fußenden Finanzwelt der Gründerväter ebenso skeptisch gegenüber wie die 1879 gebildete sozialkonservative Regierung Taaffes und haben sich zum Ziel gesetzt, die „führende Stellung des Großbürgertums sowohl politisch als auch wirtschaftlich zu untergraben“. Die Anhänger des Jungen Wien entstammen genau jener großbürgerlichen Schicht der Gründerväter, die ihren Aufstieg und ihren errungenen Wohlstand durch wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklungen bedroht sieht. Diese Entwicklungen führen zu einer „psychischen Destabilisierung“ sowie einer „gesteigerten Nervosität“ des bürgerlichen Individuums; die Folgen dieser Nervosität als „Ausdruck der kulturpessimistischen Stimmung der Jahrhundertwende sind sublimierte Sensibilität, subtile Selbstanalyse“ und „Narzissmus“.20 Ebendiese Nervosität und diese vorherrschende kulturpessimistische Stimmung bieten einen Nährboden für den Ästhetizismus. Zu der politisch instabilen Situation und der industriellen Revolution sowie ihren bevölkerungsstrukturellen Auswirkungen treten weitere gesellschaftliche Entwicklungen, die die Fundamente des bürgerlichen Selbstverständnisses untergraben und die 17 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 20-21, die den bevölkerungsstrukturellen Wandel Wiens detailliert darlegt. 18 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 15. 19 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 17, unter Verweis auf Stefan Zweig, der in seinem autobiografischen Werk Die Welt von Gestern über sein Aufwachsen in Wien erzählt. Vgl. Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt am Main 1981, S. 14. 20 Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss. Untersuchungen zur Reflexion der fin de siècle-Phänomene im Frühwerk Hofmannsthals. Frankfurt am Main 1985, S. 213-216. 12 Bewohner des Habsburgerreiches in eine „Gefühlswelt der Unsicherheit“21 stürzen. So hat auch im Habsburgerreich der für die Moderne charakteristische Übergang von einer stratifikatorisch organisierten zu einer funktional differenzierten Gesellschaft stattgefunden: Niklas Luhmann nach sind die europäischen Gesellschaften „bis weit ins 18. Jahrhundert hinein vorwiegend stratifikatorisch“, d.h. nach Ständen, organisiert. Der einzelne Mensch ist standesspezifischen Verhaltenserwartungen unterworfen: Lebensweise sowie Berufs- und Partnerwahl sind weitgehend durch den Stand bestimmt, gleichzeitig definiert das Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen zu seinem Stand, seine Inklusion in ein spezifisches gesellschaftliches Subsystem, seine Identität. Die Identität des Menschen ist durch „Inklusion“22 geprägt. Die moderne Gesellschaft jedoch ist funktional differenziert, d.h. sie besteht aus einzelnen Funktionssystemen (Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Gesundheit, Kunst …), an denen der Mensch „in wechselnden Konstellationen“23 teilnimmt. Die Identität des Menschen ist nicht mehr durch „Inklusion“, sondern durch „Exklusion“ bestimmt.24 Hinzu kommt, dass „die immer weitere Ausdifferenzierung dieser Systeme zur Auflösung überlieferter Semantiken [führt]“; die Gesellschaft kann „sich demnach immer weniger auf gemeinsame Ziele und Werte einigen“.25 Traditionelle Norm- und Wertesysteme verlieren an Bedeutung. Horst Thomé weist in diesem Zusammenhang nach, dass ebendiese gesellschaftlichen Veränderungen sowie der durch sie induzierte, für moderne Gesellschaften als grundlegend anzusehende, „Meinungspluralismus“ als maßgebliche Ursachen für das die Jahrhundertwende dominierende Krisenbewusstsein gelten müssen.26 Tradierte Werte und Erkenntnisse verlieren aber nicht nur im gesellschaftlichen Bereich an Bedeutung, sondern Naturwissenschaften und Philosophie stellen überlieferte Vorstellungen ebenfalls in Frage. Die Wissenschaften werden einerseits von einer funktionalen Ausdifferenzierung, einer Spezialisierung und einer „Fragmentierung des 21 Vgl. Grote, Katja: Der Tod in der Literatur der Jahrhundertwende, S. 26-28. Vgl. Gerecke, Uwe: Soziale Ordnung in der modernen Gesellschaft: Ökonomik – Systemtheorie – Ethik. Tübingen 1998, S. 19-25. 23 Ajouri, Philipp: Literatur um 1900. Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus. Berlin 2009, S. 12. 24 Vgl. Thomé, Horst: Modernität und Bewusstseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siècle. In: Mix, York-Gothart (Hrsg.): Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus: 1890 – 1918. München 2000, S. 22. 25 Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 12. 26 Vgl. Thomé, Horst: Modernität und Bewusstseinswandel, S. 15-21. 22 13 Wissens“27 erfasst, andererseits erschüttern neue Erkenntnisse in der Biologie, in der Genetik, in der Medizin und in der Physik (Quantentheorie Max Plancks) das alte Weltbild. Diese neuen Erkenntnisse stehen allesamt unter dem Primat der Relativität: „Moderne wissenschaftlich-relativierende Verfahren im Sinne eines positivistisch gedachten Wissenschaftsverständnisses“ bestimmen das Vorgehen des Wissenschaftlers. Der Forscher geht rein objektiv vor und hinterfragt erlangte Erkenntnisse immer wieder. Die modernen Wissenschaften können dem Leben somit keinen dauerhaften Sinn mehr verleihen, sondern weisen ein „Sinnstiftungsdefizit“28 auf: Statt einer sinnvoll geordneten, überschaubaren Totalität, in der man sich auf Dauer einrichten kann, steht der „moderne“ Mensch ständig sich wandelnden Aussagen über die Welt gegenüber. Er sieht, dass die Frage nach der Relativität stets neu gestellt werden muss, sich gar nicht mehr verbindlich beantworten lässt, ja dass es keine absolut gültigen Antworten mehr gibt. 29 Auch im Bereich der Philosophie dominiert der Wertrelativismus. Nietzsche propagiert die Relativität aller Erkenntnis und Wahrnehmung, wenn er in seiner Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne festhält, dass der Mensch nur in „einer interpretierten und deshalb scheinbaren und fiktiven Welt lebe und von einer Welt unabhängig von diesen Interpretationen nichts wissen könne“30: „Die scheinbare Welt ist die einzige, die wahre Welt ist nur hinzugelogen“. Die perspektivische Wahrnehmung betrifft auch die zuvor angesprochenen gesellschaftlich etablierten Werte, auch sie verändern sich je nach Blickwinkel: Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von einer „Umwertung aller Werte“.31 Hinzu kommt, dass die Entdeckungen der modernen Bewusstseins- und Tiefenpsychologie eine „Neukonzeptualisierung des Ich“32 bedingen, welches nicht mehr als festes, konsistentes, sondern als ständig fluktuierendes Gebilde gesehen wird. Ajouri spricht in diesem Zusammenhang von einer „Depotenzierung des Ich“33, Leiß von einer „Krise des Ich“34. Besonders Freuds Lehren tragen zu dieser 27 Thomé, Horst: Modernität und Bewusstseinswandel, S. 20. Thomé, Horst: Modernität und Bewusstseinswandel, S. 20. 29 Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 30. 30 Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 118. 31 Vgl. Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 118-119. 32 Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 119 33 Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 133. 34 Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 28. 28 14 Depotenzierung des Ich bei, indem sie das „Ich“ als Herr im eigenen Haus in Frage stellen. In seinen 1895 erscheinenden Studien über Hysterie legt Freud zunächst dar, dass die Grundlage jeder Hysterie ein „gespaltenes, dissoziiertes Bewusstsein sei, dessen einer Teil unterdrückte, d.h. nicht willkürlich erinnerbare, Vorstellungsgruppen enthalte“35. In seiner 1900 erscheinenden Abhandlung Die Traumdeutung baut Freud die Idee der unbewussten Tiefenschichten der menschlichen Psyche dann aus und erklärt den Traum zu einer weiteren „Form, unter der sich Verdrängtes äußert“36. Indem dem vom Individuum verdrängten, nicht bewussten Unbewussten nunmehr eine wesentliche Bedeutung zugesprochen wird, wird zugleich das stabile Ich des Menschen in Frage gestellt, da es fortwährend durch das heraufdrängende Unbewusste beeinflusst werden kann: „Dem Ich [wird] die absolute Herrschaft über sich selbst entrissen“37. Die Tatsache, dass dem Individuum durch die aufkommenden Erkenntnisse der Tiefenpsychologie die Kontrolle über das eigene Ich abgesprochen wird, trägt in nicht unerheblichem Maße dazu bei, die Menschen der Jahrhundertwende weiter zu verunsichern. Ernst Machs stark rezipierte Theorie des Empiriokritizismus verstärkt das Gefühl der Unbeständigkeit des eigenen Ich. Laut Machs Beiträgen zur Analyse der Empfindungen (1886) ist das Ich des Menschen kein festes, sondern ein ständigen Veränderungen unterworfenes Gebilde, welches sich aus einem an den Leib gebundenen Komplex von „Elementen“, d.h. Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen und Gedanken, die täglich anders strukturiert sein können, zusammensetzt.38 Mach schreibt in diesem Kontext: „Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen)“, welche das Ich bilden.39 Das Ich verliert seine Kontinuität, die von den beständig wechselnden Empfindungen, die das Ich konstituieren, unterlaufen wird. Die Stabilität und das Selbstverständnis des Ich werden in einem solchen Maß gefährdet, dass das Ich, wie Mach in seinem Aufsatz Das unrettbare Ich postuliert, „unrettbar“ wird. Auch die den Menschen umgebende Welt besteht infolgedessen aus einem Komplex von ständig wechselnden Sinneseindrücken, von Empfindungen, und verliert hiermit 35 Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 133. Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 134. 37 Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 135. 38 Vgl. Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 28. 39 Vgl. Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende. Darmstadt 2006, S. 42. So fasst Ernst Mach in seinem 1886 erstmals erschienenen Werk Analyse der Empfindungen seine Analyse des Ich zusammen. 36 15 jegliche Kontinuität. Dadurch dass im ausgehenden 19. Jahrhundert zusätzlich tradierte Werte an Gültigkeit verlieren, sind die Menschen zunehmend verunsichert. Das Gefühl einer Krisensituation verstärkt sich: „Die Verunsicherung des Ich ist umso größer, als es in eine Zeit geworfen ist, der zunehmend die Gewissheit abhandenkommt, sagen zu können, welche Ordnungen unverbrüchlich existieren, und wie die Welt beschaffen ist, in der es sich befindet.“40 Mach und Freud fassen hiermit in ihren Abhandlungen gewissermaßen die Entstehungsgrundlagen jenes Krisengefühls zusammen, welches viele Menschen im Wien der Jahrhundertwende ergriffen hat, und liefern somit gleichsam auf wissenschaftlicher Basis die Erklärungen für dieses um sich greifende Gefühl der allgemeinen Verunsicherung. Da die Schriften auch das Empfinden der Schriftsteller des Jungen Wien spiegeln, rezipieren diese die Werke stark, sodass bald ein „medizinisch-literarische[r] Diskurs“41 entsteht. Schnitzler wie Hofmannsthal lesen die Werke Freuds und Machs kurz nach ihrem Erscheinen: Hofmannsthal ist im Besitz einer Erstausgabe der Traumdeutung (1899/1900) und auch Schnitzler lernt Freuds Abhandlung bereits im Jahre 1900 kennen. Freud und Schnitzler lesen darüber hinaus gegenseitig ihre Werke.42 Die Rezeption von Machs Theorien erfolgt ähnlich früh: Hofmannsthal besucht im Jahre 1897 Vorlesungen Ernst Machs an der Wiener Universität, Schnitzler tritt 1904 in Kontakt mit Machs Theorien.43 Ajouri betont allerdings, dass das Verhältnis von Psychoanalyse und Literatur nicht als einseitiges Einflussverhältnis der Psychoanalyse auf die Literatur zu betrachten sei, sondern dass die Psychoanalytiker sowie die Autoren der Jahrhundertwende eher ein gemeinsames Interesse an der menschlichen Psyche und am Phänomen des Nichtbewussten beziehungsweise des „Halbbewussten“, wie Schnitzler es nennt aufgewiesen hätten.44 Auch Lorenz hebt hervor, dass zwischen Literaten, Wissenschaftlern und Ärzten vielfältige und wechselseitige Rezeptionsprozesse in Bezug auf das Thema Ich-Spaltung und Auflösung des Ich stattgefunden hätten, ein Phänomen, welches epochencharakterisierend scheint, sind diese wechselseitigen Rezeptionsprozesse doch 40 Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 30. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 122. 42 Vgl. Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 135-137. Vgl. auch Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 118. 43 Vgl. Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 120. 44 Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 136. 41 16 auch in Frankreich und Italien zu beobachten.45 Anz spricht in diesem Zusammenhang von einem „Interaktionsdrama“ zwischen Literatur und Psychoanalyse, in welchem das Verhältnis zwischen beiden Bereichen mit den Begriffen der „Korrelation, Konvergenz und Wechselwirkung“46 zu beschreiben sei. Verstärkt wird das krisenhafte Gefühl dadurch, dass die Religion den Menschen keine zufriedenstellenden Antworten mehr auf die durch die Wissenschaft neu aufgeworfenen Fragen liefern kann. Und auch die Philosophie verliert ihre Leitfunktion zugunsten der Naturwissenschaften, auch sie kann eines der „Kernprobleme der Jahrhundertwende, den sich zunehmend manifestierenden Wertrelativismus als Folge naturwissenschaftlicher Einsicht, nicht lösen“, so dass „die deutende Kraft überkommener Weltbilder und tradierter Gewissheiten“47 schwindet, wie Saße festhält. Zu den beschriebenen Ursachen der allgemeinen Verunsicherung treten gesellschaftliche Entwicklungen hinzu, die eine Dynamisierung des Alltags sowie eine „extreme Beschleunigung aller lebensweltlichen Prozesse zur Folge“48 haben: Die Erfindung von Telefon, elektrischem Licht und modernen Fortbewegungsmitteln beschleunigt Verkehr und Kommunikation und verändert die Wahrnehmung von Raum- und Zeit. Warenhäuser, Reklame und Litfaßsäulen dominieren das Stadtbild und führen dem zeitgenössischen Soziologen Georg Simmel nach zu einer „Steigerung des Nervenlebens, die aus dem ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht“49. In Zusammenhang mit diesen als krisenhaft empfundenen gesellschaftlichen Veränderungen in den beschriebenen Bereichen ist allenthalben eine fast apokalyptische Stimmung spürbar. Überall in Europa, und in besonderem Maße in Wien, haben die Menschen das Gefühl, an einem Ende zu stehen, am Ende des bürgerlichen Zeitalters. 45 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 118. Vgl. Ajouri, Philipp: Literatur um 1900, S. 136. Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 77. Vgl. Anz, Thomas: Die Seele als Kriegsschauplatz. Psychoanalyse und literarische Moderne. In: Mix, York-Gothart (Hrsg.): Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 7. München 2000, S. 495. 47 Saße, Günter: Vorwort, S. 9-10. 48 Saße, Günter: Vorwort, S. 9. 49 Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben. Zitiert nach Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 16. 46 17 „Der rasche gesellschaftliche Wandel und die zunehmende Mobilität der Massen produzierten spezifische Ängste vor sozialem Abstieg, teilweise sogar Katastrophenstimmung“,50 schreibt Leiß in diesem Zusammenhang. Die sogenannte „Fin-de-siècleStimmung“ verbreitet sich insbesondere in der Intellektuellenschicht in Wien, die „mit seismografischer Sensibilität den Untergang der Monarchie spürt und von Angst vor einer proletarischen Revolution erfüllt ist“.51 Auch die Gründergeneration verspürt ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis und ist „von einer heimlichen Angst vor dem in ihre Welt einbrechenden Unberechenbaren“ gefangen,52 fürchtet sich davor, das soeben Errungene zu verlieren. Wien, welches Haupt und Würffel als „Versuchsstation des Weltuntergangs“ bezeichnen,53 kann in diesem gesamteuropäischen Phänomen einer am Ende des 19. Jahrhunderts um sich greifenden Krisenstimmung als „Inkarnation des Fin de siècle schlechthin“ gelten: „Nirgendwo sonst schien sich das Jahrhundert so offensichtlich überlebt zu haben wie in der ‚zweitausendjährigen übernationalen Metropole‘ der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie.“54 Dennoch erlebt Wien kurz vor dem Zusammenbruch der Donaumonarchie eine kulturelle Blütephase,55 deren Ambivalenz jedoch zugleich dadurch bedingt ist, dass sie teils als Indiz für eine den Ästhetizismus präludierende Wirklichkeitsflucht gewertet werden kann. Nach dem Schleifen der Befestigungsanlagen wird die Stadt Wien ab 1857 mit dem Bau der prestigeträchtigen, mit palastartigen Stadthäusern, repräsentativen Staatsbauten und historisierenden Fassaden flankierten Ringstraße modernisiert. 1888 wird das Wiener Burgtheater fertiggestellt. Die neue Gesellschaftsschicht der wirtschaftsstarken, dem Liberalismus verpflichteten, Aufsteiger der Gründerzeit orientiert sich am Lebensstil des Adels und erhebt vor allem die kulturellen Traditionen des Adels zu Statussymbolen: Musik, Malerei, Oper und Operette blühen.56 Hinter der prestigeträchtigen Fassade aber brodelt es: Nach der erfolglosen Revolution von 1848 und der Niederlage gegen Preußen 1866 breitet sich eine gewisse Resignation aus, nach dem Börsen50 Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 18. Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 52. 52 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 17, unter Verweis auf Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern, S. 14. 53 Haupt, Sabine; Würffel, Stefan Bodo (Hrsg.): Handbuch Fin de Siècle, Stuttgart 2008, S. 163. 54 Haupt, Sabine; Würffel, Stefan Bodo (Hrsg.): Handbuch Fin de Siècle, S. 163. 55 Vgl. Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 40. 56 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 17-18. 51 18 krach von 1873 ist eine wirtschaftliche Schwächeperiode zu verzeichnen, die eine „Existenzkrise des ökonomischen und politischen Liberalismus“57 einleitet. Gleichzeitig vollzieht sich ein schleichender Machtverfall des Kaiserreichs. Zwar bietet das Theater dem bürgerlichen Publikum einerseits die Möglichkeit, sich an die Lebensweise des Adels anzupassen, andererseits aber werden das Theater und die Kultur im Allgemeinen für die Gründergeneration zum Refugium vor der Brüchigkeit der bestehenden Ordnung. Lorenz betont diesbezüglich: „Der Theaterkult des großbürgerlichen Wiener Publikums mochte seine historischen Ursachen in der barockaristokratischen Theatertradition haben, doch offenbarte diese Haltung vor allem das Verhältnis der Zeitgenossen zur Wirklichkeit.“ Sie unterstreicht anschließend unter Verweis auf Broch, der bereits in den 1880er Jahren die „krisenverdrängende Unterhaltungs- und Dekorationskultur“ des Wiener Bürgertums als „fröhliche Apokalypse“ bezeichnet , dass diese Haltung ein bestehendes „Wert-Vakuum“ kaschiere.58 Die Kultur erlaubt demnach die Flucht vor den als bedrohlich empfundenen realpolitischen Begebenheiten, die verdrängt werden, wie auch Bahr 1906 in Bezug auf das Verhalten seiner Mitbürger konstatiert: „Alles drängt den Wiener von der Wirklichkeit ab.“59 Bahr schreibt weiter: „Der Wiener braucht immer ein Beispiel. Dazu geht er ins Theater. Es ist kein Abbild des Lebens. Das Leben ist sein Nachbild.“ Lorenz zitiert diese Aussage Bahrs, um darauf zu verweisen, dass dies die „Nahtstelle“ sei, „an der sich die Kunst-Manie der gründerzeitlichen Väter mit dem späten Ästhetizismus ihrer Söhne berühr[e].“ Die Kunstwelt der Väter, die schon für diese eine gewisse Flucht vor realpolitischen Begebenheiten darstellt, wird so zur Grundlage für die Flucht in den Ästhetizismus der Generation der Söhne werden, die von den Schriftstellern des Jungen Wien, wie Hofmannsthal und Schnitzler, kritisch reflektiert werden wird.60 57 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 20. Lorenz verweist auf den Aufsatz Matis‘ über die wirtschaftlichen Entwicklungen in Österreich zwischen 1848 und 1914. Vgl. Matis, Herbert: Grundzüge der österreichischen Wirtschaftsentwicklung 1848-1914. In: Rumpler, Helmut (Hrsg.): Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/711914. München 1991, S. 107-124, hier: S. 121. 58 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 18, S. 22. 59 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 15-18, 22. 60 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 18. 19 1.2. Die Wiener Moderne und die Schriftsteller des Jungen Wien Der Widerspruch von glänzender Fassade und bröckelnder Wirklichkeit und das von Bahr diagnostizierte Wert-Vakuum einer Epoche, „in der die eklektische Dekoration den Mangel an geistigem Gehalt bemäntel[t]“61, werden insbesondere von der ErbenGeneration, den Söhnen der Gründergeneration, wahrgenommen. Junge Schriftsteller wie Schnitzler und Hofmannsthal spüren „die Sinnentleerung und innere Brüchigkeit der Donaumonarchie […], sagen deren Ende voraus“62 und suchen infolgedessen nach neuen Orientierungsmarken. Die Welt der Väter hat für die Generation der Söhne stark an identitätsverbürgender Kraft verloren. Briese-Neumann charakterisiert die Suche nach neuen Werten als „soziokulturelle Krise der Moderne“ und führt diese auf die „Enttäuschung von einem auf Wettbewerbsverhalten und Zweckdenken basierenden wirtschaftspolitischen System, welches das Bedürfnis nach Integration in der Gemeinschaft und individueller Anerkennung“ unbefriedigt lässt, zurück.63 Wenn Hofmannsthal im Februar 1894 an Leopold von Andrian schreibt: „Ich erleb jetzt eine sonderbare Zeit: Mein Inneres macht aus Menschen, Empfindungen, Gedanken und Büchern eine wirre Einheit […]“, so diagnostiziert er ebenjene Verunsicherung, die von den jungen Wiener Schriftstellern erfahren wird, wie Saße hervorhebt.64 Innerhalb dieses Klimas allgemeiner Verunsicherung entsteht in Wien ein kreatives Milieu, welches die Entstehung des sogenannten „Jungen Wien“ begünstigt. Beim „Jungen Wien“ handelt es sich um eine Gruppe von Dichtern, die der in Wien vorherrschenden Stimmung „zu ihrem literarischen Ausdruck verhilft“65, die die „epochale Verunsicherung“66 kritisch reflektiert und die später als prägend für die sogenannte „Wiener Moderne“ angesehen werden wird. Die Wiener Moderne reiht sich hierbei in den Kontext einer „gesamteuropäischen, urbanen Moderne“ mit ihren spezifischen Merkmalen wie dem „Krisenbewusstsein", der „lebensweltliche[n] Fragmentierung“, der „Veränderung der Wahrnehmung“ sowie der „Erfahrung historischer und individualbiografischer Diskontinuität“ ein.67 Wie Lorenz ausführt, 61 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 18. Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 21. 63 Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 212. 64 Saße, Günter: Vorwort, S. 9. 65 Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 81. 66 Saße, Günter: Vorwort, S. 9. 67 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 9. 62 20 entsteht Moderne innerhalb einer sich im Wandel befindenden Gesellschaft, „die sich von ihren ‚Polen‘, ihren geistigen Orientierungsmarken, wegbewegt“, in der sich das „tradierte sozio-geisteskulturelle Rahmensystem allmählich auflöst“68 und die „sich ‚sehr langsam erst‘ neue Orientierungsmarken sucht“69, wie Borchardt dies in seiner Rede über Hofmannsthal statuiert: Welcher Art immer die Kunstübung sein mag, an der er [der Begriff des Modernen D.L.] entwickelt worden ist, zunächst und vor allem enthüllt er den chaotischen Zustand einer Gesellschaft, deren Kräfte sich von ausgenützten Polen endgültig fortgezogen haben, und sehr langsam erst nach neuen hin sich zu lagern beginnen […].70 Hermann Bahr gilt hierbei als „Initiator und wirkungsreichster Propagator der Wiener Moderne“.71 Er verfolgt hartnäckig das Ziel, eine junge Generation von Wiener Künstlern und Autoren bekannt zu machen und sucht in seinen Aufsätzen das „Wesen der modernen Wiener Literatur“ vor allem in „Auseinandersetzung mit dem Berliner Naturalismus zu bestimmen“.72 Bahr sowie junge Autoren wie Arthur Schnitzler, Leopold von Andrian, Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann, Peter Altenberg, Felix Salten oder Karl Kraus treffen sich in mehr oder weniger lockeren Gruppen oder Kreisen vorwiegend in Kaffeehäusern, wie zunächst im 1847 eröffneten und 1897 geschlossenen Café Griensteidl und später im Café Central.73 Die genannten Kaffeehäuser werden zu Zentren geistigen Austauschs, in denen ab dem Ende der 1880er Jahre neue literarische Konzeptionen entwickelt werden.74 Im Gegensatz zum literarischen Salon, dessen Zeit sich um die Jahrhundertwende dem Ende zuneigt, ist das Kaffeehaus durch ein „Ambiente des Zufälligen und Unvorhergesehenen“ gekennzeichnet: „Die Inkonstanz seiner Besucher, die heterogene Zusammensetzung der Künstler- und Intellektuellengruppen, die sich an bestimmten Tischen zusammenfinden, die Unregelmäßigkeit ihres Zusammentreffens (die aber feste Verabredungen keineswegs ausschließt) und nicht zuletzt der Verzicht auf formale 68 Beutin, Wolfgang: Deutsche Literaturgeschichte: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2013, S. 355. 69 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 20. 70 Vgl. Borchardt Rudolf: Rede über Hofmannsthal. Zitiert nach: Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 19-20. 71 Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. Von Baudelaire bis Handke – das Jahrhundert der literarischen Moderne. München 2004, S. 24. 72 Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne, S. 24. 73 Vgl. Wunberg: Vorwort. In: Die Wiener Moderne, S. 16-19. Wunberg, Gotthart: Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne, Tübingen 2001. 74 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 28-30, S. 39. 21 Festlegungen, wie Vereinssatzungen etc., lässt eine Atmosphäre spontaner Gesprächsbereitschaft entstehen“,75 die einem regen Austausch über literarische Kreationen förderlich ist. Zeitungen wie die Moderne Rundschau, die Neue Revue, Die Zeit oder die Wiener Rundschau dienen der neuen Literatur als Forum.76 Im Gegensatz zum Berliner George-Kreis, dessen „Mitglieder ihr Selbstverständnis als Gruppe“ dadurch beziehen, dass sie „als geschlossene Männergesellschaft fernab von jeder Öffentlichkeit existier[en]“77, charakterisieren die Jungwiener sich gerade dadurch, dass sie kein gemeinsames Programm vorweisen können. Das Zusammengehörigkeitsempfinden des Wiener Kreises beruht vielmehr auf dem Bewusstsein der Autoren, „den Erscheinungen ihrer Gegenwart unvermittelt ausgesetzt zu sein, sowie auf der Fähigkeit, eine Haltung der ‚geistigen Freimaurerei‘, der modernen Skepsis gegenüber allem Tradierten, einzunehmen“78, wie Lorenz festhält. Auch werden neue Mitglieder nicht wie im George-Kreis durch einen „Gnadenakt des sich selbst zum ‚Meister‘ stilisierenden Stefan George ‚erwählt‘“, sondern treffen im Café Griensteidl aufeinander oder lernen sich durch gegenseitige Bekannte kennen. Weitere Merkmale der Jungwiener sind neben dieser „Bereitschaft, die Grenzen des eigenen Kreises zu erweitern“, dem Verzicht auf Manifeste und Programme und der geistigen Freimaurerei die Reaktion auf das konstatierte „Wert-Vakuum“, die Überzeugung, dass nicht soziale Probleme, sondern „Worte“ das „Material der Poesie“ sind, sowie die Bereitschaft, sich einer gemeinsamen Beschreibungssprache zu bedienen.79 Zentral ist vor allem aber die Hinwendung vom naturalistischen „Außen“ zum „Innen“, zur Analyse der Seelenzustände, und die hierdurch implizierten Neuerungen im formalen Bereich, wie beispielsweise der Rückgriff auf den inneren Monolog. Das auch durch die Theorien Ernst Machs und die Ergebnisse der psychoanalytischen Forschungen Freuds geförderte Infragestellen des klassischen Subjektbegriffes sowie die Vorliebe für die Theorien der Relativität können als zusätzliche Charakteristika der Wiener Moderne angesehen werden. Charakteristisch für die 75 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 29-30. Vgl. Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 41. 77 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 95. 78 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 94. 79 Zur Gruppe des Jungen Wien und den Unterschieden der Gruppe zum Berliner George-Kreis, vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 94-101. 76 22 Schriftsteller des jungen Wien sind zudem ein subjektiver Wahrheitsbegriff eine „Wahrheit, wie jeder sie empfindet“, wie Bahr in seinem programmatischen Aufsatz Die Moderne (1890) schreibt sowie ein unentwegter, für die Moderne konstitutiver, Prozess der „kreativen ‚Überwindung‘ (Bahr) aller einmal realisierter Formen und Haltungen“80. Typisch für die Wiener Moderne ist auch ihr Stilpluralismus. Die Wiener Moderne ist eine „vielschichtige, pluralistisch wirkende Moderne mit einem spannungsreichen Nebeneinander von Phänomenen, die dieser Moderne zugehören und sich doch nicht problemlos unter einen Nenner fügen, sondern sich teilweise abstoßen und das Bild der Moderne als polyfokal erscheinen lassen“81, wie Kiesel hervorhebt. Die Wiener Moderne ist in diesem Sinne „als Gesamtheit jener geistig kulturellen Strömungen zu betrachten, die sich in den Jahren und Jahrzehnten um 1900 bemerkbar machen.“82 Lorenz verweist aber zugleich darauf, dass, bei allen Unterschieden, die stereotype Trennung von Berliner und Wiener Moderne, wie sie teils in der Forschung vorgenommen wird, relativiert werden müsse. Unter Verweis auf die Studie Berliner und Wiener Moderne (1998) Sprengels und Streims unterstreicht sie, dass die „Genese des polarisierenden Wahrnehmungsschemas >Berlin contra Wien< nicht zuletzt auf die publizistischen Strategien Bahrs, eine originär Wiener Moderne […] als ästhetischprogrammatische Einheit in direkter Abgrenzung zu Berlin […] zu definieren“83, zurückzuführen sei. Sie führt anschließend aus, dass die Tatsache, dass eine vielfältige Kommunikation zwischen den Schriftstellern der beiden „Moderne-Metropolen“ stattgefunden habe, nicht vernachlässigt bleiben dürfe. So erschienen beispielsweise Werke der Jungwiener in Leipziger oder Berliner Verlagen, Otto Brahm, späterer Direktor des deutschen Theaters in Berlin, brachte Schnitzlers Drama Die Frau im Fenster 1898 zur Uraufführung und junge Wiener Autoren suchten den Kontakt zu Berliner Zeitschriften.84 Auch Kiesel betont ebenjene Interaktion zwischen Berlin und Wien und hebt hervor, dass sich Berliner und Wiener Moderne „bei allen 80 Vgl. Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne, S. 25-26. Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne, S. 25. 82 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 4. 83 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 10. 84 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 10-12. 81 23 Unterschieden […] in einem gemeinsamen europäischen Rahmen und in enger Berührung miteinander entfalteten“.85 Wurde im Vorherigen dargelegt, dass die Kunstwelt der Gründerväter, die selben eine Fluchtmöglichkeit vor der Alltagswirklichkeit bietet, als „Nahtstelle“ zum Ästhetizismus der Söhne und somit auch der Generation der Jungwiener die den Ästhetizismus aber teils, wie Schnitzler und Hofmannsthal dies tun, durchaus kritisch beleuchten anzusehen sei,86 so soll dieser Ästhetizismus im Folgenden genauer definiert werden. 1.3. Der Ästhetizismus als Fluchtmöglichkeit Krise der Autorität, Relativierung tradierter Wertvorstellung, Beschleunigung der Lebenswelt und daraus resultierende Nervosität sind Peter Sprengel nach Merkmale der Jahrhundertwende,87 die die Menschen in eine Gefühlswelt der Unsicherheit stürzen und die typische Fin-de-siècle-Stimmung der Jungwiener bedingen, für die weder die Welt der Väter, „der bürgerlichen Ringstraßen-Gründer“88, noch die Welt der Habsburgermonarchie noch verbindliche Wertmaßstäbe bietet. Wurden Kunst und Theater bereits von den Vätern als Refugium genutzt, um stundenweise vor dem tagespolitischen Geschehen zu flüchten, so gewinnt die Kultur der Wiener Moderne für die Söhne „Surrogatfunktion“, so die einflussreiche These Carl E. Schorskes. Die „frustriert[e] jünger[e] Generation von Bürgersöhnen, der in der Spätzeit des Habsburgerreiches die politischen und gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten genommen wurden“, flüchtet in den „ahistorischen und apolitischen Tempel der Kunst und des Ästhetizismus“, so Lorenz unter Verweis auf Schorske.89 Der Rückzug ins Innere, welcher sich sowohl auf der Ebene der Kunst als auch auf der Ebene der Literatur beobachten lässt,90 erscheint den „Söhnen“ als eine 85 Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne, S. 26. Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 18. 87 Vgl. Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. München 2004, S. 3-35. 88 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 25. 89 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 6. 90 Allgemein werden zwei Arten des Ästhetizismus unterschieden: der literarische Ästhetizismus und der Ästhetizismus als Lebensentwurf. Im Rahmen dieser Untersuchung steht nicht der literarische Ästhetizismus, sondern der Ästhetizismus als Lebenshaltung im Zentrum, wobei beide Formen des 86 24 Fluchtmöglichkeit vor der Komplexität der modernen Welt. Kimmich spricht in diesem Kontext von einem „Kult des Interieurs“ und beruft sich hierbei auf Walter Benjamin, der als erster die „mit großem Aufwand arrangierten Interieurs […] als bürgerliche Zufluchtsstätten“ in Zeiten sozialen Wandels charakterisiert hat.91 Der Bürger, der sein Dasein von den äußeren Begebenheiten bedroht sehe, schaffe „in den stilisierten Innenräumen seiner Privatwohnung eine eigene Herrschaftssphäre, in der er das Gefühl seiner Souveränität und seiner Individualität aufrechterhalten“ könne.92 Das Leben in der Kunst wird zum Surrogat für ein Leben in der für die Generation der Söhne unlebbar gewordenen Wirklichkeit. Der Kunst des Jugendstils kommt die Funktion zu, das Subjekt gegen die als bedrohlich empfundenen Veränderungen im Bereich der Technik und der Gesellschaft zu schützen. Der Jugendstil weist hierbei gewisse Parallelen zu der „historisierenden Kunst der Ringstraßenwelt“ der Vätergeneration auf: „Ästhetisier[t] der Historismus die Geschichte, beabsichtig[t] der Jugendstil die Ästhetisierung des Lebens, auch des alltäglichen Lebens.“93 Diese Funktion der Kunst hebt auch Karthaus hervor und verweist in diesem Zusammenhang auf eine Analyse Thomas Manns: „Der Jugendstil ist Ziel jenes Weges, den das gebildete […] Bürgertum […] nach 1848 gegangen ist: ‚Von der Revolution zur Enttäuschung, zum Pessimismus und einer resignierten, machtgeschützten Innerlichkeit‘“94. Das gleiche Phänomen lässt sich in der Literatur beobachten: Der „literarische Ästhetizismus der Jahrhundertwende [sucht] seine Zuflucht in ästhetisierten und künstlichen Sonderwelten, wobei der Rückzug in das Interieur zum literarischen Thema wird.“95 Hofmannsthal beschreibt das Lebensgefühl der jungen Autoren der Wiener Moderne die er als Teil einer gesamteuropäischen Bewegung „von ein paar Ästhetizismus eng miteinander verbunden sind, da beide die gleiche Denkhaltung der Konstruktion eines abgeschirmten Bereichs im eigenen Haus, im Garten, in der Kunst, in der Vergangenheit oder aber, was den literarischen Ästhetizismus betrifft, in der Literatur verkörpern. Streim hält fest, dass der Begriff auch bei Hofmannsthal sowohl eine künstlerische Tendenz der Moderne als auch eine mit dieser zusammenhängende psychologische Disposition bezeichne. Zur Begriffsgeschichte des Ästhetizismus: Vgl. Streim, Gregor: Das „Leben“ in der Kunst: Untersuchungen zur Ästhetik des frühen Hofmannsthal. Würzburg 1996. S. 5-37, hier S. 9. 91 Vgl. Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 19. 92 Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 54. 93 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 19. 94 Karthaus, Ulrich (Hrsg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. 16 Bde. Bd. 13: Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil, Stuttgart 1977, S. 16 95 Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 54-55. 25 tausend Menschen, in den großen europäischen Städten verstreut“, sieht im berühmten D‘Annunzio-Aufsatz folgendermaßen: Man hat manchmal die Empfindung, als hätten uns unsere Väter […] und unsere Großväter, […] und alle die unzähligen Generationen vor ihnen, als hätten sie uns, den Spätgeborenen, nur zwei Dinge hinterlassen: hübsche Möbel und überfeine Nerven. […] Es ist, als hätte die ganze Arbeit dieses feinfühligen, eklektischen Jahrhunderts darin bestanden, den vergangenen Dingen ein unheimliches Eigenleben einzuflößen. Jetzt umflattern sie uns, Vampire, lebendige Leichen, beseelte Besen des unglücklichen Zauberlehrlings! Wir haben aus den Toten unsere Abgötter gemacht; alles, was sie haben, haben sie von uns; wir haben ihnen unser bestes Blut in die Adern geleitet; wir haben diese Schatten umgürtet mit höherer Schönheit und wundervollerer Kraft als das Leben erträgt; mit der Schönheit unserer Sehnsucht und der Kraft unserer Träume. Ja alle unsere Schönheits- und Glücksgedanken liefen fort von uns, fort aus dem Alltag, und halten Haus mit den schöneren Geschöpfen eines künstlichen Daseins, mit den schlanken Engeln und Pagen des Fiesole, mit den Gassenbuben des Murillo und den mondänen Schäferinnen des Watteau. Bei uns aber ist nichts zurückgeblieben als frierendes Leben, schale, öde Wirklichkeit, flügellahme Entsagung.96 Auch den ihren Epochenzustand als „defizitär“97 empfindenden Jungwienern erscheint so die Flucht in die Kunst als Ausweg. Wie in der Einleitung bereits angedeutet, beschreibt Hofmannsthal in seinem Brief an Beer-Hofmann die Konstruktion einer „Welt in d[er] Welt“ den Bau „Potemkin’sche[r] Dörfer“ als Möglichkeit, dem defizitären Epochenzustand und dem Gefühl, dass eine unmittelbare Teilhabe am Leben unmöglich ist, zu entgehen: Ich glaube immer noch, dass ich imstande sein werde, mir meine Welt in die Welt hineinzubauen. […] Es handelt sich […] darum, ringsum an den Grenzen des Gesichtskreises Potemkin’sche Dörfer aufzustellen, aber solche, an die man selber glaubt. Und dazu gehört ein Centrumsgefühl, ein Gefühl von Herrschaftlichkeit und Abhängigkeit, ein starkes Spüren der Vergangenheit und der unendlichen gegenseitigen Durchdringung aller Dinge […].98 Der junge Hofmannsthal reiht sich hiermit in ein gesamteuropäisches Phänomen einer Bewegung von Autoren ein, die in ihren Werken kompensatorische Gegenwelten zu der äußeren Welt entwerfen, aus welchen sie sich die Einsicht in den Zusammenhang aller Dinge erhoffen, die ihnen in der wirklichen Welt verloren gegangen ist. Künstliche Gegenwelten sind so sowohl in Baudelaires „paradis artificiels“ als auch in Wildes Bildnis des Dorian Grey oder Huysmans A rebours zu beobachten. „Wenn der 96 Hofmannsthal, Hugo von: Gabriele D’Annunzio. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze. Hrsg. von Bernd Schoeller. Band 1. Frankfurt am Main 1979, S. 174-175. 97 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 69. 98 Hofmannsthal, Hugo von; Beer-Hofmann, Richard: Briefwechsel, S. 47. 26 direkte Zugang zu Welt und Leben versperrt ist, bleibt dem Modernen nur noch, sich eine Kulissenwelt als Ersatztotalität zu schaffen“,99 merkt Lorenz präzise an. In den zu untersuchenden Werken errichten die jeweiligen Protagonisten sich eine solche ästhetizistische Ersatzwelt und verschreiben ihr Leben fortan dem Ästhetizismus. Sprengel definiert den Ästhetizismus als eine „menschliche Haltung, Existenz oder Weltanschauung, die der ästhetischen Kontemplation oberste Priorität einräumt, auch und insbesondere auf Kosten moralischer Werte (Humanität, Treue) und emotionaler Bindungen (Liebe, Freundschaft)“100. Auch Briese-Neumann definiert den Ästhetizismus als Weltanschauung, welcher das „Primat der Ästhetisierung substantiell ist“, und führt aus, dass der Ästhetizismus durch eine auf das Augenblickserlebnis gerichtete „Wahrnehmungsform geprägt“ sei, die sie als zentrales Merkmal des Ästhetizismus erachtet.101 Der Ästhet räumt der Kontemplation seiner künstlich erschaffenen Ersatzwirklichkeit oberste Priorität ein, er erfährt in der reinen Betrachtung der schönen Gegenstände höchste Erfüllung und glaubt, so die verloren gegangene Unmittelbarkeit des Lebens dauerhaft kompensieren zu können. Genuines Merkmal einer ästhetizistischen Lebensführung ist in diesem Zusammenhang die Konstruktion einer artifiziellen Welt, in welcher der Ästhet sich dieser Betrachtung der schönen Gegenstände hingeben kann. Das „Arrangement“ jener Lebenswelt unterliegt hierbei dem „Primat der Schönheit“, das konstruierte Ersatzuniversum besteht aus einer Ansammlung von Kunstgegenständen und fungiert als Wirklichkeitssubstitut, wobei den Gegenständen und insbesondere den Kunstobjekten „reizauslösende Funktion“ zukommt, Objekte haben „empfindungsstimulativen Charakter“102, d.h. sie erlauben es dem Ästheten, Stimmung zu generieren, um seine innere Leere zu kompensieren. Der Ästhet nimmt die Gegenstände, wie auch bestimmte Eindrücke der Außenwelt, als „stimulierende Eindrücke seiner Innenwelt“103 wahr. Jene artifiziell gestaltete Welt steht im Gegensatz zur profanen Wirklichkeit, der Lebensraum des Ästheten situiert sich meist außerhalb der gesell- 99 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 79. Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur. 1870-1900: von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998, S. 117. 101 Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 247. 102 Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 250. 103 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 71. 100 27 schaftlichen Sphäre.104 Der Ästhet verfolge hierbei das Ziel, „die Einheit von Ich und Welt wiederherzustellen, womit auf die bewusste Abwendung von einer als feindlich empfundenen Lebenswirklichkeit als Ausdruck der Desintegration, bzw. auf die kausalen gesellschaftspolitischen Zusammenhänge der ästhetischen Existenz verwiesen“ werde,105 so Briese-Neumann. Einhergehend mit dem Rückzug aus der gesellschaftlichen Sphäre ist die soziale Isolation des Ästheten; durch Kontemplation subjektivierte Objekte werden zu seinem einzigen Bezugspunkt. Der Ästhetizismus ist als besondere Form der Wirklichkeitswahrnehmung zu verstehen: „Distinguierendes Merkmal des Ästhetizismus“ ist ein „vollständige[r] Rückzug auf das Subjekt, was sich in der Konzentration des ästhetischen Bewusstseins auf die sinnliche Aufnahme der äußeren Wirklichkeit artikuliert.“106 Durch jene subjektivierte Wahrnehmung werde letztendlich, so Briese-Neumann, auch das Subjekt auf Objektrang degradiert und erhalte „Objektposition“107; jegliche Möglichkeit zu zwischenmenschlichen Beziehungen wird hierdurch unmöglich. Der Ästhet lebt ichbezogen und monologisch in seinem selbstkonstruierten Ersatzuniversum, jegliche aktive Form der Lebensgestaltung sowie jeder Wille zur Tat fehlen ihm.108 Der im Vorherigen erwähnte D’Annunzio-Aufsatz zeugt aber bereits von einer gewissen Hofmannsthal und Schnitzler progressiv ergreifenden Skepsis gegenüber der ästhetizistischen Lebensweise, die eigentlich eine Wirklichkeitsflucht darstellt: Bei uns aber ist nichts zurückgeblieben als frierendes Leben, schale, öde Wirklichkeit, flügellahme Entsagung. Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung. Wir schauen unserem Leben zu; wir leeren den Pokal vorzeitig und bleiben doch unendlich durstig […], so empfinden wir im Besitz den Verlust, im Erleben das stete Versäumen. Wir haben gleichsam keine Wurzeln im Leben und streichen, hellsichtige und doch tagblinde Schatten, zwischen den Kindern des Lebens umher. 109 Wenn Hofmannsthal schreibt, dass „sie“, seine Generation, „doch unendlich durstig“ bleiben, im Besitz den Verlust und im Erleben das Versäumte empfinden, so zeigt dies die Grenzen des Ästhetizismus auf. Der Besitz kann die verloren gegangene Einheit der Welt nicht ersetzen, jegliches Erleben hat seine Unmittelbarkeit verloren, so dass 104 Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 250. Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 250. 106 Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 31. 107 Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 259. 108 Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 259. 109 Hofmannsthal, Hugo von: Gabriele D’Annunzio, S. 174-175. 105 28 sich die Flucht in die Welt der „nicht zweckgebundenen“110, sich nur vermeintlich zum Wirklichkeitssurrogat eignenden, Kunst letztendlich als trügerisch erweisen wird. Einzelne Werkgestalten, wie der Kaufmannssohn, Claudio oder von Sala, erscheinen in diesem Zusammenhang zugleich als „Chiffren einer für das fin de siècle typischen Daseinsbewältigung, deren Voraussetzung die ästhetische Perspektivierung der Umwelt ist“111, und als die Kritik ebendieser Form der Daseinsbewältigung, der Autoren wie Schnitzler und Hofmannsthal früh skeptisch gegenüberstehen. „Das literarische Produkt stellt sich“ somit „als ein Reflex des Autors zu Zeitströmungen dar, und zwar als Dokument einer Konflikterfahrung.“112 Die Protagonisten der Werke der Jahrhundertwende, die in folgender Arbeit behandelt werden, schaffen ästhetizistische Ersatzwelten, um dem als defizitär empfundenen Epochenzustand zu entfliehen. Hofmannsthal und Schnitzler inszenieren in ihren Texten Ästhetenfiguren, die sich ebenjener Denkhaltung des Ästhetizismus verschrieben haben und die sich in selbst konstruierte künstliche Welten zurückgezogen haben. Zugleich ist den untersuchten Werken die Skepsis gegenüber der mittels der drei Ästheten exponierten Form der Daseinsbewältigung immanent: In den drei Werken erweisen sich die Ästheten als lebensuntauglich und Schnitzler sowie Hofmannsthal inszenieren den Tod ihrer Protagonisten, um so ebenjene Kritik an der ästhetizistischen Lebensführung literarisch zu vermitteln. 110 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 73. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 250. 112 Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 250. 111 29 30 2. Hugo von Hofmannsthal: Das Märchen der 672. Nacht Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht erscheint 1895 in der Wiener Zeitschrift Die Zeit mit dem Untertitel Geschichte des jungen Kaufmannssohnes und seiner vier Diener.113 2.1. Zusammenfassung des Werkes Wie der Untertitel bereits andeutet, erzählt das Märchen die Geschichte eines, namentlich nicht genannten, Kaufmannssohnes, der sich zu Beginn der Erzählung dazu entschließt, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen und ein einsames Leben zu führen; einzig vier ausgewählte Diener (ein ehemaliger Diener des Gesandten des Königs von Persien, ein fünfzehn- und ein achtzehnjähriges Mädchen sowie eine alte Haushälterin) begleiten ihn in das selbstgewählte Leben in Abgeschiedenheit. Der 25Jährige widmet sich fortan der Betrachtung schöner Gegenstände. Im Sommer zieht der Kaufmannssohn sich, in Begleitung seiner vier Diener, in sein Landhaus in die Berge zurück. Sein Alltag ist nunmehr von der Betrachtung des schönen Gartens sowie von der Lektüre eines Buches über Alexander den Großen geprägt. Einzig das Beobachtetwerden durch seine vier Diener stört seine Ruhe, bis ihn eines Tages ein anonymer Brief erreicht, in dem sein Diener eines abscheulichen Verbrechens beschuldigt wird. Hieraufhin bricht der Kaufmannssohn auf, um die Sache „zur Ruhe zu bringen“114 und begibt sich zurück in die Stadt. Doch die dem Kaufmannssohn bekannte Stadtwelt stellt sich ihm in den Weg und treibt ihn unweigerlich in den Tod. Auf seiner alptraumhaften Reise in den Tod begegnet der Kaufmannssohn Spiegelungen seiner alten Existenz: So zieht ihn Schmuck im Fenster eines Juwelierladens an, ein aggressives 4-jähriges Mädchen lockt ihn von dort aus in ein Gewächshaus. Als er dieses verlässt, muss er sich durch ein widerspenstiges Gestrüpp von Pflanzen kämpfen. Er gelangt anschließend zunächst in ein ärmliches Stadtviertel, bevor sein Weg in einem Kasernenhof endet. Als er den ärmlichen Soldaten ein Geldgeschenk machen will, schlägt ein Pferd ihm seinen Huf in die Lenden. Die Soldaten tragen den 113 Vgl. Barber, Dieter: Das Märchen der 672. Nacht. In: Jens, Walter: Kindlers neues Literaturlexikon, Bd. 7, München 1990, S. 1006. 114 Hofmannsthal, Hugo von: Das Märchen der 672. Nacht. In: Schmitt, Hans-Jürgen; Best, Otto F. (Hrsg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. 16 Bde. Bd. 13: Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil. Hrsg. von Ulrich Karthaus. Stuttgart 1977, S. 216. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mittels der Abkürzung MN und unter Angabe der Seitenzahl zitiert. 31 schwerverletzten Kaufmannssohn hieraufhin in ein schäbiges Zimmer, wo er eines elenden Todes stirbt.115 Wenn Sprengel den Ästhetizismus als eine „menschliche Haltung, Existenz oder Weltanschauung, die der ästhetischen Kontemplation oberste Priorität einräumt, auch und insbesondere auf Kosten moralischer Werte (Humanität, Treue) und emotionaler Bindungen (Liebe, Freundschaft)“,116 definiert, so trifft diese Definition präzise auf die Lebensführung des Kaufmannssohnes zu, wie im Folgenden detailliert dargelegt werden soll. Der Kaufmannssohn zieht sich im Alter von 25 Jahren vollständig aus dem gesellschaftlichen Leben zurück und räumt fortan der Kontemplation seiner künstlich erschaffenen Welt oberste Priorität ein. Er flüchtet in eine ästhetizistische Ersatzwirklichkeit, die es ihm erlauben soll, seine sich auf mehreren Ebenen manifestierende Lebensunzulänglichkeit zu kompensieren. Ebendieser Fluchtversuch aber wird letztendlich scheitern, wodurch das Märchen der 672. Nacht zum „Gerichtstag des Ästhetizismus“,117 so Hofmannsthal, erhoben und auf fiktiver Ebene Kritik an zeitgenössischen ästhetizistischen Tendenzen ausgeübt wird. Wichtig für die Aussage des Textes ist in diesem Sinne auch die gewählte Form. Hofmannsthal rekurriert auf die Form des Märchens und greift zentrale strukturelle Merkmale dieser Form, wie beispielsweise die Raum- und Zeitlosigkeit des Geschehens, die Einschichtigkeit der Handlung mit ihrer Zentrierung auf den Helden oder im Fall des Märchens der 672. Nacht den Antihelden sowie Handlungsstereotypen (Auszug, Vertreibung, Missachtung des Helden, Bewährungsproben für den Helden),118 auf, um die Form anschließend mit einem märchenunytpischen Schluss, dem Tod des Kaufmannssohnes, zu pervertieren und das Märchen so gleichsam zum „AntiMärchen“ werden zu lassen. Hierdurch steht Hofmannsthals Märchen im Gegensatz zu den Märchen der Romantik. Bot die Märchenform dort noch größtenteils die Möglichkeit zur Wirklichkeitsflucht, so scheint sie diese Funktion für Hofmannsthal nicht mehr erfüllen zu können. Der Autor betont im bereits erwähnten Brief an Richard Beer-Hofmann, dass seine Generation nicht mehr fähig sei, in die „Traumwelt“ der 115 Vgl. Barber, Dieter: Das Märchen der 672. Nacht, S. 1006-1007. Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 117. 117 Barber, Dieter: Das Märchen der 672. Nacht, S. 1007. 118 Vgl. Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon, S. 292. 116 32 Romantiker zu flüchten.119 Die Flucht in Traumwelten, die besonders die Gattung des Kunstmärchens als Möglichkeit bietet, gelingt im Märchen der 672. Nacht auf Textebene nicht, sondern diese Flucht erweist sich als tödlich. Auch wenn der Ästhetizismus der Jahrhundertwende sich von den selbstkonstruierten „Traumwelten“ eine Wirklichkeitsflucht erhofft, so ist Hofmannsthal der Meinung, dass eine solche Flucht keine angemessene Reaktion auf die sich verändernden Lebenswirklichkeiten darstellt und lässt den Kaufmannssohn infolgedessen in einem „Anti-Märchen“ scheitern. Der für die Märchengattung typische Versuch, die „als unzulänglich erfahrene Welt in einer erzählten Utopie zurechtzurücken“120, wird nicht zu Ende geführt, sondern die in der ersten Hälfte des Märchens utopieartig gezeichnete Welt des Kaufmannssohnes gerät in der zweiten Hälfte des Märchens, nach dem Eintreffen des Briefes, zur Dystopie. Hierdurch scheint Hofmannsthals Märchen bereits der für das 20. Jahrhundert typischen „die Leseerwartung düpierende[n] Verarbeitung von Märchenelementen mit […] meist gesellschaftskritischer Intention“121 vorzugreifen. Bevor näher auf die Lebensunzulänglichkeit des Kaufmannssohnes, dessen Ästhetizismus und dessen finales Scheitern eingegangen wird, soll ein kurzer Einblick in bisherige Publikationen zum Märchen der 672. Nacht gegeben werden. Exkurs: Kurzer Forschungsüberblick Die von Hofmannsthal selbst aufgeworfene und 1947 von Richard Alewyn aufgegriffene These, dass der Gegenstand des Märchens die „Fragwürdigkeit des ästhetischen Lebens und seine Überwindung sei“, wird mehrheitlich in der Sekundärliteratur geteilt. Dorit Cohn untersucht das Märchen aus traumanalytischer Sicht. Jens Rieckmann dagegen sieht im Märchen den Konflikt zwischen menschlicher und künstlerischer Existenz auf fiktiver Ebene ausgestaltet: Hofmannsthal wolle im Märchen nicht das ästhetische Leben kritisieren, sondern intendiere vielmehr zu illustrieren, dass das Gewinnen „einer festumrissenen Identität“, welches „Voraussetzung für die Menschwerdung des Künstlers“ sei, „gleichbedeutend mit dem Verlust 119 Hofmannsthal, Hugo von; Beer-Hofmann, Richard: Briefwechsel, S. 47: „Wir sind zu kritisch, um in einer Traumwelt zu leben wie die Romantiker; mit unseren schweren Köpfen brechen wir immer durch das dünne Medium wie schwere Reiter auf Moorboden.“ 120 Vgl. Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon, S. 293. 121 Vgl. Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon, S. 257. 33 künstlerischer Produktivität sein könne“.122 Hofmannsthal reflektiere so im Medium des Märchens das „Chamäleondasein des Dichters“ und die ihn zum Entstehungszeitpunkt des Märchens beschäftigende Frage, ob der „Mensch Hofmannsthals“ auf Kosten des „Künstlers Hofmannsthals“ verkümmern könne und gestalte dieses Dilemma auf literarischer Ebene aus. Frye hingegen reiht sich in die allgemeine Deutungsrichtung des Märchens ein, wenn sie hervorhebt, dass das Märchen als Erzählform wohl mit dem Auszug des Kaufmannssohnes einen typischen Märchenbeginn aufweise, dass es dann aber durch den märchenuntypischen Schluss ironisiert werde. Dies, da der Auszug nicht zum Einzug in ein Schloss, sondern zum Tod des Protagonisten führe, wodurch der Text eine kritisierende Zeittendenz gewinne.123 Kritisiert werde so ein für die Moderne typischer Ästhetizismus, der das „außerhalb unseres Lebens Existierende verschöner[e], […] zum Nachteil des Lebens, dem man kaum mehr gewachsen“ sei. Frye geht gar so weit, den Kaufmannssohn als Alter Ego D’Annunzios zu deuten, dessen „leeres, von einem Verschönerungstrieb beherrschtes Dasein“, welches schließlich „vom Leben zunichte“ gemacht worden sei, Hofmannsthal mit seinem Märchen habe kritisieren wollen, da er zwar das dichterische Talent D’Annunzios bewundert habe, nicht aber das Künstliche an dessen Weltanschauung.124 Mauser hebt hervor, dass in der Literatur seit jeher Aufbruchsmythen dominieren würden: Während Protagonisten wie Tristan, Parzival, Robinson Crusoe oder Faust jedoch aufbrechen würden, um sich der Welt draußen zu stellen und sich ihrer eigenen Kraft zu vergewissern, würden sich die Aufbruchsmythen der Moderne auf die „Psychologie“ des Aufbruchs konzentrieren. Im Zentrum stehe seit dem Beginn der Moderne „die Analyse dessen, was den Aufbruch zur inneren Notwendigkeit mache“. Hierdurch würden Belastungssyndrome des modernen Protagonisten ebenso sichtbar wie die „Unerträglichkeit von Lebensverhältnissen“. Gleichzeitig aber würden projektiv Perspektiven eines wünschenswert Anderen vermittelt. Dies insofern als im Leser auf erster Ebene der Wunsch nach dem Anderen evoziert werde und sich der Leser dieses wünschenswert Andere auf zweiter Ebene als Kontrafaktur des Dargestellten imaginiere.125 Die 122 Rieckmann, Jens: Von der menschlichen Unzulänglichkeit: Zu Hofmannsthals Das Märchen der 672. Nacht. In: German Quarterly 54 (1981), S. 298-299: Wenn der Künstler eine Verknüpfung mit dem Leben herstellen will, so ist der Schritt von der Präexistenz in die Existenz, notwendig. Wird dieser Schritt aber vollzogen, droht der Verlust der künstlerischen Produktivität, da die mystische Einheit von Ich und Welt, die im Zustand der Präexistenz gegeben ist, aufgegeben werden muss. Das in der Präexistenz gegebene „groß[e] kosmisch[e] Ahnen“ geht verloren. 123 Vgl. Frye, Lawrence O.: Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal: Todesgang als Kunstmärchen und Kunstkritik. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 108 (1989), S. 531. 124 Vgl. Frye, Lawrence O.: Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 547-550. 125 Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 161-162. 34 Texte der Moderne, wie das Märchen der 672. Nacht, bieten demnach die negative Folie, auf Grundlage derer das wünschenswert Andere imaginiert werden kann. Die ästhetizistische Lebensführung des Kaufmannssohnes wird zum negativen Exempel, welches den Leser dazu veranlassen soll, sich projektiv ein Korrektiv dieser defizitären Lebensführung zu imaginieren. Wie Mauser darlegt, entspringen auch die Fluchtversuche des Kaufmannssohnes einer „inneren Notwendigkeit“126: Wie die Söhne der Gründerväter, so empfindet auch der Protagonist des Märchens der 672. Nacht die Lebensverhältnisse der Jahrhundertwende als unerträglich, sieht sich durch die zeittypischen Entwicklungen in eine Gefühlswelt der Unsicherheit gestürzt und flüchtet vor der Komplexität der modernen Welt in den Ästhetizismus. Es ist das Gefühl einer Endzeit anzugehören, der Epoche eine Niederganges, der Auflösung, der allgemeinen Gefährdung: Alles ist unsicher geworden, die Realität löst sich in unendliche Spiegelungen und Täuschungen auf: Man kann sie nur mehr als Spiel bestehen oder eben ästhetisch genießen.127 Genau dieser Erfahrung, dieser bereits von Hermann Broch in seinem Essay Hofmannsthal und seine Zeit beschriebenen „Mentalitätsdisposition“, wie Steinlein festhält,128 scheint Hofmannsthals junger Kaufmannssohn unterworfen. Auch wenn er sich über sein Lebensgefühl nie direkt und explizit äußert, so ist sein Verhalten doch zutiefst von einem Gefühl der Gefährdung geprägt, einem Gefühl, welches sich in seinem Fall als undefinierbare, omnipräsente und unauslöschbare Angst präsentiert. Diese Angst vor dem Leben, der er auf verschiedenste Weise Herr zu werden versucht, ergreift schlussendlich sein ganzes Wesen, bestimmt seine gesamte gescheiterte Existenz und setzt ihn einer raum- und zeitauflösenden, traumartigen Treibjagd aus, an deren Ende sein jämmerliches Verelenden steht. Die Angst des Kaufmannssohnes resultiert aus einer ausgeprägten Lebensunfähigkeit, die ihn alles Vitale als Bedrohung erfahren lässt, wie sich auf mannigfaltige Weise herausstellen wird. Bevor diese Angst näher untersucht wird, soll zunächst analysiert werden, auf welchen Ebenen sich die Lebensunfähigkeit des Kaufmannssohnes manifestiert. 126 Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 162. Steinlein, Rüdiger: Gefährliche „Passagen“ - männliche Adoleszenzkrisen in der Literatur um 1900: Hugo von Hofmannsthals Erzählungen Das Märchen der 672. Nacht und Die wunderbare Freundin. In: Zeitschrift für Germanistik 14,1 (2004), S. 58. 128 Steinlein, Rüdiger: Gefährliche „Passagen“, S. 58. 127 35 2.2. Die vierfache Lebensunfähigkeit Im ersten Teil der Erzählung führt Hofmannsthal die vier folgenden Aspekte der Lebensuntüchtigkeit des Kaufmannssohnes an: seine Verfehlungen in Bezug auf Gesellschaft und Arbeit, sein Unvermögen, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen, seine nicht existierende Individualität, seine Flucht in die Kunst sowie seine nur auf die Vergangenheit bezogene, verzerrte zeitliche Wahrnehmung. 2.2.1. Gesellschaft Das scheinbar harmonische Leben des „junge[n] Kaufmannssohn[es], der sehr schön war“ (MN 208), welches sowohl durch den Titel der Erzählung als auch durch die Beschreibung des Protagonisten evoziert wird, wird noch im ersten Satz als Illusion entlarvt. Nicht nur die Tatsache, dass der Kaufmannssohn bereits in jungen Jahren Vollwaise ist, zeigt dies, sondern Hofmannsthal hebt sogleich die Eigentümlichkeiten der Lebensweise des Protagonisten hervor. Zunächst zeigt sich dessen Lebensuntüchtigkeit darin, dass er „bald nach seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr der Geselligkeit und des gastlichen Lebens überdrüssig“ (MN 208) wird und sich vollkommen aus dem sozialen Raum zurückzieht. Er versperrt einen Großteil der Zimmer seines Stadthauses und entlässt alle seine Diener, bis auf vier Stück, denen, wie später dargelegt werden wird, eine besondere Rolle in der Erzählung zukommt. Im Sommer zieht sich der Kaufmannssohn jeweils – wie es die iterative Verwendung der Konjunktion „wenn“ andeutet (MN 212) – in seine Sommerresidenz in den Bergen zurück. Dieser Rückzug kann, untersucht man die Beschreibung der genannten Residenz genauer, ebenfalls als gesellschaftlicher Rückzug interpretiert werden. Zunächst fällt die Abgeschiedenheit des Landhauses auf. Dieses liegt im Gebirge, „in einem engen, von dunklen Bergen umgebenen Tal“, in dessen „Schluchten […] von beiden Seiten [Wasserfälle]“ fallen, die dem Tal „Kühle“ (MN 212) verleihen. Die Beschreibung des Rückzugsortes wird zudem von dunklen Farben dominiert, die die Abgeschiedenheit des Landhauses unterstreichen. So ist der Mond fast unsichtbar, „schwarze Wände“ umschließen das Tal und „weiße Wolken“, die über den „dunkelleuchtenden Himmel“ (MN 212) schweben, bilden die einzige, indirekte, Lichtquelle. Darüber hinaus erscheint das Tal als Refugium der Reichen: „Dort lagen viele solche 36 Landhäuser der Reichen“ (MN 212). Der Kaufmannssohn zieht sich somit nicht nur aus dem gesellschaftlichen Stadtleben in die Ruhe und die Einsamkeit der Berge zurück, sondern er kann in seiner Sommerresidenz zudem das „normale“ Leben ausklammern, indem er sich in eine Enklave gutsituierter Bürger zurückzieht und sein Leben nunmehr auf die Betrachtung schöner Gegenstände ausrichtet. Zu Recht sieht Wolfram Mauser die beiden Rückzüge des Kaufmannssohnes als „innere Zwanghaftigkeit“, als Konsequenz der „Unerträglichkeit von Lebensverhältnissen“129, wobei nicht die äußeren Lebensverhältnisse an sich unerträglich sind, sondern eine ganze Generation unfähig ist, sich an die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verändernden Gesellschafts- und Lebensformen anzupassen. Diese Generation, durch materielles Erbe und die Reichtümer ihrer Väter abgesichert, wähnt sich auf ihren vermeintlichen Sicherheiten auszuruhen und will die Notwendigkeit zur Anpassung nicht anerkennen, was ihr kollektives Scheitern bedingt. So auch der Kaufmannssohn, an dem gewissermaßen ein Exempel dieser Lebensunfähigkeit statuiert wird. Unterstützt wird Steinleins These einer männlichen Adoleszenzkrise um 1900130 durch die Namenslosigkeit des Protagonisten, dessen einzige Identität in seinem Sohn-Sein zu bestehen scheint. Als Erbe, als Sohn, geht der Kaufmannssohn keiner aktiven Tätigkeit nach, sondern führt ein fast schon parasitäres Dasein.131 Er übt keinen Beruf aus, sondern „[genießt] das in früheren Generationen Erarbeitete“132. Seine „Bestimmung erfüllt sich weitgehend im Sohn-Sein“133. Der Kaufmannssohn bewegt sich „geistig und materiell in Verhältnissen, die er nicht selbst geschaffen, sondern als Erbe und Nachfahre übernommen hat.“ Hofmannsthal übt hierdurch, so Mauser, implizite Zeitkritik an einem Lebensmuster, welches für eine „kultursoziologisch beschreibbare Konstellation“134, die Moderne, steht. Die, durch 129 Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 162. Vgl. Steinlein, Rüdiger: Gefährliche „Passagen“, S. 57-60. 131 Vgl. hierzu auch Kronauer, Brigitte: Die Dinge sind nicht unter sich!: zu Hugo von Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht. In: Kronauer, Brigitte (Hrsg.): Aufsätze zur Literatur. Stuttgart 1987, S. 2942. In einem ersten Punkt ihres Aufsatzes beschreibt sie das Verhalten des Kaufmannssohnes gegenüber seinen Mitmenschen und Dienern als einen ausgebrochen marxistischen Klassenkampf und bezeichnet seinen Tod als Manifestation der „Endkrämpfe jener, die durch Geburt und Geld herrschen“. Sie bemerkt aber zugleich, dass eine umfassende Interpretation über diese Sichtweise hinausgehen muss, wie sie in den weiteren Punkten ihres Aufsatzes zeigt. 132 Karthaus, Ulrich (Hrsg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Bd. 13: Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil, S. 206. 133 Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 166. 134 Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 165. 130 37 orientalisch-persische Attribute bedingte, Verschleierung des ursprünglich genannten Handlungsortes Wien versetzt das Märchen in einen geographisch nicht exakt festlegbaren Raum und hebt es somit zur Allgemeingültigkeit, zur moralistischen Kritik an einer um 1900 weit verbreiteten Lebensweise unter reichen Jünglingen an.135 Das Erbe regt den Kaufmannssohn in keinster Weise dazu an, das Geschäft seiner Vorfahren weiterzuführen, sondern ermöglicht ihm die vollkommene Abschirmung.136 Auch die Diener können in diesem Sinne als Relikte der alten Zeit angesehen werden und verkörpern gleichsam die Lebensunzulänglichkeit des Kaufmannssohnes, der nicht nur keinem Erwerbsleben nachgeht, sondern von seinem Erbe lebt und sich zugleich Zuhause bedienen lässt. So hat er zwar, wie im Folgenden dargelegt werden wird, jegliche gesellschaftlichen Kontakte abgebrochen, behält aber bezeichnenderweise gerade die Diener im Haus, da sie es ihm, wie auch das Erbe, erlauben, ganztägig seiner ästhetizistischen Weltbetrachtung nachzugehen und sich vollkommen von der Welt des Alltäglichen abzuschirmen. 2.2.2. Zwischenmenschliche Beziehungen Ein weiterer Lebensirrtum des Kaufmannssohnes ist sein Unvermögen, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen, welches schon zu Beginn der Erzählung angedeutet wird: Er kann weder zu einer Frau noch zu Freunden dauerhafte Bindungen aufbauen, da ihm an den Menschen, mit denen er bisher in Kontakt steht, „nichts gelegen [ist] und [ihn] auch die Schönheit keiner einzigen Frau so gefangen [nimmt], dass er es sich als wünschenswert oder nur als erträglich vorgestellt hätte, sie immer um sich zu haben“ (MN 208). Er lebt sich so in ein solipsistisches, „ziemlich einsames Leben“ hinein, welches „anscheinend seiner Gemütsart am meisten“ (MN 208) entspricht. Dieses Verhalten bestätigt sich im weiteren Verlauf des Märchens in seiner Haltung gegenüber seinen Dienern, vor allem gegenüber den weiblichen. Während die 15Jährige erstaunliche Parallelen zu seinem eigenen Verhalten aufweist hiervon zeugen sowohl ihr Todeswunsch (MN 210) als auch ihre Verschlossenheit und Wort- 135 Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 165. Vgl. Pfeiffer, Joachim: Tod und Erzählen. Wege der literarischen Moderne um 1900. Tübingen 1997, S. 110. 136 38 kargheit ergreift die 18-Jährige ihn zwar mit ihrer Schönheit, an ihr zeigt sich aber gleichsam, dass der Kaufmannssohn zwar Sehnsucht nach ihrer Schönheit, aber keinerlei sexuelles Verlangen (MN 215) empfinden kann. Ihr Körper spricht für ihn „die rätselhafte Sprache“ einer „verschlossen[en]“ und „wundervollen Welt“ (MN 212), die dem Ästheten unzugänglich bleibt. Der Erbe schließt die Möglichkeit, sich dem „süßen Reiz“ hinzugeben, völlig aus, die Schönheit der 18-Jährigen erfüllt ihn wohl „mit Sehnsucht“, nicht aber mit „Verlangen“. Er weiß, „dass es ihm nichts bedeuten würde, sie in seinen Armen zu halten.“ (MN 215). So wie der Protagonist sich in die Scheinwelt seiner Besitztümer zurückzieht, um ein „Ersatzleben“ zu führen, so schließt er auch jegliche Möglichkeit aus, eine wirkliche Beziehung aufzubauen, und sucht stattdessen nach „ruhigem Besitz“, nach Reizersatz im Blumenduft. Dem weiblichen Reiz seiner Dienerin ist er ebenso wenig gewachsen wie den übrigen Reizen des Lebens: Er „suchte […] nach einer Blume, deren Gestalt und Duft […] ihm für einen Augenblick genau den gleichen süßen Reiz zu ruhigem Besitz geben könnte, welcher in der Schönheit seiner Dienerin lag, die ihn verwirrte […]“ (MN 215). Er ist demnach, wie für den Ästheten typisch, an keiner zwischenmenschlichen Subjekt-Subjekt-Beziehung interessiert, sondern sucht Besitz über ein Objekt zu erlangen. Das Subjekt wird vom Ästheten auf Objektrang degradiert, wie BrieseNeumann unterstreicht: „Das Du als wesenhaftes Individuum wird der subjektivierenden Wahrnehmung subsumiert und erhält damit eine Objektposition.“137 Gleichzeitig „partizipiert“ der Kaufmannssohn, der nicht aus eigener Kraft am Leben teilnimmt, durch die Diener „indirekt“ am Leben, indem er sich auf mystische Art und Weise mit ihnen identifiziert,138 wie Rieckmann unterstreicht: Wenn er sie beobachtet, sind ihm ihre „Bewegungen“ so vertraut, „dass er aus ihnen eine unaufhörliche, gleichsam körperliche Mitempfindung ihres Lebens empf[ängt]“ (MN 214), die so weit geht, dass er die Diener „stärker, eindringlicher“ leben fühlt, „als er sich selbst leben fühl[t]“ (MN 212). Gerade in diesem Verhalten aber manifestiert sich die Lebensunzulänglichkeit des Kaufmannssohnes, wie auch Mauser unterstreicht: „Wer sich mit anderen ‚Wesen‘ auf lebensmystische Weise verbindet, kann den Weg zu einer freieren, auf Gegenseitigkeit gegründeten zwischenmenschlichen Beziehung 137 138 Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 259. Vgl. Rieckmann, Jens: Von der menschlichen Unzulänglichkeit, S. 301. 39 nicht finden.“139 Durch das Hineinversetzen in andere Lebewesen, durch mystisches Einswerden mit seinen Dienern scheint der Kaufmannssohn, wenn auch nur sehr begrenzt, am realen Leben teilnehmen zu können. Hierbei fühlt er ansatzweise die „Schwere [des] Lebens“ (MN 213) und das mit dem Leben verbundene Dem-TodEntgegenleben. Gerade aber weil die Diener Teil seiner selbst sind, weil er „körperliche Mitempfindung ihres Lebens empf[ängt]“ (MN 214), deutet ihre Todkonnotiertheit den Tod des Kaufmannssohnes voraus. Die Kühle der Alten, ihre kränkliche Weiße, ihre „blutlosen Hände“ (MN 213), der Selbstmordversuch der 15Jährigen sowie deren eisiger Blick deuten zudem an, dass der Tod des Kaufmannssohnes dem von ihm imaginierten ästhetischen Tod diametral entgegengesetzt sein wird. „Wenn der direkte Zugang zu Welt und Leben versperrt ist, bleibt dem Modernen nur noch, sich eine Kulissenwelt als Ersatztotalität zu schaffen.“140, hält Lorenz fest. Dieses „moderne“ Verhalten trifft präzise auf den Kaufmannssohn zu: Seine Lebensunzulänglichkeit versperrt ihm den Weg zum wirklichen Leben. Es gelingt ihm weder, zwischenmenschliche, emotionale Bindungen aufzubauen, noch am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen oder einer Arbeit nachzugehen. Stattdessen ruht er sich auf den ererbten Besitztümern aus und schafft sich mit Hilfe feiner Möbel und erlesener Kunstgegenstände besagte Ersatztotalität. Anstatt ein aktives Leben zu führen, sucht er sich eklektisch Gegenstände aus der Vergangenheit zusammen,141 aus welchen er sich in seiner Wohnung ein Ersatzuniversum konstituiert. 2.2.3. Ersatzuniversum Kunst Nach dem Rückzug aus der Gesellschaft erhebt der Kaufmannssohn die Kunst, die schönen Gegenstände, aber auch seine eigene Schönheit zu seinem einzigen Lebensinhalt und schafft sich so ein ästhetizistisches Ersatzuniversum, welches ihm ein Leben abseits sozialer Kontakte und emotionaler Empfindungen ermöglicht: „Die Schönheit der Teppiche und Gewebe und Seiden […], der Leuchter und Becken aus Metall, der irdenen Gefäße wurde ihm so bedeutungsvoll, wie er es nie geahnt hatte.“ 139 Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 169. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 79. 141 Vgl. Karthaus, Ulrich (Hrsg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Bd. 13: Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil, S. 206. 140 40 (MN 208). Köster unterstreicht, dass die Welt „dem prinzipiellen Solipsismus des Kaufmannssohnes […] als Bühne seiner Existenz [erscheine], als beherrschbarer Ort der Käuflichkeit“ und dass das „Ich den Kosmos im Kleinen neu [schaffe]“. Das Haus werde dem Erben „zum Spiegel einer ebenso, nämlich ästhetisch gestalteten und auf es selbst hingeordneten, großen Ganzheit“.142 Der Kaufmannssohn stilisiert seine Wohnung demnach zum Mikrokosmos, in welchen er vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit flüchtet. Die Konstitution seines eigenen, künstlichen Mikrokosmos geht jedoch über die Konstitution eines reinen Flucht- oder Rückzugsortes hinaus. Der geschaffene Mikrokosmos wird für den Kaufmannssohn zum Lebensersatz und die die Ersatzwelt konstituierenden Kunstgegenstände erlangen metaphysische Bedeutung. Das Betrachten der schönen Gegenstände zielt nicht primär auf ein augenblickliches Glücksempfinden, sondern nimmt metaphysische Züge an: Der Kaufmannssohn berauscht sich an den schönen Dingen, er erkennt „in den Ornamenten, die sich verschlingen, ein verzaubertes Bild der verschlungenen Wunder der Welt“ (MN 208). Anzumerken ist hierbei, dass das Ornament im Jugendstil Symbol für die Besinnung auf die Ursprünge des Lebens ist, eine Besinnung, die im 19. Jahrhundert angesichts der omnipräsenten Technisierung, Industrialisierung und Verwissenschaftlichung des Lebens verstärkt zu beobachten ist, wie Karthaus darlegt. Das Ornament verweist so auch auf eine Isolierung von der Wirklichkeit, wie sie für den Kaufmannssohn typisch ist. Jost definiert das Ornament in diesem Sinne als „apotropäische Geste“143, als Geste, die Unheil abwehren soll. Das Betrachten der Kunstgegenstände scheint dem Kaufmannssohn Einsicht in das „göttliche Werk“ (MN 209), in das „Ordnungsgesetz der Welt“144, zu ermöglichen, wie die repetitive Verwendung des Verbes „finden“ unterstreicht: „Er fand die Formen der Tiere und die Formen der Blumen […], er fand die Seligkeit der Bewegung und die Erhabenheit der Ruhe […], er fand die Farben der Blumen und Blätter […], ja, er fand den Mond und die Sterne, die mystische Kugel, die mystischen Ringe […]“ (MN 208-209). Der Protagonist steigert sich durch das Betrachten der schönen Gegenstände in einen rauschhaften Empfindungszustand, in welchem er die verloren gegangene Einheit von Ich und Welt wiederzufinden glaubt: 142 Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 148. Vgl. Jost, Dominik: Literarischer Jugendstil. Stuttgart 1969, S. 8. Zitiert nach Karthaus, Ulrich (Hrsg.): Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil, S. 16. 144 Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 166. 143 41 „Er war für lange Zeit trunken von dieser großen, tiefsinnigen Schönheit, die ihm gehörte.“ (MN 208). Mauser hebt hervor, dass der Kaufmannssohn diesen Zustand „als Steigerung des Ich“ erfährt. Er weist dem Ästhetischen gerade deshalb „übergeordneten Rang zu“145, weil es ihm das Erreichen dieses trunkenen Gefühls erlaubt. Köster sieht im trunkenen Zustand des Protagonisten Parallelen zu der Trunkenheit des Lord Chandos, mit dem Unterschied jedoch, dass die Zweifel Lord Chandos‘ diesen zu einer „Katharsis seiner selbst“ hätten führen können, während der Kaufmannssohn den Zweifeln ausweiche, er vielmehr vor einer Erkenntnis in sein Landhaus flüchte. Dort fühle er sich weiter „monistisch verwoben mit der Welt, ästhetisch hinweggetäuscht über die ästhetizistische Leere seiner Tage“. Im Gegensatz zu Chandos gelinge es dem Kaufmannssohn nicht, einen neuen Bezug zur Wirklichkeit aufzubauen.146 Das Herstellen eines neuen Wirklichkeitsbezuges scheitert daran, dass der empfundene Glückszustand für den Kaufmannssohn zwar metaphysische Züge annimmt, dass dieser Zustand sich aber stets als bloß augenblickshaft und ephemer erweist. Er kann dem Protagonisten infolgedessen keine dauerhafte Erfüllung gewähren. Die Gegenstände stellen für den Kaufmannssohn zwar das „große Erbe, das göttliche Werk aller Geschlechter“, dar und vermitteln ihm die Illusion eines umfassenden Zusammenhangs, sie können aber, wie Hartmut Scheible unterstreicht, „die abgerissene Verbindung von Ich und Welt nicht neu knüpfen“. 147 So wie der Kaufmannssohn die Schönheit dieser Dinge fühlt, so fühlt er gleichzeitig „die Nichtigkeit aller dieser Dinge“ (MN 209). Die Flucht in ein reines Ästhetentum zeigt dem Protagonisten zugleich die Grenzen desselben auf. Er fühlt die Bedeutungslosigkeit der Gegenstände, ästhetizistisches Vergnügen vermag die Leere seiner Existenz auf Dauer nicht zu füllen. Anstatt jedoch durch diese Zweifel zu einer Einsicht in die Nichtigkeit seines ästhetizistischen Ersatzuniversums zu gelangen, flüchtet der Kaufmannssohn vor der beginnenden Erkenntnis in ein neues Ersatzuniversum, die Vergangenheit. Hier konstituiert er mit der prunkvollen Welt Alexanders des Großen eine neue ästhetizistische 145 Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 166. Vgl. Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 149-151. 147 Scheible, Hartmut: Nachwort. In: Beer-Hofmann, Richard: Der Tod Georgs. Stuttgart 1980, S. 121122. 146 42 Gegenwelt, wie unter Punkt 4.2.2. genauer dargelegt werden wird. Mauser glaubt im Empfinden dieser Nichtigkeit eine gewisse Einsicht des Kaufmannssohnes in die Sinnlosigkeit seiner Existenz zu erkennen. Er ist der Meinung, dieser empfinde zeitweise den Auftrag, anders zu leben. Er werde temporär zum Skeptiker, ohne dass der Skeptiker den Ästheten jedoch ablösen vollständig könne. Vielmehr sei das Leben des Kaufmannssohnes durch „die Ambivalenz von Ästhetentum und Skepsis geprägt.“148 Zu dieser Einsicht kommt es meines Erachtens jedoch nur ansatzweise, da der Kaufmannssohn vor der beginnenden Erkenntnis sogleich in ein neues, in der Vergangenheit angesiedeltes, Ersatzuniversum sowie von der Stadt aufs Land flüchtet. Recht hat Mauser jedoch mit der Feststellung, dass Hofmannsthal mittels des Märchens aufzeigen wolle, dass die Alternative zum Ästhetentum nicht in der Skepsis, sondern im Leben zu suchen sei; die Frage sei, wie das Ästhetentum mit dem Leben verbunden werden könne. Gerade dieser Übergang in ein realitätsnäheres Leben jedoch gelingt dem Kaufmannssohn nicht. Die Lebensferne des Protagonisten zeigt sich erneut darin, dass er jegliche soziale Komponente aus seinem Leben ausklammert und in völliger Selbstbezogenheit lebt: Er schöpft bereits im Stadthaus „großen Stolz aus dem Spiegel“ (MN 209) und erinnert hiermit an die mythologische Figur Narziss. Hofmannsthal hält in seinen Notizen in Bezug auf den Narzissmus fest: „Das Eigene in einem geheimnisvollen Spiegel anschauen. Narcissmusmotiv, endlich ertrinken in dem spiegelnden Dasein, die Seele hergeben, die Welt dafür empfangen […]“.149 Der Autor definiert hier den Narzissmus und hebt zugleich die der ästhetizistischen Existenz immanenten Gefahren hervor. So scheint die narzisstische Selbstbetrachtung zwar einerseits das Erreichen des trunkenen Zustandes der Einsicht in die Zusammenhänge der Welt zu erlauben, andererseits aber endet die Selbstbezogenheit des Narziss letztendlich tödlich, er ertrinkt im See. Ebenso tödlich wird die Selbstbezogenheit des Kaufmannssohnes enden, so dass das von Hofmannsthal verwendete Narzissmusmotiv gewissermaßen proleptisch auf den Tod des Kaufmannssohnes hinweist. Durch den Rückgriff auf das Motiv kritisiert Hofmannsthal implizit die Selbstbezogenheit als eine der 148 Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 166-167. Zitiert nach Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 165, der darauf verweist, dass Hofmannsthal diese Wort um 1895 in Bezug auf das Märchen der 672. Nacht notiert. Vgl. auch Hugo von Hofmannsthal: Reden und Aufsätze. Hrsg. von Bernd Schoeller. Band 3. Frankfurt am Main 1979, S. 419. 149 43 Komponenten der Lebensunzulänglichkeit des Erben. Diese Selbstbezogenheit des Kaufmannssohnes spiegelt aus Mausers Sicht das Verhalten des „wohlhabend[en], kulturbeflissen[en] und gesellig[en] Bürgertum[s] […], in dessen Windschatten die Generation der Söhne von 1875 [ trotz der sich abzeichnenden Krisen von industrieller Revolution, Nationalismus und imperialistischer Konkurrenz ] ein sorgenfreies Dasein führt und sich von den verfeinerten Formen des Lebens in Bann ziehen l[ässt]“. Dieser Haltung „gegenüber ha[be] der Tod sozusagen heuristische Bedeutung. Er steh[e] für die Erkenntnis, dass der Erbe und Ästhet auch als Vermögender unvermögend bleibt.“150 2.2.4. Vergangenheit Eine dritte Fluchtperspektive, nach der Flucht in die Einsamkeit und das Ästhetentum, sieht der Protagonist in der Flucht in die Vergangenheit: Der Kaufmannssohn ernennt den mächtigen antiken Heerführer Alexander den Großen zu seinem Alter Ego. Seine Unzulänglichkeit im Leben sucht der Kaufmannssohn durch einen schönen Tod zu kompensieren: Er sieht den Tod als „etwas Feierliches und Prunkendes“ (MN 209) an, das ihm „über die von Löwen getragene Brücke des Palastes, des fertigen Hauses, angefüllt mit der wundervollen Beute des Lebens“ (MN 209), entgegenkommen soll.151 So liest der Kaufmannssohn im Garten des Landhauses „meist in einem Buch, in welchem die Kriege eines sehr großen Königs der Vergangenheit aufgezeichnet waren“ (MN 212). Die Geschichte vom großen König fungiert als Kompensationsmuster für die Lebensunzulänglichkeit des Ästheten. Sie dient „als Denk- und Handlungsschema für den Kaufmannssohn, […] ist Vergangenheitsmaterial, das von dem Sohn […] in die Gegenwart heraufbeschworen wird […] und zur Handlungsschablone des Sohnes wird.“152 150 Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 168-169. Mauser führt zudem aus, dass die Selbstbezogenheit des Kaufmannssohnes auch in den Bergen anhalte, auch hier zeige der Protagonist eine „alles dominierende Besorgnis über das eigene Empfinden“, er sehe sich als Mittelpunkt und erwarte, „dass sich alles an seinen Vorstellungen orientier[e]“. 151 Vgl. Anz, Thomas: Der schöne und der hässliche Tod. Klassische und moderne Normen literarischer Diskurse über den Tod. In: Klassik und Moderne. die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozess. Hrsg. von Karl Richter und Jörg Schönert. Stuttgart 1983, S. 420. Thomas Anz merkt an, dass dieser Todeswunsch psychoanalytisch auch als „Identifikation mit dem Aggressor“ zum Zwecke der Angstbewältigung gesehen werden könne. 152 Frye, Lawrence O.: Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 533. 44 Interessant hierbei ist, dass dieses Verhalten des Kaufmannssohnes Parallelen zu Hofmannsthals eigenem Verhalten aufweist, wie Briese-Neumann nahelegt: „Tiefe und […] fortreißende Bücher“, so schreibt Hofmannsthal, böten eine Kompensation für das „Gefühl der Unausgefülltheit, der Sinnlosigkeit des Daseins“ und würden es erlauben, sich „bis zur Selbstvergessenheit“ zu „verlieren“153. Im bereits erwähnten Brief an Richard Beer-Hofmann äußert auch der Autor den Wunsch, „ein Reich“ zu „haben wie Alexander, gerade so groß und so voll Ereignis, dass es das ganze Denken erfüllt“. So sieht für Hofmannsthal „das Wünschenswerte auf der einen [Hervorhebung D.D.] Seite aus.“154 Während sich der Kaufmannssohn allein auf diese „eine“ Seite des Lebens konzentriert, hebt Hofmannsthal dagegen hervor, dass man auf der „anderen“ Seite im Leben verwurzelt bleiben müsse: Auf der andern [Hervorhebung D.D.] aber steht eindringlich unser gemeinsames: il faut glisser la vie! Und wer beides [Hervorhebung D.D.] versteht, kann es vereinen. Hofmannsthal selbst kennt also, wie der Kaufmannssohn, die Flucht in ästhetizistisch konstruierte Welten, er hebt aber zugleich die Notwendigkeit hervor, die Kunst mit dem Leben zu verbinden. Ebendies aber verweigert der Kaufmannssohn und wird deswegen scheitern, womit Hofmannsthal Kritik an der einseitig ästhetizistisch ausgelegten Lebensweise des Kaufmannssohnes übt. Wie in Bezug auf die Gegenstände sucht der Protagonist sich auch in Bezug auf die Alexanderlegende „eklektisch aus der Vergangenheit das ihm Passende zusammen“155 und klammert alles Unschöne aus seinem rückwärtsgewandten Sterbeentwurf aus. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgehen, dass mit dem Rückgriff auf die Alexanderlegende erneut der hässliche Tod des Kaufmannssohnes angedeutet wird: Wie ein „verirrter König“ (MN 209) wird der Protagonist durch die Stadt seinem Ende entgegentaumeln. Wie Alexander, der sich am Hyphasis- bzw. Bias-Fluss in Indien zum Rückzug gezwungen sieht und hier immer noch glaubt, er sei an den Quellen des Nils,156 verbleibt auch der Kaufmannssohn seinem Lebensirrtum bis zu seinem Tod verfallen und wird am Ende des Märchens wegen seiner Lebensunzulänglichkeit eines 153 Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 302. Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 307. 155 Vgl. Karthaus, Ulrich (Hrsg.): Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil, S. 206. 156 Frye, Lawrence O.: Das Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 542. 154 45 hässlichen Todes sterben. Betrachtet man Fryes Hinweis, dass im Märchen der 460.462. Nacht aus den Märchen aus 1001 Nacht von einem König erzählt wird, der ungeheure Schätze angehäuft hat und von einem Todesengel besucht wird, so könnte der Titel des Märchens der 672. Nacht auf ebenjenes Märchen verweisen, womit bereits im Titel auf den Tod des Kaufmannssohnes hingedeutet würde. Letztendlich ist es so auch das Unvermögen des Kaufmannssohnes, in der Gegenwart zu leben, welches sein hässliches Ende als Folge eines ungelebten Lebens bedingen wird. Nicht nur aufgrund seines durch Erbschaft und somit durch Vergangenheit finanzierten Lebens, sondern auch aufgrund seines die Gegenwart ausklammernden Zukunftsentwurfs des Gegenwartserfahrung prunkvollen und der Todes Teilnahme verwehrt am der Ästhet „normalen“ sich Leben. der Diese problematische Situation der Orientierung an der Vergangenheit reflektiert Hofmannsthal in seinem Aufsatz Zur Physiologie der modernen Liebe, in welchem er von der „Epidemie des Historismus“157 spricht. Niefanger weist in diesem Kontext nach, dass der Autor 1891 in seinem Essay über Paul Bourgets Physiologie de l’amour moderne die Lebensfremdheit seiner Generation als Folge ebenjener „Epidemie des Historismus“ sehe, welcher „vermittel[e], dass das eigentliche Leben nur in der Vergangenheit zu empfinden sei.“158 2.2.5. Die indirekte Wahrnehmung der Wirklichkeit Ein weiteres Vergehen der Hauptfigur ist die indirekte Wahrnehmung der Wirklichkeit, welche besonders Lawrence O. Frye hervorhebt: „Der Kaufmannssohn hat eine besondere Art und Weise, mit der Welt umzugehen“, er schaut sich die Welt „so indirekt wie möglich“ an, „wie durch Vermittlung, ob aus der Ferne, durch Perspektivverschiebung oder durch die Kunst“. Frye führt weiter aus, dass sich der Kaufmannssohn ein Bild von dem mache, was er sehe, fühle und denke und er sich dann in diesem Bild finde, „wie in einem Andern, und dieses Andere wird wiederum zu etwas geheimnisvoll Schönem“. Das Mädchen mit den zwei Statuen vertritt dieses „Prinzip der Indirektheit – und der Ferne“, wie Frye darlegt, da der Kaufmannssohn 157 Hofmannsthal, Hugo, von: Zur Physiologie der Liebe. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze. Band 1, S. 96-97. 158 Vgl. Niefanger, Dirk: Hugo von Hofmannsthals Essay Gabriele D‘Annunzio (1893). [o. O.] 2004, S. 5-6. Online verfügbar unter: www.erlangerliste.de/ede/hofmanns.pdf [Stand: 30.6. 2014] 46 sie im Spiegel und durch Perspektivverschiebung erblickt: So „erblickte er die Größere in einem geneigten Spiegel […], in dem Spiegel kam sie ihm […] aus der Tiefe entgegen.“ (MN 214). Das Mädchen ist hierdurch aus Fryes Sicht „nicht mehr sie selbst, sondern ist im Medium des Spiegels und durch die Perspektive eine Andere geworden, die aus einer anderen Dimension kommt. Dadurch weist sie auf eine nicht genannte Andere hin“, wie auch die Figuren, die sie in den Händen trägt.159 Der Protagonist des Märchens neigt demnach dazu, alles zu verschönern, alles ästhetizistisch zu perspektivieren, und nimmt infolgedessen nichts unmittelbar wahr. Dies aber bedingt seine defizitäre Lebenshaltung: Da er den direkten Zugang zu Menschen und zum Leben im Allgemeinen vermeidet, kann er nur indirekt am Leben partizipieren. Eine unmittelbare Teilnahme am wirklichen Leben bleibt ihm verwehrt, er ist diesem nicht gewachsen. So wie der Kaufmannssohn seine Umwelt nur durch die Kunst wahrnimmt, so nimmt er auch die 18-jährige Dienerin nur über das Medium des Spiegels wahr, was ihm erlaubt, direkten menschlichen Kontakt zu vermeiden und sich den Reizen der 18Jährigen zu entziehen. Gleichzeitig aber verschleiert ihm diese mediale Vermittlung die hässliche Seite der Kunst und der Schönheit: Er nimmt zwar die „tot[e] Schwere an den lebendigen zarten Schultern“ der Dienerin und die Schwere der Schönheit ihres Hauptes wahr, stilisiert sie aber zu Attributen einer „Königin im Kriege“ (MN 224). Der Ästhet nimmt also die in der Dienerin und in den von ihr getragenen Statuen enthaltene Todesbotschaft nicht wahr.160 Auch die im Märchen gehäuft auftretenden orientalischen Symbole weisen aus Fryes Sicht auf die Lebensferne und die indirekte Wirklichkeitswahrnehmung des Kaufmannssohnes hin: „Im Orientalischen wird das als Märchenhandlung geführte Leben als ein der eigenen Gegenwart fernes und in der Kunst schon dargestelltes Leben vorgezeichnet […].“ Der Kaufmannssohn „erlebt sein Leben […] auf indirekte Weise, z.T. durch vermittelnde, exotische Kunst.“161 Dass es sich bei der vom Kaufmannssohn so konstruierten Welt um eine ästhetizistische Scheinwelt handelt, wird deutlich, wenn man das Verhalten des Kaufmannssohnes genauer betrachtet: Wird er selbst aus der Rolle des Beobachters, 159 Vgl. Frye, Lawrence O.: Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 538. Vgl. Frye, Lawrence O.: Das Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 537-540. 161 Vgl. Frye, Lawrence O.: Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 535. 160 47 der im Betrachten der schönen Gegenstände höchste Erfüllung findet, in die Rolle des Beobachteten gedrängt, beginnt die sorgfältig errichtete Ersatzwelt zu bröckeln. Dies wird beispielsweise an seiner Reaktion auf die vier verbleibenden Diener deutlich. Er hat sich die vier, ihn in die Einsamkeit begleitenden, Diener zwar bewusst ausgesucht, dieselben erscheinen ihm nach seinem doppelten Rückzug allerding als Bedrohung. Dies sowohl im Stadthaus, wo er das Gefühl hat, sie „umkreisten ihn wie Hunde“ (MN 210), als auch nach seinem Rückzug ins Landhaus: Hier wird ihm die Bedrohung, die ihr Blick auf ihn darstellt, vollends bewusst, als er im Garten sitzt und liest: „Er fühlte, […] dass die Augen seiner vier Diener auf ihn geheftet waren.“ (MN 212). Das Gefühl der Angst und der Bedrohung, welches der Erbe empfindet, wächst derart an, dass er aufstehen und umhergehen muss, „um seiner Angst nicht zu unterliegen“ (MN 213). Doch dies mindert sein Angstgefühl nicht. Er fühlt weiterhin „ihre Augen“ (MN 213), fühlt sich dann kurz erleichtert, als der ältere Diener den Blick von ihm abwendet, erwartet aber „in heimlicher Angst den Augenblick“, in dem sich der Blick des Dieners wieder auf ihn heften wird. In gleichem Maße empfindet er den Blick der jüngeren Dienerin als „höhnische Aufmerksamkeit“ (MN 213) und versucht, vor der unerträglich werdenden Angst in die Ecke des Gartens zu flüchten. Frye betont ebenso, dass die Diener dem Kaufmannssohn als Bedrohung erscheinen: Verschiebt sich die „Perspektive von dem sehenden Ich […] zum gesehenen Ich“, wird dieser Perspektivwechsel vom Kaufmannssohn als Bedrohung erfahren: In die Perspektive des sehenden Ich „flüchtet er und verschönert, was er sieht“, in der anderen „fühlt er sich beängstigt und bedroht“162. Unausweichlich ist nun die Frage, weshalb ihm die vier verbleibenden Diener als Bedrohung erscheinen. Untersucht man die betreffenden Stellen im Märchen genauer, wird deutlich, dass die „Repräsentanten der vier Lebensalter“ (MN 206) gewissermaßen zum Sprachrohr Hofmannsthals werden und die ästhetizistische Lebensweise des Kaufmannssohnes dadurch hinterfragen, dass sie als „Stellvertreter des Lebens“163 fungieren und dem Kaufmannssohn, dem Lebensunfähigen, selbige Unfähigkeit tagtäglich vor Augen führen: „Er fühlte sie leben, stärker, eindringlicher, als er sich selbst leben fühlte.“ (MN 212). Die Diener zwingen den Kaufmannssohn, 162 Vgl. Frye, Lawrence O.: Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 538. Bosse, Heinrich: Nachwort. In: Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte und andere Erzählungen. Reclam. Ditzingen 2000, S. 79. 163 48 der nie über sich selbst, sondern immer nur über seine Mitmenschen nachdenkt, zur Selbstreflexion: „Sie [zwangen] ihn in einer unfruchtbaren und so ermüdenden Weise an sich selbst zu denken.“ (MN 214). Er fühlt, dass sie „sein ganzes Leben an[sehen], sein tiefstes Wesen“, und ahnt, dass sie hierdurch seine „geheimnisvolle menschliche Unzulänglichkeit“ (MN 214) erkennen. In Folge der Angst vor dieser Erkenntnis der Diener überkommt ihn eine „tödliche Angst vor der Unentrinnbarkeit des Lebens“ (MN 214). Anstatt jedoch in Folge dieser Erfahrung seine Lebensweise in Frage zu stellen, flüchtet der Erbe erneut vor einer Einsicht in seine defizitäre Lebensweise, zunächst in die Ecke des Gartens. Da die Flucht in die Ecke des Garten es jedoch nicht erlaubt, die Angst zu minimieren der Garten ist zu klein, um den Dienern „zu entrinnen“ (MN 214) wendet der Protagonist einen neuen Verdrängungsmechanismus an: Er tritt den die Angst auslösenden Personen so nahe, dass „seine Angst so völlig [erlischt], dass er das Vergangene beinahe verg[isst]“ (MN 214). Durch diese zweifache Flucht unterstreicht Hofmannsthal, dass die Weise, in der der Kaufmannssohn an sich selbst denkt, „unfruchtbar“ ist und er folglich zu keiner Einsicht in das Unzulängliche seiner Existenz gelangt. 2.2.6. Die den Kaufmannssohn ergreifende Angst Nachdem so jegliche Fluchtversuche vor dem Leben scheitern, ergreift den Kaufmannssohn zunehmend die Angst. Sie „bemächtigt sich“ immer wieder „seines Blutes und seines ganzen Denkens“ (MN 213). Den Anforderungen des Lebens ist er nicht gewachsen, er erfährt sie vielmehr als Qual. Er scheint sich darüber hinaus im Laufe der Erzählung der Grenzen seiner Verdrängungstaktiken bewusst zu werden. Es ergreift ihn „eine seltsame Unruhe“ (MN 215). Er scheint nunmehr um die vergebliche Suche nach „ruhigem Besitz“ (MN 215) zu wissen. Seine Lebensmanier kann nur „Scheinerfahrungen“ gewähren, die innere Leere seiner Existenz kann sie nicht füllen. Seine Suche bleibt ergebnislos, er findet nur „Schwestern“ des Gesuchten: „In den Stielen der Nelken […] erregtest du meine Sehnsucht; aber als ich dich fand, warst du es nicht, die ich gesucht hatte, sondern die Schwestern deiner Seele“ (MN 215), so seine erste Bilanz. Auch Mauser, der den Aufbruch in die Berge noch – zu Unrecht als Aufbruch in ein realitätsnäheres Leben interpretiert hatte, kommt zum Schluss, dass die Flucht in die Berge für den Kaufmannssohn zur Aporie werde: „Denn was 49 sich zunächst als Aufbruch in ein realitätsnäheres Leben darstellt, erweist sich als fatale Verschärfung der entropischen Situation, aus der sich der ‚Held‘ nicht befreien kann. Er stürzt in die Angst vor der ‚Unentrinnbarkeit des Lebens‘“,164 sieht seinen abgeschirmten Schutzbereich gefährdet. 2.3. Die Anklage gegen die ästhetizistische Lebensweise des Kaufmannssohnes In diesem Zustand der beginnenden inneren Bewusstseinswerdung seiner existentiellen Krise, falls es überhaupt angebracht ist, diese Bezeichnung zu verwenden, da hierzu ja a priori eine gelebte Existenz vorhanden sein müsste, erreicht den Kaufmannssohn ein Brief. Dieser läutet sowohl den zweiten Teil der Erzählung als auch den Niedergang des Kaufmannssohnes ein. Hervorzuheben ist besonders die Unsigniertheit des Briefes und die damit im Dunkeln verbleibende Identität des Verfassers; außerdem wird das dem Protagonisten vorgeworfene Verbrechen nicht näher definiert. Diese Anonymität könnte auf das an die Oberfläche drängende Unterbewusstsein des Kaufmannssohnes deuten, wie es unter anderem Cohn und Rieckmann hervorheben:165 Tief in seinem Innern weiß der Kaufmannssohn um sein verfehltes Leben. Auch wenn er diese Erkenntnis stets verdrängte und vor ihr flüchtete, so begann das Unbewusste bereits im Landhaus in sein Bewusstsein zu drängen, wie unter 2.2.6. dargelegt wurde. In der Tat scheint der Brief den Erben nicht völlig aus dem Nichts zu erreichen, sondern er ist über das Eintreffen nur bedingt überrascht, der Brief beunruhigt ihn nur „einigermaßen“ (MN 215). Die Anonymität des Briefes verweist hierbei auf die Identitätslosigkeit des Protagonisten: Er ist unfähig, über sein eigenes Ich nachzudenken und ein von seinen Dienern unabhängiges Leben zu führen. In diesem Sinne sind die Anschuldigungen an den 164 Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 169. Vgl. hierzu Cohn, Dorrit: „Als Traum erzählt“: The Case for a Freudian Reading of Hofmannsthal’s Märchen der 672. Nacht. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54. 1980, S. 288-292. Cohn sieht die zwei Ursachen für das Verhalten des Protagonisten in dessen Kindheit angesiedelt: fehlende Vaterliebe sowie eine ödipale Liebe zu seiner Mutter. Vgl. auch: Rieckmann, Jens: Von der menschlichen Unzulänglichkeit, S. 298-300: Auch Jens Rieckmann sieht das Problem „von unbewussten inneren, anstatt von äußeren Faktoren determiniert“, allerdings ist seine Analyse auf das „problematische Verhältnis zwischen menschlicher und künstlerischer Existenz“ ausgerichtet, er liest Hofmannsthals Erzählung als Beweis für die von Keats definierte „Chamäleonnatur des Dichters“. 165 50 Diener auch Anschuldigungen an das eigene Subjekt, ist der Kaufmannssohn doch mit den Dienern „durch die Gewohnheit und andere geheime Mächte völlig zusammengewachsen“ (MN 216). So ist der Brief also zugleich Angriff und Urteil über die eigene Existenz. Der im Brief ausgedrückte Hass lässt zudem auf den Kaufmannssohn, respektive auf sein Unterbewusstsein, als Verfasser schließen: So wie der Kaufmannssohn am Ende seine Diener dafür verdammt, ihn in den Tod geführt zu haben, so hegt auch der „Unbekannte“ einen „heftigen Hass“ (MN 215) gegen den Diener und somit zugleich gegen sich selbst und sein eigenes Leben. Der Kaufmannssohn reagiert mit großer Angst auf den Brief und empfindet zugleich „zornige Erregung“. Die Anklage empfindet er als Anklage gegen seine ästhetizistische Lebensweise: „Es war ihm, als wenn man seinen innersten Besitz beleidigt und bedroht hätte und ihn zwingen wollte, aus sich selber zu fliehen und zu verleugnen, was ihm lieb war.“ (MN 216). Die Angst, die der Kaufmannssohn empfindet, ist die Angst vor dem Verlust seiner Kunstwelt. Er hat Angst davor, dass Objekte aus seinem konstruierten Ersatzuniversum entnommen werden und dieses somit gefährdet wird: „Er sah schon seine vier Diener aus seinem Hause gerissen und es kam ihm vor, als zöge sich lautlos der ganze Inhalt seines Lebens aus ihm […].“ (MN 216). Der Erbe erkennt zu diesem Zeitpunkt, welche Wichtigkeit materielle Güter für seine Lebensweise haben und „begr[eift]“ infolgedessen „zum ersten Mal […] die angstvolle Liebe, mit der sein Vater an dem hing, was er erworben hatte, an den Reichtümern seines gewölbten Warenhauses […]“ (MN 216). Auch wenn der Protagonist zu diesem Zeitpunkt beginnt, die Brüchigkeit seiner auf Besitztum und Erbe begründeten Scheinwelt zu begreifen, und sieht, „dass der große König der Vergangenheit hätte sterben müssen, wenn man ihm seine Länder genommen hätte“ (MN 216), ist er nicht bereit, seine Lebensweise zu hinterfragen oder gar zu ändern. „Sein ästhetisierender Lebensentwurf bricht“ nicht, wie Steinlein schreibt, „unter dem Druck der von dem anonymen Drohbrief mobilisierten diffusen Ängste zusammen“.166 Vielmehr gewinnt der Zorn über die Anschuldigung, die erhoben wird, die Oberhand über die Angst und der Kaufmannssohn bricht auf, um „diese Sache zur Ruhe zu bringen“ (MN 216). An einer Aufklärung des Verbrechens ist ihm nicht gelegen, diese käme nämlich einer Selbstverleumdung gleich: Nur indem er seine Kunstwelt zu ver166 Vgl. Steinlein, Rüdiger: Gefährliche „Passagen“, S. 58-59. 51 teidigen und zu erhalten sucht, kann er bestehen. Wiederum flüchtet der Protagonist also vor der beginnenden Einsicht in die Grenzen des Ästhetizismus. Mit diesem Entschluss aber besiegelt er seinen Untergang, da er sich mit dem Verlassen seines selbstkonstruierten Schutzbereiches und seiner einzigen Verbindung zum Leben, den Dienern, der Wirklichkeit hilflos ausliefert. Der Ästhet tritt somit den Weg zu seinem Tod an. Der zweite Teil führt laut Mauser exemplarisch vor, „was passiert, wenn es nicht gelingt, sich vom Primat des Schönen […] zu lösen.“167 2.4. Die Reaktion des Kaufmannssohnes Obwohl der Kaufmannssohn das Versagen materieller Güter als „lebensfüllende“ Maßnahme zu ahnen scheint, ist er nicht bereit, seine Lebensweise zu hinterfragen, sondern hält an seiner solipsistischen Einstellung fest168 und sucht seinen Schutzbereich zu verteidigen. Mauser dagegen vertritt meines Erachtens zu Unrecht eine divergierende Position und ist der Ansicht, dass der Kaufmannssohn sich der Prekarität seiner Lebensverhältnisse bewusst werde. Das Märchen sei als Experiment zu verstehen, welches die Frage aufwerfe, was geschehe, wenn der „Ästhet sehend werde“169. Dem Kaufmannssohn stelle sich „unerbittlich […] die Frage, wie es gelingen kann, sich aus einer Daseinsform zu lösen, die sich zu sehr im Genuss des Schönen eingerichtet hat.“170 Gerade dies aber versucht der Kaufmannssohn meines Erachtens nicht: Anstatt die, durch die Angst indizierte, einsetzende Erkenntnis zuzulassen, flüchtet er zunächst vor der beginnenden Erkenntnis in die Ecke des Gartens und bricht dann auf, um die Vorwürfe gegen seinen Diener – und somit gegen die ästhetizistische Lebensweise – zu entkräften. Er lässt demnach zu keinem Moment die aufkeimende, sich ihm gewissermaßen aufdrängende, Skepsis gegenüber seiner ästhetizistischen Lebensführung zu. Ziel Hofmannsthals sei es so Mauser weiter und hierbei ist ihm wiederum zuzustimmen zu verdeutlichen, was am Ästhetentum einem realitätsnahen, sittlichen Leben entgegenstehe. Mauser erkennt dem Märchen demnach eine moralische Dimension zu: Es sei eine Versuchsanordnung, die vorführe, dass der Held zwar aufbreche, um sich der Wirklichkeit zu stellen, dass ihm aber der 167 Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 169. Vgl. Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 151. 169 Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 164. 170 Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 163. 168 52 Weg in eine soziale Integration nicht gelinge, sondern er in narzisshafter Vereinzelung verharre. Der „Held“ trage keinen Namen, da er „Lebensmuster vergegenwärtig[e], die für eine kultursoziologisch beschreibbare Konstellation kennzeichnend“ seien.171 So wie der Ästhet die am Ende des ersten Teils des Märchens beginnende Erkenntnis nicht zulässt, sondern vor ihr flüchtet, so hat er von Beginn der Erzählung an aufkeimende Momente der Einsicht in die Grenzen seiner Lebensführung unterdrückt: Die ästhetische Betrachtung der schönen Gegenstände lässt den Kaufmannssohn kurz die „Nichtigkeit“ der Gegenstände erkennen (MN 209), während der Flucht in die Vergangenheit erkennt er kurz die Bedrohung der Reiter (MN 212) und bei der Flucht in den Garten erfährt er ebenso kurz die Begrenztheit dieses Gartens (MN 214), alle diese Momente verdrängt er jedoch stets sofort. Obgleich seine Verhaltensmuster also bereits in seiner eigens nach diesen Mustern errichteten Welt an ihre Grenzen gestoßen sind, wendet der Kaufmannssohn sie auf seiner Reise durch die Stadt stur in der wirklichen Welt an und tritt somit seine stufenweise Reise in den Tod an. Er wird im zweiten Teil des Märchens von Spiegelungen seiner alten Existenz Mauser referiert hierauf auch als „Kontrafaktur[en]“172 angezogen werden, wird durch die Stadt irren und seinem Tod unaufhaltsam entgegentaumeln. Seine Füße werden ihn „dahin tragen, wo er sterben soll“ (MN 209); allerdings wird der tatsächliche Sterbeort dem von ihm imaginierten Palast Alexanders des Großen diametral entgegengesetzt sein. Der Protagonist wird Raum- und Zeitorientierung verlieren173 und nach dem Zerfall seiner Bilderwelt und somit dem Zerfall seiner Welt überhaupt eines hässlichen, elenden Todes sterben, wodurch der Autor Kritik am Verhalten des Kaufmannssohnes übt, der an seiner rein ästhetizistischen Lebensweise festhält und das soziale Leben vollständig ausklammert. Schon der erste Schritt des Protagonisten ins wirkliche Leben zeigt die Grenzen seines verinnerlichten Fehlverhaltens auf. „Ohne ein Wort zu sagen“ und „allein“ (MN 217), jedwede Kooperation und jedweden menschlichen Kontakt ausschließend, begibt er sich in die Stadt, zum Haus des Gesandten des Königs von Persien. Hier muss er erkennen, dass ihm der von ihm hochstilisierte Orient hässlich und feindselig gegen171 Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 165. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 170. 173 Vgl. Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 151. 172 53 übertritt, dies in Person des Kochs und des Schreibers des Gesandten des Königs von Persien, die für den Narzissten nur „mürrische Antworten“ (MN 217) übrig haben. Alsdann muss der Protagonist erfahren, dass ihm seine Wohnung, seine künstlich errichtete Ersatzwelt also, verschlossen ist, und zwar endgültig, wie sich später herausstellen wird. Rieckmann sieht hierin die Folgen einer beginnenden Individuation, die die Künstlerexistenz bedroht, da sie den Künstler aus der Präexistenz und somit der mystischen Einheit zwischen Ich und Welt reißt.174 Frye hebt hervor, dass „die Macht des hässlich Bedrohlichen“ allmählich „die Oberhand gewinn[e]“ und „das Verschönerungsvermögen“ des Kaufmannssohnes ausschalte, der „die Herstellung einer verschönerten Bilderwelt [nicht mehr kontrolliere].“175 Noch hat der Kaufmannssohn jedoch nicht erkannt, dass ihn das sture Verteidigen seiner alten, ästhetizistischen, das reale Leben ausklammernden Lebensweise unweigerlich in den Tod führen wird. Er verlässt sich auf alte Strategien und flüchtet in Bereiche, die seiner alten Welt am nächsten kommen. Erste Station auf seinem Weg ist so ein mit Geld und Reichtum zu assoziierender Laden, ein Juwelierladen. Dieser zieht den Kaufmannssohn, welcher sein ästhetizistisches Ersatzuniversum mittels ererbten Geldes errichtet hat, magisch an, da er ihn an sein altes Leben erinnert: Die Kreuzung, in deren Nähe der Laden liegt, kommt ihm „traumhaft bekannt“ (MN 217) vor. Der Erbe verkennt hierbei aber die der Umgebung immanenten, seinen Tod bereits antizipierenden, Symbole: Die Blumen in den Fenstern sind „hässlich“ und „verstaubt“, das Bett des Flusses ist „trocken“ und von „tödlicher Traurigkeit“ (MN 217) und könnte bereits den versiegenden Lebensfluss des Kaufmannssohnes vorausdeuten. Der Schmuckladen erlaubt dem Kaufmannssohn nicht wie dieser es erwartet an seine alte Existenz anzuknüpfen, vielmehr suchen ihn im Laden Spiegelungen seiner Vergangenheit auf, die ihm zum Verhängnis werden. Zunächst erinnert ihn im Schaufenster ein gewissermaßen als Lockmittel fungierender „altmodische[r] Schmuck aus dünnem Gold, mit einem Beryll verziert“ (MN 218) an seine alte Dienerin und geleitet ihn in den Laden. Diese Erinnerung leitet dann eine zweite Erinnerung ein und zwar eine Erinnerung an die 18-Jährige. Wie schon im Garten des Landhauses tritt das 18-jährige Mädchen dem Protagonisten wiederum nur vermittelt 174 175 Vgl. Rieckmann, Jens: Von der menschlichen Unzulänglichkeit, S. 298-299. Vgl. Frye, Lawrence O.: Das Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 537-540. 54 entgegen, diesmal gar über zwei Spiegel: In einem Handspiegel spiegelt sich das Bild eines anderen Spiegels, aus welchem das Mädchen auf den Kaufmannssohn zukommt und in ihm einen flüchtigen Reiz auslöst. Bezeichnend dabei ist, dass der erste Spiegel „halb erblindet“ (MN 218) ist, was einerseits bedeutet, dass die direkte Konfrontation zu vermeiden trachtende Verschiebungstaktik des Protagonisten erneut an ihre Grenzen stößt: Das Leben lässt sich nicht verdrängen und der Protagonist muss wenn auch nur flüchtig den Reiz des Mädchens wahrnehmen. Andererseits steht die Blindheit des Spiegels aber auch stellvertretend für die Blindheit des Kaufmannssohnes, die ihn für jegliche warnenden Hinweise176 unempfänglich macht. Nur wenig später verschleiert die soziale Blindheit des Kaufmannssohnes diesem so die Warnung vor dem Hufschlag des Pferdes: „Er erwiderte, dass er sich als Sohn eines Kaufmannes nie mit Pferden abgegeben hatte.“ (MN 219). Den in ihm ausgelösten flüchtigen Reiz aber verdrängt der Erbe durch den Kauf eines solchen Kettchens und greift mit dem Kauf, und somit letztendlich dem Besitz, ein ihm bekanntes Verhaltens- und Bewältigungsmuster auf. Hierdurch klammert er erneut jeglichen Ansatz einer zwischenmenschlichen Empfindung aus. Dass der Protagonist nicht bereit ist, alte Verhaltensmuster abzulegen, wird ebenfalls deutlich, als er durch das Fenster des Juwelierladens einen „sehr schön gehaltenen Gemüsegarten“ (MN 219) erblickt, dessen Schönheit ihn unweigerlich anzieht. Er betritt den Garten und kann auch hier den Reizen des Schönen, den Anemonen und Narzissen, nicht widerstehen. Er lässt sich von diesen Blumen aus dem Garten ins erste Glashaus locken. Durch das Betreten des Gartens und des Glashauses wird deutlich, dass der Kaufmannssohn dem Ästhetentum nicht entsagen kann und sich von ästhetischen Erscheinungen unweigerlich angezogen fühlt: Er ist abhängig von den schönen Dingen, weil er sich an ihnen „sattsehen“ (MN 219) und somit seine innere Leere füllen kann. Kronauer betont in diesem Sinne, dass das Treibhaus dem Ästheten als „Regenerierungszentrum“177 erscheine; Köster führt an, dass das Glashaus eine „Fluchtburg“ für den Protagonisten darstelle. Beim Anblick der Blumen verfällt er dann auch sogleich in das bekannte kontemplative Verhaltensmuster: Er kann sich 176 Das „kindliche [Hervorhebung D.D.] und doch an einen Panzer [gemahnende] Kettchen“ (MN 218) könnte beispielsweise symbolisch das in den Schutzbereichen der Vergangenheit, der Kindheit und des Erbes verfangene Leben des Kaufmannssohnes verurteilen. 177 Kronauer, Brigitte: Die Dinge sind nicht unter sich!, S. 32. 55 „lange nicht sattsehen“. Die Narzissen(!) und Anemonen aber sind, neben ihrer Funktion der Repräsentation des Schönen, Zeichen des Todes 178 und deuten das auch durch Narzissmus(!) verschuldete Ende des Kaufmannssohnes voraus. Die „untergehende Sonne“ deutet ebenfalls das Ende seiner Tage an, ohne dass der Kaufmannssohn sich dessen bewusst ist, „ohne, dass er es beobachtet hatte“ (MN 220). Ins zweite Treibhaus wird der Protagonist erneut von einer Spiegelung aus dem ersten Teil des Märchens gelockt. Ein vierjähriges Mädchen, das ihn an die 15-Jährige erinnert, sieht ihn aus dem Glashaus „böse“ (MN 220) an. Obwohl er zunächst durch eine Scheibe vom Kind getrennt ist, ergreift ihn Entsetzen und eine „namenlose Furcht“ (MN 220). Die Furcht ist „namenlos“, weil der Protagonist einerseits offenbar unfähig ist, sich seinen Emotionen zu stellen, und weil er andererseits jeglichen menschlichen und sprachlichen Kontakt verweigert. Auch jetzt kann er die Sprache nicht zur Artikulierung und Bewältigung seiner Angst einsetzen, was jene Sprachkrise vorausdeuten könnte, die zahlreiche Akteure der Jahrhundertwende ergreift (vgl. auch Kapitel 5.). Der Kaufmannssohn versucht deswegen seiner Angst auf altbekannte Weise Herr zu werden: Zunächst sucht er seine Angst, wie er auch im Garten, durch Annäherung zu lindern. Diese Methode kann ihm aber auch hier nur kurzfristig Erleichterung verschaffen. Dann setzt er auf die scheinbare Macht des Geldes und gibt dem Kind „Silbermünzen“ (MN 221). Hieraufhin verschwindet das Kind zwar, allerdings nur, um den Kaufmannssohn einzuschließen, was abermals verdeutlicht, dass seine Rettung nunmehr unmöglich ist. Mit den Münzen hat der Ästhet unbewusst den Obolus, den Wegzoll zur Hölle, gezahlt.179 Der Kaufmannssohn muss feststellen, dass er sich durch die Schönheit der Blüten hat verführen lassen, eigentlich sind sie nämlich, „in ihrer Starre“, „lebendigen Blumen unähnlich“ (MN 222), genauso wie sein Leben dem wirklichen, aktiven Leben unähnlich ist. Seine Welt der schönen Bilder löst sich zusehends auf,180 die Formen der Pflanzen fangen an „sonderbar zu werden“ und „aus dem Halbdunkel“ treten dem Protagonisten „schwarze, sinnlos drohende Zweige unangenehm“ (MN 221) entgegen. 178 Brion, Marcel: Versuch einer Interpretation der Symbole im ‚Märchen der 672. Nacht’ von Hugo von Hofmannsthal. In: Schillemeit, Jost (Hrsg.): Deutsche Erzählungen von Wieland bis Kafka. Frankfurt am Main 1986, S. 292. 179 Vgl. Brion, Marcel: Versuch einer Interpretation der Symbole, S. 298. 180 Vgl. auch Frye, Lawrence O.: Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 538. 56 Die Reise durch die Stadt, von Anfang an eine Irrreise, wird ab diesem Zeitpunkt vollends zum ihn verschlingenden Strudel. Als er das zweite Glashaus verlässt, kann er die auf ihn einstürzenden Sinneseindrücke nicht mehr verarbeiten. Die reale Welt ist für ihn ungreifbar, die „glatten Eisenstäbe entwinden sich seinen Fingern“ (MN 223). Seine Scheinwelt bricht hinter ihm „gespenstisch zusammen“ (MN 222). Durch das die Scheinhaftigkeit des Ersatzuniversums entlarvende Ende wird die Erzählung zum Urteil über die ästhetizistische Existenz: „Das Zerbrechen einer in symbolischästhetisierenden Bildern fixierten Wirklichkeit wird radikal thematisiert, dieses Zerbrechen selbst“ wird, so Köster, „als entwickelte Symbolik zum konsequenten Sinnbild des verfehlten Lebens erhoben“181. In seiner Verzweiflung erscheint dem Kaufmannssohn ein „Viereck dunkler Linien“ (MN 222), ihn an die Ordnung seines Gartens erinnernd, als Ausweg. Doch wie alles, was ihm an Spiegelungen seiner alten Welt entgegentritt, muss auch diese Tür notwendig ein weiterer Schritt Richtung Tod sein. Der Erbe hat sein Leben nicht gelebt, hat sich einen Lebens- und Sterbeentwurf konstruiert, folglich können diese konstruierten Lebensmuster in einer realen Welt keine Früchte tragen. Sämtliche Attribute seiner heilen, abgeschiedenen Gebirgswelt, mittels Erbschaft luftschlossartig erbaut, wenden sich während seines Irrens durch die Stadt gegen ihn. Die verdrängten Lebensbereiche bedrängen ihn von allen Seiten und offenbaren seine Verfehlungen. Die vom Kaufmannssohn imaginierte Brücke zum Palast Alexanders wird so zur „Enterbrücke“ (MN 222), seinem Reichtum stellt sich die Armut der Stadtbewohner entgegen, dem angenehmen Duft des Gartens der Gestank der Stadt, der Ordnung das unberechenbare Chaos des Lebens. Das reale Leben stellt sich seiner ästhetizistisch errichteten Scheinwelt entgegen und entlarvt konsequent seine ästhetizistischen Imaginationsgebilde. Die imaginierte Vergangenheit muss sich der Gegenwart stellen: Der Kaufmannssohn erreicht nicht den Palast Alexanders, sondern die hässliche, dunkle Welt der Kaserne. Auf dem Irrweg durch das vom Kaufmannssohn ausgeklammerte reale Leben, symbolisiert durch sein Wirren durch die Stadt, werden demnach seine Bewältigungsstrategien nach und nach demontiert, bis der Erbe schließlich dem Tod unmittelbar ge181 Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 148. 57 genübersteht, bis das von ihm verdrängte Leben grausame Rache übt. Hieraufhin ergreift den Kaufmannssohn endgültig die Angst, er spürt den nahenden Tod. Die Tür, die ihm als Ausweg aus dem Triebhaus erscheint, „öffnet sich gegen [Hervorhebung D.D.] ihn“ (MN 223), wie auch das Leben sich „gegen“ ihn durchsetzen wird. Den Kaufmannssohn überkommt nun eine finale „Mutlosigkeit“, eine „innere Müdigkeit“. Er wirft seinen „zitternden Körper auf den harten Boden“ (MN 223), auf den Boden der Tatsachen also. Dem lebensnahen Tod kann er nicht entkommen. Der an das leichte Leben Gewöhnte ist den Anstrengungen des realen Lebens nicht gewachsen, ihm fehlen sowohl der notwendige Wille zur Bewältigung der Anstrengungen wie auch die entsprechenden Bewältigungsmuster. Der den Kaufmannssohn ergreifende Hass beinhaltet zugleich ein Moment der Kapitulation und ein Moment des Aufbäumens: „Er konnte sich nicht freuen; ohne sich umzusehen, mit einem dumpfen Gefühle, wie Hass gegen die Sinnlosigkeit dieser Qualen, ging er in eines der Häuser“ (MN 223). Der Hass kommt gewissermaßen einem letzten Auflehnen des Kaufmannssohnes vor dem Tod gleich: Außer Hass vermag er der Dominanz des Lebens nichts entgegenzusetzen und so wird auch sein Tod vom Hass und der Hässlichkeit bestimmt sein. „Indem der Erzähler den Aufbruch imaginiert und den Protagonisten zugleich in eine tödliche Aporie führt, inszeniert er auf drastische Weise die Desillusionierung des ‚Ästhetizismus‘ als Lebensform. Hier liegt die Rechtfertigung zweier Aufbrüche, die die Erzählung eindrucksvoll darstellt“182, so Mauser in Bezug auf das „tödliche“ Ende des Märchens. Der Leser soll hierdurch ex negativo erkennen, was das wirkliche Leben ausmacht. 2.5. Der Tod des Kaufmannssohnes Der hässliche Tod des Ästheten ist also notwendige Folge eines ebenso hässlichen Lebens. Der narzisstische Lebensentwurf des Kaufmannssohnes ist gescheitert: Er hat erfahren müssen, dass ein Leben ohne Gegenwart und ohne menschlichen und sprachlichen Kontakt so viele Lebenskomponenten ausschließt, dass ein Weiterleben unmöglich ist. Weder Ästhetentum, noch Geld, noch Narzissmus sind geeignet, solche „Lebenslücken“ zu füllen. Kurz vor seiner Agonie tritt das existentielle Fehlverhalten 182 Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 171. 58 des Ästheten ein letztes Mal in aller Deutlichkeit hervor: Als er sich den Kasernen nähert, versteht er das Leid der Soldaten nicht. Er sieht die Qualen ihres arbeitsreichen Lebens nicht, sondern sehnt sich „mit einer kindischen Sehnsucht“ und in der für ihn charakteristischen Selbstzentriertheit nach der „Schönheit seines eigenen breiten Bettes“ sowie nach den „Betten [von Gold]“ und „[von Silber] […], die der große König der Vergangenheit für sich und seine Gefährten errichtet hatte“ (MN 223-224). Der Kaufmannssohn sehnt sich also nach der Ruhe seines mittels Ererbtem konstruierten Ersatzuniversums. Zwar empfindet er beim Anblick des Mannes, welcher die Hufe des ihn später tötenden Pferdes säubert, zum ersten Mal innerhalb der Erzählung Mitleid gegenüber einem seiner Mitmenschen, dies ist jedoch keinesfalls als Lernprozess zu werten. Vielmehr ist es in erster Linie Selbstbemitleidung angesichts seiner eigenen Verbitterung. Zudem verfällt der Erbe ein letztes Mal in alte Verhaltensmuster, wenn er das beobachtete Leid durch Geld aufwiegen will. Er sucht zunächst erfolglos in seiner Tasche nach Silber- oder Goldmünzen und wirft dem Pferd anschließend den in Seidenpapier eingewickelten Beryll unter die Füße. „In diesem Augenblick“ (MN 225) endet die Geduld des Lebens mit dem Kaufmannssohn. Das Pferd mit „rollenden Augen, […] boshaf[t] und wil[d]“ (MN 225), hat ihn im Visier. Alle sonst verfügbaren Distanzierungsmittel sind nicht mehr verfügbar Erinnerung und Geld versagen ihre Dienste, Kunst und Spiegel sind nicht vorhanden und das unverschönte Leben schlägt „mit aller Kraft“ (MN 226) zu. Dieses Scheitern des Protagonisten, dem es mehrmals die Sprache verschlägt, und somit das Scheitern der Kunst als absolutes und einziges Wahrnehmungsmedium der Wirklichkeit könnte Hofmannsthals eigene Sprachkrise vorausdeuten. Der Frage, inwiefern sich die bevorstehende Sprachkrise in den drei untersuchten Werken bereits andeutet, wird zusammenfassend unter Punkt 5. nachgegangen werden. Unmittelbar mit dem Leben konfrontiert, hat der Ästhet diesem nichts entgegenzusetzen: Er steht dem unästhetisierbaren Tod unvermittelt gegenüber und muss sich zum ersten und zugleich letzten Mal mit der Realität auseinandersetzen, wobei er auf elendigste Weise scheitert. Auf seinem Weg durch die Stadt versagen sämtliche kompensatorischen Verhaltensmuster. Nach dem Hufschlag des Pferdes stirbt der Kaufmannssohn, Blut und Galle spuckend, „mit verzerrten Zügen, die Lippen so verrissen, dass Zähne und Zahnfleisch entblößt waren und ihm einen 59 fremden, bösen Ausdruck gaben“ (MN 227).183 Paradoxerweise ist es somit erst während seines Todeskampfes, dass der Kaufmannssohn zum ersten Mal überhaupt, und unvermittelt, am Leben teilnimmt und die eigene Angst als etwas Überwundenes fühlt. Zu diesem Zeitpunkt scheint er seine Lebensführung zum ersten Mal zu hinterfragen: Mit einer großen Bitterkeit starrte er in sein Leben zurück und verleugnete alles, was ihm lieb gewesen war. Er hasste seinen vorzeitigen Tod so sehr, dass er sein Leben hasste, weil [Hervorhebung D.D.] es ihn dahin geführt hatte. (MN 227) Festzuhalten ist in dem Sinne, dass der hässliche Tod des Kaufmannssohnes unweigerliche Konsequenz eines ungelebten Lebens, einer in allen Bereichen gescheiterten Lebensführung ist. Soziales Miteinander, Nachdenken über seine tatsächliche Lebenslage und sein eigenes Ich, Gefühle sowie die Teilnahme am aktiven Leben lehnt der Kaufmannssohn zugunsten einer narzisstisch geprägten und an einer ästhetisierten Kunstwelt verhafteten Existenz ab. In nachgerade einfachster Weise bringt es Köster präzise auf den Punkt: „Wer so lebt, wie der Kaufmannssohn, der muss sterben, ohne je gelebt zu haben“.184 Er merkt weiter an, dass „die dualistische Problematik zwischen wahrem und verlebtem Leben [in keiner anderen Erzählung Hofmannsthals] in ihrer Symbolik derart offensichtlich und stringent ausgeleuchtet“ werde. Dies führe dazu, dass „die Erzählung zur modern gefassten Parabel, fast schon zum Lehrstück eines ungelebten Lebens“185 werde. Wie später in Bezug auf die Protagonisten aus Der Tor und der Tod und Der einsame Weg exponiert werden wird, so wird auch im Märchen der 672. Nacht ein Beispiel ex negativo der ästhetizistischen Existenz gezeichnet, mittels dem das Defizitäre dieser Lebensführung zugleich verbildlicht und verurteilt werden soll. Das Märchen wird hierdurch gleichsam zur „AntiBildungserzählun[g]“, wie Kimmich anmerkt: Der Held des Märchens durchläuft, im Gegensatz zum Helden des Bildungsromans, keine gelingende Entwicklung, sondern seine Biographie ist „durch Ziellosigkeit, Ich-Spaltung und impressionistischen 183 Vgl. Anz, Thomas: Der schöne und der hässliche Tod, S. 423: In der Darstellung des Todes und des tierartig verzerrten Gesichtes des Kaufmannssohnes während des Todeskampfes inspirierte sich Hofmannsthal an Baudelaires Gedicht Une Charogne. Dessen Schilderung eines verwesenden, stinkenden, von Aasfliegen umschwirrten Körpers ist wegweisend für viele Todesdarstellungen der Moderne, wie Anz bemerkt, und deutet zugleich die Endlichkeit des Schönen an: Baudelaire unterstreicht in aller Drastik, dass auch die Geliebte des lyrischen Ich - zu dem Zeitpunkt des Betrachtens des Kadavers noch jung und schön - wie der geschilderte Kadaver jämmerlich verfaulen wird. 184 Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 157. 185 Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 147. 60 Selbstverlust geprägt“ und endet, „ohne sich als Ganzheit abzurunden […], in einem plötzlich und frühzeitig eintretenden Tod“186. 186 Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 71. 61 62 3. Hugo von Hofmannsthal: Der Tor und der Tod Hofmannsthals lyrischer Einakter Der Tor und der Tod erscheint 1893 und wird 1898 im Theater am Gärtnerplatz in München uraufgeführt. Bevor näher auf die Gattungsspezifitäten von Hofmannsthals Drama eingegangen wird, soll ein kurzer Überblick über die Handlung des Stückes gegeben werden. 3.1. Zusammenfassung des Werkes Der Protagonist des lyrischen Einakters, Claudio, führt in seinem mit Altertümern, Kunstgegenständen und alten Bildern museal ausgestatteten Landhaus ein abgeschiedenes Leben und widmet sich der Betrachtung schöner Kunstgegenstände. Handlungsort des Dramas ist Claudios im Empiregeschmack eingerichtetes Studierzimmer. Der alternde Ästhet sitzt hier am Fenster und denkt über sein Leben nach, wobei er eine gewisse Skepsis gegenüber seiner bisherigen Lebensführung hegt. So bedauert er, als er durch das Fenster die auf „weiten Halden“187 arbeitenden Bauern betrachtet, nicht am einfachen Leben teilgenommen zu haben und beklagt, es sei ihm, in seiner „Rumpelkammer voller totem Tand“, nie gelungen, sich mit dem wirklichen Leben zu „verweben“, er habe sich vielmehr stets „an Künstliches verloren“ (TT 450). Kurz nachdem ihn sein Diener gewarnt hat, im Garten würden unheimliche Gestalten umherschleichen, ertönt eine Geigenmelodie, die Claudio seltsam berührt. Unmittelbar darauf tritt der Geiger, der Tod, in Erscheinung, und stellt sich als „großer Gott der Seele“ (TT 454) vor. Er fungiert fortan als Lebenslehrer Claudios. Der Tod lässt, ganz in der Tradition des Reigens, des Totentanzes, drei verstorbene Bezugspersonen Claudios auftreten: Claudios Mutter, Claudios ehemalige Geliebte sowie einen ehemaligen Freund, die alle seine Lebensführung und seine Gefühlskälte anklagen. Im Angesicht der Toten scheint der Ästhet sich seiner Verfehlungen bewusst zu werden und beteuert, sich ändern zu wollen. Als der Tod Claudio jedoch keinen Aufschub gewähren will und ihm vorhält, er habe die Möglichkeit zum Leben wie alle anderen Menschen gehabt, diese aber nicht genutzt, verfällt Claudio in alte Verhaltensmuster. Der Ästhet verklärt das Erscheinen des Todes und setzt an, den Tod zum Leben um- 187 Hofmannsthal, Hugo von: Der Tor und der Tod. In: Wunberg, Gotthart (Hrsg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 2000, S. 446. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mittels der Abkürzung TT und unter Angabe der Seitenzahl zitiert. 63 deuten zu wollen: „Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!“ (TT 463). Hieraufhin stirbt Claudio und der personifizierte Tod verlässt die Bühne.188 Exkurs: Forschungsüberblick Zu Hofmannsthals Drama sind viele Publikationen erschienen, im Folgenden sollen die zentralen Aufsätze kurz zusammengefasst werden. Seeba legt eine umfassende Analyse des Einakters vor, wobei er insbesondere auf die im Werk Hofmannsthals enthaltene Ästhetizismuskritik eingeht. Er berücksichtigt hierbei die Entwicklung der Sicht Hofmannsthals auf den Ästhetizismus und beschreibt, dass dieser der ästhetizistischen Wahrnehmung der Wirklichkeit zunehmend kritisch gegenüberstehe und mit dem Drama letztendlich ein Urteil über die Lebensform fälle. Seeba untersucht zunächst die Figur Claudio, um alsdann nachzuweisen, dass der Protagonist „de[m] reduzierten Typus des ästhetischen Menschen“ zuzurechnen sei, an dem Hofmannsthal „das Programm der sozialen Interaktion“ exemplifiziere.189 Matussek sieht das Drama als dichterische Frühform des Geistraumes, den Hofmannsthal später in seiner Schrifttumsrede exponieren wird. Im Einakter führe Hofmannsthal die Reanimation dieses abgestorbenen Gedächtnisraumes mit Hilfe der Dynamik intertextueller Reminiszenzen herbei. Aus Matusseks Sicht exponiert das Stück zudem den Fin-de-siècle-Typus des Ästheten, der den Kontakt zum Leben verloren hat und sich „in der heterotopischen Weite seines Bücherkosmos nach gefühlten Bindungen und erspürten Begrenzungen“ sehnt. Das Drama spiegele somit „das Lebensgefühl“ von Hofmannsthals Gegenwart.190 Szondi und Alewyn untersuchen ebenfalls die zentrale Ästhetenfigur des Einakters. Sie kommen zum Schluss, dass Hofmannsthal in seinem Drama ebenjenen Ästhetentypus kritisch beleuchte, indem er ihn zum Tode verurteile. Vinçon seinerseits konzentriert sich auf die Form des Einakters und führt aus, dass diese Form sich besonders dazu eigne, Seelenvorgänge darzulegen. Die Offenlegung der Seelenzustände lasse das Werk Der 188 Vgl. auch Mayer, Mathias: Der Thor und der Tod. In: Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers neues Literaturlexikon. Band 7. München 1990, S. 1015. 189 Vgl. Seeba, Hinrich C.: Kritik des ästhetischen Menschen. Hermeneutik und Moral in Hofmannsthals Der Tor und der Tod. Bad Homburg 1970, S. 91. 190 Vgl. Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz: Die Reanimation des Gedächtnisraums in Hofmannsthals Drama Der Tor und der Tod. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 7 (1999), S. 202-204. 64 Tor und der Tod zu einer „zeitpsychologischen Studie“ werden. Vogel geht ebenfalls auf die Form des Dramas ein191 und legt dar, dass der Hofmannsthalsche Protagonist dem klassischen, aristotelischen Helden diametral entgegengesetzt sei, keine konsistente Identität aufweise und somit keine Entwicklung im dramatischen Geschehen erleben könne, sondern lediglich die „Tatenarmut“ und „Gedankenschwere“192 der ästhetischen Existenz verkörpere. Hofmannsthals 1893 erschienener Einakter gehört der Gattung des lyrischen Dramas an und behandelt, „wie allen frühen Einakter Hofmannsthals, [exemplarisch] das Problem des ästhetischen Lebens“193. Im Folgenden soll kurz auf die Besonderheiten dieser Form eingegangen werden, da sie eng mit der Wirkungsabsicht des Dramas verbunden ist: Die Wahl der Dramenform spiegelt Hofmannsthals Intention, die ästhetische Lebensführung kritisch zu hinterfragen, um sie anschließend zu negieren. Kennzeichnend für das lyrische Drama des Fin-de-siècle ist nämlich, dass es im „kurzen Moment vor dem Tod“ spielt und die Entwicklung der Handlung hierdurch ins Innere (der Personen) verlegt wird.194 Anders als in der klassischen Tragödie interessiert nur der kurze Zeitraum zwischen Leben und Tod, so Leiß: „Die Situation kann auf Handlung verzichten und kann stattdessen Gefühlsregungen, Impressionen des inneren Lebens gestalten, denen das lyrische Element besonders angemessen ist.“195 Die Kürze des lyrischen Einakters bedingt so zum einen die Konzentration der Handlung auf einen kurzen Lebensabschnitt des Protagonisten, in Hofmannsthals Drama das Lebensende Claudios: Rückblickend kann so konzentriert und zugleich reflexiv auf dessen Leben zurückgeblickt werden. Zum anderen bedingt die erwähnte Konzentration der Handlung auf das Lebensende Claudios die Verdichtung der 191 Vogel, Juliane: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen. In: Piechotta, Hans J. (Hrsg.): Die literarische Moderne in Europa. Bd. 2: Formationen der literarischen Avantgarde. Opladen 1994, S. 288: Sie hebt hervor, dass - für Hofmannsthal wie auch für Schnitzler – alte Gattungsnormen keine „normierende Gewalt“ mehr ausüben, sondern sie ästhetische Reize bieten. Die Autoren würden sich verschiedenster Elemente der tradierten Gattungspoetik bedienen und ein „unverbindliches Spiel mit vergangenen Elementen“ betreiben. An Hofmannsthals Einakter Der Tor und der Tod, welcher Elemente der Komödie, des Reigen, der Moralität und des „proverbe tragique“ vereine und in welchem der „Eklektismus des Genres zu höchster Raffinesse“ gedeihe, lasse sich, so Vogel, der „multiple Anspielungscharakter der gewählten Formen“ nachweisen. 192 Vgl. Vogel, Juliane: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen, S. 289-291. 193 Vogel, Juliane: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen, S. 288. 194 Szondi, Peter: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Frankfurt am Main 1975, S. 19-21. 195 Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 221. 65 Empfindungen des Ästheten und die Offenlegung seiner Seelenzustände, so dass eine Reflexion in Bezug auf seine bisherige Lebensführung geradezu herausgefordert wird. Peter Szondi verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass lyrische Dramen vorwiegend in „Epochen gesteigerter Empfindsamkeit“196 entstünden, in welchen sich das Drama den klassischen Dramenformen weniger unterwerfe.197 Die Form des Einakters habe zu Beginn der Moderne einen bedeutenden Aufschwung erfahren, erlaube sie es doch, wie August Strindberg bereits 1895 unterstreicht, den „Kampf der Seelen“ offenzulegen und somit die „Entdeckungen der modernen Psychologie“ dramaturgisch darzustellen.198 Szondis und Leiß‘ Feststellungen treffen präzise auf Hofmannsthals lyrisches Drama Der Tor und der Tod zu. Die Entstehungszeit des Dramas, die Jahrhundertwende, kann erstens insofern als eine solche Epoche gesteigerter Empfindsamkeit angesehen werden, als innerhalb dieses Zeitraumes die Erforschung der Psyche einen Aufschwung erfährt und die Seelenzustände der Menschen in den Fokus rücken. Zweitens wird in Hofmannsthals lyrischem Drama die Handlung ins Innere des weltabgewandt lebenden Ästheten verlegt. Dessen innere Entwicklung wird insofern dargelegt, als Claudio im kurzen Moment vor seinem Tod eine gewisse Einsicht in die Grenzen seines Ästhetentums erlangt. Die Wahl der Dramenform und die für diese Form typische Konzentration der Handlung auf das Lebensende Claudios verlangt, dass der Fokus im lyrischen Einakter Der Tor und der Tod stärker als in der Erzählung des Märchens der 672. Nacht auf die Reflexion des Protagonisten gelegt wird. Darüber hinaus bedingt die Erzählform des Dramas eine umfassendere Einsicht in das Innenleben des Protagonisten als das in Prosa verfasste Märchen: Der Eingangsmonolog Claudios erlaubt eine stärkere Introspektion in das Innenleben des Protagonisten als sie der auktoriale Erzähler im Märchen der 672. Nacht vermitteln kann. Die Reflexion des Protagonisten in Bezug auf seine Lebensführung ist so von Beginn an explizit, wobei der Eingangsmonolog 196 Reallexikon der deutschen Literatur, S. 252. Berlin 1965. Vgl. Szondi, Peter: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Frankfurt am Main 1975, S. 19-21: Als Beispiele solcher Epochen führt Szondi den Sturm und Drang, die Romantik oder das Ende des 19. Jahrhunderts an und verweist unter anderem auf Gerstenbergs Ugolino. 198 Vgl. auch Vinçon, Hartmut: Einakter und kleine Dramen. In: Mix, York-Gothart (Hrsg.): Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 7. München 2000, S. 368. 197 66 des Ästheten Claudio zugleich Expositions- sowie Reflexionscharakter aufweist.199 Im Eingangsmonolog wird Claudios ästhetizistische Lebensführung exponiert und es ist eine Reflexion Claudios in Bezug auf sein bisheriges Leben zu verzeichnen. 3.2. Die Lebensunzulänglichkeit Claudios Die Lebensunzulänglichkeit Claudios wird zunächst im Eingangsmonolog exponiert, bevor sie durch die später auftretenden, anklagenden Figuren erneut aufgegriffen wird. Sie manifestiert sich, wie die Lebensunzulänglichkeit des Kaufmannssohnes, auf vier Ebenen: Claudio wird als ein in der Vergangenheit und in seiner sorgsam errichteten Kunstwelt verhafteter, bindungsunfähiger und außerhalb der Gesellschaft lebender Ästhet präsentiert und ist, so Leiß, als Typus zu verstehen. Seine Charaktereigenschaften werden nicht näher bestimmt, sondern Claudio vertritt eine ganz bestimmte Lebensform: „Materielle Unabhängigkeit, verfeinerter Kunstgeschmack, aber auch Isolation (abgeschlossener Garten!) bestimmen seine Eigenart“200 und charakterisieren ihn als Typus des Ästheten der Jahrhundertwende. 3.2.1. Rückzug aus dem sozialen Leben Eine erste Parallele zwischen dem Kaufmannssohn und Claudio besteht im Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben. Beide ziehen sich, nur von Dienern begleitet, in ihre Landhäuser mit weitläufigen Gartenanlagen zurück. Sie flüchten in eine Ersatzwirklichkeit, in denen sie den Gesetzmäßigkeiten des alltäglichen Lebens auszuweichen glauben. Teilnahme am sozialen Leben findet nur noch aus der, für den Ästheten typischen, kontemplativen Distanz statt: Claudio, dessen Landhaus durch ein Tal von der Stadt abgetrennt scheint, beobachtet so das Leben der einfachen Leute auf der gegenüberliegenden Talseite. Auffallend ist, dass er, trotz seines eigenen sozialen Rückzugs, eine Idylle in Bezug auf das Leben der einfachen Leute konstruiert. Diese Idyllenkonstruktion in Bezug auf das Landleben kann erstens als Zeichen der sozialen Entrücktheit des Ästheten gesehen werden, der nicht um die Schwere der zu verrichtenden Arbeiten zu wissen scheint. Zweitens scheint sie Surrogatfunktion für 199 Vgl. auch Seeba, Hinrich C.: Kritik des ästhetischen Menschen, S. 82 f., der das Drama in drei Stufen unterteilt, die Claudios Entwicklung darlegen: eine Reflexionsstufe, eine Argumentationsstufe und eine Demonstrationsstufe. 200 Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 221. 67 den Ästheten zu haben, der so mittels der Imaginationsgebilde augenblickhaft am „normalen“ Leben teilhaben kann. Als er abends am Fenster sitzend die „weiten Halden“ beobachtet, zeichnet er ein idyllisches Bild von Menschen, die im Einklang mit ihrer Arbeit und der sie umgebenden Natur zu leben und aus diesem Einklang ihr Lebensglück und ihre Zufriedenheit zu ziehen scheinen: Wie nah sind meiner Sehnsucht die gerückt, Die dort auf weiten Halden einsam wohnen Und denen Güter, mit der Hand gepflückt, Die gute Mattigkeit der Glieder lohnen. Der wundervolle wilde Morgenwind, […] Der weckt sie auf; die wilden Bienen sind Um sie und Gottes helle, heiße Luft. Es gab Natur sich ihnen zum Geschäfte In allen ihren Wünschen quillt Natur, Im Wechselspiel der frisch und müden Kräfte Wird ihnen jedes warmen Glückes Spur. (TT 446) In gleichem Maße wie Claudio das Landleben in seinem Eingangsmonolog stilisiert, idealisiert er das Stadtleben. Indem er die seinem Landhaus gegenüberliegenden Städte, die „mit Najadenarmen […] in hohen Schiffen ihre Kinder wiegen“ (TT 446) die also eine personale Beziehung zu ihren Einwohnern aufgebaut zu haben und gleichermaßen als deren Mütter zu fungieren scheinen personifiziert, evoziert er ein von diesen Städten ausgehendes Gefühl der Geborgenheit. Dieses Gefühl kann aber mitnichten als Wunsch der Zugehörigkeit Claudios der sich bewusst aufgrund seiner Lebensunzulänglichkeit aus dieser Stadtgesellschaft zurückgezogen hat zu ebenjener Gesellschaft interpretiert werden. Der Protagonist scheint vielmehr zu versuchen, dieses Geborgenheitsgefühl mittels seiner Imaginationskraft aus der kontemplativen Distanz heraus zu generieren, um so indirekt und augenblickhaft an dem heraufbeschworenen idyllischen Lebensgefühl teilnehmen zu können. Nähe kann für Claudio „nur imaginativ existieren“201, so Grundmann. Da der Ästhet der direkten Teilnahme am sozialen Leben unfähig ist, versucht er dieses Gefühl der Einheit und der Lebensfülle aus der Distanz zu erschaffen, um so die eigene Lebensleere zu kompensieren. Ähnlich sieht dies Seeba, der festhält, dass die auf dem gegenüberliegenden Hügel vorgestellten Menschen „nur visionäre Projektionen“ von Claudios Lebenssehnsucht seien.202 Claudio, der vielfach mit Faust verglichen wurde,203 reiht sich mit diesem 201 Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘: Hermeneutik des Erinnerns bei Hugo von Hofmannsthal. Würzburg 2002, S. 82. 202 Seeba, Hinrich C.: Kritik des ästhetischen Menschen, S. 88. 68 Verhalten in das Verhalten seines literarischen Vorgängers ein: Auch Faust nimmt während seines Osterspazierganges und in Bezug auf Philemon und Baucis eine Stilisierung des einfachen Lebens vor204, um so ein seit der Kindheit verloren gegangenes Alleinheitsgefühl zu generieren. Dass dieses evozierte Gefühl aber gegenüber der Wirklichkeit nicht bestehen und nur somit ephemer sein kann, wird einige Verse später deutlich: Claudio muss eingestehen, dass „alles öd verletzender und trüber [wird]“, sobald sein „Blick dem Nahen näher gleitet, (TT 446) und dass sich ihm sein „versäumtes Leben“ (TT 446) infolgedessen erneut offenbart. Direkte Teilnahme am Leben kann nicht durch indirekte Kontemplation erreicht werden, das Imaginationsgebilde Claudios bricht notwendig zusammen. Hinzu kommt, dass literarische Assoziationen Claudio den direkten, unmittelbaren Zugang zum einfachen, schlichten Leben verstellen, wie Matussek nachweist: Wie auch während der Betrachtung der Natur (vgl. Punkt 3.2.4), spricht Claudio, als er das Leben der einfachen Menschen in ihren schlichten Behausungen betrachtet, nur „einen vorformulierten Gedanken aus, diesmal von Kierkegaard“. Wie in Bezug auf die Natur, versperren ihm auch in Bezug auf seine Mitmenschen kunsthistorische und literarische Assoziationen den direkten Zugang zum Leben.205 3.2.2. Zwischenmenschliche Kontakte Neben seinem Rückzug aus der Gesellschaft ist Claudios Bindungsunfähigkeit eine Komponente seiner Lebensunzulänglichkeit. Wie vielfach in der Forschungsliteratur hervorgehoben, verdrängt das das Leben des Ästheten bestimmende Primat der Schönheit andere Lebensbereiche, wie den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, völlig. Der Ästhet zieht sich, ähnlich wie der Kaufmannssohn, in eine selbstgewählte soziale Isolation zurück und ist unfähig, emotionale Bindungen zu Mitmenschen einzugehen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass die erste den Protagonisten Claudio betreffende Regieanweisung „allein“ lautet. Hiermit wird 203 Vgl. u.a. Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S: 214-218. Vgl. auch Alewyn, Richard: Der Tod des Ästheten. Über Hofmannsthals Der Tor und der Tod. In: Schillemeit, Jost (Hrsg.): Deutsche Dramen von Gryphius bis Brecht, Frankfurt am Main 1976, S. 295. 204 Vgl. die Szenen Vor dem Tor sowie Offene Gegend in: Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Hrsg. von Erich Trunz, München 1986. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mit Hilfe der Abkürzung F und unter Angabe des Verses zitiert. 205 Vgl. Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 202-203. 69 der Lebensstil Claudios, der sich alleine(!) in sein Landhaus zurückgezogen hat, sogleich konzise umrissen. Ebenso aufschlussreich ist die Auflistung der dramatis personae. Auch diese unterstreicht, noch vor der eigentlichen Exposition des Ästheten, dass Claudio allen zwischenmenschlichen Beziehungen entsagt hat: Neben den Kammerdienern, die ihn in sein Landhaus begleitet haben, treten im Drama lediglich drei Verstorbene auf: Claudios Mutter, eine frühere Geliebte Claudios und ein Jugendfreund. Allen anderen zwischenmenschlichen Beziehungen hat der Ästhet zu Dramenbeginn bereits entsagt. Das Personenverzeichnis sowie die erste Claudio betreffende Regieanweisung legen somit bereits nahe, dass sich Claudio der „Zwischenmenschlichkeit und ihren Dialogen“ und somit dem anthropologischen Horizont des klassischen Dramas in gleichem Maße wie andere Ästhetenfiguren Hofmannsthals verweigert.206 Briese-Neumann führt dieses Ablehnen zwischenmenschlicher Beziehungen auf die Wahrnehmungsweise der Ästheten zurück: Die den ästhetizistischen Lebensstil prägende Wahrnehmungsform der subjektivierenden Kontemplation wird auch in Bezug auf die Mitmenschen angewendet. Diese werden hiermit von Subjekt- auf Objektrang degradiert, wodurch jegliche emotionale Bindung unterbunden wird. Diese Feststellung trifft präzise auf Claudio zu. Wenn Claudio, wie seine frühere Geliebte betont, sie so „achtlos grausam [fortgeworfen]“ (TT 460) hat, wie ein des Spielens müdes Kind Blumen fallen lässt, wenn der Freund Claudios ihn als „Ewigspielende[n]“ bezeichnet, der Frauen wie Puppen wegwarf, sobald er sich „sattgespielt“ (TT 461) hatte, so legt dies nahe, dass Claudio Mitmenschen stets auf Objektrang degradierte. Er hat nie eine Subjekt-Subjekt-Beziehung, sondern stets eine Subjekt-ObjektBeziehung zu ihnen aufgebaut. Dieses Verhalten wird durch die Briefe bestätigt, die Claudio in der Vergangenheit an die in der Mitte des Dramas als Figur der Anklage auftretende frühere Geliebte geschrieben hat. Diese Briefe erfüllen keinerlei kommunikative Funktion, sondern sind 206 Vogel, Juliane: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen, S. 290: Die Figuren würden, so Vogel, keinen Willen zur Handlung aufweisen. Sie seien nicht fähig, ihre Situation aus eigener Kraft zu verändern, sondern seien ganz im Augenblick verhaftet. Ihre Identität verschiebe sich infolgedessen von Moment zu Moment und sie verlören sich in der Kunst. Die „Vielfalt der Nervenreize“ ersetze die „Einheit der Person“. Hier zeige sich, so Vogel, auch Ernst Machs großer Einfluss auf die Literatur des Jungen Wiens. 70 als reines Zeugnis seiner Selbstbezogenheit zu werten. Sie unterstreichen, dass der Protagonist der zwischenmenschlichen Beziehungen unabdingbaren dialogischen Kommunikation nicht fähig ist, sondern rein monologisch spricht. Als Claudio dem Tod die Liebesbriefe vor die Füße wirft, analysiert er dieses Verhalten selbst präzise: „Da hast du dieses ganze Liebesleben, daraus nur ich und ich nur wiedertönte“ (TT 457). Der in der Verszeile enthaltene Chiasmus „nur ich und ich nur“ hebt die einseitige Fokussierung auf das eigene Ich in der zwischenmenschlichen Kommunikation hervor. Diese einseitige Fokussierung aber macht jegliche direkte Kommunikation mit seinen Mitmenschen unmöglich, die Sprache versagt aufgrund von Claudios selbstbezogener Sprechweise als Medium der Kommunikation. Claudios Ichbezogenheit und seine subjektivierte Wirklichkeitswahrnehmung, welche die ihn umgebenden Personen auf Objektrang degradiert, verhindern den Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen und bedingen die solipsistische Lebensweise des Protagonisten. Da die Darstellung der Bindungsunfähigkeit des Protagonisten Claudio eng mit der Anklage gegen diese Komponente der Lebensunzulänglichkeit und mit der Reflexion des Ästheten in Bezug auf diese Komponente verschränkt ist, wird diese Thematik unter den Punkten 3.3. und 3.4.1. genauer betrachtet werden. 3.2.3. Kunst Ähnlich wie Hofmannsthals Kaufmannssohn zieht sich auch Claudio aufgrund seiner Lebensunzulänglichkeit in ein selbstgeschaffenes ästhetizistisches Ersatzuniversum zurück. Dies verdeutlichen die den lyrischen Einakter einleitenden Regieanweisungen, die Claudio inmitten seines im Empirestil eingerichteten und mit antiken Kunstgegenständen vollgestellten Studierzimmers zeigen. Mit Altertümern gefüllte Glaskästen säumen das Zimmer, an der Wand steht eine „gotische, dunkle, geschnitzte Truhe“, über dieser hängen altertümliche Musikinstrumente sowie ein „fast schwarzgedunkeltes Bild eines italienischen Meisters“ (TT 445). Die die Einrichtung dominierende dunkle Farbsymbolik unterstreicht hierbei Claudios Lebensferne: Er nimmt nicht an der bunten Vielfalt des menschlichen Lebens teil, sondern hat sich einen auf die Vergangenheit ausgerichteten Rückzugsort geschaffen. Einzig die helle, fast weiße Tapete bringt Licht in den in dunklen Farben eingerichteten Raum. Stuckatur und Gold der Tapete verweisen aber wiederum auf den Empirestil und somit auf die an der Vergangenheit ausgerichtete Lebensweise Claudios. Die Inszenierung des Raums ist „Aus71 druck der Lebenshaltung des nicht näher beschriebenen Helden“,207 welcher sich ein mit Kunstgegenständen gefülltes Ersatzuniversum fernab der Gesellschaft konstituiert, um hierdurch dem Leben, dem er nicht gewachsen ist, zu entfliehen. Durch die kunstvolle Akkumulation von Gegenständen in seinem Zimmer suche Claudio, so Grundmann, die Absicherung gegen eine sich „chaotisch“ und ungeordnet gebärdende Realität; die sinnliche Welt solle „im hermetisch abgeschlossenen Kunstwerk der Perfektion“ angenähert werden.208 Er ist somit jenen Jünglingen der Jahrhundertwende zuzurechnen, die den sich an der Schwelle der Moderne vollziehenden gesellschaftlichen Entwicklungen nicht gewachsen sind und die infolgedessen in ästhetizistischen Ersatzwelten Zuflucht suchen. Ebendiese Beschränkung auf Kunstgegenstände unter gleichzeitigem Ausklammern jeglicher zwischenmenschlicher Beziehungen aber kann die innere Leere der Jünglinge der Jahrhundertwende nicht kompensieren. Das Leben selbst entleert sich vielmehr infolge dieser ästhetizistischen Lebenseinstellung zu einer Sammlung von Gegenständen, wie Grundmann treffend anmerkt.209 Auffällig ist, dass der Raumkonstitution bereits eine gewisse Ambivalenz immanent ist, die proleptisch darauf verweist, dass die selbstgewählte Abgeschiedenheit des Protagonisten kritisch beleuchtet werden soll. Die einleitenden Regieanweisungen vermitteln den Eindruck der Abgeschlossenheit des Raumes: Das Studierzimmer ist nach zwei Seiten von weißen Flügeltüren, von denen eine zusätzlich durch einen schweren Samtvorhang verhängt ist, begrenzt. Einzig die Fenster bieten einen Blick in die Weite der Natur, sodass der Eindruck erweckt wird, Claudio sei in seinem Studierzimmer gewissermaßen gefangen. Matussek hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass Claudio, dessen Name vom lateinischen „claudere“ hergeleitet sei, sich in einer – seinem Namen gemäßen – „wahrhaft includierenden Situation befinde“, dass er in „museale[r] Inklusion“ lebe.210 Ähnlich sehen dies Haupt und Würffel, die feststellen, Claudios Studierzimmer sei für den Protagonisten „Refugium wie Gefängnis“ zugleich.211 So hat sich Claudio in seinem Landhaus zwar einen Rückzugsort vor dem realen Leben geschaffen, gleichzeitig aber wird dieser Rückzugsort ihm nur temporär 207 Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 221. Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 83. 209 Vgl. Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 83. 210 Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 203. 211 Haupt, Sabine; Würffel, Stefan Bodo (Hrsg.): Handbuch Fin de Siècle, S. 425. 208 72 Ruhe ermöglichen: Der Rückzug in das mit Kunstgegenständen angefüllte Studierzimmer wird seine Lebensferne nicht kompensieren können, sondern sich letztendlich als tödlich erweisen, wodurch Hofmannsthal implizit Kritik am Ästhetizismus Claudios erhebt. Auf die ästhetizistische Lebensweise des Protagonisten verweist aber nicht nur dessen museale Ansammlung von Kunstgegenständen, sondern auch die Wichtigkeit, die Claudio der Betrachtung ebendieser Gegenstände zumisst. Dies wird in dem Augenblick an Claudios Sprachduktus deutlich, als er „wie ein Museumsbesucher [...] in mechanischer Routine“212 an den Exponaten vorbeischreitet. Die akkumulativ verwendeten Personalpronomen „du“ respektive „ihr“, mit welchen Claudio sowohl die Gioconda, die Becher, die Lauten, das Schilder- und Bilderwerk und die Bildmotive apostrophiert, offenbaren, dass er ebenjene personale Beziehung zu den Kunstgegenständen aufgebaut hat, zu deren Aufbau er in Bezug auf seine Mitmenschen stets unfähig war. Claudio misst demnach der ästhetischen Kontemplation der in seinem selbstkonstruierten Ersatzuniversum angesammelten Kunstgegenstände oberste Priorität zu. Er ist somit – Sprengels Definition des Ästhetizismus nach als typischer Ästhet zu definieren213: Für ihn ist die Betrachtung schöner Gegenstände prioritär, „auch und insbesondere auf Kosten moralischer Werte (Humanität, Treue) und emotionaler Bindungen (Liebe, Freundschaft)“214. Die angesammelten Kunstgegenstände gewinnen gewissermaßen Substitutfunktion, sie werden zum Lebensersatz. Claudio messe, so Szondi, der Kunst größere Bedeutung bei als dem Leben. Die Kunst stelle für den Ästheten einen Fluchtort dar, er suche im von anderen geschaffenen Kunstwerk das Leben.215 Die Kommunikation mit selben Gegenständen wird parallel dazu für Claudio zum Substitut für die Kommunikation mit seinen Mitmenschen, der er sich zeitlebens als unfähig erwiesen hat. Erneut aber wird deutlich, dass Hofmannsthal implizit Kritik an der ästhetizistischen Lebensweise seines Protagonisten übt. Das Präteritum, welches Claudio in seinem 212 Vgl. Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 203. Vgl. Alewyn, Richard: Der Tod des Ästheten, S. 296. Alewyn bezeichnet Claudio als Ästheten, definitorische Merkmale desselben seien, dass die Kunst den Protagonisten vom Leben trenne, dass Claudio sich über gewöhnliche Menschen erhebe, dass mit diesem ungewöhnlichen Leben aber auch ungewöhnliche Leiden einhergehen würden. 214 Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 117. 215 Vgl. Szondi, Peter: Der Tor und der Tod, S. 265. 213 73 Monolog verwendet, indiziert, dass die Kommunikation mit den Gegenständen einen Einbruch erfahren hat. Die Kunstwerke können scheinbar jene Substitutfunktion, die Claudio ihnen Zeit seines Lebens zugemessen hat, nicht mehr erfüllen,216 worüber Claudio ein gewisses Maß an Bedauern empfindet. Wenn er nostalgisch ausruft: „Ihr wart doch all einmal gefühlt“ (TT 450), so scheint die im Ausrufesatz enthaltene Partikel „doch“ Claudios Unmut über die neue Situation auszudrücken, in welcher die Kunstwerke die Leere seines Lebens nicht mehr ausfüllen können. Die Gegenstände vermochten Claudio zwar lange Zeit die Illusion eines umfassenden Zusammenhangs zu vermitteln, die ästhetizistischen Strategien versagen aber, wie Scheible anmerkt, letztendlich, wenn es darum geht, „die abgerissene Verbindung von Ich und Welt neu [zu] knüpfen“217. So wie der Kaufmannssohn unweigerlich „die Nichtigkeit aller dieser Dinge“ (MN 209) fühlt, so realisiert Claudio, dass sein Vorhaben, sich über „[d]ie Rumpelkammer voller totem Tand“ in das Leben „einzuschleichen“, gescheitert ist (TT 449). Szondi führt dies darauf zurück, dass Claudio das Kunstwerk nicht wirklich wahrnehme, sondern er nur sein Inneres ins Kunstwerk projiziere, so dass er dort nur sehe, was er dem Kunstwerk „einwebe“: „Die Kunst war nur Projektion seines Inneren, und sein Inneres nur ein Fragen, eine Sehnsucht, der die Antwort, die Erfüllung versagt blieb.“218 Hierdurch aber verliert jegliches Kunsterlebnis an Unmittelbarkeit und hat nur substitutive Wirkung. Die Kunst verhindert somit ein Hinwenden zur Wirklichkeit. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass anhand von Claudios Beziehung zu den Gegenständen die Beziehungslosigkeit des Ästheten erneut deutlich wird: So treten die Truhe, die er aus rein ästhetischer Sicht betrachtet, das Fenster, das den Rahmen für seine ästhetizistische Betrachtung der Natur bietet, sowie die Briefe, die seine Selbstbezüglichkeit spiegeln, in der zweiten Hälfte des lyrischen Dramas in spiegelbildlicher Kontrafaktur auf. Sie sind nun weder Gegenstand noch Medium ästhetischer Wahrnehmung, sondern Träger von Erinnerungen. Die Truhe erinnert 216 Ähnlich sieht dies Szondi, Peter: Der Tor und der Tod, S. 266: Er betont, dass die Kunstwelt, die Claudio als Ersatz für sein nichtgelebtes Leben ansehe, „[e]ine trügerische Zuflucht“ sei. Die Kunst offenbare hier ihre Schattenseite: „Von der Kunstwelt umstellt, die er für das Leben nehmen wollte, blieb Claudio abgeschnitten vom wirklichen Leben. […] Zu spät begreift das Claudio, aber zum ersten Mal in Hofmannsthals lyrischen Dramen wird begriffen und gesagt, dass dieses Leben keines ist.“ 217 Scheible, Hartmut: Nachwort. In: Beer-Hofmann, Richard: Der Tod Georgs. Stuttgart 1980, S. 121122. 218 Vgl. Szondi, Peter: Der Tor und der Tod, S. 265. 74 Claudios Mutter an die Kindheit ihres Sohnes, der sich an der Truhe die Schläfe blutig geschlagen hat, das Fenster erinnert sie an die Abende, an denen sie ängstlich darauf gewartet hat, dass ihr Sohn nach Haus zurückkehrt, die Briefe wiederum erinnern die Geliebte Claudios an den Schmerz, den sie bei der Trennung empfunden hat.219 Dieselben Gegenstände, die für Claudio nur Gegenstand oder Medium selbstbezogener ästhetizistischer Wahrnehmung sind, sind für die Mutter und für die frühere Geliebte Claudios mit Erinnerungen an diesen verbunden, beinhalten demnach zum einen eine zwischenmenschliche Komponente. Sie sind zum anderen mit jenen Gefühlen der Sorge, der Angst und der Trauer verbunden, derer Claudio nie fähig war, und heben so die fehlenden zwischenmenschlichen, emotionalen Bindungen des Ästheten hervor. „Anders als seine Mutter und die Geliebte hat Claudio zu den Dingen keine innere Beziehung herstellen können […], er hat es nicht vermocht, eine Welt aus ihnen zu machen, in die er sich selbst eingefügt hätte, sondern sich tief in sein Inneres eingeschlossen. Er hat nur sich selbst, aber nicht die Außenwelt wahrgenommen.“220, so Bamberg in diesem Kontext. Nachdem im Vorherigen schon dargelegt wurde, dass die Kunstgegenstände ihre Substitutfunktion nicht mehr zu erfüllen scheinen, so treten im Eingangsmonolog weitere Hinweise auf die Grenzen des Ästhetizismus auf. Ähnlich wie die in Bezug auf das Leben der einfachen Menschen imaginierte Idylle, scheint Claudio auch die Natur, die er betrachtet, zu stilisieren, um so augenblickhaft jene Stimmung zu generieren, die ihm den Genuss der Natur aus der Ferne erlaubt. Während er in der Abendsonne in seinem Studierzimmer am Fenster sitzt, ästhetisiert er die Natur, indem er ein idealisiertes Bild der Landschaft stilisiert, die er durch das Fenster wahrnimmt. Die das Landhaus des Ästheten umgebenden Berge liegen „im Glanz“, ihre Gipfel glänzen „im vollen letzten Strahl“, die Luft ist „durchsonnt“ und der goldumrandete Wolkenkranz scheint alabasterfarben (TT 446). Claudio nähert sich mit diesem Verhalten dem impressionistischen Typus an, welchem beispielsweise auch Schnitzlers Anatol angehört. Charakteristisch für den impressionistischen Menschen ist, dass der Augenblick „aus dem Strom gewöhnlicher Alltagserfahrungen“ herausge- 219 Vgl. auch Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge. Heidelberg 2011, S. 228: Die Gegenstände sind für Claudios Geliebte „stumme Träger von Freude, Glück und Schmerz, die sie nun noch einmal für den Augenblick aktiviert.“ 220 Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 228. 75 hoben wird und infolgedessen „an Bedeutung [gewinnt]“. Der Augenblick avanciert so „zum Garanten einer existentiellen Sinnerfahrung, da der in die Zukunft ausgreifende Lebensentwurf als individuelle Orientierungsgröße obsolet geworden ist“.221 Im Augenblick hingegen werden gesteigerte Erlebnisqualitäten freigesetzt, die äußerste Erfahrungsfülle gewähren, so dass sich hier das Leben ganzheitlich verdichtet.222 Wie Schnitzlers Anatol versucht auch Claudio im Augenblick jene Lebensfülle zu generieren, die er im wirklichen Leben nicht zu fühlen vermag. Vogel fasst im Hinblick auf die ästhetizistisch lebenden Protagonisten der Jahrhundertwende zusammen: Ihr Medium ist die persönlichkeitszersetzende Vielfalt der Empfindungen und der Eindrücke, die abundante Potentialität, die den ästhetischen Menschen als impressionistischen Menschen kennzeichnet.223 Wie die ästhetizistischen Imaginationsgebilde Claudios in Bezug auf die Landbevölkerung, sind aber auch seine Stimmungsgebilde in Bezug auf die Landschaft nur ephemer. Dem ästhetizistischen Aufschwung ist der Zusammenbruch stets immanent. 3.2.4. Die indirekte Wahrnehmung der Wirklichkeit Darüber hinaus trifft jene Wahrnehmungsweise, die Frye in Bezug auf den Kaufmannssohn exponiert hat, auch auf Claudio zu: Der Ästhet aus Der Tor und der Tod nimmt seine Umgebung nicht unmittelbar, sondern stets entweder über das Medium der Kunst oder das der Distanz vermittelt wahr. Claudio wähnt sich so zum einen mittels der angesammelten Kunstgegenstände in das Leben „einzuschleichen“. Zum anderen nimmt er seine Mitmenschen, wie zuvor im Hinblick auf die Landbevölkerung dargelegt wurde, nur idyllisch-projektiv wahr. Besonders deutlich wird dieser indirekte Wahrnehmungsmodus in Bezug auf die Natur: Claudio nimmt die Natur erstens nur aus der Distanz, zweitens nur über Kunst vermittelt wahr. Die Trennung 221 Vgl. Valk, Thorsten: Impressionistisches Lebensgefühl und existentieller Orientierungsverlust. Schnitzlers Anatol. In: Günter Saße, Günter; Kim, Hee-Ju (Hrsg.): Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen. Interpretationen. Stuttgart 2006, S. 22. 222 Vgl. Valk, Thorsten: Impressionistisches Lebensgefühl und existentieller Orientierungsverlust, S. 22. 223 Vgl. Vogel, Juliane: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen, S. 290: Vogel merkt in diesem Kontext zudem an, dass die Hofmannsthalschen Helden „außerhalb des aristotelischen Charakter- und Zeitkonzeptes“ stehen würden, da sie „zu jenen ungreifbaren Figuren [gehören würden], deren Identität sich von Moment zu Moment verschieb[e] und veränder[e]“, so dass „die Grundlagen der klassischen Figurenkonzeption außer Kraft“ gesetzt würden. 76 von der Natur sei, so Bamberg, „eine Doppelte: Sie geschieht durch das Fenster und durch das vor dem inneren Auge gesehene Gemälde gleichermaßen.“224 Zum einen nimmt Claudio die Natur nur aus der Ferne wahr: Der Ästhet ist durch Glasscheiben von der Außenwelt abgeschirmt, die er nicht betritt. Er betrachtet die Natur durch zwei große Fenster seines Studierzimmers; vom Balkon aus führt zwar eine hängende Holztreppe in den Garten, Claudio aber betritt diesen nicht. Die Türen und Fenster des Studierzimmers fungieren so gleichermaßen als „Grenzscheiden“225 zur Außenwelt, der Claudio nicht gewachsen ist. So befiehlt er auch seinem Diener, die Tür zum Garten zu schließen, als hier unheimliche Gestalten auftauchen. Türen und Fenster erlauben es, den aus der Nähe bedrohlichen Naturbereich aus der sicheren Distanz zu betrachten. Neben den humanen Werten und den emotionalen Bindungen klammert der Protagonist mit der Natur also einen weiteren Teilbereich des Lebens gänzlich aus. Die Trennung des eigenen Lebensbereiches vom Bereich der Natur, die zu Beginn des lyrischen Dramas deutlich wird, kann somit als weiterer Hinweis auf die Lebensferne des Ästheten gewertet werden. Zum anderen nimmt Claudio die Natur über Kunst vermittelt, als Gemälde, wahr, welches er vor dem Fenster sitzend betrachtet: Er erblickt durch den (Fenster)„Rahmen(!)“ – und der Rahmen unterstreicht deutlich die Wahrnehmung der Natur als Kunstwerk – „eine ästhetisch stilisierte, durch Literatur und Kunst präfigurierte Natur“226. Besonders deutlich wird diese Wahrnehmungsweise, wenn man die Farbbeschreibungen, welche Claudio bei seiner Naturbetrachtung vornimmt, genauer untersucht: Claudio scheint gewissermaßen Farbfilter über die Natur zu legen, um hierdurch in seiner Imagination ein „ästhetizistisches“ Gemälde der ihn umgebenden Natur zu erschaffen, welches seiner Vorstellung entspricht. Der Ästhet zeichnet so ein Gemälde, auf welchem ein alabasterfarbener, goldumrandeter Wolkenkranz um die Berge schwebt, an deren Abhängen „blaue Wolkenschatten“ (TT 446) liegen, und auf dem Wiesen aus grauem Grün die Berge säumen. Im Hintergrund des Gemäldes sinkt die Sonne, der „goldne Ball“, in ein Meer aus „grünlichem Kristall“ (TT 446), 224 Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 220. Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 219. 226 Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 82. Vgl. auch Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 220: Bamberg merkt an, dass Claudio aus dem Fenster heraus ein Gemälde betrachtet. 225 77 während die Dämmerung, der „rote Rauch“, über der Landschaft niedersinkt. Indem der Ästhet dieses – mittels seiner Vorstellungskraft – selbstgeschaffene Gemälde betrachtet, nimmt er die Natur nur indirekt, nur über Kunst vermittelt, wahr, was seine indirekte, seine Lebensferne zum Teil bedingende, Wahrnehmungsweise unterstreicht. Matussek verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Claudio sich beim Anblick des Sonnenuntergangs darüber hinaus nicht von „kunsthistorischen und literarischen Assoziationen“ freimachen könne. So erinnerten ihn die Wolken an Madonnenbilder, der Glanz der Berge setze sich aus Versen Lenaus und Goethes zusammen und die Farben der Landschaft stammten von Lorrain. Die Schilderung der Landschaftsatmosphäre kulminiere abschließend in einem Hölderlin-Zitat.227 Claudios „überwacher Sinn“ verwandelt demnach „jede Lebensregung sogleich in ein Bildungsgut, das tausend Vergleiche herbeizitiert, bis schließlich das eigene Existenzgefühl darin untergeht.“228 Ähnlich sieht dies Grundmann, die unterstreicht, dass Kunst wie Natur für Claudio nicht mehr individuell nachvollziehbar, sondern stets mit literatur- und kunsthistorischen Reminiszenzen durchdrungen seien.229 Durch diese Wahrnehmungsweise aber ist Claudio, welchen Grundmann als „Prototyp des Fin-desiècle-Ästheten“ ansieht, der direkte Zugang zum Leben versperrt. Er kann das Leben nur mehr mittelbar wahrnehmen: „Zwischen die individuelle Erfahrung und deren Wahrnehmung schieben sich Lektüre- und Kunsterlebnisse, die das wirkliche Leben zu etwas immer schon Präformiertem und damit immer nur nachträglich Erfahrbaren machen. […] Statt dass individuell erlebt wird, wird auf Allgemeines referiert.“ Die direkte Teilnahme am Leben sowie das Erfahren wahrer Lebensfülle bleiben dem Ästheten aufgrund der durch diese Wahrnehmungsweise generierten Distanz stets verwehrt.230 Wenn bereits in Bezug auf die Kunst festgehalten wurde, dass Claudios Wahrnehmung durch assoziative kunsthistorische und literarische Reminiszenzen durchdrungen ist, so gilt dies ebenso für seine allgemeine Wahrnehmung des Lebens. Szondi betont, dass Claudio keine Unmittelbarkeit erfahren könne, da er alles an der Vergangenheit und an Erhofftem messe. Er messe die Gegenwart an dem Bild, das 227 Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 204. Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 205. 229 Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 82. 230 Vgl. Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 83. 228 78 „[sich] die Vergangenheit von ihr, als ihrer Zukunft, gemacht hatte und das als Erinnerung überlebt.“231 Der Ästhet könne daher nie eine direkte Beziehung zu dem Erlebten eingehen. Claudios überwacher Sinn wäge zudem alles ab, sodass dem Denken größerer Raum zukomme als den Gefühlen. Somit entstünde eine „Maue[r] der Reflexion“, die dem Ästheten den unmittelbaren Zugang zum Leben verbaue.232 Die in Bezug auf diese indirekte Wahrnehmungsweise einsetzende Reflexion des Ästheten wird unter Punkt 3.4.2. näher beleuchtet werden. 3.2.5. Vergangenheit Im Gegensatz zum Kaufmannssohn imaginiert Claudio sein Leben nicht nach dem Vorbild eines antiken Helden, lebt aber insofern in der Vergangenheit, als sein Garten mit der Statue Apollos und der Sphinx auf seine an der Vergangenheit ausgerichtete Lebensweise verweist. Zudem weist sein Studierzimmer eine quasi museale Struktur auf, die Hofmannsthal noch deutlicher als die des Hauses des Kaufmannssohnes hervorhebt. Bamberg verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass auch Claudios Wahrnehmung einer musealen Struktur folge; seine Kunstkammer erinnere an eine enzyklopädisch angelegte Kunstkammer des 16. bis 18. Jahrhunderts, der aber – und hier zieht Bamberg Horst Bredekamps Definition einer Kunstkammer heran233 – ein wesentlicher Baustein fehle: die Natur. Die schönen alten Dinge seien „Teile und Träger eines vergangenen Lebens“, Claudio aber glaube „über sie das eigene zu erfahren“. Er habe die Gegenstände zu Götzenbildern gemacht, über die er versuche, „sich fremdes Leben zu erborgen, um damit die eigene Leblosigkeit zu kompensieren.“234 Der offenen Dynamik des wirklichen Lebens sei der Ästhet nicht gewachsen, da er sich hiermit nie auseinandergesetzt, sondern stets versucht habe, 231 Szondi, Peter: Der Tor und der Tod, S. 262. Vgl. Szondi, Peter: Der Tor und der Tod, S. 258-261: Dadurch, dass Claudio aber alles an Vergangenem und Erhofftem messe, generiere er Vorstellungen, die stets enttäuscht würden; Erlebnisse gewännen nie eine eigene Bedeutung, sondern würden immer nur mittelbar wahrgenommen, sie würden als Schatten erlebt. Vgl. auch Alewyn, Richard: Der Tod des Ästheten, S. 300-303: Alewyn sieht dies ähnlich: Claudios Leben bleibe ein „vor-läufiges“, da er die Gegenwart überspringe, um mittels seiner Erwartungen bereits in die Zukunft vorauszueilen. Claudio messe so jede Erfahrung an einer Erwartung und verwerfe die Erfahrung, wenn die Erwartung nicht erfüllt werde. Sein Verstand zerstöre so die Unmittelbarkeit des Gefühls. 233 Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 217, beruft sich auf Horst Bredekamp, nach dessen Definition eine Kunstkammer durch vier Bausteine definiert wird: die Naturform, die antike Skulptur, das Kunstwerk, die Maschine. Bis auf die Natur seinen alle vier Bausteine in Claudios Studierzimmer präsent, wie aus den Regieanweisungen Hofmannsthals hervorgeht. 234 Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 222. 232 79 „die Verantwortung für die selbsttätige Gestaltung seines eigenen Lebens abzugeben.“235 Mit diesem Verhalten stehen Claudio, der Kaufmannssohn und Sala stellvertretend für die Generation der Söhne der Gründerväter, die sich dem rapiden gesellschaftlichen Wandel im Wien der Jahrhundertwende nicht gewachsen sieht und vor diesem Wandel in das eigene Innere und in kunstvoll konstruierte Interieurs flüchtet, anstatt sich der veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit zu stellen. „Hofmannsthals kleine Dramen sind“ somit „sowohl subtile Analysen zeittypischer Befindlichkeiten als auch deren Kritik“.236 Dass Hofmannsthal mit seinem Drama eine kritisch ausgerichtete Analyse zeittypischer Befindlichkeiten intendiert, wird auch deutlich, wenn man die Handlungszeit des Dramas betrachtet: Die den lyrischen Einakter einleitenden Regieanweisungen situieren das Drama in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die bewusste Verlegung der Handlungszeit in ein früheres Jahrhundert beinhaltet eine explizite Kritik an der eigenen Gegenwart. Wenn Hofmannsthal seine frühen lyrischen Kurzdramen in eine „Vorzeit“ verlege, so würden sich die „Einakter […] als Konzepte einer Abwehr [erkennen lassen], aus denen Milieus der Gegenwart ferngehalten sind, um den in den Einaktern ausgetragenen Lebensdispositionen eine grundsätzliche […] Bedeutung einzuräumen“, so Vinçon. Dies führe dazu, dass die Einakter des Autors als „zeitpsychologische Studi[en]“237 zu betrachten seien. 3.3. Die Anklage gegen die ästhetizistische Lebensweise Claudios Wie im Vorherigen angedeutet, hat der Eingangsmonolog, der Claudio als Ästheten exponiert, zugleich Reflexionscharakter. Im Eingangsmonolog findet bereits eine gewisse Reflexion des Ästheten in Bezug auf sein von der Kunst dominiertes Leben, auf seinen gesellschaftlichen Rückzug sowie auf seine Gefühls- und Bindungsunfähigkeit statt. Diese Reflexion wird allerdings nicht zu Ende geführt. Hierzu bedarf es eines weiteren Impulses: Die als Ankläger auftretenden Figuren und ihre direkte Anklage Claudios führen zu einer weitergehenden Reflexion seitens des Ästheten und einem 235 Vgl. Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 222. Haupt, Sabine; Würffel, Stefan Bodo (Hrsg.): Handbuch Fin de Siècle, S. 425. 237 Vinçon, Hartmut: Einakter und kleine Dramen, S. 374-375. 236 80 Eingestehen seiner Vergehen. Der vollständige Reflexionsprozess des Protagonisten wird zusammenfassend unter Punkt 3.4. behandelt werden. Die schon in der ersten Hälfte des Dramas einsetzende Reflexion des Ästheten wird plötzlich durch das Spiel einer Geige unterbrochen, welches den Auftritt der Figur des Todes einleitet und Claudio seltsam berührt: „Musik? Und seltsam zu der Seele redende!“ (TT 452). Anzumerken ist zunächst, dass diese Unterbrechung der Reflexion nicht so plötzlich erfolgt, wie der Protagonist es empfindet. Vielmehr hat Claudio vielfache Hinweise auf das Erscheinen des Todes verdrängt. So hatte ein Diener Claudio bereits im Vorfeld voller Angst vor einem „Schwarm unheimliche[n] Gesindel[s]“ (TT 451) im Garten gewarnt, war allerdings von Claudio barsch zurechtgewiesen worden, er solle in dem Fall die Tür schließen und ihn in Ruhe lassen: „So sperr die Tür […] zu, und leg dich schlafen und lass mich in Ruh.“ (TT 451). Bezeichnend ist die iterative Verwendung des Imperativs, die unterstreicht, dass Claudio unfähig ist, die Angst seines Dieners nachzuvollziehen. Er ist der Empathie nicht fähig, sondern erteilt bloß Befehle, anstatt auf die Befürchtungen des Dieners einzugehen. Als der Diener einen erneuten Versuch unternimmt, den Protagonisten auf die Unheimlichkeit der Gestalten hinzuweisen, reagiert Claudio wiederum wenig interessiert: „Nun?“ (TT 451), und bleibt in seiner Selbstbezogenheit verfangen. Selbst die eindringliche Beschreibung der unheimlichen Gestalten, die der Diener vornimmt, um in einem dritten Anlauf zu versuchen, seinen Herren zu warnen, verwirkt ihr Ziel und kann den Egozentriker nicht aus seiner Selbstbezogenheit locken. Die drei Warnungen schlagen fehl. Claudio scheint infolgedessen vom Geigenspiel des Todes überrascht, obgleich der Auftritt des Todes nicht so plötzlich erfolgt, wie er vom Ästheten erlebt wird, sondern der Tod sich Claudio schrittweise annähert. Auf diese Phase des Verdrängens folgt eine Phase der Verklärung: Die Melodie des Todes wird zunächst vom Ästheten nicht als Todesmelodie wahrgenommen, sondern als lebenserweckende Melodie verklärt. Hierdurch wird bereits die finale Verklärung des Todes: „Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!“ (TT 463), die Claudio am Ende des Einakters vornimmt, proleptisch angedeutet. Claudio ruft aus, dass die Melodie so „allgewaltig“ auf ihn eindringe, dass er das Gefühl habe, sein „Leben flut[e] herein“ (TT 452). Er spürt Erinnerungen aufdrängen und fühlt sich „in ein 81 jugendliches Meer“ geworfen, in eine Zeit also, in der er sich noch nicht der ästhetizistischen Lebensführung verschrieben hatte. Damals war er noch von einem nun verloren gegangenen Alleinheitsgefühl durchdrungen, fühlte sich als „Glied im großen Lebensringe“ und schlug nicht „[mit blutigen Fingern] an sieben vernagelte Pforten“ (TT 448) des Lebens: Da leuchtete manchmal die ganze Welt, […] Wie waren da lebendig alle Dinge, Dem liebenden Erfassen nahgerückt, Wie fühlt ich mich beseelt und tief entzückt, Ein lebend Glied im großen Lebensringe! Da ahnte ich, durch mein Herz auch geleitet, Den Liebesstrom, der alle Herzen nährt, Und ein Genügen hielt mein Ich geweitet, Das heute kaum mir noch den Traum verklärt. (TT 453) Dem Ästheten scheint sich beim Erklingen der Geigenmelodie augenblickhaft „kaum geahntes Leben“ (TT 453) anzukündigen. Das von Claudio empfundene Gefühl erinnert hierbei an das von Faust empfundene Alleinheitsgefühl, welches ihn beim Ertönen des Chorgesangs in der Szene Nacht überflutete und in ihm Erinnerungen weckte, die ihn davon abhielten, die Phiole an seinen Mund zu führen: „Erinnerung hält mich nun mit kindlichem Gefühle vom letzten, ernsten Schritt zurück.“ (F 781782). Wie bei Faust das Alleinheitsgefühl nur kurz anhält und am Ende des Osterspaziergangs (Vor dem Tor) umschlägt, so erweist sich auch das Hochgefühl des Ästheten als ephemer und Claudio empfindet „ein sinnlos namenloses Grauen“ (TT 454), als er die wahre Herkunft der Musik erkennt. Dem Aufschwung ist, wie bei Faust, der Absturz immanent. Im Gegensatz zum Märchen der 672. Nacht in dem die Anklage insofern zweifach indirekt erfolgt, als sie über das Medium des Briefes erhoben wird und der Kaufmannssohn nicht direkt, sondern einer seiner Diener beschuldigt wird erfolgt die Anklage in Hofmannsthals lyrischem Einakter direkt. Erstens betritt die Figur des personifizierten Todes die Bühne, zweitens wird der Ästhet direkt und nicht einer seiner Diener angeklagt, drittens treten mit den Figuren der drei Verstorbenen Bezugspersonen Claudios drei weitere Kläger auf. Das Arrangement, welches Hofmannsthal hierbei vornimmt, erinnert an die Tradition des Totentanzes, das heißt an spätmittelalterliche zyklische Dichtungen um die Gestalt des Todes als Spielmann. Die Handlung erhält mit dem Auftritt des personifizierten Todes als Hauptankläger 82 und den drei Verstorbenen als Nebenkläger Züge eines Gerichtsprozesses, des Prozesses gegen die ästhetizistische Lebensweise Claudios, die Hofmannsthal im Medium der Literatur kritisch hinterfragt, um sie abschließend als lebensfern zu verurteilen. Hierbei werde die Einsicht Claudios, so Bamberg, von außen angestoßen, was typisch für Hofmannsthals literarisches Verfahren sei. Claudio lerne nicht „von allein, ‚nur‘ durch sein internalisiertes Gewissen, seine menschlichen Defizienzen zu verstehen […], sondern […] erst die gehörte Musik entdeck[e] [dieses Gewissen]“ und könne es „freilegen – ja dieses sogar vielleicht erst generieren.“238 Die Forschung hebt hierbei hervor, dass die Selbstcharakterisierung des Todes, er stamme „aus des Dionysos, der Venus Sippe“ und stehe als „großer Gott der Seele“ vor Claudio (TT 454), darauf verweise, dass Hofmannsthal den Tod in barocker Tradition konzipiert habe. Vor seinem Lebensende müsse Claudio so vor dem Tod Rechenschaft „von seinem gelebten Leben und der Rolle, die er darin gespielt hat“, ablegen. Dionysos stehe hierbei „für die Einheit von Leben und Tod und, damit eng verbunden, für ein gesteigertes Leben sowie die Einheit des Seins“239. Der Tod fungiert somit, wie bereits im Vorherigen angedeutet, als Richter über die Lebensführung Claudios: „Der dionysische Todesgott […] tritt nicht etwa als Widerpart der zentral konzipierten Lebensvorstellung auf, sondern als Erfüllung des Lebens, als Lebenslehrer.“240 Indem der Tod Claudios Verfehlungen offenlegt, präsentiert er zugleich die Kontrastfolie, auf Grundlage derer der Rezipient das „wirkliche“ Leben imaginieren kann. Der Tod erscheint hierdurch als „Allegorie des Lebens“241 und tritt so „sowohl als Lebensende wie auch als Analogon des Dichters auf“242. Indem der Tod die ästhetizistische Lebensferne Claudios anklagt, erscheint er gleichsam als Sprachrohr Hofmannsthals: Am Beispiel von Claudios Lebensführung werden ex negativo die Verfehlungen der ästhetizistischen Lebensweise aufgezeigt und dem Rezipienten wird so der „Weg zum eigentlichen Leben“243 exemplarisch vorgeführt. 238 Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 226. Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 227. 240 Mayer, Mathias: Der Thor und der Tod, S. 1018. 241 Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 225. 242 Mayer, Mathias: Der Thor und der Tod, S. 1018. 243 Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 225. 239 83 Die Anklageschrift im „Prozess“ gegen den Ästheten enthält hierbei vier Anklagepunkte: die durch die ästhetizistische Lebensweise bedingte Lebensferne, die einseitige Hingabe an die Kunst, die Bindungs- und Gefühllosigkeit des Protagonisten sowie dessen Rückzug aus dem sozialen Leben. „Claudio ist der Vertreter eines radikalen Schönheitsglaubens, der die Natur als Gemälde, das Leben als Buch und die Mitmenschen als bloße Puppen behandelt. Claudios Lebensfremdheit, die sich hinter Kunst und Wissen verbirgt, wird […] einem Gericht unterzogen.“244 Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass die Anklage exakt jene vier Punkte enthält, in Bezug auf welche auch die Reflexion Claudios innerhalb des Dramas stattfindet. Der Tod wirft Claudio zunächst vor, dass er die Gelegenheit zum Leben, die allen Menschen gegeben wird, nicht wahrgenommen habe. Er fungiert alsdann als Lebenslehrer, indem er zunächst eine Definition des Lebens vornimmt, die Claudios Verfehlungen spiegelbildlich hervorhebt: Leben heiße dem „Chaos toter Sachen Beziehung einzuhauchen“ sowie sich zu binden und gebunden zu werden: „Man bindet und man wird gebunden.“ (TT 456). Hierzu aber war Claudio nicht fähig. Es ist ihm weder gelungen, mittels des Ansammelns von Kunstgegenständen eine Welt der Bezüge zu entwerfen,245 noch ist es ihm gelungen, Beziehungen zu seinen Mitmenschen aufzubauen oder diese an sich zu binden. Diese Bindungsunfähigkeit sowie die daraus resultierende Beziehungslosigkeit des Protagonisten klagt der Tod deutlich an. Daraufhin bezeichnet er Claudio als Tor und formuliert explizit seine Absicht, dem Tor den Sinn des Lebens vor Augen zu führen, indem er ihn anweist, sich hinzustellen, zu schweigen und seinen Lehren zuzuhören: Du Tor! Du schlimmer Tor, ich will dich lehren, Das Leben, eh du's endest, einmal ehren. Stell dich dorthin und schweig und sieh hierher Und lern, dass alle andern diesen Schollen Mit lieberfülltem Erdensinn entquollen Und nur du selber schellenlaut und leer. (TT 457) 244 Mayer, Mathias: Der Thor und der Tod, S. 1018. Vgl. auch Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 227: Die Dinge und somit das Drama trügen, so Bamberg, sowohl Claudios Lebensproblematik als auch - auf poetologischer Ebene - die Frage aus, wie der Künstler, der nicht auf die Dinge verzichten könne, in einer Welt einer heillosen Unordnung in ein angemessenes und produktives Verhältnis zu den Dingen gelangen könne. Hofmannsthals Ziel sei es, eine Welt der Bezüge zu entwerfen. Ebendies gelinge Claudio nicht. 245 84 Alsdann leiten „ein paar Geigenstriche“ (TT 457) den Auftritt der drei Verstorbenen ein, die die Lebensunzulänglichkeit Claudios ebenfalls anklagen. Zunächst betritt Claudios Mutter die Bühne. Sie nennt unmittelbar nach ihrem Auftritt die drei Gefühle, die ihr Leben als Mutter geprägt haben: „ein Dritteil [sic] Schmerzen, eins Plage, Sorge eins“, und schließt dieser Feststellung die rhetorische Frage: „Was weiß ein Mann davon?“ (TT 458), an. Diese Frage unterstreicht Claudios Gefühllosigkeit, die den das Leben der Mutter prägenden Gefühlen der Angst und Sorge um ihren Sohn diametral entgegensteht. Die Mutter verdeutlicht diesen Anklagepunkt anschließend durch zwei Beispiele ihrer Angst und Sorge, wobei ebenjene Gegenstände spiegelbildlich auftreten, die für Claudio rein ästhetizistische Anschauungsobjekte sind. Für die Mutter aber haben diese Gegenstände tieferreichende Bedeutung: Sie sind Träger von Erinnerungen und Träger der mit diesen Erinnerungen verbundenen Gefühlen. Die Kante der Truhe erinnert die Mutter daran, dass Claudio sich an der Truhe einst die Schläfe blutig schlug. Das Fenster für Claudio bloß Rahmen seiner ästhetizistischen Weltbetrachtung ist für die Mutter Symbol von Angst und Sorge, stand sie doch abends am Fenster und wartete auf die Rückkehr ihres Sohnes. Die Truhe und das Fenster gewinnen somit symbolische Funktion: Sie versinnbildlichen die Gefühllosigkeit des Ästheten, der Emotionen zeitlebens ausgeklammert hat, um seine Zeit, „auf Kosten moralischer Werte und emotionaler Bindungen“246, der Betrachtung schöner Gegenstände zu widmen. Anschließend betritt Claudios ehemalige Geliebte die Bühne und hebt in einem ersten Schritt den Schmerz, den Claudio ihr bereitet hat, hervor: „Du hast mir weh getan, so weh ….“ (TT 459). Sie unterstreicht dann kurz die schönen Tage, die sie mit Claudio verbracht hat, um in einem zweiten Schritt Claudios Verfehlen umso deutlicher hervortreten zu lassen und dem Ästheten vorzuwerfen, er habe sie „achtlos, grausam, wie ein Kind, des Spielens müd, die Blumen fallen lässt, fort[ge]w[orfen]“ (TT 460). Die ehemalige Geliebte klagt demnach an, dass Claudio seine Mitmenschen nicht als eigenständige Subjekte ansieht, sondern ihnen nur Objektcharakter zugesteht. Zudem hegt sie Zweifel daran, dass der Ästhet wahre Gefühle für sie empfunden habe: Was weiß denn ich, wieviel von deinem Herzen 246 Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 117. 85 in all dem war, was meinen armen Sinn mit Glanz und Fieber so erfüllte. (TT 460) Die kontrastive Gegenüberstellung der Possessivpronomen stellt die Gefühllosigkeit des Ästheten den Gefühlen der Geliebten gegenüber und hebt somit die Gefühls- und Bindungslosigkeit des Protagonisten hervor. Nach dem Abgang der früheren Geliebten Claudios tritt ein ehemaliger Freund in Erscheinung, der den Ästheten ebenfalls der Bindungs- und Gefühllosigkeit anklagt. Wenn der ehemalige Freund Claudio als „Ewigspielenden […], schnellbefreundet, fertig schnell mit jedem“ (TT 461) apostrophiert, so unterstreicht er die Rücksichtslosigkeit und Bindungsunfähigkeit desjenigen, der keine festen Beziehungen zu seinen Mitmenschen einzugehen vermag, der ungeachtet der Gefühle seiner Mitmenschen mit diesen spielt, der ist der erhoffte Reiz verflogen die Personen achtlos wegwirft, wie schon die Geliebte betonte. Der Freund klagt dieses Verhalten an, indem er auf eine gemeinsame Bekannte Bezug nimmt, die Claudio zunächst begehrt habe, sie dann aber als der für den Ästheten typische Reiz verschwunden war „sattgespielt“ wie eine „Puppe“ weggeworfen habe (TT 461). Die vier in der Tradition des Totentanzes der ursprüngliche Titel des lyrischen Dramas lautete bezeichnenderweise Der neue Todtentanz [sic]247 auftretenden Gestalten klagen so exakt jene Verfehlungen des Ästheten an, die seine Lebensunzulänglichkeit bedingen und in Bezug auf die Claudio seine ästhetizistische Lebensführung kurz vor seinem Tod ebenfalls einer kritischen Untersuchung unterzieht und letztendlich zum Schluss gelangt, er habe nicht gelebt. 247 Vgl. Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 202. Vgl. auch Vinçon, Hartmut: Einakter und kleine Dramen, S. 376. 86 3.4. Die Reaktion Claudios Wie im Vorherigen bereits angedeutet, erlaubt die Kürze des modernen Einakters es nicht, einen großen Handlungsbogen zu entfalten. Der Einakter eignet sich aber in besonderem Maße zum Exponieren der Seelenzustände von Figuren, deren Situation aus eigener Kraft nicht mehr veränderbar ist, die sich dem anthropologischen Horizont verweigern und die so dem klassischen aristotelischen Helden diametral entgegengesetzt sind, wie Vogel darlegt.248 Im lyrischen Einakter Der Tor und der Tod, der laut Vinçon eine „stärkere Monologisierung“ als vorhergehende Dramen Hofmannsthals erreicht,249 liegt der Fokus auch aufgrund ebendieser offensichtlichen Monologisierung stärker als im Märchen der 672. Nacht und im Drama Der einsame Weg auf der Reflexion des Ästheten. Die Reflexion seiner Lebensführung ist dem Monolog Claudios von Anfang an immanent, ist weit fortgeschrittener als die Reflexion des Kaufmannssohnes und auch weitgehender als die Salas. Dennoch ist auch die Reflexion Claudios nicht als eine Verhaltensänderungen initiierende Reflexion einzuordnen, da der Ästhet im Angesicht des Todes in alte Verhaltensmuster zurückverfallen wird. Nachdem Claudio im Vorfeld des Auftritts des Todes alle warnenden Hinweise seines Dieners ignoriert und somit das Erscheinen des Todes verdrängt hat, ist die erste Reaktion Claudios auf das Erscheinen des Anklägers die einer heftigen Abwehr und Angst. Als Claudio den Ursprung der Melodie erkennt, krampft sich sein Innerstes zusammen. Es „schnürt“ ihm die Kehle zu und sein Haar sträubt sich, bevor er, zu Boden sinkend, den Tod mittels eines vierfachen, seiner Verzweiflung Ausdruck verleihenden, Imperativs: „Geh!“, zum Gehen auffordert: Geh weg! Du bist der Tod. Was willst du hier? Ich fürchte mich. Geh weg! Ich kann nicht schrein. […] Geh weg! Wer rief dich? Geh! Wer ließ dich ein? (TT 545) Alsdann versucht Claudio, den Tod zum Weggehen zu überreden, indem er argumentiert, er habe bisher noch nicht gelebt und müsse sein Leben erst zu Ende 248 Vgl. Vogel, Juliane: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen, S. 289-291. Vgl. Vinçon, Hartmut: Einakter und kleine Dramen, S. 376. Vgl. auch Haupt, Sabine; Würffel, Stefan Bodo (Hrsg.): Handbuch Fin de Siècle, S. 424-425: Das Drama sei somit jenen frühen Dramen Hofmannsthals zuzurechnen, die von monologischer Introspektion statt Handlung bestimmt würden. 249 87 führen. Diese Argumentation aber wird vom Tod barsch unterbrochen. Er hält Claudio entgegen, er habe, „wie alle“, die Gelegenheit zum Leben gehabt, sein Argument sei somit nichtig: „Bist doch, wie alle, deinen Weg gezogen! […] Was allen, ward auch dir gegeben“ (TT 455-456). Dieser Phase der Abwehr erfolgt alsdann eine Reflexionsphase, die die bereits im Eingangsmonolog einsetzende Reflexion des Ästheten zu Ende führt. Die Reflexion Claudios findet hierbei in Bezug auf die vier Komponenten seiner Lebensunfähigkeit statt. Der Tod, in der Funktion des Anklägers, wird Claudio im Verlauf des „Gerichtsprozesses“ dazu zwingen, sich mit seiner defizitären ästhetizistischen Lebensweise auseinanderzusetzen, und ihn zu einem Eingeständnis seiner Lebensunfähigkeit bewegen. Im Folgenden wird jeweils zunächst auf die Gedankengänge Claudios im Eingangsmonolog eingegangen, bevor alsdann die Fortführung dieser Gedankengänge nach dem Erscheinen des Todes untersucht wird. 3.4.1. Reflexion in Bezug auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Gesellschaft Bereits vor dem Auftritt des Lebenslehrers reflektiert Claudio im Eingangsmonolog die eigene Gefühllosigkeit: Als er aus der Ferne die Häuser der Stadt betrachtet, stellt er das Verhalten der Bewohner, die „einander herzlich nah sind und sich um einen [härmen], der entfernt“ (TT 448), dem eigenen Verhalten kontrastiv gegenüber. Während „sie“ einander nah sind, „sie“ sich gegenseitig trösten, „sie“ einander „mit einfachen Worten, was nötig zum Weinen und Lachen, sagen“, so hat Claudio nie gelernt, auf die Bedürfnisse seiner Mitmenschen einzugehen. Dies wird besonders im chiastisch aufgebauten Vers deutlich: „So trösten sie … ich habe Trösten nie gelernt.“ (TT 448), in welchem die drei Auslassungspunkte die kontrastive Gegenüberstellung noch verstärken. Claudios Leben ist im Gegensatz zum Leben seiner Mitmenschen von „verlorener Lust und nie geweinte[n] Tränen“ (TT 448) geprägt; auch Schmerzen hat er nie wirklich empfunden, dessen „Flügel streifte [ihn]“ (TT 449) bloß. Claudio erkennt hier an, dass die zwischenmenschliche Gefühlswelt ihm stets verschlossen war und nennt wenige Verse später den Grund seiner Gefühllosigkeit: Sein „überwacher Sinn“ (TT448) habe jegliche Gefühlsregung stets sogleich beim 88 Namen genannt und so die Unmittelbarkeit des Erlebnisses ausgelöscht. Das Gefühl sei „vom Denken abgeblasst und ausgelaugt“ worden, so dass er das Leben „höchstens verstanden“ (TT 448) habe. Der überwache Sinn Claudios bewirkt demnach, dass dem Denken größerer Raum zukommt als den Gefühlen und eine „Mauer der Reflexion“250 entsteht, die dem Ästheten den unmittelbaren Zugang zum Leben verbaut. Die Welt war dem Protagonisten stets nur rational zugänglich, eine emotionale Teilnahme nie gegeben: Konnte mich nie darin verweben, habe mich niemals darin verloren. Wo andre nehmen, andre geben, blieb ich beiseit, im Innern stummgeboren. (TT 448) Im Gegensatz zu seinen Mitmenschen „weiß“ der Ästhet nichts „vom Menschenleben“, wie es seine rhetorische Frage unterstreicht: „Was weiß denn ich vom Menschenleben?“ (TT 448). Er hat „nur scheinbar drin gestanden“ (TT 448), eine ganzheitliche Teilnahme am Leben blieb ihm verwehrt, da er die emotionale Komponente stets ausgeklammert hat und er nie – wie es der Lebenslehrer fordert – dauerhafte Bindungen zu seinen Mitmenschen einging. Claudio „stand“ so stets „an den Lebensgittern“ (TT 455), ohne Zugang zum Leben zu finden. In Bezug auf die Gefühllosigkeit ist die Reflexion des Ästheten demnach im Eingangsmonolog so weit fortgeschritten, dass sie fast abgeschlossen ist und es nach Auftritt des Todes nur noch zu einem die eigene Gefühllosigkeit bestätigenden Geständnis des Protagonisten kommt. Claudio der in seiner eigenen Welt und Gefühlswelt Verschlossene gesteht, er sei stets als „schlechte[r] Komödiant“ über die „Lebensbühne“ gegangen (TT 463), sei stets „gleichgültig gegen alles andre, stumpf, vom Klang der eignen Stimme ungerührt und hohlen Tones andre rührend nicht“ (TT 463) gewesen. Da Claudios „hohle“ Stimme nie der Mitteilung von Gefühlen diente und er gleichzeitig „gleichgültig“ und „stumpf“ gegenüber den Gefühlen anderer war, blieb ihm die zwischenmenschliche Gefühlswelt die ja gerade jene Nähe seiner Mitmenschen bedingt, der er die eigene Einsamkeit mit Bedauern gegenüberstellt stets verschlossen. 250 Szondi, Peter: Der Tor und der Tod, S. 259. 89 Anders stellt sich die Reflexion Claudios in Bezug auf seine Bindungslosigkeit dar: Diese erfolgt nur marginal im Eingangsmonolog und findet vorwiegend nach Auftritt des Todes und der drei Verstorbenen statt. Im Eingangsmonolog reflektiert Claudio die fehlenden Bindungen zu seinen Mitmenschen, die sich untereinander „herzlich nah“ sind, während er an „vernagelte“, verschlossene, „Pforten schlägt“ (TT 448), nur sehr allgemein. Eine individuelle, persönliche und tiefergehende Auseinandersetzung in Bezug auf die fehlenden Bindungen zu den drei Personen, zu denen er eine Bindung hätte aufbauen sollen, findet nicht statt. Diese Auseinandersetzung wird erst durch den Auftritt des Lebenslehrers eingeleitet, wie Grundmann treffend festhält: „Erst in der Konfrontation mit dem Tod treten individuelle und mit persönlichem Schmerz verbundene Erinnerungen an die eigene Vergangenheit an die Stelle einer durch Kunst vermittelten kollektiven Memoria.“251 Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten gegenüber direkten Bezugspersonen findet erst statt, als die drei Verstorbenen, Claudios Mutter, Claudios Geliebte und Claudios Freund, auftreten und den Ästheten direkt seiner Bindungslosigkeit anklagen. Die Einsicht in die eigene Bindungslosigkeit erfolgt hierbei progressiv in drei Schritten; erst nachdem die drei Ankläger Anklage gegen Claudio erhoben haben, wird dieser seine Bindungslosigkeit vollends eingestehen. Zunächst führt Claudios Mutter ihrem Sohne ihre einstige Angst und Sorge um ihn vor Augen. Nachdem sie durch die Mitteltür abgegangen ist, will der Ästhet sie zurückhalten und gesteht sein Fehlverhalten partiell ein. Claudio bekennt, dass er stets „hochmütig [ge]schwiegen“ habe, nie auf ihre Gefühle eingegangen sei, sondern immer mit „schmalgepresst[en] Lippen“ (TT 459) an seiner Mutter vorbeigegangen sei. Allerdings wird auch deutlich, dass Claudio noch nicht vollständig bereit ist, sein Fehlverhalten einzugestehen, da er, nach diesem partiellen Bekenntnis, Vorwürfe gegenüber dem Tod erhebt, diesen als „Entsetzliche[n]“ (TT 459) apostrophiert und ihm vorwirft, er habe seine Mutter zu früh sterben lassen. Erst nachdem der Tod Claudio unter Verwendung eines Imperativs, eines Binnenreims sowie eines im Schriftbild des Dramas kursiv abgehobenen Präteritums: „Lass mir, was mein. Dein war es.“ (TT 459) deutlich in die Schranken verwiesen hat, führt der Ästhet sein Schuldeingeständnis fort und erkennt an, dass er nie eine wirkliche Bindung zu seiner Mutter aufgebaut hat: „Ah! 251 Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 86. 90 Und nie gefühlt! Dürr, alles dürr! Wann hab ich je gespürt, dass alle Wurzeln meines Seins nach ihr sich zuckend drängten […]“ (TT 459). Nach der Anklage der Geliebten ist Claudios Einsicht bereits weiter fortgeschritten: Er versucht nicht mehr, die Schuld von sich zu weisen, sondern birgt sein Gesicht beschämt in den Händen. Nach dem Auftritt des Freundes gesteht Claudio sein Verfehlen schlussendlich vollends ein, als er die die Anklage resümierenden Worte des Freundes: „[…] Der keinem etwas war und keiner ihm.“ (TT 462), aufgreift und gesteht: „Wohl keinem etwas, keiner etwas mir“ (TT 462), und sich als Komödianten auf der Lebensbühne definiert. Das echoartige Aufgreifen der chiastischen Formulierung des Freundes zeigt hierbei an, dass der Ästhet die Vorwürfe des Freundes und der beiden Frauen annimmt und bereit ist, sein Fehlverhalten einzugestehen. Erst „die Geister der Verstorbenen […] wecken“ demnach „seine Reue über die Gleichgültigkeit, Treulosigkeit und zersetzende Kälte, mit denen er ihnen begegnet war. Das eingeklagte Mitgefühl für seine Mitmenschen stellt sich erst in dem Moment ein, als ihm bewusst wird, dass er sie endgültig verloren hat.“ Erst „die Begegnung mit dem Tod“ wird „[so] zur Voraussetzung einer erinnernden Vergegenwärtigung.“,252 wie Matussek zusammenfasst. 3.4.2. Kunst und Vergangenheit Im Gegensatz zu seinen Verfehlungen in Bezug auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, die vorwiegend nach dem Auftritt des Todes reflektiert werden, reflektiert Claudio die einseitige Ausrichtung seines Lebens auf die Kunst bereits in der zweiten Hälfte des Eingangsmonologes vor dem Auftritt des Todes und der drei Nebenkläger also. Nachdem der Ästhet seine eigene Gefühllosigkeit (vgl. 3.4.1.) im Eingangsmonolog offenbart hat, bezeichnet er sein Studierzimmer als „Rumpelkammer voller totem Tand“ (TT 449). Er, der „den graden Weg […] nimmer fand“ und sich, wie im Vorherigen dargelegt, auf mehreren Ebenen als lebensunzulänglich erwies, bekennt anschließend, dass er versucht hat, mittels der Betrachtung von Kunst Zugang zum Leben zu finden. Er wollte sich mittels seiner Kunstkammer „in jenes Leben, das [er] so ersehnte, [einschleichen]“ (TT 449). Der 252 Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 208. 91 Ästhet erkennt hier an, dass seine museale Ansammlung von Kunstgegenständen und der hohe Rang, den er der Betrachtung dieser Sammlung in seinem Leben einräumte, bloß Substitutfunktion hatten, sie sollten die eigene Lebensferne kompensieren. Wenn unter Punkt 3.2.3. bereits angedeutet wurde, dass das Präteritum, welches Claudio beim Rundgang durch sein Studierzimmer verwendet, als er die Kunstgegenstände einzeln apostrophiert, aufdeckt, dass die einstige Kommunikation mit diesen Gegenständen nicht mehr die ersehnte Erfüllung bringt, zieht Claudio in den darauffolgenden Versen des Monologes eine Bilanz seiner ästhetizistischen Lebensführung. Nachdem er mit Bedauern ausgerufen hat: „Ihr wart doch all einmal gefühlt, gezeugt von zuckenden, lebendgen Launen […] und wie den Fisch das Netz, hat euch die Form gefangen!“ (TT 450), gesteht er im darauffolgenden Vers ein, dass seine der Kontemplation von Kunstgegenständen gewidmete Lebensführung ihm den unmittelbaren Zugang zum Leben „verschleiert“ habe. Dass sein Bemühen vergebens war, unterstreicht hierbei besonders die repetitive Verwendung des Adverbs „umsonst“: Umsonst bin ich, umsonst euch nachgegangen, Von eurem Reize allzusehr gebunden: Und wie ich eurer eigensinngen Seelen Jedwede, wie die Masken, durchempfunden, War mir verschleiert Leben, Herz und Welt, Ihr hieltet mich, ein Flatterschwarm, umstellt, Abweidend, unerbittliche Harpyien, An frischen Quellen jedes frische Blühen ... (TT 450) Claudio muss einräumen, dass die Kunstgegenstände ihm nur so viel vom Leben „verriet[en]“, wie er „fragend“ ihnen „einzuweben [vermocht]“ (TT 449). Die Gegenstände waren also stets nur Spiegel seiner selbst und somit der ihn charakterisierenden Lebensunzulänglichkeit.253 Er vergleicht sie in diesem Sinne mit „Harpyien“, mit hässlichen, dämonenartigen Wesen der griechischen Mythologie also, die ihn unerbittlich wie „ein Flatterschwarm“ umstellen und ihm so jeglichen unmittelbaren Zugang zum Leben verstellen. Claudio erkennt, dass die harpyienartigen Kunstgegenstände seine Sinne dermaßen verschleierten, dass er nur noch „aus toten Augen“ sah und „durch tote Ohren“ hörte (TT 450) und gesteht ein, dass er sich „an Künstliches verloren ha[t]“. Er begreift nun, so Bamberg, dass er, „indem er den glänzenden 253 Vgl. auch Szondi, Peter: Der Tor und der Tod, S. 265: „Die Kunst war nur Projektion seines Inneren, und sein Inneres nur ein Fragen, eine Sehnsucht, der die Antwort, die Erfüllung versagt blieb.“ 92 Trägern fremden Lebens und Fühlens nachgegangen ist, auf bedenkliche Weise das eigene verloren [hat].“ Vergleicht man Hofmannsthals Einakter mit dem thematisch verwandten Märchen, so wird deutlich, dass der Einakter jene Reflexion des Protagonisten beinhaltet, die der Ästhet des Märchens der 672. Nacht vermeidet, wenn er aufbricht, um die Sache „zur Ruhe zu bringen“ (MN 216). Claudio hingegen erkennt, dass seine Lebensferne durch den Ästhetizismus bedingt ist, welcher ihm zeitlebens den direkten Zugang zu seinen Mitmenschen und dem wirklichen Leben versperrt hat. Diese Erkenntnis wird bereits kurz vor dem Erscheinen des Todes ein erstes Mal ersichtlich, als Claudio in seinem Eingangsmonolog bekennt, dass er, „[nie ganz bewusst, nie völlig unbewusst,] stets […] einen rätselhaften Fluch“ die ästhetizistische Lebensweise und Wirklichkeitswahrnehmung mit sich „schleppte“ (TT 450). Der Ästhet begreift, dass dieser Fluch dazu führte, dass er „[s]ein Leben […] wie ein Buch“ erfuhr und alles, was er erlebte, „nie sich selbst bedeute[te]“ (TT 450). Er greift diese Erkenntnis dann wenig später auf, als er, rückblickend auf sein Leben, festhält, er sei stets: „von einem Bann befangen [gewesen], der nicht wich“, der ihn „rätselhaft gehemmt“, alle unmittelbaren Gefühle zerstört und seine Sinne unterbunden habe. Wenn Claudio angibt, die Welt wie ein Buch zu erleben, so bedeutet dies, wie Grundmann treffend analysiert, dass er „Welt und Ich gleichermaßen als Fiktion des eigenen Bewusstseins“ auffasst: „Das Buch wird zum Modell des Lebens und die Regeln, nach denen Texte dekodiert werden, werden zu Schematismen der Wirklichkeitskonstruktion.“254 Dadurch, dass Hofmannsthal seinen Protagonisten die ästhetizistische Lebensführung dermaßen explizit kritisieren lässt, scheint Claudio in diesem Moment als Sprachrohr des Autors zu fungieren, der die durch den Ästhetizismus bedingte Lebensferne zunehmend kritisch beleuchtet. Claudio reflektiert seine einseitige Fixierung auf die Vergangenheit unter Ausklammerung der Gegenwart nur indirekt, im Rahmen der eben dargelegten Reflexion über die Beziehung zu den Kunstgegenständen, die alle Reminiszenzen vergangener Epochen sind und Claudios innere Leere nicht füllen können. Der Ästhetizismus werde in diesem Sinne, so Grundmann, zu „einer spezifischen Variante des Historis254 Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 86. 93 mus, eines mehr oder minder produktiven Verhältnisses zu den kulturellen Zeugnissen vergangener Epochen.“ Die Gefahr bestehe hierbei darin, dass Vergangenes mit Gegenwärtigem verwechselt werde und das eigene Leben an „Künstliches“, an Kunstgegenstände vergangener Epochen, verloren gehe. Leiß unterstreicht in diesem Zusammenhang unter Verweis auf Rudolf Borchardt, dass das Drama zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung eine ähnliche Wirkung erzielt habe, wie Goethes Werther, da Hofmannsthals Einakter „dem Unbehagen einer gebildeten Leserschicht Ausdruck verlieh[en habe], die sich selbst in ihrem nur nachempfindenden Historismus als epigonal erlebte und glaubte, kein eigenes Leben vorweisen zu können.“255 Seeba und Alewyn heben ebenfalls die enorme Wirkung des Dramas hervor, von dem sich, wie vom Werther, „eine ganze Generation“ verstanden gefühlt habe.256 3.5. Der Tod Claudios Claudio sieht demnach seine Verfehlungen in Bezug auf die Stellung der Kunst, in Bezug auf die Vergangenheit sowie in Bezug auf die Rolle zwischenmenschlicher Beziehungen ein. Dass diese Einsicht jedoch nur partiell ist, wird daran deutlich, dass es dem Ästheten nicht gelingt, die Einsicht in die Grenzen seiner ästhetizistischen Wahrnehmungsweise in die Tat umzusetzen und sich vollkommen von seiner ästhetizistischen Wahrnehmungsweise der Wirklichkeit loszusagen. Trotz seiner Einsicht verfällt Claudio ähnlich wie der Kaufmannssohn am Ende des Dramas in alte Verhaltensmuster zurück, wodurch sein Urteil gefällt und sein Tod unausweichlich ist. Der Einakter bringt hierdurch die Stagnation menschlicher Handlungsmöglichkeiten zum Ausdruck: Die Protagonisten der Moderne befinden sich zwar „im Zustand gesteigerter Bewusstheit“, ihnen ist eine gewisse Einsicht in ihre Situation gewährt und sie „vermögen, ihr Lebensproblem zu formulieren“, diese Einsicht verlässt jedoch die Ebene der Reflexion nicht und wird nicht in Handlung umgesetzt. Dies führt dazu, dass die Protagonisten nur scheinbar über Autonomie verfügen, dass sie die Bühne des Dramas in Wahrheit aber „als Typen [betreten], denen jede Individualität, jede Entwicklung in der dramatischen Zeit verwehrt ist“. Sie sind somit keine eigenständigen Charaktere mehr, sondern Typen, welche „den 255 Leiß, Ingo; Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, S. 221. Vgl. Seeba, Hinrich C.: Kritik des ästhetischen Menschen, S. 23. Vgl. auch Alewyn, Richard: Der Tod des Ästheten, S. 295. 256 94 abstrakten Sachverhalt ästhetizistischer Existenz [verkörpern]: Tatenarmut, Gedankenschwere […] Sehnsucht nach dem trunkenen Augenblick.“257 Dass Claudio die Grenzen seiner ästhetizistischen Lebensführung zwar erkannt, er seine Verfehlungen aber nicht so vollständig eingesehen hat, dass sich hieraus eine Verhaltensänderung und somit eine Abkehr vom Ästhetizismus ergeben würde, wird noch vor dem Auftritt der drei Verstorbenen ein erstes Mal deutlich. Claudio verfällt kurz nach dem Auftritt des Todes in alte Verhaltensmuster: Er will nicht anerkennen, dass der Auftritt des Todes das Ende seines Lebens ankündigt, sondern nimmt diesen zum Anlass, die beginnende Einsicht in die Grenzen seines Ästhetizismus zu einer in ihm reifenden Lebenssehnsucht zu verklären. Claudio ruft aus, er fühle nun „tiefste Lebenssehnsucht“ in sich, und fordert den Tod dazu auf, ihn leben zu lassen: Ich aber bin nicht reif, drum lass mich hier. Ich will nicht länger töricht jammern, Ich will mich an die Erdenscholle klammern, Die tiefste Lebenssehnsucht schreit in mir. Die höchste Angst zerreißt den alten Bann; Jetzt fühl ich - lass mich - dass ich leben kann! (TT 456) Der Ästhet beteuert anschließend, er wolle sich ändern, er könne sein Herz nunmehr an Erdendinge hängen und werde die anderen nicht mehr als „Puppen“ (TT 456) wahrnehmen, sondern wolle Treue lernen und Schmerzen und Gefühle erfahren. Claudio gelobt, er wolle nunmehr jene Lebensbereiche erfahren, die er bisher ausgeklammert habe, und zwischenmenschliche Bindungen eingehen: „Ich werde Menschen auf dem Wege finden, nicht länger stumm im Nehmen und im Geben, Gebunden werden ja! und kräftig binden.“ (TT 456). Szondi bezeichnet diese Beteuerungen Claudios im Angesicht des Todes als einen „Schritt“ Richtung „Leben“ (vgl. Szondi, S. 267). Seiner Sichtweise kann jedoch nur partiell zugestimmt werden: Zum einen verfügt der Ästhet zwar zu diesem Zeitpunkt über eine gewisse Einsicht in die Grenzen seiner Lebensweise, zum anderen aber hat sich hieraus bisher keine endgültige Verhaltensänderung ergeben, sodass dieser „Schritt“ Richtung „Leben“ in Frage gestellt werden kann. Die hier vorgenommene Verklärung scheint vielmehr proleptisch jene Verklärung anzukündigen, die Claudio am Ende des 257 Vgl. Vogel, Juliane: Hofmannsthals und Schnitzlers Dramen, S. 289-291. 95 lyrischen Dramas vornehmen wird, wenn er erneut in alte Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster zurückfällt und den Tod zum Leben umdeutet. Obwohl er inständig versichert, die „höchste Angst zerreiß[e] den alten Bann“ (TT 456) der ästhetizistischen Wirklichkeitswahrnehmung und der hierdurch bedingten Lebensferne, verfällt er im Angesicht des Todes in genau jene Verhaltensweise zurück. Denn indem er sein zukünftiges Handeln dermaßen idealisiert, wendet er erneut das ästhetizistische Stilisierungsverfahren an, auf das er bereits zurückgriffen hatte, als er das Leben der einfachen Leute auf der gegenüberliegenden Hangseite idyllenhaft stilisierte, um so projektiv an deren Lebensfülle teilzunehmen. Die Glaubwürdigkeit der nach dem Erscheinen des Todes beteuerten Verhaltensänderung darf demnach hinterfragt werden. Claudio scheint keine dezidierte Verhaltensänderung zu intendieren, sondern verfällt vielmehr – trotz der partiellen Einsicht in die Grenzen des Ästhetizismus – in alte ästhetizistische Wahrnehmungsund Verhaltensmuster: Er stilisiert, euphemisiert nunmehr das Leben, um welches er bisher einen großen Bogen schlug, da er sich erhofft, so seine Lebensleere kompensieren zu können. Der Rückfall in alte Verhaltensmuster erklärt die unbeirrte Reaktion des Todes auf Claudios Ausrufe: Der Tod reagiert ungerührt, kühl und abweisend auf seine Bitte, er solle ihn weiterleben lassen, und weist den Protagonisten auf die gegebene, aber verfehlte Möglichkeit zum Leben hin. Dass Claudio seine ästhetizistische Wahrnehmungsweise nicht ablegen kann, wird ein zweites Mal am Ende des lyrischen Einakters deutlich. Hier verklärt Claudio nun nicht mehr das Leben an sich, sondern stilisiert, unter Anerkennung seiner Lebensunzulänglichkeit, den Tod selbst zum Leben: „Da tot mein Leben war, sei du mein Leben“ (TT 463). Claudio verfügt zwar sehr wohl über die Einsicht in seine Lebensunzulänglichkeit, diese impliziert aber nicht die Bereitschaft, sein Verhalten zu ändern, und kann daher nicht als vollkommene Erkenntnis gewertet werden. Im Vergleich zur Einsicht des Kaufmannssohnes, die nur marginal gegeben ist, gewinnt Claudio jedoch eine bedeutendere Einsicht in die Grenzen des Ästhetizismus. Dennoch impliziert Kaufmannssohn, so diese hält Einsicht keine auch Claudio Verhaltensänderung: an seinen Wie der ästhetizistischen Wahrnehmungsstrategien fest und wird diese mangelnde Einsicht nicht überleben. So wie der Kaufmannssohn aufbricht, um die „Sache“ zur Ruhe zu bringen, und im 96 Verlauf seines Weges durch die Stadt immer wieder auf alte Verhaltensmuster zurückgreift, so kann auch Claudio seine ästhetizistische Weltanschauung und das damit einhergehende Verhalten nicht endgültig ablegen und wird, wie der Kaufmannssohn, mit dem Tod bestraft werden. Wenn der Kaufmannssohn am Schluss des Märchens, als er den Soldaten Geld hinwerfen will, durch den Fußtritt eines Pferdes eines hässlichen Todes stirbt, so sinkt Claudio in dem Augenblick zu den Füßen des Todes nieder, in dem er seine Einsicht in sein verfehltes Leben zu einem Neubeginn verklärt: Erst, da ich sterbe, spür ich, dass ich bin. Wenn einer träumt, so kann ein Übermaß Geträumten Fühlens ihn erwachen machen, So wach ich jetzt, im Fühlensübermaß Vom Lebenstraum wohl auf im Todeswachen. (TT 463-464) Wie die Geduld des Lebens mit dem Kaufmannssohn endet, endet hier die Geduld des Todes mit dem Ästheten und er lässt diesen zu seinen Füßen niedersinken, bevor er „kopfschüttelnd“ (TT 464) abgeht. Durch sein Kopfschütteln kritisiert der Tod die Verklärung des Todes zum Leben, die Claudio mittels ästhetizistischer Strategien an seinem Lebensende zu unternehmen versucht. Nachdem diese Kritik zunächst durch die Regieanweisung: „indem er kopfschüttelnd langsam abgeht“, implizit ausgeübt wird, wird sie in den anschließenden Versen des Todes explizit versprachlicht: Wie wundervoll sind diese Wesen, Die, was nicht deutbar, dennoch deuten, Was nie geschrieben wurde, lesen, Verworrenes beherrschend binden Und Wege noch im Ewig-Dunkeln finden. (TT 464) Diese das Drama abschließenden Verse fassen Claudios ästhetizistische Lebensweise noch einmal zusammen: Er deutet, verklärt, das Leben und verschließt sich so jeglicher unmittelbaren Teilnahme am Leben. Dass Hofmannsthal Claudio, wie auch den Kaufmannssohn, aufgrund ihrer ästhetizistischen Lebensweise sterben lässt, verdeutlicht, dass der Tod der beiden Protagonisten als Urteil über die einseitig ästhetizistische Lebensweise gesehen 97 werden kann. Was Köster in Bezug auf das Märchen der 672. Nacht festhält,258 trifft in diesem Sinne auch auf das Drama Der Tor und der Tod zu: Wie das zwei Jahre später erscheinende Märchen, so kann auch der lyrische Einakter als parabelartiges Werk gelesen werden. Als Parabel gelesen, hebt der Einakter die Unzulänglichkeiten der rein ästhetizistisch ausgerichteten Lebensweise hervor und erlaubt dem Leser, die im Drama dargestellte Situation durch Analogiebildung auf einen allgemeinen, soziokulturellen, Sachverhalt,259 die unter Jünglingen der Jahrhundertwende verbreitete ästhetizistische Lebensweise, zu übertragen. In Bezug auf die mit der Form verbundene Aussage des Dramas verweist Vinçon darüber hinaus auf die ProverbeStruktur des Dramas: Hofmannsthal Einakter, den der Autor selbst als „tragédieproverbe“ bezeichnet habe, stelle sich in die Tradition des Proverbe. Diese Aussage Vinçons trifft insofern zu, als der Einakter sich als Stück präsentiert, in dem eine Wahrheit, „die sich in der Pointe des Schlusses darstellt“260, vorgeführt wird, wobei die „Wahrheit“ die ist, dass die ästhetizistische Lebensweise sich, wie im Märchen der 672. Nacht, als tödlich endender Irrweg erweist. Hierdurch kann der Rezipient gemeinsam mit Hofmannsthal zu einem Urteil über diese Existenzweise gelangen. Nach seiner anfänglichen, jugendlichen Begeisterung für dieses Phänomen fällt der Autor demnach in seinen Werken gewissermaßen ein Urteil über den Ästhetizismus und will dies dem Leser mittels seiner Schriften verdeutlichen. Ähnlich sieht dies Alewyn: „So ist Hofmannsthal gewiss auch Claudio, aber er ist außerdem sein Dichter – und sein Richter. Wenn Hofmannsthal sich hier mit Claudio identifiziert, so tut er es, um sich damit von ihm zu distanzieren.“ Das Anliegen Hofmannsthals werde somit fortan die „Erziehung zum Leben“ sein.261 Das Drama sei demnach, so Haupt und Würffel, „zugleich Auseinandersetzung mit dem Ästhetizismus des Fin de siècle und in Gestalt des Frühreifen, der aus dem Umgang mit der Kunst schon alles zu kennen meint, ohne sich je auf etwas wirklich, d.h. nicht nur ästhetisch distanziert, eingelassen zu haben, Hofmannsthals mit sich selbst.“262 258 Köster, Thomas: Die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, S. 147: Thomas Köster hält in Bezug auf das Märchen der 672. Nacht fest: „[Die] Erzählung gerät zur modern gefassten Parabel, fast schon zum ‚Lehrstück‘ eines ungelebten Lebens.“ 259 Vgl. Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon, S. 340. 260 Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon, S. 368. 261 Alewyn, Richard: Der Tod des Ästheten, S. 296-297, S. 307. 262 Haupt, Sabine; Würffel, Stefan Bodo (Hrsg.): Handbuch Fin de Siècle, S. 424- 425. 98 4. Arthur Schnitzler: Der einsame Weg Das 1903 entstandene Drama in fünf Akten Der einsame Weg spielt im Wien der Jahrhundertwende und wird von „zwei überlagernden Handlungssträngen bestimmt, der Familientragödie um den Kunstprofessor Wegrat und dem Künstler- und Einzelgängerdrama um den Dichter Stephan von Sala und den Maler Julian Fichtner“263. Das Werk Schnitzlers thematisiert hierbei sowohl den Niedergang der bürgerlichen Familie Wegrat als auch den der beiden Künstler Julian Fichtner und Stephan von Sala. „Jeder Lebensweg“ im Drama „führt in die Einsamkeit, über allen lastet der Schatten des Todes.“ Die Schicksale der Figuren sind zwar auf vielfältige Weise miteinander verknüpft, die die Figuren bestimmende Vereinzelung wird hierdurch jedoch nicht aufgehoben.264 Das Drama kann somit als „Drama der Beziehungsschwäche“ gelesen werden, einer Beziehungsschwäche, welche symptomatisch für die in der Gesellschaft um 1900 „um sich greifende zwischenmenschliche Entfremdung“265 ist. 4.1. Zusammenfassung des Werkes Familie Wegrat lebt am Rande von Wien in einem großbürgerlichen Haus mit Garten. Wegrat ist als Direktor der Akademie der bildenden Künste tätig, seine Frau Gabriele leidet an Schwindsucht, ist somit ans Haus gebunden und stirbt im Laufe des Dramas. Die zweite weibliche Figur, Johanna, ist ebenfalls im großbürgerlichen Haus mit dem angrenzenden Garten gleichermaßen gefangen, während ihr Bruder Felix als Soldat dient und so eine gewisse Freiheit genießt. Im Gegensatz zu den weiblichen Mitgliedern der Wegratschen Familie kann er so der Enge der bürgerlichen Sphäre entkommen. Nach Jahren des Umherziehens taucht der Künstler Fichtner, der eigentliche Vater von Felix, auf und hofft, eine Beziehung zu seinem Sohn, um den er sich bisher nie gekümmert hat, aufbauen zu können, um so seiner Einsamkeit zu entfliehen. Auch den Künstler Stephan von Sala drängt es ins Haus der Wegrats: Er hat sich in Johanna verliebt, die ihm zugunsten auf die Heirat mit dem Arzt Reumann verzichtet. Sala aber zögert, eine dauerhafte Beziehung zu ihr einzugehen, da er als 263 Fischer, Cornelia: Der einsame Weg. In: Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers neues Literaturlexikon. Band 14. München 1990, S. 1027. 264 Vgl. Fischer, Cornelia: Der einsame Weg, S. 1027. 265 Vgl. Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 118. 99 bindungsunfähiger, egozentrischer Ästhet das eigene Wohlbefinden und seine Freiheit absolut setzt und sich einer Expedition nach Baktrien anschließen will. Johanna, die es ebenfalls seit ihrer Kindheit aus der Enge der bürgerlichen Welt in die Ferne drängt, ist einerseits fasziniert von Salas Expeditionsplänen, andererseits aber realisiert sie im Laufe des Dramas Salas Bindungsunfähigkeit und kommt der bevorstehenden Trennung zuvor, indem sie den Freitod wählt. Kurze Zeit später wählt auch der – ebenfalls leidende – Sala den Weg in den Tod. Zurück bleiben drei einsame Figuren: Felix, Wegrat und Fichtner. Exkurs: Forschungsüberblick: Obwohl Der einsame Weg „als eines der Hauptwerke des österreichischen literarischen Impressionismus [gilt]“266, sind die Publikationen zu Schnitzlers Werk nicht sehr zahlreich. Die ergiebigsten Aufsätze sind die Alfred Dopplers, der in seinen beiden Publikationen das unethische Handeln der Protagonisten untersucht und die Fragwürdigkeit des Zeitphänomens Ästhetizismus in Beziehung zu Schnitzlers zunehmend kritischer Sicht auf den Ästhetizismus stellt. Jochen Schmidt seinerseits stellt die Analyse der scheiternden Kommunikation zwischen den Protagonisten in den Vordergrund und liest dieses Scheitern als symptomatisch für die die Jahrhundertwende bestimmende Erfahrung der Entfremdung. Auch Achim Würker, der den Text psychoanalytisch liest, hebt das Scheitern der Beziehungen im Werk hervor, geht allerdings vorwiegend auf die Beziehung zwischen Johanna und Sala ein. Er hält fest, dass „alle wesentlichen Paarbeziehungen scheitern“, und interpretiert den Text dahingehend, dass das Thema Einsamkeit allein als „die Unmöglichkeit der Beziehung zwischen Mann und Frau“ exponiert werde. Die Abwesenheit von Beziehung sei für Sala insofern positiv konnotiert, als „die Abwesenheit einer solchen Beziehung zu einer Person des anderen Geschlechts der eigenen Generation mit Entfaltung/Grenzenlosigkeit und Grandiosität assoziiert“ werde. Die Beziehung zur Frau erscheine dem Mann dadurch als „Identitätsgefährdung“, dass sie „als Grenze imaginiert wird, die Freiheit und grandiose Entfaltung verhindert.“ Auch Astrid Lange-Kirchheim und Rudolf Heinz lesen den Text psychoanalytisch. 266 Fischer, Cornelia: Der einsame Weg, S. 1027. 100 Im Gegensatz zu den beiden zuvor untersuchten Werken Hofmannsthals zeichnet Schnitzlers Drama nicht nur die ästhetizistische Welt kritisch, sondern Schnitzler steht ebenfalls der Enge der bürgerlichen Welt skeptisch gegenüber. Gerade die Tatsache, dass die bürgerlichen Personen im Drama, wie der Arzt Reumann oder Johannas Vater, Wegrat, nicht „Gegenspieler des alternden Ästheten werden“, ist daher nicht bloß als „ein Zeichen persönlicher Schwäche“ zu werten, sondern hebt die „allgemeine Schwäche der humanistischen Position innerhalb der herrschenden bürgerlichen Konventionen hervor.“267 Der behandelte Themenkomplex ist, so schreibt Doppler, „in vielfältiger Weise mit dem Lebensklima im Wien der Jahrhundertwende verwurzelt.“268 Im Drama wird vor allem die Beziehungsschwäche beider Sphären thematisiert und so das für das Fin de siècle typische Gefühl der allseitigen Entfremdung hervorgehoben. Schnitzler „inszeniert damit zugleich die Krise einer sich auflösenden Gesellschaft.“269 Im Folgenden soll sich die Untersuchung des Dramas Der einsame Weg jedoch auf die im Drama zentrale Künstlerfigur, Stephan von Sala, und dessen Lebensunzulänglichkeit konzentrieren, da die Darstellung und kritische Hinterfragung der ästhetischen Existenz Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist. Eine Untersuchung der Darstellung der bürgerlichen Sphäre würde den Rahmen der Arbeit überschreiten. Das Verhalten der beiden anderen im Vergleich zu Sala marginalen Künstlerfiguren Irene Herms und Julian Fichtner wird bei Bedarf vergleichend hinzugezogen. 4.2. Die Lebensunzulänglichkeit Stephan von Salas Wie seine literarischen Zeitgenossen aus dem Märchen der 672. Nacht und dem lyrischen Drama Der Tor und der Tod, kann auch der Schnitzlersche Protagonist Stephan von Sala als lebensferner Ästhet angesehen werden, der sich aufgrund seiner Lebensunzulänglichkeit in eine ästhetizistische Ersatzwelt zurückgezogen hat und hofft, durch diesen Rückzug die unerträglichen äußeren Gesellschafts- und Lebensverhältnisse kompensieren zu können. Er ist hiermit, wie der Kaufmannssohn und wie Claudio, als Vertreter einer jungen Wiener Generation anzusehen, für die die 267 Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg. Die Stellung und Darstellung des Ästheten im Wien der Jahrhundertwende. In: Kafitz, Dieter (Hrsg.): Drama und Theater der Jahrhundertwende. Tübingen 1991, S. 46. 268 Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 37. 269 Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 118. 101 Welt der Gründerväter keine verbindlichen Wertmaßstäbe mehr bietet. Die Söhne stehen der Welt ihrer Väter, in der sich in ihren Augen Widersprüche zwischen humanitärem Anspruch und Geschäftspraxis auftun, skeptisch gegenüber und sind „insgeheim überzeugt, dass sich bürgerliche Humanität“ in einer dem wirtschaftlichen Liberalismus verpflichteten Zeit „unmöglich verwirklichen lasse“270. Die junge Generation fühlt sich „von einer Ordnung abgestoßen, die den Anspruch nicht mehr einlös[t], den sie vorg[ibt], zu vertreten“271 und sucht hieraufhin Zuflucht in von der zeitgenössischen Wirklichkeit abgeschirmten, ästhetizistischen Ersatzwelten. Dieses Verhalten erscheint dem jungen Schnitzler selbst kurzzeitig als Ausweg, er steht ihm dann aber zunehmend skeptisch gegenüber, wie es in seinem Briefwechsel mit Olga Waissnix deutlich wird, und verurteilt es letztendlich. Doppler führt in diesem Kontext einen Brief Schnitzlers an Otto Brahm anlässlich der Uraufführung des Einsamen Weges an, in welchem Schnitzler „den autobiographischen Anteil“ seines Dramas zusammenfasst: Im Übrigen bin ich sehr dabei, mit dem Herzen sehr und beinah noch mehr […] mit dem Verstande, und rede mir manches von der Seele, insbesondere viel gegen mich. Ich verurteile mich gewissermaßen zu Tode – um mich außerhalb des Stückes umso sicherer begnadigen zu können.272 Das Stück wird so gleichsam zur Abrechnung mit der ästhetizistischen Existenzweise und der früheren eigenen Sichtweise. 4.2.1. Rückzug aus der Gesellschaft in die Welt der Kunst Ähnlich wie seine Leidensgenossen Kaufmannssohn und Claudio, hat sich der 45jährige Stephan von Sala weitgehend aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen und pflegt nur noch wenige gesellschaftliche Kontakte, wie etwa zu Familie Wegrat oder zu der Schauspielerin Irene Herms und dem Künstler Julian Fichtner. Sein Rückzug ist hierbei ein doppelter: Einerseits plant er eine Expedition 270 Vgl. Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 38. Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 38. 272 Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 39. Doppler führt aus, dass die Briefe an Olga Waissnix auf einer vergeistigten Spielebene die Auseinandersetzung mit der Anatol-Zeit verdeutlichen. Schnitzler beklage in den Briefen das Lächerliche der impressionistischen und auch der eigenen Lebensführung und ihm werde „schmerzlich der Gegensatz von spielendem Ästheten“ und einem Künstler bewusst, „der sich der Welt und den Menschen gegenüber“ öffne. Er erkenne, „dass das In-sich-selbst-Versponnensein Assoziationen entfessel[e], die Glück und Unglück zugleich sind; Glück, weil sie das Leben steigern und ein schönes Dasein imaginieren; Unglück, weil sie die für den Alltag nötige Integration von Gefühl und Verstand hintertreiben.“ 271 102 nach Baktrien in ein Land, „das gar nicht mehr existiert“273, wie er mit gewissem Stolz hervorhebt auf welche unter Punkt 4.2.2 noch zurückzukommen sein wird. Andererseits hat Stephan von Sala sich mit dem Bau seiner Villa innerhalb Wiens ein abgeschlossenes, an der Vergangenheit orientiertes, Ersatzuniversum geschaffen. Auffällig ist hierbei, dass der Rückzug beide Male sowohl auf räumlicher (nach Baktrien und in die abgeschirmte Villa) als auch auf zeitlicher Ebene (Expedition in die versunkene Stadt Ekbatana, Orientierung des Villen- und Gartendekors an der Vergangenheit) stattfindet, was den Abstand der gewählten Rückzugsorte zur zeitgenössischen Wirklichkeit, der Sala zu entfliehen sucht, umso größer erscheinen lässt. Auch wenn Schnitzler Salas Villa nicht so detailreich beschreibt, wie Hofmannsthal das Interieur der Wohnung des Kaufmannssohnes oder das Interieur von Claudios Studierzimmer, so offenbart die Beschreibung der Villa doch einerseits, dass Sala größte Sorgfalt walten lassen hat, um seine Villa von der Umgebung abzutrennen, und dass er sich andererseits in diesem abgeschiedenen Schutzbereich ein ästhetizistisches Ersatzuniversum erschaffen hat. Er hat die Villa zunächst am Waldrand, also abseits des Stadtzentrums, erbauen lassen, zusätzlich scheint eine Baumallee das ebenerdig erbaute Haus von der Umgebung abzuschirmen. Das Grundstück selbst ist von einem Gitter umgeben, welches die Grenzen des ästhetizistischen Rückzugsortes klar definiert. Zwar hat von Sala in dieses Gitter eine kleine Tür einbauen lassen, „die direkt in den Wald hinausführt“ (EW 23) und so die Illusion einer Verbindung zur Natur schafft, doch sein konstruiertes Ersatzuniversum ist durch das Gitter deutlich von der angrenzenden Natur abgetrennt. Wie Claudio die Natur nur durch den Fensterrahmen betrachtet, so schafft auch Sala mittels des Gitters eine gewisse Distanz zur Natur, die ihm eine ästhetizistische Betrachtung derselben erlaubt. Doppler unterstreicht in diesem Zusammenhang zudem, dass Sala die den Villengarten umgebende Natur instrumentalisiere, indem er den Garten scheinbar in die Weite der Natur übergehen lasse. Hierdurch werde die Natur zum Teil des „Kunstwerks Garten“: „Der Garten geht scheinbar über in die Weite der Natur, die keinesfalls für sich steht, sondern Teil des Arrangements ist, das das Leben zur Kunst 273 Schnitzler, Arthur: Der einsame Weg. Stuttgart 2006, S. 10. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mittels der Abkürzung EW und unter Angabe der Seitenzahl zitiert. 103 erhebt.“274 Im Sinne von Briese-Neumanns Definition erweist sich Sala durch diese „ästhetische Wahrnehmung der Außenwelt“275 als Ästhet. Sala erschafft sich in der Absicht, die Natur aus der Distanz zu betrachten darüber hinaus mit dem Park der Villa gewissermaßen einen „künstlichen“ Naturbereich innerhalb der Natur, den er mittels seiner Phantasie als „natürliche“ Natur imaginiert: „Mein Garten ist der Wald selbst – für Leute, die ihre Phantasie nicht durch ein dünnes Gitter behindern lassen.“ (EW 23). Weshalb es dann aber dieses Gitters zum Wald hin bedarf, darauf geht Sala nicht ein, was vermuten lässt, dass er, wie sein Zeitgenosse Claudio, der Wirklichkeit der Natur nicht gewachsen ist und diese nur aus ästhetischer Distanz betrachten kann. Aus diesem Grund sind auch die Gartenanlagen der Villa nicht naturbelassen, sondern scheinen planvoll angelegt: Um einen kleinen Teich steht „im Halbkreis eine kleine Baumanlage“ herum (EW 67), von dort aus läuft eine Allee „schief nach rechts hin“. Am Alleenbeginn wiederum wurden zwei Säulen errichtet, auf denen „die Marmorbüsten von zwei römischen Kaisern“ stehen, rechts vom Teich befindet sich eine „steinerne Bank mit Lehne, halbkreisförmig“ (EW 67), deren Form die Form der Baumanlage symmetrisch aufzugreifen scheint. Doppler hält fest, dass Sala die „Position des aristokratischen Künstlers“ eigen sei, der sein „Unbehagen an der Wirklichkeit“ mit dem „Zur-Schaustellen einer feudalen Lebensart inmitten einer verbürgerlichten Umwelt“ kompensiere.276 Die sorgfältig angelegten Gartenanlagen versinnbildlichen demnach die ästhetizistische Lebenshaltung Claudios. Laut Kretschmann ist der Bühnenraum „niemals nur Ort der Handlung, sondern immer auch Seelenspiegel der handelnden Figuren“277. Auch in Schnitzlers Drama komme dem in den Regieanweisungen detailliert beschriebenen Bühnenraum so eine Bedeutung zu: Der Garten Salas stehe, als Bühnenraum, für eine bestimmte 274 Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“ Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg. In: Modern Austrian Literature 12.1 (1979), S. 7. 275 Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 250. 276 Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 7. 277 Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (2002), S. 298-299, unter Verweis auf Bender, Petra: Raum und Zeit. Kategorien des Seins und des Bewusstseins. Untersuchungen zu ausgewählten Dramen Arthur Schnitzlers. München, Universität, Phil. Diss. 1976, S. 164, S. 170f., S. 185f., S. 207-211. Vgl. auch Schiffer Helga: Die frühen Dramen Arthur Schnitzlers. Amsterdam 1994, S. 122: Der beengte Wegratsche Garten spiegele so die Beengtheit, die Begrenztheit und die Perspektivlosigkeit, welche das bürgerliche Haus darstellt und entfaltet Bedrohungspotential für die weiblichen Familienmitglieder, für welche sich die „Enge des Gartens unversehens in die Ausweglosigkeit eines Gefängnisses verwandelt.“ 104 Künstlerhaltung, die grandseigneurale, erinnerungsfixierte Haltung des Künstlers,278 und verbildliche die ästhetizistische Haltung Salas: Der Garten „ist […] die weihevolle Stätte vollkommener Schönheit“. Dem Garten fehle, im Gegensatz zum Garten der Wegrats, in welchem Obst und Gemüse angepflanzt seien, der Nützlichkeitsaspekt völlig, der Garten sei reines „Produkt jener ästhetischen Inszenierungen, die Salas Leben durchziehen, es gleichsam konservieren“.279 Bezeichnend ist zudem, dass Sala – wie der Kaufmannssohn und wie Claudio – keinem geregelten Erwerbsleben nachgeht, sondern „seltsame Verse“ (EW 11) schreibt, wie Johanna Wegrat aussagt, also als Literat tätig ist. Seine Verse scheinen jedoch bei seinen Zeitgenossen wenig Anklang zu finden, wie bereits Johannas Verwendung des Adjektivs „seltsam“ vermuten lässt und wie es Irene Herms Aussagen bestätigen: Denn was seine sogenannten Dichtungen anbelangt, so halt' ich sie für Blödsinn. Und bekanntlich steh' ich mit dieser Ansicht nicht vereinzelt da. Aber du kennst ihn ja nicht. Um diesen Herrn in seiner ganzen Größe würdigen zu können, hat man ihn auf den Proben genießen müssen. Kopierend. Mein Fräulein, es sind Verse – Verse, mein Fräulein . . . Das muss man von ihm gehört haben, um zu wissen, was für eine maßlose Arroganz in ihm steckt . . . . (EW 35) Schenkt man diesen doch etwas zu relativierenden, weil subjektiven Aussagen Irene Herms Glauben, wäre von Sala eher als Dilettant, denn als wirklicher Dichter anzusehen, wobei im Begriff Dilettant einerseits die negative Konnotation mitschwingt, die Herms Aussagen nahelegen, der Begriff andererseits aber auch positiv konnotiert ist. So gilt der Dilettant in der Jahrhundertwende als „Anhänger der Kunst ohne kreative Tätigkeit, das heißt sein Standort w[ird] auf eine Stellung zwischen Künstler und Nicht-Künstler fixiert“, wobei der Dilettant „die Rolle des Künstlers tangiere“280. Die Selbstwahrnehmung Salas, wie auch die Fichtners, hingegen stehen ihrem jeweiligen Erfolg in der Öffentlichkeit diametral entgegen: „Stephan von Sala und Julian Fichtner haben sich aus dem gewöhnlichen Leben mit seinen alltäglichen Aufgaben und Verpflichtungen zurückgezogen, sie stehen 278 Vgl. Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 304: Das Zimmer des Malers Julian Fichtner, der einem anderen Künstlertypus als Sala zuzuordnen sei, hingegen spiegele eine bohemienhafte, augenblicksfixierte künstlerische Haltung. 279 Vgl. Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 305. 280 Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 318. 105 außerhalb der Gesellschaft, in der Überzeugung, über ihr zu stehen.“281 Dass Sala trotz seiner eher bescheiden anmutenden künstlerischen Erfolge dennoch eine derart prunkvolle Villa errichten kann, weist darauf hin, dass Stephan von Sala, wie Claudio und der Kaufmannssohn, auf Ererbtes zurückgreift, um sein Ersatzuniversum zu konstruieren. Seine Tätigkeit scheint sich also weitgehend im „Sohn-Sein“282 zu erschöpfen, wie dies Mauser in Bezug auf den Kaufmannssohn festhält. Wie der Kaufmannssohn scheint sich auch Stephan „geistig und materiell in Verhältnissen“ zu bewegen, „die er nicht selbst geschaffen, sondern als Erbe und Nachfahre übernommen hat.“283 Vergleicht man Salas Rückzug mit dem Rückzug des Kaufmannssohnes und dem Claudios, so fällt auf, dass sich Sala als Einziger der drei Protagonisten nicht aufs Land zurückzieht, sondern seine Villa in Wien errichtet. Dass er durch diesen Bau seiner palastartigen Villa dennoch keine feste Verwurzelung in der Stadt sucht, sondern seine Villa einen ästhetizistischen Rückzugsort vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit darstellt, wurde bereits dargelegt. Unterstrichen wird die Tatsache, dass Sala kein definitives Niederlassen in der Wiener Gesellschaft intendiert, dadurch, dass der Ästhet immer wieder betont, sich nur für kurze Zeit in der Villa aufhalten zu wollen: Er verdeutlicht so beispielsweise im ersten Akt, dass er „für längere Zeit“ auf Reisen gehen und die Villa deshalb „nur vorläufig, nicht definitiv“ beziehen wolle (EW 8). Im vierten Akt unterstreicht er dann Johanna gegenüber seine Ungebundenheit: „Ich bin nicht gebunden. Nichts hindert mich, zu Hause zu bleiben, wenn ich nicht gelaunt bin, fortzugehen.“ (EW 72). In diesen Sätzen deutet sich bereits der für den Ästheten typische Egozentrismus an: Ungeachtet zwischenmenschlicher Bindungen und ungeachtet der Empfindungen seiner Mitmenschen, strebt Sala stets rein eigennützig nach der Erfüllung der eigenen Bedürfnisse und instrumentalisiert seine Mitmenschen, um diese Bedürfnisse zu erfüllen, wie unter Punkt 4.2.3. genauer dargelegt werden wird. 281 Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 6. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 166. 283 Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 165. 282 106 4.2.2. Vergangenheit In gleichem Maße wie die Hofmannsthalschen Protagonisten inszeniert Schnitzlers Künstlerfigur Stephan von Sala die Vergangenheit als Gegenpol zu einer als negativ erfahrenen Gegenwart. Dies wird am Arrangement seines Gartens ersichtlich, dessen Bild von römischen Kaiserbüsten, antiken Säulen und Marmorbänken geprägt ist, die auf die rückwärtsgewandte Lebenshaltung des Protagonisten verweisen: „So ist Salas Park, hierin ganz Spiegelbild seines Besitzers, in allem […] ein Produkt eines Vergangenheit suchenden und Schönheit schaffenden Geistes.“284 Doppler interpretiert das dezidiert an der Vergangenheit orientierte Gartenarrangement und die prunkvolle Villa Salas als „Zur-Schaustellen einer feudalen Lebensart inmitten einer verbürgerlichten Umwelt“285, hebt demnach Salas Verhaftetsein an einer auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert überkommenen feudalen Epoche hervor. Sala verkörpere somit „die Geisteshaltung des Historismus: Sinn, den er in der Gegenwart nicht findet, soll ihm von jenen menschlichen Leistungen bestätigt werden, ‚welche aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinreichen‘.“286 Salas Rückwärtsgewandtheit und seine Orientierung an einer längst vergangenen Epoche können somit ebenfalls als Hinweis darauf gesehen werden, dass die neue, moderne bürgerliche Welt der Väter für die Generation der Söhne keine identitätsverbürgende Kraft besitzt: Aus diesem Grund suchen sie die Welt der Väter mittels ihrer dezidiert an vergangenen Epochen ausgerichteten Lebenshaltung quasi zu negieren. Die Vergangenheit sei für Sala „konstitutiv für die Gegenwart“, sei „ganz Selbstzweck“, so Kretschmann, besonders der vierte Akt thematisiere diese „Beschwörung des Vergangenen als der wahren Wirklichkeit“287. Doppler sieht dies ähnlich: „Die nichtig erscheinende Außenwelt wird mit dem Mantel eines historisierenden Stils umhüllt […] die Gedanken wandern in eine vorgeschichtliche Zeit zurück, der Orient wird 284 Vgl. Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 305. Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 7. 286 Vgl. Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 44 unter Verweis auf Broch, Hermann: Schriften zur Literatur I, Frankfurt am Main 1975, S. 113. 287 Vgl. Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 310. 285 107 zum Namen einer undefinierbaren Sehnsucht“288. Schnitzler reflektiere hier, so Schmidt, den um die Jahrhundertwende florierenden Exotismus psychologisch.289 Wie auch für den Kaufmannssohn, stellen die Vergangenheit und die Kunst für Sala demnach Fluchtmöglichkeiten dar: Sala sucht dem Leben in der Gegenwart, dem er nicht gewachsen ist, durch eine Expedition in die Vergangenheit, nach Baktrien290, zu entfliehen. Sala stilisiert infolgedessen die, im heutigen Afghanistan gelegene, untergegangene Stadt Ekbatana zu seinem Sehnsuchtsort und stellt sie der negativ konnotierten, für ihn unlebbar gewordenen, modernen Wirklichkeit kontrastiv gegenüber, wie seine Beschreibungen der Stadt verdeutlichen: Denken Sie nur, Fräulein Johanna: Mit eigenen Augen sehen, wie solch eine begrabene Stadt allmählich aus der Erde hervortaucht, Haus um Haus, Stein um Stein, Jahrhundert um Jahrhundert. (EW 10) Denken Sie, unter dem Schutt und Staub vermutet man eine Riesenstadt, etwa von der Ausdehnung des heutigen London. Damals sind sie in einen Palast hinuntergestiegen und haben die wundervollsten Malereien gefunden. In einigen Gemächern waren sie vollkommen erhalten. Und Stufen haben sie ausgeschaufelt; aus einem Marmor, der sonst nirgends gefunden wurde. Vielleicht stammt er von einer Insel, die seither ins Meer versunken ist. Dreihundertzwölf Stufen, glänzend wie Opale, die in eine unbekannte Tiefe hinabführen ... Unbekannt, denn bei der dreihundertzwölften Stufe haben sie aufgehört, zu graben – weiß Gott, warum! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich diese Stufen intriguieren. (EW 31) Es wird in diesen Beschreibungen deutlich, dass das laut Salas Aussagen vor 6000 Jahren untergegangene Ekbatana im Künstler rein positive Konnotationen hervorruft, die der negativ konnotierten Erfahrung der eigenen Wirklichkeit diametral entgegengesetzt sind. Ähnlich sieht dies Kretschmann, der betont, dass Reisen in die Vergangenheit stets zugleich auf ein „Verdrängen der Gegenwart“291 hinweisen würden. Dass Sala bei der Schilderung Ekbatanas auf ästhetizistische Verfahren zurückgreift, um die Vergangenheit zu euphemisieren, verdeutlicht die Stilisierung der Stadt zum Sehnsuchtsort: In der „Riesenstadt“ Ekbatana habe man, so Sala, einen Palast mit den „wundervollsten Malereien“ entdeckt, habe Stufen aus einem Marmor 288 Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 8. Vgl. Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 123: „Die Sehnsucht nach einem begrenzten örtlich fixierten und stabilisierten Dasein wechselt mit extremem Entgrenzungsverlangen, das auch Schnitzler inszeniert, um den um die Jahrhundertwende florierenden Exotismus psychologisch zu reflektieren.“ 290 Vgl. Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 123. Alexander der Große erreichte das Land auf seinem Feldzug nach Indien im Jahre 329 v. Chr.. 291 Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 308. 289 108 ausgeschaufelt, „der sonst nirgends gefunden wurde“ und der „glänzend wie Opale“ war. Kirchheim292 wie auch Kretschmann verweisen auf die Parallelen zwischen der Beschreibung Ekbatanas und Salas Villa sowie der sie umgebenden Gartenanlagen, was darauf hindeutet, dass Sala versucht, die versunkene Stadt an seinem Wiener Rückzugsort zu rekonstruieren. Dies unterstreicht erneut seine Orientierung an der Vergangenheit. Die Beschreibungen Ekbatanas deuten bereits darauf hin, dass Sala, wie der Kaufmannssohn und Claudio, ästhetizistische Verfahren anwendet, um die Vergangenheit oder aber unmittelbar Erlebtes zu beschönigen. Die mittels ästhetizistischer Überhöhungsverfahren produzierten Bilder der Stadt Ekbatana, aus denen von Sala augenblickhafte Erfüllung erfährt, werden jedoch, wie der an Alexander orientierte Sterbeentwurf des Kaufmannssohnes, keinen dauerhaften Bestand haben. Der Zusammensturz ist dem ästhetizistisch entworfenen Idealbild der Stadt immanent, die Stilisierung der Vergangenheit wird es Sala nicht erlauben, seine Lebensunzulänglichkeit dauerhaft zu kompensieren, sie bleibt Augenblickserlebnis. Insofern ist Sala als typischer Ästhet zu definieren, der die Realität „a priori verklärt“ und sie zugleich nur „impressionistisch perzipiert“293. Der Verfall der Stadt kann ebenfalls als Prolepse auf den Verfall des – gesundheitlich angeschlagenen – Sala gelten, wie Kretschmann hervorhebt: Salas Expedition ist „so gesehen nichts anderes als ein großes, endgültiges ‚Fort‘ ins Nichts. Die versunkene Riesenstadt ist nichts als – versunken; sie steht für jenen Verfall, dem Sala preisgegeben ist.“294 4.2.3. Zwischenmenschliche Beziehungen Die Lebensunfähigkeit Stephan von Salas wird auch in den Beziehungen zu seinen Mitmenschen deutlich: So fällt auf, dass er erstens keine wirklichen Beziehungen zu 292 Lange-Kirchheim, Astrid: Die Verklärung des Sohnes und die Tötung der Frauen. In: Cremerius, Johannes (Hrsg.): Methoden in der Diskussion. Würzburg 1996, S. 155. Sie findet, die Villa trete in Korrespondenz zur Stadt im Orient. Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 309: Er stellt eine Korrelation zwischen der Stadt und Salas Garten fest: „Wie die 312 Marmorstufen auf die Steintreppe in Salas Garten verweisen, deren sechs Stufen genau die Quersumme der baktrischen Treppenanlage bilden, erinnert der höchst seltene Marmor an die Marmorbank, auf der Sala in IV,1 Platz nimmt, bevor er in Erinnerungen versinkt.“ 293 Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 253. 294 Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 308. Vgl. auch Schiffer Helga: Die frühen Dramen Arthur Schnitzlers, S. 150. 109 seinen Mitmenschen aufzubauen vermag und dass er zweitens seine Mitmenschen instrumentalisiert, um die Leere in seinem Leben zu kompensieren. Bezeichnend ist zunächst, dass Salas Vergangenheit von Verlust geprägt ist, dass Schnitzler also bewusst einen Protagonisten zeichnet, der keine familiären Bindungen mehr hat: Salas Frau sowie seine Tochter sind vor sieben Jahren verstorben, wobei beider Todesumstände unklar bleiben und die Schauspielerin Irene Herms eine Mitschuld Salas am Tod seiner Familienangehörigen andeutet. Wie die beiden anderen Künstlergestalten des Dramas, die Schauspielerin Irene Herms und der Maler Julian Fichtner, lebt Sala nun alleine und kultiviert diese Einsamkeit, die er mit Freiheit und Unabhängigkeit gleichsetzt: „Freunde habe ich im allgemeinen nicht. Und wenn ich sie habe, verleugne ich sie.“ (EW 18). Schmidt hebt in diesem Kontext hervor, dass Schnitzler die Einsamkeit seiner Protagonisten nicht mehr wie im Sturm und Drang „als Qualitätsmerkmal aus einem Autonomie beanspruchenden Schöpfertum“ oder wie in der Romantik „aus der Sonderwelt einer absolut gesetzten Imagination“ ableite, sondern dass die Einsamkeit im untersuchten Drama vielmehr aus „einer dekadenten Schwäche [entstehe]: aus der Unfähigkeit aller Personen zur zwischenmenschlichen Beziehung“295. Diese Einsamkeit zeige sich in Schnitzlers Oeuvre zwar vorwiegend in Künstlergestalten, die Künstlerdramen Schnitzlers, wie beispielsweise Der einsame Weg, würden aber insofern über sich hinausweisen, als die sie dominierende Einsamkeit eine „allgemeine sozio-kulturelle Befindlichkeit“296 repräsentiere. Indem Schnitzler diese die Fin-de-siècle-Stimmung dominierende Einsamkeit in seinen Dramen exponiert, wird er, wie Saße pointiert zusammenfasst, zum „Diagnostiker menschlicher Seelendispositionen des Fin de Siècle“, einer Epoche, in der sich hinter der äußeren Fassade vieler Menschen „eine zweite Welt entfaltet, die in solipsistischer Verschlossenheit dem Spiel von Halbbewusstem und Bewusstem unterliegt“. Dies hat zur Folge, dass „alle Möglichkeiten zwischenmenschlicher Verbindung und Verständigung [ausgehöhlt werden]“ und „[Entfremdung] an die Stelle vertrauensvoller Nähe und Offenheit [tritt].“297 295 Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 117. Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 117. 297 Saße, Günter: Vorwort, S. 12. 296 110 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, worauf diese Einsamkeit zurückzuführen ist. Eine erste Antwort lautet, dass die Einsamkeit auf die Beziehungsunfähigkeit der Protagonisten zurückzuführen ist, die sich in ihrer Lebensleere, in ihrer Konzentration auf die Kunst und Vergangenheit sowie in ihrer Ich-Zentriertheit, nicht an andere binden wollen und können. Schmidt stellt hieraufhin die berechtigte Frage, worauf denn die als Ursache der Einsamkeit ausgemachte Beziehungsunfähigkeit zurückzuführen sei und weist nach, dass die Beziehungsunfähigkeit auf den „Wirklichkeitsverlust“ der Protagonisten, „der keine lebendige Gegenwart mehr zulässt“, zurückzuführen ist. An die Stelle der Gegenwart trete die Erinnerung: „In dem für die Décadence charakteristischen Gefühl, keine Gegenwart mehr zu haben und nur noch in der Erinnerung leben zu können, verdichtet sich der psychisch bedingte Wirklichkeitsverlust.“ Die Epigonenobsession der Literatur des 19. Jahrhunderts sowie die Décadence an sich würden „die Empfindung, dem Vergangenen verfallen zu sein“, kultivieren, wodurch „die Gegenwart [geschwächt] und die Zukunft [geraubt]“ werde. Da die Gegenwart und die Wirklichkeit somit weitgehend aus dem Dasein ausgeklammert werden, können hier auch keine dauerhaften zwischenmenschlichen Beziehungen geknüpft werden. Dies führt dazu, dass Bindungen, wenn sie denn kurzfristig aufgebaut werden, sogleich als vergangen, als „Erinnerung“, erlebt werden und so jegliche Empfindungen ihrer Unmittelbarkeit beraubt werden. Die Erinnerungsbilder seien Sala „wirklicher als die unmittelbare Gegenwart“, so Doppler, alles Erlebte löse „sich sofort in poetische Erinnerungen auf“ und wirke „nur in der eigenen Innerlichkeit weiter“.298 Deutlich wird dies in der Szene IV,1, als Johanna und Sala gemeinsam durch den Garten spazieren und Sala gleichsam aus der Gegenwart des Gartens nahtlos in die Vergangenheit „entschwebt“: SALA. Gegenwart ... was heißt das eigentlich? Stehen wir denn mit dem Augenblick Brust an Brust, wie mit einem Freund, den wir umarmen, – oder mit einem Feind, der uns bedrängt? Ist das Wort, das eben verklang, nicht schon Erinnerung? Der Ton, mit dem eine Melodie begann, nicht Erinnerung, ehe das Lied geendet? Dein Eintritt in diesen Garten nicht Erinnerung, Johanna? Dein Schritt über diese Wiese dort nicht gerade so vorbei wie der Schritt von Wesen, die längst gestorben sind? JOHANNA. Nein, es soll nicht so sein. Es macht mich traurig. SALA wieder in der Gegenwart. Warum? ... das sollt' es nicht Johanna. Gerade in solchen Stunden wissen wir, dass wir nichts verloren haben und eigentlich nichts verlieren können. 298 Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 10-11. 111 JOHANNA. Ach, hättest du doch alles vergessen und verloren und könnte ich dir alles sein! (EW 71) Zentral ist, und Johanna bemerkt dies, nicht mehr die Person, die die Empfindung auslöst, sondern lediglich die Erinnerung an die Empfindung, sodass das Gegenüber gewissermaßen instrumentalisiert wird, um Erinnerungen zu generieren, mittels derer der Ästhet sich erhofft, seine Lebensleere kompensieren zu können. Der Ästhet erweist sich hier wiederum als impressionistischer Menschentypus, der nur momenthaft Erfüllung genießen kann, dann aber erneut Leere verspürt und diese wiederum zu kompensieren sucht: Sala „genießt den Augenblick, aber er versteht ihn nicht, weil er ihn nicht in einen Lebenszusammenhang zu fügen weiß“299. Doppler merkt bezüglich der Einsamkeit der Protagonisten an, dass diese sich schleichend als Begleiterscheinung einer am Ästhetizismus und auf den Augenblick des Erlebens ausgerichteten Lebensweise manifestiere. Das narzisshafte Verlangen nach Einsamkeit verkehre sich letztendlich in eine erschreckende Erfahrung der Einsamkeit: „Die durchgehende Ambivalenz, die in allem steckt, was erlebt und erfahren wird, treibt das Ich schließlich in eine narzisshafte Isolierung, in der eine vorerst erwünschte Einsamkeit, ein ‚Verlangen nach Einsamkeit‘, zur schrecklichen und erschreckenden Vereinsamung wird.“300 Die Bindungsunfähigkeit Salas manifestiert sich demnach nicht nur auf der Ebene der Freundschaft, sondern auch in der Beziehung zu Johanna. Johanna erkennt dies im Lauf des Dramas, wie ihre Antwort auf Salas Frage, was sie tun werde, wenn er nach Baktrien aufbreche und nicht mehr in ihrer Nähe sei, verdeutlicht: „Wenn du fort bist –? Sie betrachtet ihn. Er schaut in die Ferne. Warst du nicht lange fort von mir? Und bist du's nicht am Ende auch in diesem Augenblick?“ (EW 69). Sie erkennt, dass Sala keiner zwischenmenschlichen Nähe fähig ist, dass er, auch in dem Augenblick, in dem er ihr räumlich nahe ist, „fort“ von ihr ist, da sich, wie im Vorherigen dargelegt, die Gegenwart für Sala unmittelbar in Erinnerung auflöst und Sala alsdann gedanklich in diese Vergangenheit entschwebt und so die augenblickhafte Verbindung zu Johanna zerstört. Dies unterstreicht auch Doppler: 299 300 Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 10. Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 40. 112 Liebe, die über den Augenblick hinaus wirken möchte, ist unmöglich, sie bleibt höchstens als Erinnerung, transponiert in eine Märchenzeit, von schwermütigem Reiz. Johanna wird daher von Sala um ihre Zukunft betrogen, denn alles, was er erlebt, vermag er nur als Erinnerung zu genießen. […] Für Sala ist Johanna schon im gegenwärtigen Augenblick nur Erinnerung, eine vergangene Stimmung, die die Innerlichkeit illuminiert.301 Johanna wird in diesem Sinne zu dem Zweck instrumentalisiert, eine die innere Leere des Ästheten augenblickhaft füllende Stimmung zu generieren. Johannas einziger Ausweg aus dieser Instrumentalisierung scheint der Freitod, wie Doppler festhält: „In dieser Perspektive bleibt ihr nur der ‚Ausweg‘ in den Tod.“302 Die Reaktion Salas auf Johannas Liebeserklärung ihm gegenüber verdeutlicht seine Bindungsunfähigkeit erneut: Als Johanna dem Dichter offenbart: „Ich liebe dich.“ (EW 71), geht er nicht auf diese Aussage ein, sondern antwortet lediglich: „In wenigen Tagen bin ich fort, Johanna. Du weißt es … du hast es gewusst.“ (EW 71), und scheint sich darauf berufen zu wollen, dass seine Ortsungebundenheit und seine Bindungsunfähigkeit seiner Persönlichkeit konstitutiv sind. Salas Bindungsunfähigkeit bestätigt sich, als er um Johannas Hand anhält, die Frage aber zum einen als „wennSatz“ formuliert und der Satz zum anderen die zeitliche Begrenztheit der Ehe andeutet: „Ich meine, wenn ich dich bäte, bei mir zu bleiben für ... lange.“ (EW 72). Sala, als einzig auf die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse ausgerichteter Ästhet, ist einer dauerhaften Bindung weder fähig noch willig. Wenig später verdeutlicht Sala dann, dass er die Ehe nicht als eine dauerhafte Bindung ansieht, sondern sie ihm lediglich Mittel zum Zweck ist: „Missversteh mich nicht, Johanna. Du sollst deswegen nicht für alle Zeit an mich gebunden sein. Wenn wir wieder zurückkommen, können wir einander Lebwohl sagen – ohne weiteres. Es ist eine ganz einfache Sache.“ (EW 73). Sala betrachtet Johanna nicht als eigenständiges Subjekt, sondern scheint sie wie Claudio seine Geliebte als „Puppe“ betrachtet und sie später wie welke Blumen wegschmeißt auf Objektrang zu degradieren und zu eigenen Zwecken zu instrumentalisieren: Johanna soll ihn auf seiner Expedition begleiten. „Wie Felix für Julian die Gegenwart erträglich machen soll, bedarf Sala der Anwesenheit Johannas, um sich in der Vergangenheit zu verlieren.“303 In beiden Künstlergestalten tritt so „die 301 Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 44. Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 45. 303 Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 307. 302 113 Grausamkeit des Ästheten zutage, der allein gelten lässt, was ihm nützt.“304 Kirchheim sieht dies ähnlich, wenn sie festhält, dass Sala Johanna das Eheangebot nur mache, weil er eine Reisebegleitung „als Bollwerk gegen die Angst“ brauche.305 Kirchheim geht alsdann in ihrer psychoanalytischen Interpretation des Dramas weiter und sieht in der Beziehung Sala-Johanna einen Inzest- und Missbrauchscharakter, da Johanna für Sala einen „metonymischen Ersatz“ für seine verlorene Tochter Lili darstelle, die sieben Jahre zuvor verstorben ist. Gleichzeitig erfülle die Beziehung zum „Kind“ Johanna die Funktion, die „Illusion aufrecht zu erhalten, den menschlichen Gesetzen“, wie zum Beispiel dem Alter, „nicht unterworfen zu sein“ und „ein durch Fragmentierung bedrohtes Selbst zu stabilisieren“. Johanna komme die Funktion zu, „als sein Zwilling oder sein ideales Selbst zu fungieren, um die eigene innere Leere zu kompensieren.“306 Kretschmann stellt ein ähnliches Verhalten Salas in Bezug auf Felix fest: Der Literat instrumentalisiere Felix, da er „aus dem Gespräch mit dem jungen, schneidigen Offizier, seinem künftigen Reisepartner, ästhetische Befriedigung erfährt.“307 An dieser Instrumentalisierung Felix‘ und Johannas wird die egozentrische Lebenshaltung des Ästheten deutlich, der, wie Sprengel festhält, der ästhetischen Perspektivierung seiner Umwelt höchste Priorität einräumt, „insbesondere auf Kosten moralischer Werte (Humanität, Treue) und emotionaler Bindungen (Liebe, Freundschaft)“.308 Der Künstler selbst formuliert seine egozentrisch ausgerichtete Lebensführung dem Arzt Reumann gegenüber folgendermaßen: Ich finde, man hat das Recht, sein Dasein vollkommen auszuleben, mit allen Wonnen und mit allen Schaudern, die darin verborgen liegen. So wie wir wahrscheinlich die Pflicht haben, jede gute Tat und jede Schurkerei zu begehen, die innerhalb unserer Fähigkeiten liegt ... . (EW 52-53) Sala beansprucht mit diesen Aussagen bewusst das Recht, ungeachtet jeglicher Folgen „jede Schurkerei“ zu begehen, die in seiner Fähigkeit liegt: „Was aus Sala spricht, ist die obligate Indifferenz, die Skrupellosigkeit des Ästheten, der ganz in der eigenen Disposition, der Erinnerung, lebt.“309 304 Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 45. Lange-Kirchheim, Astrid: Die Verklärung des Sohnes und die Tötung der Frauen, S. 160. 306 Lange-Kirchheim, Astrid: Die Verklärung des Sohnes und die Tötung der Frauen, S. 151-153. 307 Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 307. 308 Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 117. 309 Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 313. 305 114 Der Flucht aus der Gesellschaft und der Flucht vor dauerhaften zwischenmenschlichen Beziehungen entspricht auch der Drang in die Ferne, der Schnitzlers Drama leitmotivisch durchzieht. Wie Stephan von Sala mit seiner Expedition nach Baktrien, so drängt es auch Johanna seit ihrer Kindheit ins Weite. Dies wird bereits während der Exposition Johannas im ersten Akt des Dramas deutlich, hebt die dritte sie betreffende Regieanweisung doch ihren „Blick ins Weite“ hervor. Johanna selbst beklagt dann wenige Zeilen später die Enge, der sie als Frau ausgesetzt ist, und spricht ihren Neid auf Salas Expeditionspläne und die Freiheiten ihres Bruders Felix aus. Der Reisedrang sowie die Heimatlosigkeit der zweiten Künstlerfigur des Dramas, Julian Fichtner, wird ebenfalls wiederholt betont: Fichtners „großen Reisen“ (EW 17) werden von Felix hervorgehoben, Wegrat unterstreicht, dass Fichter „sich nirgends dauernd heimisch“ habe fühlen können und nie „inneren Frieden“ gefunden habe (EW 19). Auch Fichtner selbst legt Wert darauf, seine Ortsungebundenheit zu betonen: Auf Salas Frage hin, ob er länger in Wien bleibe, entgegnet er, dies sei „noch unbestimmt“: „Es ist möglich, dass ich vorläufig kein festes Quartier nehme und so herumwandere wie in den letzten Jahren.“ (EW 24).310 Fichtner fährt fort, er trage „[s]ich mit der Idee, in Salzburg Aufenthalt zu nehmen“ und ereilt sich, auf Salas Frage: „Für immer?“, hin, die zeitliche Begrenztheit seines Aufenthalts zu betonen: „Für einige Zeit.“ (EW 26). Die Gestalten des Dramas seien, so Schmidt, von einem „inneren Zwang zum ‚Fortgehn‘ beunruhigt, […] von einem Drang in die ‚Ferne‘, der keine dauerhafte und zuverlässige Nähe erlaub[e]“. Insofern sei Der einsame Weg als „Drama der Beziehungsschwäche zu sehen“, welches den Zustand der zeitgenössischen Gesellschaft verbildliche: „Der nachdrücklich thematisierte Aufbruch in die Fremde ist Symptom einer überall um sich greifenden zwischenmenschlichen Entfremdung.“311 Indem Schnitzler sowohl die Künstlergestalten als auch die Mitglieder der Familie Wegrat als in der Einsamkeit gefangene Figuren inszeniert, zeichnet er den „dekadent-krankhaften Niedergang“ beider Sphären.312 310 Fichtner betont ebenfalls Wegrat gegenüber, er wolle nur „einige Zeit“ in Wien bleiben. (Vgl. EW 59) 311 Vgl. Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 118. 312 Nicht nur die Künstler Sala und Fichtner werden als einsame Gestalten gezeigt, sondern auch die Familie Wegrat wird kritisch beleuchtet. Wegrat selbst flüchtet so beispielsweise in die Arbeit: „Arbeit ist doch das Einzige, was einem über dieses Gefühl des Alleinseins hinweghilft … dieses Alleingelassenseins“, und hinterfragt die Dauer zwischenmenschlicher Beziehungen: „Auch unsere Freunde sind doch nur Gäste in unserem Leben […] und haben – wie wir – ihre eigene Straße und ihr 115 Nachdem Schnitzler so die vierfache Lebensunzulänglichkeit des Ästheten Sala exponiert hat, stellt sich die Frage, inwiefern die Grenzen der ästhetizistischen Lebensweise vom Protagonisten Sala selbst reflektiert werden. 4.3. Reflexion des Ästheten Wie in Hofmannsthals Der Tor und der Tod ist auch in Schnitzlers Drama Der einsame Weg eine gewisse Reflexion des Ästheten in Bezug auf seine ästhetizistische Lebensweise zu beobachten. Wie in Hofmannsthals lyrischem Einakter setzt diese Reflexion jedoch erst kurz vor dem Tod Salas ein und bewirkt keine Verhaltensänderung des Künstlers, sondern Schnitzler lässt seinen Protagonisten sterben und verdeutlicht so wie Hofmannsthal in beiden untersuchten Werken die Unvereinbarkeit der ästhetizistischen Lebensweise mit dem wirklichen Leben. Die Reflexion Salas setzt im vierten Akt mit dem expliziten Versprachlichen seiner Lebensweise ein. Es handelt sich hierbei zunächst jedoch nicht um eine direkte kritische Reflexion seiner Lebensweise, sondern gewissermaßen um eine „definitorische“ Reflexion, mittels derer Sala die konstitutiven Elemente seiner ästhetizistischen Lebensweise definiert. Der Rezipient erkennt zu diesem Zeitpunkt bereits, dass Salas Worte zugleich die Grenzen des Ästhetizismus implizit beinhalten, Sala selbst spricht diese implizit aus, scheint sie jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht explizit anzuerkennen. Im Gespräch mit Johanna denkt Sala zunächst an seine Kindheit und an seine Zeit in Lugano und gesteht Johanna gegenüber, diese Erinnerungen seien ihm näher als sie selbst: „All das, all das ist da – wenn ich nur die Augen schließe, ist mir näher als du, Johanna, wenn ich dich nicht sehe und wenn du schweigst.“ (EW 71). Er versprachlicht hier deutlich seine Rückwärtsgewandtheit, ohne diese allerdings kritisch zu reflektieren. Wenig später erkennt er seine Ungebundenheit an: „Ich bin nicht gebunden. Nichts hindert mich, zu Hause zu eigenes Geschäft.“ (EW 61). Seine Frau Gabriele leidet an Schwindsucht und hat ihrem Mann und Felix selbst bisher verheimlicht, dass Felix der Sohn ihrer früheren Affäre Fichtner ist. Sie bekennt, dass ihr alle Menschen der Familie zwar nahe sind und sie doch „alle voneinander nicht wissen, kaum ihre Beziehungen zueinander kennen und dazu bestimmt scheinen, auseinanderzuflattern, weiß Gott, wohin.“ (EW 22). Johanna sieht sich nicht fähig, ihrer Mutter „in trüben Tagen“ Beistand zu leisten, sie sehnt sich in die Ferne. Und auch die dritte Künstlerfigur, Irene Herms, wird als einsame Frau präsentiert. 116 bleiben, wenn ich nicht gelaunt bin, fortzugehen.“ (EW 72). Schließlich bekennt er sich, auf Johannas Nachfrage: Um meinetwillen?“ (EW 73), hin, zu seinem Egozentrismus als Grund dieser Ungebundenheit: „Das sag' ich nicht. Um meinetwillen vielleicht.“ (EW 73), schwächt das Bekenntnis aber durch das nachgeordnete „vielleicht“ noch etwas ab. Salas Bekenntnisse seiner Ungebundenheit, seines Egozentrismus und seines erinnernden, indirekten Erlebens indizieren gewissermaßen die einsetzende Reflexion des Ästheten, da erstmals eine bewusste und explizite Versprachlichung der Verfehlungen stattfindet. Nachdem diese Bekenntnisse dem Rezipienten den einsetzenden Reflexionsprozess des Ästheten bereits angedeutet haben, setzt die eigentliche Reflexion des Künstlers im Gespräch mit Julian Fichtner in der 8. Szene des vierten Aktes ein, in dem die Redeanteile Salas die Fichtners deutlich überwiegen. Die langen Redepassagen zeugen hierbei von einer Reflexion auf drei Ebenen: Sala reflektiert zunächst die der ästhetizistischen Lebensweise konstitutiven Eigenschaften der Einsamkeit und der Bindungslosigkeit. Abschließend sinnt er über den Egoismus des Ästheten nach, der jegliches Handeln unter das Primat des eigenen Wohlergehens und nicht unter das Primat ethischer und moralischer Wertmaßstäbe stellt und bei dem sich folglich ästhetische zugunsten ethischer Prinzipien durchsetzen. Hierbei unterstreicht die Verwendung des Personalpronomens „wir“, mit welchem Sala seine Reflexionen einleitet, das Gefühl der Verbundenheit mit der zweiten zentralen Künstlerexistenz des Dramas, mit Julian Fichtner. Zunächst verdeutlicht Sala die der ästhetizistischen Existenzweise konstitutive Einsamkeit: Den Weg hinab gehen wir alle allein ... wir, die selbst niemandem gehört haben. Das Altern ist nun einmal eine einsame Beschäftigung für unsereinen, und ein Narr, wer sich nicht beizeiten darauf einrichtet, auf keinen Menschen angewiesen zu sein.“ (EW 81). Sala definiert in einem zweiten Schritt, was „Lieben“ wirklich heißt: Lieben heißt, für jemand andern auf der Welt sein.“ (EW 81), um zu betonen, dass beide diesem Zustand stets sehr fern gewesen wären und die Merkmale der ästhetizistischen Lebensweise anschließend in Abgrenzung zu diesem Zustand des „Liebens“ hervorzuheben. Mittels einer Aneinanderreihung rhetorischer Frage versprachlicht er die der eigenen Existenzweise konstitutive Bindungs- und Gefühlslosigkeit: 117 Haben wir jemals ein Opfer gebracht, von dem nicht unsere Sinnlichkeit oder unsere Eitelkeit ihren Vorteil gehabt hätte? ... Haben wir je gezögert, anständige Menschen zu betrügen oder zu belügen, wenn wir dadurch um eine Stunde des Glücks oder der Lust reicher werden konnten? ... Haben wir je unsere Ruhe oder unser Leben aufs Spiel gesetzt – nicht aus Laune oder Leichtsinn ... nein, um das Wohlergehen eines Wesens zu fördern, das sich uns gegeben hatte? ... Haben wir je auf ein Glück verzichtet, wenn dieser Verzicht nicht wenigstens zu unserer Bequemlichkeit beigetragen hätte? (EW 81) Die unausgesprochenen Antworten auf die rhetorischen Fragen verdeutlichen die Charakteristika des Ästheten: Eitelkeit, Narzissmus, unethisches, rücksichtsloses Vorgehen, um einen persönlichen Glückszustand zu erreichen, Egoismus und Egozentrik. Salas Worte verdeutlichen zum einen die Defizite der ästhetizistischen Existenzweise, zum anderen scheint aber in den rhetorischen Fragen ein gewisses Gefühl der Überlegenheit mitzuschwingen, wodurch sich zu bestätigen scheint, dass Sala zu diesem Zeitpunkt nur eine definitorische und noch keine kritische Reflexion des Ästhetizismus vornimmt. In einem zweiten Gespräch, in welchem Sala Julian seinen Entschluss zum Freitod mitteilt, findet eine erneute Reflexion der ästhetizistischen Lebensweise statt. Diesmal werden nicht bloß die Merkmale der Existenzweise definitorisch versprachlicht, sondern es findet eine, wenn auch knapp gehaltene, kritische Reflexion in Bezug auf die eigene Lebensweise statt. Nachdem Sala erklärt hat, dass seine früheren Lebensinhalte, wie die Erinnerungen an die Italienreisen oder sein Palast, im Angesicht des Entschlusses zum Freitodes verschwimmen und sich „Schleier über alles“ (EW 91) legen, zieht er eine kritische Bilanz der eigenen Generation. Er spricht die Hoffnung auf eine andere, neue, Generation aus, deutet an, dass mit Felix‘ Generation wieder ein „besseres Geschlecht“ heranwachse, welches dem Geist weniger und der Haltung wieder mehr Bedeutung zumessen werde. Die neue Generation werde sich, so Sala, wieder von der den Ästheten charakterisierenden egozentrischen und einseitigen Fokussierung auf die eigene Innerlichkeit abwenden und der Vergangenheit, symbolisiert durch die 312 Stufen, weniger Bedeutung zumessen: „Ihr Sohn wird es vielleicht erfahren, ob es mit der dreihundertzwölften zu Ende ist – und wenn nicht, so wird es ihn wenig kümmern. Es scheint mir überhaupt, dass jetzt wieder ein besseres Geschlecht heranwächst, – mehr Haltung und weniger Geist.“ (EW 91) Salas Tod läutet somit gewissermaßen, auch in Salas Augen, den Niedergang der eigenen Generation ein, so dass Platz für eine neue, bessere 118 Generation geschaffen wird. Dieser Zukunftsausblick, der als Absage an den Ästhetizismus gelesen werden kann, verdeutlicht so auch Schnitzlers eigene, kritische Sicht auf die einseitig ästhetisch ausgerichtete Lebensweise. 4.4. Die Kritik an der ästhetizistischen Lebensweise Salas und der Tod des Ästheten Im Gegensatz zu Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht, in welchem den Kaufmannssohn ein anonymer Brief erreicht, und auch im Gegensatz zu Hofmannsthals lyrischem Drama Der Tor und der Tod, in welchem die bereits verstorbenen Bezugspersonen Claudios als Ankläger gegen den Ästheten auftreten, wird in Schnitzlers Drama Der einsame Weg keine explizite Anklage gegen den ästhetizistisch lebenden Protagonisten erhoben.313 313 Allein Felix, Johannas Bruder, kann innerhalb der Dramas Der einsame Weg ansatzweise als solche Anklagefigur angesehen werden, spricht er doch im Verlauf des Dramas mehrfach die Verfehlungen seiner Mitmenschen an. So unterstreicht Felix, nachdem Julian Fichtner ihm eröffnet hat, dass er sein biologischer Vater sei, dass er Beziehungen zu seinen Mitmenschen, im Gegensatz zu Sala und Fichtner, stets größten Wert beigemessen habe. Er klagt die Unehrlichkeit Fichtners an und entzieht sich der Instrumentalisierung durch Fichtner: „Es will mir nicht einmal ein, dass ich nun Betrüger und Betrogene vor mir sehen soll, wo mir bis vor einer Stunde Menschen, die mir wert sind, in so reinen Beziehungen zu einander erschienen. Und völlig unmöglich ist es mir, mich selbst als einen andern zu empfinden als den, für den ich mich bis heute gehalten habe. Es ist eine Wahrheit ohne Kraft ... […] Das Andenken meiner Mutter ist mir so heilig als zuvor. Und der Mann, in dessen Haus ich geboren und auferzogen bin, der meine Kindheit und meine Jugend mit Sorgfalt und Zärtlichkeit umgeben hat und der meine Mutter – geliebt hat, gilt mir gerade so viel, als er mir bisher gegolten – und beinahe mehr.“ (EW 66) Indem Felix sich mit diesen Aussagen dezidiert zu seinem Ziehvater Wegrat bekennt, wendet er sich entschlossen von der Unaufrichtigkeit und Egozentrik Fichtners und somit der eigenen Instrumentalisierung ab. Julian Fichtner offenbart Felix seine Vaterschaft nämlich nicht, um die Wahrheit über dessen Herkunft aufzudecken, sondern aus rein egoistischen Motiven. Sein Bemühen hat „bloß kompensatorischen Charakter“, wie Schmidt (Vgl. Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 120) festhält: Fichtner will die eigene Einsamkeit durch die Bindung zu seinem Sohn kompensieren. Felix thematisiert ebenfalls die mangelnde Kommunikation innerhalb der Familie Wegrat, wenn er den Abbruch der Kommunikation mit Johanna beklagt: „Johanna! Warum redest du denn nicht mehr so zu mir sonst?“ (EW 56)), und wenige Zeilen später nach der Ursache dieses Kommunikationsabbruches fragt: „Warum kannst du nicht mehr so zu mir reden wie damals, Johanna?“ (EW 56). Nach Johannas Verschwinden stellt Felix erneut, diesmal Wegrat gegenüber, die Frage nach der Kommunikation innerhalb der Familie in den Raum: „Wer hat sie denn gekannt von uns allen? Wer kümmert sich denn überhaupt um die andern?“ (EW 85). Felix deckt so das egoistische Verhalten Fichtners und den Mangel an zwischenmenschlicher Kommunikation innerhalb der Familie Wegrat auf. Da diese Anklage jedoch wenig Reflexion seitens der angesprochen Figuren induziert, sondern die Worte eher leer im Raum verhallen, ist Felix eher als Sprachrohr des Autors zu betrachten, denn als direkte Anklagefigur auf Ebene der Handlung. Er fungiert gewissermaßen – fast wie der kommentierende Erzähler im epischen Theater – als Kommentator des Geschehens, hebt das 119 Die Anklage erfolgt vielmehr implizit, indem mit Sala und mit Fichtner314 ein Beispiel ex negativo des lebensunzulänglichen, nach ethischen Richtlinien fragwürdig handelnden Ästheten gezeichnet wird, wie im Vorherigen dargelegt wurde. Dieses Negativbeispiel führt dem Rezipienten die Verfehlen der ästhetizistischen Existenzweise vor Augen: Durch die Darstellung von Salas rücksichtsloser Instrumentalisierung seiner Mitmenschen, von seinem zerstörerischen Egozentrismus, von seinen fehlenden zwischenmenschlichen Bindungen und seiner einseitig auf Vergangenheit und Kunst ausgerichteten Lebensweise wird „nach dem Preis gefragt, der für die Ästhetisierung des Lebens zu bezahlen ist“315. Dadurch, dass Johanna „an der Lebensform Salas zugrunde“ geht, wird diese zusätzlich implizit verurteilt. Schnitzler macht in seinem Drama so „einer Lebensform den Prozess, der nicht allein das gestörte Verhältnis von Kunst und Leben, sondern darüber hinaus das Zerstören der zwischenmenschlichen Verhältnisse zum Inhalt hat.“316, wie Doppler festhält. Indem der Rezipient die Auswirkungen der ästhetizistischen Lebensweise im Medium des Dramas beobachtet, soll er zur kritischen Auseinandersetzung mit derselben angeregt und letztendlich zu einer Verurteilung dieser Existenzweise bewegt werden. Was Mauser in Bezug auf das Märchen der 672. Nacht festhält, gilt somit auch für das Drama Der einsame Weg. Der Text bietet die negative Folie, auf deren Grundlage das wünschenswert Andere imaginiert werden kann. Die ästhetizistische Lebensführung Salas wird zum negativen Exempel, welches den Leser dazu veranlassen soll, projektiv ein Korrektiv dieser defizitären Lebensführung zu imaginieren und anders zu leben.317 Fehlverhalten der Figuren hervor und weist dem Rezipienten alternative, der ästhetizistischen Handlungsweise entgegenstehende, Handlungsmöglichkeiten auf. 314 Wie Sala so stellt Fichtner ebenfalls ein Beispiel ex negativo dar, welches die Verfehlungen der ästhetischen Existenz offenbart. Vgl. auch Kretschmann, Carsten: Bauformen in Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 313-314: Fichtner leistet im III. Akt „einen künstlerischen und menschlichen Offenbarungseid“ und spricht „das Credo des naiv-brutalen Ästheten, des Egoisten und Bohemien“ aus, als er sich „das Glück der Ungebundenheit vergegenwärtigt“ und erzählt, „wie bedenkenlos er die schwangere Gabriele verlassen und sich aus der Verantwortung gestohlen hat.“ In seinem Rausch, frei zu sein, schreckt er nicht vor ethischen Schranken zurück, sondern stellt die Verwirklichung des eigenen Glücks ins Zentrum seines Handelns. Auf die Frage nach einem möglichen Selbstmord Gabrieles hin, antwortet er erschreckenderweise: „Ich glaube, ich hätte mich dessen wert gehalten – in dieser Zeit“. Fichtner instrumentalisiert später auch Felix in ähnlicher Weise, dieser soll seine Einsamkeit kompensieren. 315 Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 37. 316 Doppler, Alfred: Schnitzlers Schauspiel Der einsame Weg, S. 42. 317 Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 161-162. 120 Dass Schnitzler der einseitig ästhetizistisch ausgerichteten Lebensführung kritisch gegenübersteht, verdeutlicht er dadurch, dass er Sala von Beginn des Dramas an als todkonnotierten Künstler zeichnet und ihn am Ende des Dramas sterben lässt. Wie sein Zeitgenosse Hofmannsthal verurteilt Schnitzler seinen Protagonisten gleichsam zu Tode, um so dessen Lebensunzulänglichkeit hervorzukehren und die gewählte Existenzweise zu verurteilen. Der ästhetizistisch lebende Sala steht aus diesem Grund von Beginn des Dramas an unter dem Zeichen des Verfalls: Schnitzler deutet die Todkonnotiertheit Salas durch ein Herzleiden an, welches den Künstler befallen hat. Schmidt hebt hierzu hervor: „Salas tödliche Krankheit signalisiert die Lebensunfähigkeit des dekadenten Ästheten“.318 So berührt Sala, wie es die die Szene II,1 einleitenden Regieangaben verdeutlichen, „zwei- bis dreimal während der Szene […] mit der Hand seine linke Brustseite, als empfände er dort ein Unbehagen; nicht auffällig.“ (EW 24). In der Szene II,2 erklärt der Dichter Julian gegenüber, der Arzt Reumann habe ihm das Rauchen verboten, da sein „Herz […] ein bisschen unruhig“ sei (EW 32). Sala selbst äußert seine Todesahnung in der Mitte des Dramas, als er einen Blick des Arztes Reumann dahingehend deutet, dass dieser ihm nicht zutraue, dass er von der Expedition nach Baktrien zurückkehren werde: Warum sehen Sie mich so an, Herr Doktor? Dieser Blick ist ein wenig unvorsichtig gewesen. […] Er sagt ungefähr: Abreisen magst du; aber ob du zurückkommen wirst, das ist eine recht zweifelhafte Sache. (EW 52). Sala verdrängt die aufkommende Todesahnung allerdings schnell und behauptet, es würde ihn nicht interessieren, wie es um ihn stehe.319 Doch Reumann bestätigt Salas Leiden nur wenig später Felix gegenüber (EW 55) und auch Johanna erkennt Salas 318 Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 122. DOKTOR REUMANN. Nun hören Sie, Herr von Sala, einer solchen Unternehmung gegenüber dürfte man auch einen solchen Zweifel laut werden lassen. Aber interessiert Sie denn das überhaupt, Herr von Sala, ob Sie wiederkommen werden oder nicht? Sie gehören doch nicht zu der Sorte Menschen, die ihre Angelegenheiten ordnen wollen? SALA. Ach nein. Umso weniger, als es in solchen Fällen doch immer die Angelegenheiten anderer sind, mit denen man sich überflüssigerweise beschäftigt. Und wenn es mich interessieren würde, wie es mit mir steht, so hätt' ich einen triftigeren Grund. […] Ich wünsche nicht um das Bewusstsein meiner letzten Tage betrogen zu werden. DOKTOR REUMANN. Das ist ein Wunsch, mit dem Sie ziemlich vereinzelt dastehen dürften. SALA. Jedenfalls wären Sie verpflichtet, Doktor, mir die absolute Wahrheit zu sagen, wenn ich Sie darum fragen sollte. Ich finde, man hat das Recht, sein Dasein vollkommen auszuleben, mit allen Wonnen und mit allen Schaudern, die darin verborgen liegen. So wie wir wahrscheinlich die Pflicht haben, jede gute Tat und jede Schurkerei zu begehen, die innerhalb unserer Fähigkeiten liegt ... Nein, Sie sollen mir meine Todesstunde nicht wegeskamotieren! Es wäre ein kleinlicher Standpunkt, meiner und Ihrer nicht würdig. (EW 52) 319 121 Todkonnotiertheit. Sie fragt Felix nach seinem Gespräch mit Reumann: „Hat er dir gesagt, dass Sala verloren ist?“, und bekennt, als sie Felix‘ Zögern bemerkt: „Ich wusst' es.“ (EW 55). Felix selbst bestätigt dem Künstler Sala letztendlich seine Todgeweihtheit in Akt V und fungiert hierdurch gewissermaßen als Todesbote: FELIX nach einer langen Pause. Herr von Sala ... wir werden nicht unter einem Zelte schlafen. SALA. Wie? FELIX. So weit geht Ihre Reise nicht mehr. Große Pause. SALA. So ... Ich verstehe Sie. Sie sind dessen sicher? FELIX. Vollkommen. – Pause. SALA. Johanna wusste es? FELIX. Ja. (EW 89) Nach Felix‘ Ankündigung von Salas bevorstehendem Tod trifft Sala den Entschluss zum Freitod und „bezahlt“ somit, so Julian, „… zur rechten Zeit …“ (EW 92) seine Vergehen. Dadurch, dass Schnitzler seinen Protagonisten Sala sterben lässt, veranschaulicht er, dass dessen einseitig ästhetizistisch ausgerichtete Lebensweise dem wirklichen Leben nicht gerecht wird und sie den Protagonisten nur in den Tod führen kann. Das Drama ist, so Kretschmann, „von Tod umhüllt“ und „der einsame Weg ist der Weg des Todes“. Wie Hofmannsthal den Kaufmannssohn und Claudio sterben lässt, lässt Schnitzler seinen Ästheten Sala sterben. Beide Autoren heben hierdurch die Lebensunzulänglichkeit ihrer jeweiligen Protagonisten hervor und verurteilen auf diesem Wege den reinen Ästhetizismus.320 320 Auffallend hierbei ist, dass die beiden Autoren in den drei untersuchten Texten ihre Protagonisten keinen „Vatermord“ begehen lassen und hierdurch die Generation der Väter, die Gründergeneration, verurteilen, sondern dass Hofmannsthal und Schnitzler in Umkehr zu Freud die Söhne zu Tode verurteilen. Dies scheint zu bezeugen, dass beide Autoren nicht die sich verändernden Lebenswirklichkeiten kritisch beleuchten, sondern deutlich auf die defizitären Bewältigungsstrategien der Söhne hinweisen wollen, die sich den verändernden Lebenswirklichkeiten nicht anpassen. In Einklang mit dieser Hypothese steht, dass beide Schriftsteller, und besonders Hofmannsthal, mit ihrer zunehmenden Skepsis gegenüber dem Ästhetizismus eine Hinwendung zum Leben fordern, derer die Söhne nicht fähig scheinen und deswegen verurteilt werden. 122 5. Sprachkrise Die drei untersuchten Werke Das Märchen der 672. Nacht (1895), Der Tor und der Tod (1893) sowie Der einsame Weg (1903) stehen in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem als Manifest der Sprachkrise der Jahrhundertwende geltenden, 1902 erstmals publizierten Essay Ein Brief dem „Chandos-Brief“ Hofmannsthals. Insofern stellt sich die Frage, inwiefern sich diese Sprachkrise bereits in den untersuchten Werken vorandeutet beziehungsweise, inwiefern sie in den Werken aufgegriffen wird. Bei einer genaueren Analyse der drei Werke wird deutlich, dass die Sprachkrise zwar kein zentrales Thema dieser Werke ist, dass die Werke aber dennoch zahlreiche Hinweise darauf bergen, dass der Sprachbegriff und die Sprache an sich zu dieser Zeit in eine tiefe Krise geraten, in welcher die Referentialität der Sprache sowie ihre kommunikative Funktion in Frage gestellt werden. Schnitzler und Hofmannsthal treten dem Ästhetizismus, der ihnen in ihren Jugendjahren zunächst als Ausweg aus der Krisenstimmung des Fin-de-siècle erschien, mit zunehmendem Alter deutlich skeptischer entgegen, wie dies in den untersuchten Werken deutlich wird. Die Autoren kritisieren die Unvereinbarkeit der ästhetizistischen Weltanschauung mit ethisch-moralischen Normvorstellungen und erkennen, dass das einseitige Hinwenden zur Kunst, und somit auch zur Literatur, die von ihrer Generation empfundene innere Leere nicht füllen kann. Demzufolge treten sie auch der Sprache, als Medium der Literatur, skeptisch gegenüber, da diese es nicht erlaubt, die empfundene Wirklichkeit adäquat abzubilden. Ausweg aus dieser Sprachkrise, „die nicht nur Sprachkrise ist, sondern zugleich Sinn- und Bewusstseinskrise“, wie Mayer schreibt, scheint einzig eine „neue“ Sprache, die im Chandos-Brief „utopisch skizzierte Möglichkeit eines anderen Sprechens“,321 zu sein. Die in die Sprachkrise mündende Sprachentfremdung der Autoren wird in den drei untersuchten Werken ansatzweise angedeutet. Im Chandos-Brief, einem „poetologisch-sprachkritischen Essay in Briefform“322, teilt der fiktive Briefschreiber, Lord Chandos, dem Adressaten seines Briefes, Francis Bacon, mit, dass er in Zukunft gänzlich auf literarische Betätigung verzichten will, da ihn eine weitgehende Sprachskepsis erfasst hat. Zunächst seien ihm, so Lord Chandos, 321 Mayer, Mathias: Ein Brief. In: Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers neues Literaturlexikon. Band 7. München 1990, S. 990. 322 Mayer, Mathias: Ein Brief, S. 990. 123 die abstrakten Worte „im Munde“ zerfallen „wie modrige Pilze“323. Dann seien ihm auch die alltäglichen Begriffe so leer, „unbeweisbar“, „löchrig“ und „lügenhaft“ (CB 147) erschienen, dass er aufgehört habe, „an solchen Gesprächen teilzunehmen“ (CB 146). Lord Chandos ist, „zum Zeitpunkt des Schreibens, einer geistigen Starre“ verfallen, „in der sich ihm religiöse, moralische und logische Begriffe entziehen“324. Er hat wohl versucht, diesem Zustand durch die Lektüre antiker Werke zu entkommen, diese haben ihm allerdings keine Erfüllung verschaffen können. Die Worte Senecas und Ciceros erscheinen ihm leer und entziehen sich ihm, wie sich Tantalos Wasser und Nahrung entziehen. In vereinzelten guten Augenblicken, „in irgendeinem Moment“ (CB 148), erlebt Chandos jedoch epiphaniehafte Momente, in denen alltägliche Gegenstände zu „Gefäß[en] [der] Offenbarung“ werden, die sich mit einer „Flut göttlichen Gefühles“ (CB 148), welches auch Chandos selbst in diesen Augenblicken vereinnahmt, füllen. In diesen Augenblicken des „Hinüberfließens“ in Gegenstände ist es Chandos, als ob sein Körper „aus lauter Chiffren“ bestünde, als ob man in „ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten“ könne, wenn man „anfing[e] mit dem Herzen zu denken“ (CB 150). Problematisch stellt sich jedoch das Beschreiben, das Versprachlichen, genau jener Momente dar. Die „normale“ Sprache erweist sich als ungeeignet dafür, diese Erlebnisse adäquat in Worte zu fassen. Die individuellen, subjektiven Erlebnisse und die hierdurch induzierten Chiffren sind mittels der kollektiven, intersubjektiven Sprache nicht fassbar. Um diese subjektiven Erlebnisse zu versprachlichen, bedürfte es einer Sprache, die „weder die lateinische, noch die englische, noch die italienische und die spanische“ ist, sondern eine individuelle, subjektive Sprache, eine „Sprache, von deren Wörtern mir auch nicht eines bekannt ist“ (CB 153).325 Diese individuelle, subjektive Sprache wäre dann allerdings intersubjektiv nicht mehr verständlich, da die kollektiv vereinbarte Konventionalität nicht gegeben wäre. Dies veranlasst Chandos dazu, der Sprache und dem Schreiben abzusagen, zu verstummen, da die „normale“ 323 Hofmannsthal, Hugo von: Ein Brief. In: Schmitt, Hans-Jürgen; Best, Otto F. (Hrsg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. 16 Bde. Bd. 13: Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil. Hrsg. von Ulrich Karthaus. Stuttgart 1977, S. 146. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mittels der Abkürzung CB und unter Angabe der Seitenzahl zitiert. 324 Mayer, Mathias: Ein Brief, S. 990. 325 Vgl. auch Mayer, Mathias: Ein Brief, S. 990, der festhält, dass hier die „Möglichkeit eines anderen Sprechens utopisch skizziert“ werde, dass aber diese neue Sprache zu Beschreibung der Epiphanieerlebnisse noch fehle. 124 Sprache es ihm nicht erlaubt, seine individuellen Erlebnisse in Worte zu fassen und diese seinen Mitmenschen kommunikativ mitzuteilen. Untersucht man die drei Werke auf die Frage hin, inwiefern sich die im Chandos-Brief (1902) dargelegte Sprachkrise bereits hier manifestiert, so wird deutlich, dass im Märchen der 672. Nacht (1895) und im Drama Der Tor und der Tod (1893) erste Anzeichen für Hofmannsthals Sprachkrise zu finden sind und die Sprachskepsis auch in Schnitzlers Drama Der einsame Weg aufgegriffen wird. Das Scheitern der – die Wirklichkeit nur im Medium der Distanz generierenden Kunst wahrnehmenden – Protagonisten im Märchen der 672. Nacht sowie im Einakter Der Tor und der Tod und somit das Scheitern der Kunst als absolutes und einziges Wahrnehmungsmedium der Wirklichkeit könnte in diesem Zusammenhang bereits Hofmannsthals eigene Sprachkrise andeuten. Wenden wir uns zunächst Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht zu. Auffällig ist, dass es dem Kaufmannssohn in extremen Angstsituationen mehrmals die Sprache verschlägt. Als er das Glashaus im Garten hinter dem Juwelierladen verlassen will und das Mädchen das Haus abgesperrt hat, fühlt er sich gefangen, gerät in Panik, „w[ill] schreien, aber fürchte[t] sich vor seiner eigenen Stimme“ (MN 222). Nach dem Hufschlag des Pferdes liegt der Kaufmannssohn mit quälenden Schmerzen in einem Kasernenzimmer und empfindet in seinem Todeskampf zunächst Angst davor, allein zu sein, dann Wut auf seine Diener und anschließend erneut „eine große, dumpfe Angst“ (MN 227). In diesem Zustand existentieller Angst versagt die Sprache: Er kann nicht schreien, sondern wimmert nur „wie ein Kind“ (MN 227) und fällt dann in einen unruhigen Schlaf. Als er erwacht, will er erneut schreien, „weil er immer noch allein [ist]“, aber seine „Stimme versag[t] ihm“ (MN 227) erneut. Der Kaufmannssohn kann nicht mehr sprechen, sondern erbricht erst Galle, dann Blut und stirbt anschließend „mit verzerrten Zügen“ (MN 227). Obwohl der Kaufmannssohn seine Angst im Angesicht des Todes gerne versprachlichen würde, gelingt dies ihm nicht. Es ist dem Ästheten unmöglich zu schreien, die Sprache versagt ihm ihre Mitteilungsfunktion. So wie der Kaufmannssohn nicht schreien kann, so wird auch Hofmannsthal die Grenzen des Ästhetizismus und der damit verbundenen begrenzten Wahrnehmung der Umwelt 125 erkennen und in eine tiefe Sprachkrise geraten, die im Chandos-Brief ihren Höhepunkt erreicht. Wie Hofmannsthal und sein Alter Ego Lord Chandos so empfindet auch Claudio in Der Tor und der Tod eine gewisse Skepsis der Sprache gegenüber: Einerseits stellt die Sprache für ihn kein zwischenmenschliches Kommunikationsmedium dar, andererseits zerstört die Sprache jegliche Unmittelbarkeit des Erlebens und erscheint Claudio somit mitverantwortlich für seine Lebensferne. Wie im Vorherigen bereits dargelegt wurde (vgl. Punkt 3.2.2.), stellt die Sprache für Claudio kein zwischenmenschliches Kommunikationsmedium dar. Claudios Sprache ist – aufgrund der Spezifität seines Sprachgebrauchs kein Medium, um intersubjektive Beziehungen herzustellen, für Claudio hat „Sprache ihre personale Funktion“326 verloren. Im Gegensatz zu seinen Mitmenschen, die „mit einfachen Worten [sagen können], was nötig zum Weinen und Lachen“ (TT 448), öffnet die Sprache Claudio keinen Weg zu seinen Mitmenschen. Da Claudio unfähig ist, Gefühle zu empfinden, bleibt auch Claudios Sprache gefühllos. Sprache ist für ihn nur ein Tausch von leeren Worten: „Es war ein Tausch von Schein und Worten leer“ (TT 457), der es nicht erlaubt, zwischenmenschliche Bindungen aufzubauen. Die Gefühlsleere seiner Sprache ist Symptom seiner Gefühllosigkeit, und wird, über das Medium der Sprache, als solches von seinen Mitmenschen wahrgenommen. Dies bewirkt, dass Claudios Sprache dazu beiträgt, jeglichen Aufbau von zwischenmenschlichen Beziehungen zu unterbinden. Claudios Sprache, „daraus nur ich und ich nur widertönte“ (TT 457), ist Claudio kein Medium der dialogischen Kommunikation, sondern nur Medium, um eigene Ideen auszudrücken. Sie ist Zeichen seiner Ichbezogenheit, aufgrund welcher ihm das Tor zur Welt seiner Mitmenschen verschlossen bleibt und er „mit blutigen Fingern“ an „sieben vernagelte Pforten schlagen“ muss. Für den Protagonisten erfüllt die Sprache demnach keine kommunikative Funktion mehr. Die Idee des Verlustes kommunikativer Funktion der Sprache findet sich auch im Chandos-Brief wieder, allerdings ist die Idee hier deutlich ausgeprägter und beinhaltet eine umfassendere sprachskeptische Komponente. Im Chandos-Brief wird die Intersubjektivität der Sprache grundsätzlich in Frage gestellt 326 Seeba, Hinrich C.: Kritik des ästhetischen Menschen, S. 106. 126 und die Frage aufgeworfen, ob individuelle, subjektive Ereignisse oder Empfindungen überhaupt mittels eines kollektiven, intersubjektiven Mediums, welches die Sprache darstellt, vermittelt werden können. Festzuhalten bleibt demnach, dass die Sprache in Der Tor und der Tod ihre intersubjektive Kommunikationsfunktion nicht erfüllt, da Claudio die emotionale Komponente ausschließt. Im Chandos-Brief hingegen ist die sprachskeptische Dimension weitaus umfangreicher. Sprache wird hier allgemein als intersubjektives Mitteilungsmedium in Frage gestellt, da individuelle Offenbarungserlebnisse, wie sie Chandos empfindet, durch herkömmliche sprachliche Zeichen nicht mitteilbar sind, sondern nur in subjektive, intersubjektiv nicht verständliche, Chiffren, beziehungsweise in eine neue, auf diesen Chiffren beruhenden Sprache, gefasst werden können. Zweitens zerstört Claudios Verstand, sein „überwacher Sinn“, mittels der Sprache jede Unmittelbarkeit des Erlebens, wie der Ästhet beklagt: Wenn ich von guten Gaben der Natur Je eine Regung, einen Hauch erfuhr, So nannte ihn mein überwacher Sinn, Unfähig des Vergessens, grell beim Namen. Und wie dann tausende Vergleiche kamen, War das Vertrauen, war das Glück dahin. (TT 448) Indem sein Verstand sprachliche Vergleiche hervorruft, kann das Erlebte nicht mehr unmittelbar wahrgenommen werden. Das Erlebte erscheint gewissermaßen durch die Sprache gefiltert, die dem Erlebten seine Unmittelbarkeit entzieht und die somit als problematisch erlebt wird. Bamberg hebt in diesem Kontext hervor, dass Claudios „‚Manie‘, für das Erlebte sofort Worte, ‚Namen‘ und ‚Vergleiche‘ parat zu haben“, problematisch sei, da diese Worte ihm „jede Lebensunmittelbarkeit verwehren“ und „eine Trennwand darstellen“ würden, „einen ‚Schleier‘, der sich zwischen ihm und dem Leben gebildet ha[be]“327. Hofmannsthal selbst beklage zwei Jahre später in ähnlicher Weise diesen durch die sprachliche Etikettierung bedingten Verlust der Unmittelbarkeit, wenn er schreibe, die Worte hätten „sich vor die Dinge gestellt“. Bamberg schließt daraus, dass Lebensglück nur dann entstehen könne, wenn „das Leben sprachlich unangetastet, d.h. stumm bleib[e]“, wenn nicht bereits im Erleben oder gar antizipativ eine „sprachliche Etikettierung für die Erlebnisse“ gefunden 327 Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 220. 127 werde, die jegliche Unmittelbarkeit des Erlebens unweigerlich zerstöre.328 Ähnlich sieht dies auch Grundmann, die die Lebensferne durch die Fremdreferentialität der Zeichen begründet sieht. Die analytische Haltung Claudios bewirke ein Bedürfnis, alles im Rahmen früherer wie späterer Zeichen zu sehen. Infolgedessen bedeutet nichts mehr sich selbst, wie Claudio aussagt: „Mir war, als ob es nie sich selbst bedeute“. Die „Vielfalt des Lebens“ werde von Claudio vielmehr entweder in die „artifizielle Starre einer künstlich geformten Welt überführt“ oder aber die Bezeichnung werde „auf eine Folge von Zeichen verschoben, so dass es niemals zu einer abschließenden Fixation kommen kann.“ Wie auch Bamberg, so weist Grundmann nach, dass sprachlich vermittelte Vergleiche an die Stelle der direkten Erfahrung treten und dass sich dieses „Bedürfnis nach Analogisierung“ zwischen die Erfahrung und das erlebende Ich schiebt, so dass jede Erfahrung nur noch mittelbar stattfinden kann: „‚Tausend Vergleiche‘ treten an die Stelle der Erfahrung des eigenen, inneren Gefühlserlebnisses, überlagern und ersetzen dieses.“329 Claudio erlebt die Sprache demnach dadurch als problematisch, dass sie die Unmittelbarkeit des Erlebens zerstört und somit zur Lebensferne des Ästheten beiträgt. Wie im Chandos-Brief zugleich der Tod der literarischen Sprache reflektiert werde, die Lösung aber nicht in einer Absage an die Dichtung bestehe, sondern die Möglichkeit einer neuen Sprache aufgezeigt werde, so weise Hofmannsthal diese Möglichkeit bereits in seinem Jugenddrama auf, so Matussek. Er ist der Ansicht, dass „Claudios Schlussverse einen Hinweis darauf [geben], dass der ästhetische Weltverlust nicht durch ein Entsagen der literarischen Sprache zu überwinden [sei], sondern im Gegenteil durch die Steigerung ihrer fiktionalen Lebensferne.“ Hofmannsthals Jugendwerk weise ein „artifizielles Sprechen“, eine vom Bildungserbe überladene Sprache, auf, welche verstärkt Zitate aus Prätexten, wie u. a. dem Faust, in sich aufnehme. Durch dieses Übermaß an aufgenommenen Assoziationen sprenge diese Sprache den „toten Gedächtnisraum des literarischen Kosmos von innen her auf“ und setze so „die darin gebundenen Gefühlsenergien frei“. Das Fühlensübermaß, das Claudio im Augenblick des Todes erfährt, sei so parallel zur Sprache zu sehen: In dem Moment, in dem die Fülle der assoziationsüberladenen Sprache den, durch die 328 329 Bamberg, Claudia: Hofmannsthal: Der Dichter und die Dinge, S. 221. Vgl. Grundmann, Heike: ‚Mein Leben zu erleben wie ein Buch‘, S. 84-85. 128 Assoziationen aus Prätexten gebildeten, Gedächtnisraum „spreng[e]“, gewinne die Sprache an Leben. Parallel dazu ist Matussek der Meinung, der Ästhetizismus solle nicht durch eine Rückkehr zum normalen Leben überwunden werden, sondern durch das Hervorheben seiner Künstlichkeit.330 Auch in Der einsame Weg wird die zahlreiche Autoren der Jahrhundertwende ereilende Sprachkrise ansatzweise angedeutet, dies zum einen durch Felix, der mehrfach auf die Kommunikationsprobleme innerhalb der Familie Wegrat hinweist, und zum anderen durch Sala. Felix beklagt so nach Johannas Verschwinden den Kommunikationsverlust innerhalb der Familie: „Wer hat sie denn gekannt von uns allen? Wer kümmert sich denn überhaupt um die andern?“ (EW 85). Und vor Johannas Tod spricht er den Kommunikationsabbruch zwischen Johanna und sich selbst an, als er sie fragt: „Johanna! Warum redest du denn nicht mehr so zu mir wie sonst?“, (EW 56) und wenige Zeilen später nach der Ursache dieses Kommunikationsabbruches fragt: „Warum kannst du nicht mehr so zu mir reden wie damals, Johanna?“ (EW 56). Johanna verweist darauf, dass sie früher Kinder gewesen wären: „Das ist lange her. Damals waren wir Kinder.“ (EW 56), und Sprechen daher noch möglich gewesen sei. Zum einen wird in dieser Szene der Kommunikationsabbruch zwischen den beiden Geschwistern deutlich, zum anderen scheint die Sprache an sich offenbar nicht mehr die gleiche Funktion wie früher erfüllen zu können, als die Sprache noch eine Kommunikation zwischen den Geschwistern erlaubte. Die Worte haben in Johannas Augen ihre frühere Bedeutung verloren: „Nein, jetzt bedeuten die Worte nicht mehr dasselbe wie früher.“ (EW 56) Schmidt weist in diesem Kontext darauf hin, dass die Anfang des 20. Jahrhunderts überall um sich greifende zwischenmenschliche Entfremdung bis in die Kommunikationsformen hineinreiche und authentisches Sprechen unmöglich mache, sodass sich die von Schnitzler diagnostizierte „Krise einer sich auflösenden 330 Vgl. Matussek, Peter: Intertextueller Totentanz, S. 208-213: Die Ähnlichkeit mit Goethes Faust sei somit auch keine Peinlichkeit – als solche sei sie, so Matussek, von vielen Interpreten, u.a. von Peter Szondi, empfunden worden, da diese sie bloß als sprachliches Oberflächenphänomen wahrgenommen hätten –, sondern die Parallele existiere auch in der Tiefenstruktur der Konfliktsituation, der Illustration eines Zwiespaltes. Hofmannsthal gelinge es so den Prätext dahingehend zu modifizieren, dass Claudio gewissermaßen die Gespaltenheit eines Jünglings der Jahrhundertwende illustriere und somit ein „‚Faust‘ des Fin de siècle“ sei, wie Mathias Meyer dies (Mayer, Mathias: Der Thor und der Tod, S. 1018) feststelle. 129 Gesellschaft“ ebenfalls auf Ebene der Sprache bemerkbar mache,331 die in Schnitzlers Drama ihre kommunikative Funktion einbüßt. Sala selbst deutet dann im Verlauf des Dramas an, dass es ihm, wie auch Lord Chandos, nicht gelungen sei, subjektive Erlebnisse zu versprachlichen. Da Schnitzler diesen Aspekt des Dramas nicht weiter ausbaut, bleibt offen, ob dies am Künstlertyp Sala liegt, der, den Worten der Figur Irene Herms nach, als Dilettant einzuordnen ist, oder ob Salas Sprachkrise ähnlich tiefgehend ist, wie jene die Lord Chandos verstummen lässt. Die drei untersuchten Werke beinhalten demnach leise Andeutungen auf die sich vor dem Hintergrund der Jahrhundertwende abzeichnende Sprachkrise, die die Autoren des Jungen Wien erfassen wird und die im Brief des Lord Chandos an Francis Bacon ihren essayistischen Höhepunkt findet. Hofmannsthal und Schnitzler streuen in ihre Texte vielfältige sprachskeptische Hinweise ein, die verdeutlichen, dass Sprache auch für sie in dem Sinne zu einem problematischen Phänomen werden wird, als sie die Referentialität der Sprache sowie ihre kommunikative Funktion zunehmend skeptisch betrachten. Die untersuchten Werke exponieren demnach nicht nur die ästhetizismuskritischen Tendenzen der Autoren, sondern deuten zugleich ihre sprachskeptische Einstellung voraus. 331 Vgl. Schmidt, Jochen: Arthur Schnitzler: Der einsame Weg, S. 118. 130 6. Schlussbemerkungen Wenn Hofmannsthal in einem Brief an Edgar Karg von Bebenburg schreibt: Man ist wie ein Gespenst bei hellem Tage, fremde Gedanken denken in einem, alte künstliche Stimmungen leben in einem, man sieht die Dinge wie in einem Schleier, wie fremd und ausgeschlossen geht man im Leben herum, nichts packt, nichts erfüllt einen ganz.332, so beklagt er jene durch den Ästhetizismus bedingte Lebensferne, welche auch die Protagonisten der drei untersuchten Texte verspüren. Der Ästhetizismus, der den Jünglingen der Jahrhundertwende zunächst als Ausweg aus den Wirren des Fin-desiècle mit seinem rapiden gesellschaftlichen Wandel erschien, erweist sich als Irrweg; er kann die empfundene Lebensleere nicht kompensieren. Bezeichnend hierbei ist, dass die auf Textebene dargestellten Erfahrungen der Protagonisten eng mit den Erfahrungen Schnitzlers und Hofmannsthals verknüpft sind: Das Scheitern des Kaufmannssohnes, Claudios und Salas spiegelt gleichsam die in den Autoren gereifte Einsicht in die Grenzen des Ästhetizismus, der „Schleier“ über das wirkliche Leben legt und so jegliche Unmittelbarkeit der Erfahrung verhindert. Während der junge Hofmannsthal zuerst eine gewisse Affinität zum Ästhetizismus aufweist, legen seine Briefwechsel der 1890er Jahre eine zunehmende Skepsis gegenüber dem Ästhetizismus-Phänomen an den Tag. Hofmannsthal beklagt bereits 1891 in einem Brief an Schnitzler, dass die ästhetizistische Subjektivität der Wahrnehmung ihm keine „eigenen Empfindungen“ mehr erlaube.333 Im 1895 verfassten Brief an Richard Beer-Hofmann, in welchem Hofmannsthal die Möglichkeit der Konstruktion Potemkin’scher Dörfer evoziert, deutet er ebenso die Fragilität der mittels der Imaginationskraft konstruierten Dörfer an. Indem er die Dörfer in Bezug zu den „Traumwelt[en]“ der Romantiker setzt, an die der moderne Mensch nicht mehr glauben kann, da er mit seinem „schweren K[opf]“ immer wieder 332 Vgl. Jacobs, Angelika: Den ,Geist der Nacht‘ sehen. Stimmungskunst in Hofmannsthals lyrischen Dramen. HvH online, S. 19. Sie zitiert den Brief Hofmannsthals vom 30.5.1893 an Edgar Karg von Bebenburg aus Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Hrsg. von Rudolf Hirsch. Band 3. Frankfurt am Main 1975, S. 483. 333 Zur Entwicklung von Hofmannsthals Sicht auf den Ästhetizismus, vgl. Kapitel IV, 1.5: Hofmannsthal und der Ästhetizismus. In: Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 294318. Briese-Neumann zitiert in diesem Zusammenhang auch den Brief Hofmannsthals an Arthur Schnitzler vom 13. Juli 1891: „Ich habe gar keine eigenen Empfindungen, citiere fortwährend in Gedanken mich selbst oder andere.“ 131 durch das „dünne Medium“ bricht,334 stellt der Autor zugleich implizit die Stabilität der eigenen Imaginationsgebilde in Frage. Auch Schnitzler sieht den Ästhetizismus mit zunehmendem Alter kritisch; er spürt, dass der „Genuss des Augenblicks zur unwiederholbaren Erinnerung verdämmert und von der Trauer des Gewesenseins überschattet bleibt.“335 Die untersuchten Werke sind in diesem Sinne als Dokumente einer Auseinandersetzung der Autoren des Jungen Wien mit dem Ästhetizismus zu lesen, eine Ansicht, die auch Briese-Neumann vertritt: „Der Grad der Auseinandersetzung der Repräsentanten der Wiener Moderne mit dem ÄsthetizismusPhänomen scheint in seiner Literarisierung an dem problematischen Lebensbezug des jeweiligen Protagonisten auf.“336 Die Struktur der Texte scheint hierbei in der Tradition der Beweisführung der lateinischen Rhetorik zu stehen; ihr Aufbau ist gewissermaßen mit dem einer persuasiven und zugleich reflexionsinitiierenden Rede zu vergleichen. Die drei Werke greifen gleichsam die Redeteile der antiken Rhetorik die „narratio“, die Schilderung des Sachverhalts, die „argumentatio“, die Beweisführung, einschließlich der „confutatio“, der Widerlegung der Argumente der drei Ästheten, und die „conclusio“, die redeabschließende Schlussfolgerung auf, um die ästhetizistische Lebensweise zu verurteilen. In den Texten werden so zunächst drei Ästheten vorgestellt, deren Lebensferne sich, wie im Vorherigen dargelegt, auf mehreren Ebenen manifestiert: Die exponierten Künstlergestalten leben mittels ererbter Reichtümer ein abgeschiedenes Leben und haben sich weitgehend aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen. Sie sind allesamt unfähig dazu, zwischenmenschliche Bindungen einzugehen: Weder der Kaufmannssohn noch Claudio pflegen nach ihrem Rückzug zwischenmenschliche Kontakte, sie stehen einzig mit ihren Dienern in Verbindung. Sala seinerseits pflegt 334 Hofmannsthal, Hugo von; Beer-Hofmann, Richard: Briefwechsel, S. 47: „Wir sind zu kritisch, um in einer Traumwelt zu leben wie die Romantiker; mit unseren schweren Köpfen brechen wir immer durch das dünne Medium wie schwere Reiter auf Moorboden.“ Vgl. auch Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 80: Lorenz merkt an, dass die Passage den Eindruck vermittele, „dass der Briefeschreiber selbst nicht so recht an die Solidität seiner künstlichen Welt“ glaube, „die er in die reale Welt hineinzuzimmern“ gedenke. Insofern lege die Art der Formulierung nahe, dass der Vorschlag, eine artifizielle Welt im Bewusstsein ihrer Scheinhaftigkeit zu errichten und zugleich an sie zu glauben, ebenso wenig eine Lösung für das Lebensproblem der Generation des Fin de siècle biete wie die Traumwelten der Romantiker. Dies müsse aber nicht notwendig als Selbstbetrug gewertet werden, sondern die Texte seien als „Erprobung[en] von Denkhaltungen“ zu lesen. 335 Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 5. 336 Vgl. Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 259. 132 zwar eine Beziehung zu Johanna, diese ist jedoch mitnichten als emotionsgebundene, ebenbürtige Partnerschaft anzusehen, sondern spiegelt lediglich die Egozentrik des Literaten. Die Protagonisten ziehen sich aufgrund dieser Lebensferne in auf Kunst und Vergangenheit aufgebaute Ersatzwelten zurück, die ihre Lebensleere kompensieren sollen. Der Rückzug des Kaufmannssohnes ist hierbei ein doppelter, er zieht sich zunächst aus der Gesellschaft der Stadt zurück, um alsdann völlig abgeschieden in seinem Landhaus zu leben und sich hier der Betrachtung des Gartens sowie der Lektüre der Lebensgeschichte seines imaginierten Alter Egos Alexanders des Großen zu widmen. Ähnliche Rückzüge nehmen Claudio, der sich in ein mit Kunstgegenständen und Altertümern gefülltes Studierzimmer eines abseits der Stadt gelegenen Landhauses zurückzieht, sowie Stephan von Sala, der sich am Rande der Stadt Wien einen an der Antike orientierten Palast erbauen lässt, vor. Alle drei Protagonisten geben sich hier ganz der für den Ästheten typischen subjektivierten Kontemplation von Kunstgegenständen hin, mittels welcher sie die verloren gegangene „Einheit von Ich und Welt“337 wieder herstellen wollen. In einem anschließenden Schritt der „argumentatio“ wird die Lebensführung der Protagonisten zunächst angeklagt, um alsdann Schritt für Schritt als defizitär demontiert zu werden. Die Autoren greifen dabei auf unterschiedliche Verfahren zurück, wobei allen drei Texten gemeinsam ist, dass die in der „narratio“ exponierte Lebensführung als negative Kontrastfolie herangezogen wird, auf Grundlage derer der Rezipient das „wünschenswert Andere“338 imaginieren kann. Im Märchen der 672. Nacht wird die defizitäre Lebensführung des Protagonisten dadurch entlarvt, dass die ästhetizistischen Strategien des Kaufmannssohnes in Konfrontation mit dem wirklichen Leben konsequent versagen. Das beharrliche Beibehalten dieser Strategien in der realen Welt setzt den Kaufmannssohn einer raum- und zeitauflösenden Treibjagd aus, an deren Ende er dem unästhetisierbaren Tod unmittelbar gegenübersteht. „Der Irrweg in die Stadt manifestiert in einer Kontrafaktur des wahren Geschehens die Unlebbarkeit der Lebensform des Ästheten. Was den Kaufmannssohn ins Irre, ins Tückische und ins Grauenhafte treibt, hat die eigentliche Voraussetzung in seiner inneren Lähmung und Realitätsferne.“339, so Mauser. Im lyrischen Einakter Der 337 Briese-Neumann, Gisa: Ästhet - Dilettant – Narziss, S. 251. Vgl auch: Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 161-162. 339 Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 170. 338 133 Tor und der Tod wird die „argumentio“ von den vier Anklagefiguren vorgenommen, die Claudios Defizite seine Gefühls- und Bindungslosigkeit und seinen rücksichtslosen Egoismus schonungslos aufdecken. Im dritten Text, dem Drama Der einsame Weg, erfolgt die „argumentatio“ rein implizit: Auf Grundlage der als Beispiel ex negativo exponierten defizitären Lebensweise Claudios kann der Rezipient die notwendigen Schlüsse ziehen und gleichsam gemeinsam mit Schnitzler zu einem Urteil über die Existenz des Künstlers gelangen. Wird der Ästhetizismus im Märchen der 672. Nacht noch konsequent vom Protagonisten verteidigt, erfolgt in den beiden anderen Texten eine Reflexion seitens der Ästheten, die zu einer zumindest partiellen Einsicht Claudios und Salas in die Grenzen des Ästhetizismus mündet. Am Ende der jeweiligen Beweisführung wird mit dem Tod der Protagonisten zugleich die „conclusio“ der Beweisführung gezogen und das Urteil über die ästhetizistische Existenzweise gesprochen. Wenn Schnitzler wie Hofmannsthal ihre jeweiligen Protagonisten scheitern lassen und sie den ästhetizistischen Lebensweg als Weg in den Tod inszenieren, so drücken die Autoren hiermit implizit eine Kritik am Ästhetizismus aus. Sie stellen eine Lebensführung in Frage, die es trotz ihres initial vielversprechenden Anscheins nicht erlaubt hat, die von der Generation der Jungwiener empfundene Lebensleere zu kompensieren, da die auf Kunst und Vergangenheit aufgebauten Ersatzwelten, die ebenjene kompensatorische Funktion erfüllen sollten, sich hierzu letztendlich als ungeeignet erwiesen haben. Hofmannsthals formuliert diese Schlussfolgerung präzise, wenn er in Bezug auf das Stichwort Ästhetizismus notiert: „Große Anfänge, jetzige Depravation“, und die durch den Ästhetizismus bedingte innere Leere beklagt.340 Die einseitige Hingabe an die Kunst erlaubt es nicht, die „Bindung an ‚das Leben‘ als unmittelbare, ungebrochene und nicht entfremdete Art des Daseins“ wiederherzustellen,341 wie Hofmannsthal in seinem Vortrag Poesie und Leben festhält: „Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen 340 Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze. Band 1, S. 404. Vgl. auch Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 164. Vgl. auch Streim, Gregor: Das „Leben“ in der Kunst: Untersuchungen zur Ästhetik des frühen Hofmannsthal. Würzburg 1996, S. 113114. 341 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 79. 134 kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens“342. Die Werke bieten somit Raum für einen literarischen Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen einer Lebensführung, die es erlauben soll, das im Fin-de-siècle empfundene Gefühl des Gespaltenseins sowie die Erfahrung „historischer und individualbiographischer Diskontinuität“343 aufzuheben. Die Texte sind insofern zugleich „Diagnos[en] einer Epochenkrankheit“ und können in Lorenz‘ Sinne als „Erprobung[en] von Denkhaltungen“, als „Versuchsanordnungen“,344 angesehen werden, in welchen der Ästhetizismus auf seine kompensatorische Eignungsfunktion hin geprüft wird. Durch den unausweichlichen Tod der drei Protagonisten geraten die Werke darüber hinaus aber zum Urteil über die ästhetizistische Lebensweise, die sich auch für die Autoren selbst letztendlich als trügerischer Ausweg aus den Wirren der Jahrhundertwende erweist. Doppler kommt so zum Schluss, dass die Figurenkonstellation des Dramas Der einsame Weg „Bewusstseinspositionen“ des Autors spiegele, so schreibe Schnitzler in einem Brief an Brahm: Im Übrigen bin ich sehr dabei, mit dem Herzen sehr und beinah noch mehr …. mit dem Verstande, und rede mir manches von der Seele, insbesondere viel gegen mich. Ich verurteile mich gewissermaßen zum Tode um mich außerhalb des Stückes umso sicherer begnadigen zu können.345 Auch Hofmannsthal gestaltet im fiktiven Raum des Märchens der 672. Nacht sowie des lyrischen Dramas Der Tor und der Tod die Möglichkeiten des Ästhetizismus diskursiv aus und kommt zum Schluss, dass dieser in „eine Sackgasse“346 führt. Die drei untersuchten Werke sind demnach als Produkt einer Reflexion ihrer Autoren über die Grenzen des Ästhetizismus zu sehen, sie bieten Raum für einen Diskurs über eine Form der Lebensbewältigung, die sich letztlich als Irrweg herausstellt und infolgedessen von den Autoren verurteilt wird. 342 Hugo von Hofmannsthal: Poesie und Leben. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze. Band 1, S. 15-16. 343 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 9. 344 Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 80: Im gleichen Maße erlaubt der fiktive Raum, die bereits im D‘Annunzio-Aufsatz angedeuteten, aus der ästhetizistischen Wirklichkeitswahrnehmung resultierenden, Haltungen der Indifferenz sowie der Willenslähmung des Ästheten kritisch zu beleuchten. 345 Vgl. Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 4. 346 So schreibt Hofmannsthal 1896 an Hermann Bahr. Zitiert nach Streim, Gregor: Das „Leben“ in der Kunst, S. 9. 135 Verurteilen die Autoren aber mit ihren Texten ebenjene Lebensweise, die ihnen selbst zunächst als Ausweg aus dem unlebbar gewordenen Jahrhundert erschien, so stellt sich zwangsläufig die Frage, welchen alternativen Weg die Autoren im Folgenden einschlagen werden, um ihren Platz in einer sich verändernden Lebenswirklichkeit zu finden. Das Märchen der 672. Nacht und in gleichem Maße der thematisch verwandte Einakter Hofmannsthals Der Tor und der Tod sowie Schnitzlers Drama Der einsame Weg „[werfen] so die Frage auf, wie es gelingen kann, sich aus einer Daseinsform zu lösen, die sich zu sehr im Genuss des Schönen eingerichtet hat, sowie die Frage, ob es einen Ausweg aus der Kunst in die aktive Teilnahme am Leben gibt“.347 In der Forschung wird in diesem Zusammenhang allgemein die Position vertreten, dass der Ausweg aus dem reinen Ästhetizismus, der sich als unzulänglich erwiesen hat, in der Reintegration von Ästhetizismus und Sozialem zu sehen sei. Kunst und Leben sollen wieder zusammengeführt werden. Aus Sicht der Autoren muss die ästhetische Lebenskomponente notwendig um eine ethische ergänzt werden, damit das Leben in seiner Totalität erfahren und so die eigene Lebensleere kompensiert werden kann. Hofmannsthal zeigt diesen Ausweg aus dem ästhetizistischen Dilemma in seinem Essay über den Dichter D’Annunzio auf, indem er die Forderung: „Il faut glisser la vie!“, erhebt und ausführt, dass nur der, der „beides versteht“, es auch „vereinen [kann]“348. Eine einseitig ästhetizistische Lebensausrichtung ist zum Scheitern verurteilt, wie es das Scheitern der Protagonisten eindrucksvoll vorführt.349 Auch Schnitzler erkennt im Alter, „dass man im Leben nicht nur für sich, sondern auch für andere Menschen verantwortlich ist“, so dass das Ethische immer stärker neben das Ästhetische tritt und er Kritik an der rein 347 Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 163. Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 163: Im Märchen der 672. Nacht, welches ein verfehltes Leben, das unvermeidbar zum Tod führe, beschreibe, werde dem Leser so die Unlebbarkeit des Ästhetentums vor Augen geführt. Das Märchen stelle somit, so Hofmannsthal, „einen ins Märchen gehobenen Gerichtstag des Ästhetizismus“ (Zitiert nach Barber, Dieter: Das Märchen der 672. Nacht, S. 1007) dar. Mauser präzisiert anschließend, dass Hofmannsthal die Lust am Schönen sehr wohl nachvollziehen könne, dass er aber der Überzeugung sei, dass zugleich das „Sittliche“ beachtet werden müsse. Der Autor sei, als Künstler, fasziniert vom Ästhetentum, als Moralist aber stehe er dem Ästhetizismus skeptisch gegenüber. 349 Vgl. Mauser, Wolfram: Aufbruch ins Unentrinnbare, S. 167. Laut Mauser wird im Märchen so das Ästhetentum an der Vorstellung eines umfassenderen Lebensverständnisses gemessen. Vgl. auch: Steinlein, Rüdiger: Gefährliche „Passagen“, S. 60. Vgl. auch: Frye, Lawrence O.: Das Märchen der 672. Nacht von Hofmannsthal, S. 551. Der Tod des Kaufmannssohnes sei, so Steinlein, insofern als unweigerliche Konsequenz eines Menschen, der „keinen Übergang in ein sozial verantwortliches, aktives Leben“ finde und der den „sozialen Weg“ (Mauser) nicht einschlagen könne, zu sehen, er sei die „Vergeltung für ein Leben, das nicht schwer genug gefunden wurde“ (Frye). . 348 136 ästhetizistischen Existenz übt. Statt der „Indifferenz des Ästhetischen“ wählt er fortan das „Wollen“, „das der ethischen Haltung entspricht“350. Das Scheitern eröffnet demzufolge zugleich die Perspektive eines poetologischen Neubeginns. Insofern seien die drei Texte nach einem erfolgreichen „Prozess“ der Autoren gegen sich selbst auch als eine Befreiung von der Problematik ihres Frühwerks zu sehen. Der Dichter solle nicht mehr an der strikten Trennung zwischen Kunstwelt und Leben festhalten, sondern vielmehr zum Vermittler zwischen beiden Welten werden und im Akt des literarischen Produzierens zugleich sich selbst und seinem Publikum eine Teilhabe an beiden Welten erlauben.351 350 Vgl. Doppler, Alfred: „Der Ästhet als Bösewicht?“, S. 5. Vgl. Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne, S. 26, S. 86-89: Hofmannsthal wie Schnitzler würden sich infolgedessen, so Lorenz, den eher öffentlichkeitsorientierten Formen des Schreibens zuwenden; Leopold von Andrian verabschiede sich aus dem literarischen Leben in die Kulturpolitik und in den diplomatischen Dienst, Hermann Bahr wende sich dem Katholizismus zu, Beer-Hofmann den geschichtlich-religiösen Wurzeln des Judentums. Schnitzler dagegen habe von Anfang an eher als Diagnostiker fungiert, so Lorenz. Er habe die Position des Arztes vertreten, der die „menschlichen Seelendispositionen des Fin de siècle“ (Saße, Günter: Vorwort, S. 11.) untersucht habe und habe sich hierdurch nie wirklich in solche Ordnungsvorstellungen wie die anderen Autoren begeben. 351 137 138 Literaturverzeichnis Primärliteratur: HOFMANNSTHAL, Hugo von: Das Märchen der 672. Nacht. In: Schmitt, Hans-Jürgen; Best, Otto F. (Hrsg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. 16 Bde. Bd. 13: Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil. Hrsg. von Ulrich Karthaus. Reclam, Stuttgart 1977, S. 205-225. HOFMANNSTHAL, Hugo von: Der Tor und der Tod. In: Wunberg, Gotthart (Hrsg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Reclam, Stuttgart 2000, S. 445-464. HOFMANNSTHAL, Hugo von: Ein Brief. In: Schmitt, Hans-Jürgen; Best, Otto F. (Hrsg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. 16 Bde. Bd. 13: Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil. Hrsg. von Ulrich Karthaus. 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