Antje Allroggen - Heinz-Kühn
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Antje Allroggen - Heinz-Kühn
���� ���� �������������������� ����� ����� ��������� ��������������������������������������������������������������� ��������������������������������� Mit der Heinz-Kühn-Stiftung Eine Welt erleben. Heinz-Kühn-Stiftung 18. Jahrbuch Mit der Heinz-Kühn-Stiftung Eine Welt erleben. Junge Journalistinnen und Journalisten sehen eine andere Welt. Heinz-Kühn-Stiftung 18. Jahrbuch. Grußwort zum 18. Jahrbuch der Heinz-Kühn-Stiftung Das Ziel und das Programm der Heinz-Kühn-Stiftung ist es, junge Journalistinnen und Journalisten aus der ganzen Welt in ihrer Aus- und Weiterbildung zu fördern, ihnen die Möglichkeit zu bieten, miteinander ins Gespräch zu kommen, kulturelle Unterschiede zu begreifen und gegenseitig voneinander zu lernen. Diesem Ziel fühlt sich die Heinz-Kühn-Stiftung seit mehr als zwanzig Jahren verpflichtet, und ich bin davon überzeugt, dass wir damit einen – wenn auch kleinen – Beitrag zu mehr Toleranz und Verständigung zwischen unterschiedlichen Kulturen leisten, um unsere Eine Welt, wie dies schon Heinz Kühn, der Namensgeber der Stiftung, vor Jahrzehnten formuliert hat, lebenswerter zu gestalten. Unsere globalisierte Welt stellt uns jeden Tag neue Herausforderungen, wir müssen Lösungen und Antworten finden, und es sind nicht zuletzt gerade die Journalisten, die eine wichtige Funktion dabei übernehmen. Deshalb ist es so wichtig, in die Aus- und Weiterbildung gerade junger Journalisten zu investieren. Denn nur gut ausgebildete Journalisten besitzen die notwendige Qualifikation für eine objektive Darstellung der komplexen Sachverhalte der täglichen Berichterstattung in Presse, Funk und Fernsehen. Der erste Schritt auf diesem Weg ist freilich, die Welt zu kennen und sie in ihrer Unterschiedlichkeit zu begreifen. Nur dann kann man auch objektiv darüber berichten. Wenn junge Journalisten aus Nordrhein-Westfalen in Afrika, Asien oder Lateinamerika unterwegs sind und sich selbst gewählten Recherchethemen widmen, dann lernen sie in den sechs Wochen oder drei Monaten, die sie in den jeweiligen Ländern unterwegs sind, eine ganze Menge über die spezifischen Situationen ihrer Gastländer. Dies wird nicht zuletzt auch später in der täglichen Berichterstattung zurück in den heimischen Medien Spuren hinterlassen. Ein Gleiches gilt für die Aufenthalte unserer ausländischen Stipendiaten in Deutschland. Sie lernen nicht nur den Medienalltag bei uns in Nordrhein-Westfalen kennen, sondern sie haben gleichzeitig die Möglichkeit, etwas über deutsche Geschichte, Kultur, Tagespolitik oder einfach auch den Alltag in Deutschland zu erfahren. Ihr Deutschlandbild ist nach ihrer Rückkehr ein anderes, differenzierteres, und einige der weit verbreiteten Klischees werden durch Sachkenntnis und eigene Eindrücke ersetzt. Ihre Erfahrungen und Erlebnisse haben die deutschen und ausländischen Journalisten in spannenden und unterhaltsamen Berichten geschildert, die uns mit fremden Welten und Sichtweisen bekannt machen. Geschichten aus Burjatien, einem kleinen Land am Baikalsee an der Grenze zur Mongolei, die Artenvielfalt auf den Galapagos-Inseln, die Probleme der Müllsammler in Buenos Aires, die Arbeitsbedingungen der Goldschürfer in Ghana oder auch die Eindrücke, die eine junge argentinische Journalistin im Deutschen Medienalltag gesammelt hat; dies sind nur einige Beispiele aus dem diesjährigen 18. Jahrbuch der Stiftung, das ich allen Leserinnen und Lesern heute gerne vorstelle. Ich wünsche Ihnen anregende und unterhaltsame Stunden bei der Lektüre und danke den Stipendiatinnen und Stipendiaten für ihre gelungenen Beiträge. Dr. Bernhard Worms Staatssekretär a.D. Stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums der Heinz-Kühn-Stiftung Inhaltsübersicht Antje Allroggen aus Deutschland Marokko, vom 26. August bis 07. Oktober 2003 9 Thorsten Bothe aus Deutschland Tansania, vom 16. September bis 15. Dezember 2003 39 Birte Detjen aus Deutschland Burjatien, vom 15. Juni bis 15. September 2003 79 Maricel Drazer aus Argentinien Nordrhein-Westfalen, vom 01. Mai bis 30. August 2003 117 Angelica Aires de Freitas aus Brasilien Nordrhein-Westfalen, vom 01. September bis 30. Dezember 2003 139 Arlette Geburtig aus Deutschland Südafrika, vom 30. Oktober 2003 bis 14. Februar 2004 153 Nguyen Thi Thu Huong aus Vietnam Nordrhein-Westfalen, vom 01. Juli bis 31. Dezember 2003 197 Daniele Jörg aus Deutschland Ecuador, vom 25. März bis 06. Mai 2004 217 Florian Klebs aus Deutschland Ghana, vom 31. August bis 03. Dezember 2003 259 Dr. Sonja Kretzschmar aus Deutschland Südafrika, vom 10. Februar bis 28. März 2004 309 Andreas Lautz aus Deutschland Argentinien, vom 01. Dezember 2003 bis 15. Januar 2004 343 Michael Lohse aus Deutschland Senegal, vom 16. Januar bis 06. März 2004 375 Hyacinthe Ouingnon aus Benin Nordrhein-Westfalen, vom 01. Juli bis 29. Dezember 2003 413 7 Hoang Than Phuong aus Vietnam Nordrhein-Westfalen, vom 04. Mai bis 13. September 2003 431 Kristin Raabe aus Deutschland Vietnam, vom 06. April bis 28. Mai 2004 453 Astrid Reinberger aus Deutschland Botswana, vom 24. August bis 15. November 2003 483 Andrea Rönsberg aus Deutschland Chile, vom 03. Januar bis 16. Februar 2004 519 Susanne Rohlfing aus Deutschland Tansania, vom 24. Juni bis 05. August 2003 551 Ilka Schmitt aus Deutschland Vietnam, vom 08. März bis 16. April 2004 575 Dorothea Scholz aus Deutschland Peru, vom 03. März bis 23. April 2004 603 Alexandre Schossler aus Brasilien Nordrhein-Westfalen, vom 01. September bis 30. Dezember 2003 641 Kathrin Schröter aus Deutschland Argentinien, vom 20. September bis 01. November 2003 667 Simone Utler aus Deutschland Südafrika, vom 20. Oktober bis 30. November 2003 697 8 Antje Allroggen aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Marokko 26. August bis 07. Oktober 2003 9 Marokko Antje Allroggen Wanderer zwischen den Welten Frauen und der Faktor Bildung in Marokko Von Antje Allroggen Marokko, vom 26. August bis 07. Oktober 2003 betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung 11 Marokko Antje Allroggen Inhalt 1. Zur Person 14 2. Ein Land zwischen den Kulturen 14 3. Die politische Situation unter König Mohammed VI. 16 4. Die neue Bildungspolitik – Situation der Frauen in Marokko 19 5. Der Stadt-Land-Konflikt 25 6. Zwischen Nomadenstämmen und Berberaffen 27 7. Eine kurze Begegnung mit Fertima Mernissi 29 8. Frauen in den Medien – Situation der Medien 32 9. Marokko im Wandel 36 10. Danksagung 38 13 Antje Allroggen Marokko 1. Zur Person Antje Allroggen, geboren 1969 in Georgsmarienhütte, studierte Kunstgeschichte, Vergleichende Literaturwissenschaften und Philosophie in Bonn und Nancy. Während des Studiums zahlreiche Praktika, u.a. beim Deutschlandfunk und bei Radio France Internationale in Paris. Nach dem Magister im Jahr 1996 freie Autorin, zunächst für Deutsche Welle tv, dann für den ARD-Hörfunk, vor allem für Deutschlandfunk und Deutsche Welle, mit dem Schwerpunkt Bildung. Das sechswöchige Recherche-Stipendium gab ihr die Gelegenheit nachzuvollziehen, dass der Faktor Bildung beim Demokratisierungsprozess eines Landes eine grundsätzliche und wichtige Rolle spielt. 2. Ein Land zwischen den Kulturen Ein Land, das nicht wenige aus dem eigenen Urlaub kennen. Ein Land, mit dem man Exotik, Orient und Märchen aus 1001 Nacht assoziiert. Die Geiselentführungen in den Nachbarländern Algerien und Mauretanien hatten bei vielen Urlaubern die Befürchtung wachsen lassen, in Marokko auf ähnliche Banden stoßen zu können. Das Bombenattentat, das sich in Casablanca am 16. Mai 2003 ereignete, hatte dann auch für die Touristikbranche im Land negative Konsequenzen. Seitdem droht Marokko, seinen orientalischen Charme mehr und mehr zu verlieren. Touristen bleiben aus, Botschaften – allen voran die US-amerikanische – und andere internationale Einrichtungen verbarrikadieren ihre Eingänge mit kugelsicheren Stahltüren und kontrollieren Rucksäcke und Taschen der Besucher. Auch die marokkanische Polizei hat die Sicherheitskontrollen verschärft. Ihre Maßnahmen wirken allerdings ziemlich halbherzig: Die meisten Autos dürfen problemlos das Hindernis passieren, nur einige LKWs werden oberflächlich kontrolliert. Bei der Ankunft in Marokko zeigt sich das Land jedoch nicht von seiner fragilen, sondern eher von seiner selbstbewussten Seite: Auf dem Flughafen herrscht überall nervöses Handy-Klingeln, Männer in beigen Anzügen und Rayban-Sonnenbrillen eilen an einem vorbei und verschwinden in dicken, auf Hochglanz polierten neuen Mercedes-Modellen in ihre Büros in Casablanca. Wie ambivalent das Leben in Marokko aber ist, zeigt sich beispielsweise daran, wie dicht hier Orient und Okzident nebeneinander leben: Junge Marokkanerinnen geben sich betont amerikanisch bzw. europäisch, indem sie knappe Shirts und kurze Röcke tragen. In Casablanca zeigen sich sogar 14 Marokko Antje Allroggen eindeutig als Prostituierte zu erkennende Frauen ungeniert in der Öffentlichkeit. Andere Frauen, nicht nur die älteren, tragen hingegen Kopftuch, manche sogar einen gesichtsverhüllenden Schleier. Zunächst erscheint es so, als würde das kulturelle Miteinander problemlos miteinander harmonieren. Auf den zweiten Blick jedoch kann man feststellen, dass es zu kaum einer wirklichen Begegnung zwischen beiden Kulturen kommt: Die eher traditionell eingestellten Marokkaner bleiben unter sich, kleiden sich mit Kaftan und Kopfbedeckung. Ihr Französisch ist nicht selten schlecht, wenn überhaupt vorhanden, eine Verständigung häufig nur auf arabisch möglich. Es scheint kein Zufall, dass die ehemals französischen Straßennamen in Casablanca inzwischen alle nach und nach arabisiert werden. War es noch vor ein, zwei Generationen eine Selbstverständlichkeit, französisch sprechen zu können, ist nun auf den Straßen Marokkos eindeutig die arabische Sprache dominant. Konservative Araber haben sich seit dem 11. September wieder stärker der islamischen Religion zugewandt. Mehrere Journalisten weisen darauf hin, dass es in Marokko noch nie so viele Männer mit langen Bärten gegeben habe wie in diesen Zeiten. Sie gehen in Cafés und sind vor allem in der Medina zu finden. Die eher westlich gekleideten Marokkaner hingegen sprechen in der Regel neben arabisch fließend französisch und kaufen in schicken Läden der Nouvelle Ville ein. Der marokkanische König Mohammed VI., der seit 1999 das Land regiert, bemüht sich redlich, beide kulturellen Ströme unter einer marokkanischen Identität zu bündeln. So sieht man ihn auf Fotos in öffentlichen Räumen in höchst unterschiedlicher Ausstattung und Pose: Im Fremdenverkehrsbüro Casablancas trägt er Kaftan und Käppi; in den traditionellen Hotels und Cafés nippt seine Majestät am marokkanischen Volksgetränk, dem Pfefferminztee; in einer Galerie im nahezu chicen Strandort Essaouira trägt er eine mutige Häkelmütze, und in einem Strandcafé in Rabat lässt er sich auf seinen Jetskis ablichten. Häutungen, die den König wie selbstverständlich von einer kulturellen Rolle in die andere schlüpfen lassen. Bei den meisten Marokkanern hat er mit dieser Selbstdarstellung Erfolg: die konservativ Eingestellten sehen in ihm einen König, der das Land in der Tradition seines Vaters weiterregiert, die Modernisierer erhoffen sich durch ihn neue Reformen, die das Land aus seiner Krise retten könnte, und die neureichen Jungen lassen sich eine ähnliche Frisur wie „M6“ wachsen und lernen Jetski fahren. Ähnlich praktiziert es M2, das zweite Programm des marokkanischen Fernsehens: nach einer Soap, die aus Gesprächen unter Männern auf einem Diwan besteht, Nachrichten und Werbung in arabisch-marokkanischem Dialekt folgen Drei Engel für Charlie in der französischen Synchronisationsfassung. 15 Antje Allroggen Marokko 3. Die politische Situation unter König Mohammed VI. Bereits Ende der 90er Jahre waren erste politische Reformen vom damaligen König Hassan II. eingeleitet worden. Hassan, der Marokko vierzig Jahre lang mit eiserner Hand regiert hatte, setzte seinen alten Opponenten, den Sozialistenführer Youssoufi, als Ministerpräsidenten ein. Damit sollte der Wandel des Königreichs in einen modernen Staat mit prosperierender Wirtschaft eingeleitet werden. Nach dem Tod Hassan II. übernahm sein Sohn 1999 das Zepter. Der junge Monarch verkörperte für die Bevölkerung nicht nur einen Generationenwechsel, sondern auch einen neuen Regierungsstil. Im Gegensatz zu seinem Vater zeigt sich Mohammed VI. gerne volksnah. Er ist der erste marokkanische König, der eine bürgerliche Frau geheiratet hat. Drei Ziele hat sich der neue König gesetzt: Armutsbekämpfung, Emanzipation der Frau und Durchsetzung eines Rechtsstaates. So hat er zum Beispiel der armen ländlichen Bevölkerung öffentlich seine Unterstützung ausgesprochen. Der Kampf gegen den Analphabetismus ist ein weiteres Ziel des Königs. Außerdem wurden in den vergangenen Jahren etliche politische Gefangene befreit. Im Westsahara-Konflikt bleibt Mohammed VI. allerdings hart. Zwar wird in der unabhängigen Republik Westsahara nicht mehr mit Waffen, sondern nur noch mit Diplomatie gekämpft, dennoch erhebt Marokko nach wie vor seinen Souveränitätsanspruch auf die „marokkanische Sahara“ und blockiert damit weiterhin die UN-Verhandlungsrunden. Auch eine Demonstration von Studierenden der Universität Rabat wurde im Februar 1999 mit Hilfe von polizeilicher Gewalt beendet, nachdem die Demonstranten die Bannmeile durchschritten hatten. Auffallend hingegen war, dass der relativ brutale politische Eingriff durchaus kritisch in der Öffentlichkeit diskutiert werden konnte, ohne dass staatliche Sanktionen folgten. Nach anfänglichen positiven Schritten und Erfolgen sind jedoch die Reformbemühungen des Königs ins Stocken geraten. Der „Reformstau“ wird allerdings seitens der Bevölkerung weniger dem Monarchen, als dem politischen System angelastet, das als korrupt und reformunwillig gilt. Um das Land trotz der Widerstände dennoch zu modernisieren, hat Mohammed VI. seit 2001 Regierungsbefugnisse übernommen und sich damit mehr als vorher in exekutive Entscheidungen eingeschaltet. Die Konsequenz dieser Entwicklung war, dass nach den Parlamentswahlen im September 2002 vom König eine neue Regierung eingesetzt wurde, die von einem parteilosen Vertrauensmann, Driss Jettou, geleitet wird. Das bis dahin geltende Mehrheitssystem ist seitdem in ein Proporzsystem umgeändert worden. Um Manipulation und Stimmenkauf zu erschweren, wurde anstatt der frü16 Marokko Antje Allroggen heren getrennten Wahllisten für jede Partei ein einheitlicher Stimmzettel mit der Liste aller Parteien eingeführt. Auch dem Wunsch des Königs, das Parlament mit mehr Frauen zu verstärken, wurde entsprochen. Die Wahlen im September 2002 wurden in den internationalen Medien als Schlüsseldatum für Marokkos Demokratie betrachtet. Dennoch bleiben die Modernisierungsversuche des Königs erste Gesten, über die die Reformideen bisher noch nicht hinaus gekommen sind. Zwar entließ Mohammed VI. zur allgemeinen Überraschung den langjährigen Innenminister und Vertrauten Hassans II., Driss Basri, der in zahlreiche Unrechtstaten des Regimes verstrickt war, und kündigte einen gesellschaftlichen Versöhnungsprozess zwischen den Opfern der zahlreichen Menschen-rechtsverletzungen und den Tätern an. Aber diese Maßnahmen verbessern nicht den Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit: Auf dem Land sind immer noch 85 Prozent ohne Stromanschluss und 70 Prozent ohne Trinkwasserversorgung. Auf dem UN-Entwicklungsindex liegt Marokko unter 173 Ländern immer noch an 123. Stelle – hinter den Nachbarländern Algerien und Tunesien. Deshalb wandern immer mehr gut ausgebildete junge Marokkaner in andere Länder ab. Dennoch kann man grundsätzlich von einigen Modernisierungsansätzen innerhalb der Politik des neuen Königs sprechen. Die demokratischere Stimmung im Land führte dazu, dass die Zahl der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Marokko seit 1999 stark zugenommen hat. Im Jahr 2000 gab es in Marokko bereits mehr als 17. 000 NGOs, die im Land eine wichtige Rolle spielen. „Ohne diese Nichtregierungsorganisationen könnte die Armut in Marokko nicht hinreichend bekämpft werden“, weiß Nadira Barkali, Wirtschaftswissenschaftlerin an der Universität Rabat und Frauenrechtlerin. „Die Politik beteuert zwar immer gerne, dass sie sich der Probleme im Land annehmen möchte, aber nur die NGOs engagieren sich wirklich tatkräftig, um die Lebensbedingungen in Marokko zu verbessern.“ Zur Zeit meines Aufenthaltes fanden zum einen die Kommunalwahlen statt, die ein wichtiger Spiegel für die politische Situation innerhalb des Landes sind. Die Islamisten erhielten bei den Wahlen großen Zulauf; nur eine verschwindend geringe Zahl von Frauen wurde in die Gemeinderäte entsandt. Ein Ergebnis, das zeigt, dass weite Teile der Bevölkerung am Modernisierungsprozess des Maghreb-Staates nicht beteiligt sind, ihn sogar verhindern wollen. Profiteure dieser Situation sind eindeutig die Islamisten, die sich in Marokko besonders stark dafür einsetzen, den Zugang zur Bildung für alle Bevölkerungsschichten zu öffnen. Dafür haben sie Alphabetisierungskurse und Wohltätigkeitsvereine eingerichtet und engagieren sich vor allem für die armen und ungebildeten Marokkaner. Auch an den Universitäten haben sich seit einiger Zeit Islamistenbewegungen eta17 Antje Allroggen Marokko bliert, die sich als Opposition zur herrschenden Regierung begreifen. Nicht zufällig tragen auch immer mehr Studentinnen auf dem Unigelände wieder Kopftuch. Zum anderen wurden zwei Reformvorhaben des Königs besonders virulent diskutiert. Eine Entscheidung über ein neues Gesetz der Moudwana, der Familiengesetze in Marokko, stand im September 2003 bevor. Der König hatte die Reform schon lange angekündigt, allerdings musste er alle Akteure der unterschiedlichsten politischen Zugehörigkeit an einen Tisch bringen. Monatelang schien die Suche nach einem Konsens so gut wie unmöglich. Am 13. 10. 2003 schließlich, als der marokkanische König Mohammed VI. nach den Sommerferien die erste Parlamentssitzung eröffnete, kündigte er an, die traditionellen Familiengesetze des Landes in kürzester Zeit reformieren zu wollen. Sein Versprechen wurde von nationalen, wie auch internationalen Medien als ein großer Schritt, gar als eine „gesellschaftspolitische Revolution“ bezeichnet. Wie mutig sein öffentlich ausgesprochenes Versprechen ist, lässt sich daran ermessen, dass zuletzt im Jahr 2000 bei der bislang größten Demonstration innerhalb der marokkanischen Geschichte eine Million Islamisten in Casablanca auf die Straße gingen, um gegen jedwede Veränderung des „islamischen Rechts“ (Scharia) zu protestieren. Nach dem bisherigen Familienrecht steht die Frau unter der Obhut ihres Mannes. Ohne seine Zustimmung darf sie noch nicht einmal das Haus verlassen. Will ein Mann sich von seiner Frau trennen, kann er sie bislang einfach verstoßen, ohne vor einen Scheidungsrichter zu gehen und für die finanzielle Grundsicherung der Frau Sorge tragen zu müssen. Die Reformierung des Code de la famille soll fortan unter der Verantwortung von beiden Ehepartnern und nicht allein unter der des Mannes stehen. Außerdem wird das Mindestalter für Eheschließungen von 15 auf 18 Jahre erhöht. Vorgesehen ist auch, die Polygamie ausdrücklich zu verbieten. Änderungen, die auf die marokkanische Gesellschaft erhebliche Auswirkungen haben werden. Nicht nur die Frauen, die in zahlreichen NGOs seit Jahren für mehr Rechte der Frauen kämpfen, sind von dem Vorstoß des Königs begeistert. Auch „einfache“ Frauen, die weder lesen noch schreiben können, erhoffen sich von den Reformen größere Unabhängigkeit als bisher. Die Reform des Gesetzes wird auf den Status der Frau in Marokko also erhebliche Auswirkungen haben. Bleibt abzuwarten, wie die Islamisten auf diesen Gesetzesvorstoß reagieren werden. Zu den vornehmlichen politischen Zielen des Königs gehört die Alphabetisierung, vor allem der ländlichen Bevölkerung, und die Einschulung aller schulpflichtigen Kinder. Um ihnen die langen Wege zur Schule zu erleichtern, sollen neue Straßen gebaut und Busse eingesetzt werden. Nach der Einschulung für das Schuljahr 2003/2004 im September 2003 verkün18 Marokko Antje Allroggen deten die marokkanischen Medien stolz, dass die Zahl der eingeschulten Kinder im Laufe eines Jahres um 2,2 Prozent gestiegen sei. Damit liege die Einschulungsrate der 6-jährigen Kinder bei 95 Prozent. Wenn man allerdings über Land fährt und auf dem Weg zahllosen Kindern begegnet, die auf einem Maultier reiten und Wasserkanister transportieren, bekommt man den Eindruck geschönter Statistiken. Grund dafür mag sein, dass nur ein Bruchteil der Familien, die auf dem Land teilweise ohne Wasser und Strom leben, von den staatlichen Behörden überhaupt erfasst und registriert werden. 4. Die neue Bildungspolitik - Situation der Frauen in Marokko Lange Zeit galt es in Marokko als selbstverständlich, dass Frauen kein Anrecht auf eine fundierte Ausbildung hatten. Die Grundstrukturen für diese Auffassung finden sich bis heute in vielen islamischen Gesetzen, die sich zum Teil unmittelbar aus dem Koran ableiten. Der Ehevertrag, der immer noch in Marokko gilt, versteht die Beziehung zwischen Mann und Frau als eine Art Tausch: Der Mann erwirbt durch die Zahlung der Brautgabe an seine zukünftige Frau materielle Sicherheit, die sexuellen und reproduktiven Dienste dieser Frau und ihren absoluten Gehorsam. Der noch geltende Code de Statut Personnel folgt dieser Ungleichheit der Geschlechter, er wird sogar als gottgegeben angesehen. Der Mann kann darüber entscheiden, wann und ob seine Frau das Haus verlässt. Frauen, die sich in einen männlich dominierten Raum wagen, tun dies immer noch häufig verschleiert. Selbst im stark westlich geprägten Casablanca kann man beobachten, dass in den Cafés an den großen Boulevards nur Männer zu sehen sind, die ihrem Müßiggang nachgehen. Arbeitende Frauen gelten immer noch vielen Männern als bedrohlich, weil sie das sichtbare Zeichen dafür sind, dass ein Mann seiner Unterhaltspflicht nicht nachgekommen ist. Wenn eine Frau dennoch einer außerhäuslichen Arbeit nachgeht bzw. nachgehen muss, ist die männliche Ehre dem traditionellen marokkanischen Verständnis zufolge in Gefahr. In den Augen der anderen scheint der Mann nicht in der Lage zu sein, die Familienehre zu schützen. Die Mehrzahl der Ehen in Marokko fußt nach wie vor auf dem Verständnis der Ungleichheit von Mann und Frau. Dennoch sieht man zumindest in den größeren marokkanischen Städten immer mehr junge Frauen, die sich – ablesbar an ihrer Kleidung – bewusst vom tradierten Frauenbild der marokkanischen Gesellschaft absetzen. Die Politik des neuen Monarchen scheint sie in ihrer westlich orientierten Lebensweise zu bestärken. 19 Antje Allroggen Marokko Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts konnte man Marokkos Bildungssystem allenfalls mit den Standards vergleichen, die in Europa zur Zeit des Mittelalters geherrscht haben. Die Kinder gingen alle in die Koranschule, deren Atmosphäre sich über Jahrhunderte lang nicht verändert hatte: Im Hintergrund eines dunklen Raums, zur Gasse der Medina hin geöffnet, hockten sie auf Matten und sangen mit hohen Nasallauten Koranverse. Wenn die Kinder die Koranschule verließen, war ihre Ausbildung zumeist abgeschlossen. Nur sehr wenige besuchten die einzige Universität Marokkos, die im Jahre 808 gegründet worden war. Noch als Marokko 1955 unabhängig wurde, entsprach diese Hochschule dem europäischen Universitätsleben des 12. und 13. Jahrhunderts. Seit den fünfziger Jahren gab es immer wieder Rufe, die Bildungspolitik Marokkos zu verbessern. Bereits der Sultan zog 1956 gegen den Analphabetismus zu Felde, und auch die Frauen erkannten schon zu dieser Zeit, dass ihnen mehr Wissen eine größere Freiheit zusichern würde. Doch erst allmählich füllen sich die Versprechungen des jetzigen Königs mit einigen konkreten Maßnahmen, um die Frauen mehr als bisher an der Bildung teilhaben zu lassen. Mohammed VI. räumt der Gleichbehandlung von Frauen und Männern in seiner Politik relativ viel Platz ein, weil er erkannt hat, dass nur ein modernisiertes Erziehungssystem dafür sorgen kann, dass Marokko allmählich den Anschluss an internationale Standards finden kann. Der marokkanische Bildungsminister kündete 2001 sogar an, ein neues Ausbildungssystem zu schaffen, das als Mittel für eine neue, gerechtere Gesellschaft dienen soll, das Männer und Frauen vollkommen gleichberechtigt behandelt. Es wurde eine Charta verabschiedet, die das marokkanische Ausbildungssystem in seinen Grundstrukturen vollkommen reformieren will. Zu den wichtigsten Anliegen der Reform gehört zum einen ein flächendeckendes Alphabetisierungsprogramm wie auch das Vorhaben, den Mädchen in den ländlichen Gebieten einen Schulbesuch in Zukunft grundsätzlich zu ermöglichen. Die Reformvorhaben haben inzwischen auch eine juristische Basis gefunden. Was bislang allerdings fehlte, ist eine genaue Analyse des marokkanischen Ausbildungssystems unter geschlechtsspezifischen Aspekten. In Marokko gibt es erst seit kurzem wissenschaftliche Arbeiten, die versuchen, das Schulsystem mit der Gender-Frage zu verbinden. Immerhin gibt es seit Mitte der 90er Jahre erste statistische Erhebungen, die Auskunft darüber geben, wie viele Mädchen in den ländlichen Gebieten Marokkos in die Schule gehen. Vereinzelte Untersuchungen bemühen sich darum, auch Auskunft über die qualitative Ausbildungssituation in Marokko zu geben. Dabei wurde unter anderem festgestellt, dass etwa die Hälfte aller Kinder, die in ländlichen Gebieten wohnen, einen Schulweg von bis zu fünf Kilometern 20 Marokko Antje Allroggen Länge zurücklegen muss. Tatsächlich sieht man entlang der großen Straßen Marokkos viele Kinder mit Tornistern, die auf dem Weg zur Schule sind. Außerdem wurde festgestellt, dass 73 Prozent der Jungen, aber nur sechs Prozent der Mädchen nach der Grundschule weiterführende Schulen besuchen. Grund dafür ist der relativ lange Schulweg, vor dem besonders die Mädchen zurückscheuen. Außerdem haben die Internate in Marokko für Mädchen noch sehr viel weniger Kapazitäten als für Jungen. Obwohl die Zahl der Internatsschüler sich in den vergangenen zehn Jahren erhöht hat – 1991 waren es 56.657, 1998 immerhin schon 62.059 –, sind nur 20 Prozent der Internatsschüler Mädchen. Inzwischen wird darüber nachgedacht, für Schülerinnen, die aus ländlichen Gebieten kommen, Stipendien anzubieten, die sie ermutigen sollen, eine weiterführende Schule zu besuchen. Studien haben nämlich erwiesen, dass Mädchen sehr viel bessere Leistungen in der Schule erbringen als ihre männlichen Mitschüler. Viele Mädchen haben außerdem nicht die Möglichkeit, einen höheren Schulabschluss zu machen, weil sie von ihren Eltern sehr früh verheiratet werden. Noch kann eine Ehe geschlossen werden, wenn das Mädchen 15 Jahre alt ist. Erst die Abschaffung des bisherigen Code de la famille sieht vor, das Heiratsalter auf 18 Jahre zu erhöhen. Im Unterricht erfahren die Mädchen bereits im jungen Alter von der Abhängigkeit des weiblichen Geschlechts. Bis heute werden jedoch die Diffamierungen, die viele Mädchen im Schulunterricht zu ertragen haben, tabuisiert. Nicht selten kommt es sogar zu sexueller Belästigung und Vergewaltigung. Als vor drei Jahren in Casablanca 500 Gymnasiastinnen und Studentinnen danach gefragt wurden, ob sie schon einmal innerhalb eines Schul- bzw. Universitätsgebäudes sexuell belästigt worden seien, beantworteten 96,2 Prozent der Befragten die Frage positiv. Ihren Auskünften zufolge komme es an nahezu allen öffentlichen Orten zu regelmäßigen sexuellen Übergriffen: in Schulhallen, den Bibliotheken, Toiletten, Garderoben. Ein junges Mädchen, das an einem Alphabetisierungskurs in der Nähe von Marrakesch teilnimmt, bestätigte mir, dass nahezu alle Mädchen und Frauen sexuell belästigt oder regelmäßig geschlagen würden. Seitdem sie bei ihrem Onkel wohne, würde der sie regelmäßig schlagen. Ohne seine Erlaubnis dürfe sie außerdem nicht das Haus verlassen. In den Schulen ist es meistens das Lehrpersonal, das die Schülerinnen belästigt. Die Hälfte der Mädchen gab übrigens an, dass die Lehrer, die sie sexuell missbrauchen, sie das Schuljahr wiederholen ließen. Viele mussten daraufhin ihren Schulbesuch beenden. Inzwischen werden immerhin immer mehr dieser Fälle publiziert, so dass allmählich der öffentliche Druck wächst, gegen das Problem politisch vorzugehen. 21 Antje Allroggen Marokko Eine aktuelle Studie hat herausgefunden, dass die Kinder von Müttern, die lesen und schreiben können, bessere Voraussetzungen haben, eine Schule zu besuchen. Darüber hinaus wurde auch festgestellt, dass viele Jungen und Mädchen nur wenig Interesse an einem Schulbesuch haben. Stattdessen ziehen sie es vor, selbst hergestellte Produkte auf Märkten zu verkaufen. Die Mädchen müssen dabei allerdings das Geld an ihre Männer bzw. Väter abgeben und können sich gegen diese Bevormundung kaum wehren, weil sie noch nicht einmal die Summe errechnen können, die sie am Tag eingenommen haben. Deshalb zielt der Schulbesuch der Mädchen auch darauf ab, ihnen zumindest die grundlegenden Rechenarten und das Alphabet beizubringen, damit sie in der Lage sind, ihr verdientes Geld selber zu verwalten. Ein Schulbesuch kostet die Eltern in der Regel viel Geld: der Staat übernimmt keine Kosten für Bücher und Hefte, alles ist selber zu finanzieren. Insofern nimmt es kaum Wunder, dass eine kinderreiche Familie finanziell stark belastet wird, wenn sie jedes Kind so lange wie möglich zur Schule schicken will. „Meine Tochter soll dennoch alle Möglichkeiten einer guten Ausbildung bekommen“, erzählt Malika, der es selber nicht möglich gewesen war, lesen und schreiben zu lernen. Gleichzeitig befürchtet sie, ihre Tochter könne sie, wie ihre Söhne auch, nach der Schule verlassen. Schließlich bieten die großen marokkanischen Städte sehr viel bessere Verdienstmöglichkeiten als die ländlichen Gebiete. Wenn die Regierung stolz verkündet, dass von Jahr zu Jahr immer mehr schulpflichtige Kinder die Schule besuchen, wird allerdings nach wie vor nicht zwischen Jungen und Mädchen differenziert. Die Charta war ursprünglich davon ausgegangen, dass im Schuljahr 2002/2003 alle sechsjährigen Marokkaner und Marokkanerinnen eine Schule besuchen. Das ist jedoch immer noch nicht der Fall. Darüber hinaus gibt es in Marokko keine wirkliche Trennung zwischen Staat und Religion. Der Schulunterricht wird stark von islamischen Vorstellungen geprägt. Das heißt: das Bild einer Frau, die ihrem Mann untersteht, wird auch in den Schulen weiterhin vermittelt. Auch die pädagogischen Methoden orientieren sich am klassischen islamischen Frauenbild und ermöglichen kaum einen freien und kritischen Diskurs über Modernisierungsvorhaben in der marokkanischen Gesellschaft. Die Institution Schule, die nach wie vor die sehr konservativen Ideale über das Verhältnis zwischen Mann und Frau vermittelt, prägt das Rollenverständnis zwischen den Geschlechtern nach wie vor sehr stark. Nicht die Schulen, sondern die Frauenrechtsbewegungen, von denen es in Marokko zahlreiche gibt, haben stattdessen die Aufgabe übernommen, das Erziehungssystem zu modernisieren und es an einem Frauenbild zu orientieren, das sich von alten Rollenklischees verabschiedet und stattdes22 Marokko Antje Allroggen sen von der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern ausgeht. Die meisten Frauenrechtsbewegungen befinden sich in Rabat. Fast alle Frauen, die sich hier engagieren, arbeiten ehrenamtlich. Die Organisationen haben sich voll und ganz der Aufgabe verschrieben, die Lebensbedingungen für die Frauen in Marokko zu verbessern. Sie selber bezeichnen sich als militant und wollen die nötigen gesellschaftspolitischen Veränderungen nicht allein der Politik überlassen. Mit finanzieller Unterstützung internationaler Organisationen und Stiftungen richten sie Alphabetisierungskurse ein und bieten Frauen eine rechtliche Beratung an. Die in diesen Einrichtungen tätigen Frauen – und Männer – sind untereinander bestens vernetzt, teilweise auch miteinander befreundet. Sie haben die Gleichberechtigung schon längst zu ihrem Lebensmotto erklärt. Viele von ihnen sind von ihren Männern geschieden und stehen finanziell auf eigenen Füßen. Sie verdeutlichen nach außen hin, dass ein gesellschaftspolitischer Wandel hin zu demokratischeren Werten in Marokko grundsätzlich möglich erscheint. Allerdings sind die meisten Frauen in Marokko noch um Lichtjahre von diesen Vorreiterinnen entfernt. Sie können weder lesen noch schreiben, werden nicht selten von ihren Ehemännern geschlagen und sind sich ihrer zivilen Rechte noch nicht einmal bewusst. Ein Ausbruch aus der Ehe oder dem gemeinsamen Haushalt ist in den seltensten Fällen möglich, weil die Frau finanziell vollkommen auf ihren Mann angewiesen ist. Erst ein verbessertes Bildungssystem könnte sie aus ihren Abhängigkeiten befreien. Die Alphabetisierungskurse dienen dazu, den Frauen eine erste Grundlage zu geben, eine einfache Arbeit, zum Beispiel als Schneiderin, aufnehmen zu können. Deshalb befinden sich in vielen Klassenräumen auch alte Nähmaschinen, an denen die Frauen lernen zu schneidern. Die Kurse vermitteln weitere praktische Dinge: wie eine Rechnung zu schreiben ist, wie man Aufträge schriftlich festhält und wie Zahlen auf dem Papier aussehen. Auf diese Weise garantiert der Besuch eines Alphabetisierungskurses nicht nur, lesen und schreiben zu können, sondern auch, einen Beruf zu erlernen, um damit finanziell unabhängig zu werden. Interessanterweise beginnen die Alphabetisierungskurse in der Regel mit dem Rezitieren eines Koranverses. Hier wirken die Stimmen der Frauen sicher, die Worte sind ihnen seit Jahren in Fleisch und Blut übergegangen. Das gemeinsame Beten soll sie motivieren und ihnen die Furcht vor einer Unterrichtssituation nehmen, die sie bislang noch nicht kannten. Darüber hinaus bieten die Kurse diesen Frauen die Möglichkeit, über ihre Probleme mit anderen Frauen zu reden. Die Teilnehmerinnen müssen das laute Artikulieren vor Zuhörern regelrecht üben. Selten oder sogar nie zuvor ist ihnen in ihren Familien das Recht eingeräumt worden, vor Publikum eine eigene Meinung zu äußern. 23 Antje Allroggen Marokko Um die Frauen dazu zu bewegen, am Alphabetisierungs-Unterricht teilzunehmen, bedarf es allerdings viel Zeit und Mühe. Nur selten gibt es die Möglichkeit, telefonisch auf die Veranstaltungen aufmerksam zu machen. Also müssen die Mitarbeiter der Organisationen von Tür zu Tür gehen und regelrecht um die Teilnahme an einem Alphabetisierungskurs werben. Häufig sind es die Männer, die ihren Frauen verbieten, am Unterricht teilzunehmen. Falls es den Frauen jedoch gelingt, lesen und schreiben zu lernen und danach einer Tätigkeit nachzugehen, bekommen viele von ihnen mehr Selbstbewusstsein: Sie sind plötzlich beweglich und können mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, weil sie die Schilder auf den Fahrzeugen lesen können; sie können die Zeitungen lesen und sich ein eigenes Bild von Politik und Gesellschaft machen. Mehr noch, sie erfahren von Möglichkeiten, sich aus der Abhängigkeit ihrer Männer zu befreien und neben ihren familiären Verpflichtungen eigene Wege zu gehen. „In Zukunft muss man sich aber nicht nur auf die Frauen konzentrieren, sondern auch Kontakt zu ihren Männern aufnehmen“, meint Hassan Morjani, einer der wenigen Männer, die sich für die Gleichberechtigung der Frauen in Marokko engagieren. Er leitet eine Initiative in Salé bei Rabat, die unter anderem Alphabetisierungskurse für Frauen anbietet. „Erst wenn auch die Männer begriffen haben, dass sie nicht einfach brutal über ihre Frauen verfügen können, werden die Frauen ihre Rechte auch verwirklichen können.“ In Rabat habe ich mehrere deutsche Frauen kennengelernt, die ursprünglich nach Marokko gekommen waren, weil sie einen Marokkaner geheiratet haben. Alle diese Ehen sind im Laufe der Zeit geschieden worden. Zumeist waren die unterschiedlichen Vorstellungen über die Rolle der Frau unüberwindlich. Außerdem brachte auch die Familie des Mannes nur wenig Verständnis für die „Frau aus Europa“ auf. „In Marokko als geschiedene Frau zu leben, ist der reine Alptraum“, erinnert sich Sabine Kilito, die in den 70er Jahren mit ihrem Mann nach Marokko kam. „Man wird von allen Männern wie Freiwild behandelt. Allein deswegen ist es ratsam, hier verheiratet zu sein.“ Inzwischen ist sie mit einem marokkanischen Professor in zweiter Ehe verheiratet und unterrichtet als Deutsch-Lehrerin am GoetheInstitut in Rabat. Ihre Erfahrungen mit der anderen Kultur, die ihr bis heute, auch wenn sie sie gut kennt, fremd geblieben ist, hat sie in zahlreichen Romanen verarbeitet. Ihre beste Freundin hat genau das gleiche Schicksal erlebt: Heirat mit einem Marokkaner, Scheidung, zweite Heirat mit einem Marokkaner. Beide sagen, dass das Leben in Marokko für sie, auch dreißig Jahre nach ihrem Umzug hierher, nicht einfach sei. „Viele Marokkaner begegnen uns nach wie vor mit einigem Misstrauen, allein aufgrund unserer blonden Haarfarbe und unserer Kleidung. Dabei können wir beiden sogar 24 Marokko Antje Allroggen fließend arabisch, auch das reicht häufig nicht aus, um sich in das gesellschaftlich immer noch stark männlich geprägte Leben zu integrieren.“ Beide haben beobachtet, dass ein Teil der Frauen in Marokko sich am europäischen Frauenbild orientiert, ein anderer Teil aber zum traditionellen islamischen Rollenverständnis zurückkehrt. In den Deutschkursen des Goethe-Instituts erscheinen seit einiger Zeit immer mehr junge Mädchen mit Kopftuch. „Nicht immer aus politischer bzw. religiöser Überzeugung, sondern häufig auch deswegen, um sich in der Öffentlichkeit vor männlichen Avancen zu schützen“, vermutet Sabine Kilito. „Aber es ist schwerer, sie als Person einzuschätzen. Die meisten Mädchen, die Kopftuch tragen, halten sich mit ihrer Meinung im Unterricht vollkommen zurück. Deswegen ist der Zugang zu ihnen sehr viel schwerer, und, das muss man ehrlicherweise auch sagen, die Vorurteile sind erst einmal größer, wenn eine junge Frau mit Kopftuch in meinem Unterricht erscheint.“ Die Frauen, die in Marokko ehrenamtlich tätig sind, haben in der Regel einen höheren Schulabschluss, haben häufig studiert, und üben einen Beruf als Professorin an der Universität oder in einer internationalen Organisation aus. Alle Frauen, die ich kennen gelernt habe, standen finanziell völlig auf eigenen Füßen, lebten allein oder waren geschieden. „Wir sind eben wirkliche Idealisten“, gesteht Sadira, die schon über zehn Jahre in der Frauenbewegung aktiv ist. „Ich glaube einfach daran, dass es für Marokko eine Möglichkeit gibt, sich zu einem freien und demokratischen Staat zu entwickeln, und weil die Regierung nicht genug dafür tut, gibt es eben zahlreiche NGOs, die diese Aufgabe maßgeblich übernehmen.“ 5. Der Stadt-Land-Konflikt Auf dem Land, vor allem im Süden Marokkos, beschränken sich die Alphabetisierungskurse nicht allein auf das Erlernen von Schrift und Sprache. In Ouarzazate zum Beispiel hat man die Frauen dazu ermutigt, gemeinsam Ball zu spielen. Für diese Frauen – die traditionellerweise alle verschleiert sind und lange Kaftans tragen – war es das erste Mal, sich auf diese Weise ausgelassen zu bewegen, die Hände vom Körper weg zu strecken und auf diese Weise eigene Körperlichkeit zu erfahren. Viele Frauen haben so zum ersten Mal erlebt, wie es sich anfühlt, sich ungehemmt und unkontrolliert bewegen zu können. Für Sadira, eine Powerfrau aus Rabat, die schon seit Jahren in der Frauenbewegung aktiv ist, ein deutliches Zeichen dafür, dass die Verschleierung die Frauen daran hindert, sich frei zu bewegen, ein eigenes Körpergefühl zu entwickeln. 25 Antje Allroggen Marokko Zwischen der Alphabetisierungsrate von Männern und Frauen gibt es ein drastisches Stadt-Land-Gefälle: Während 1998 in den Städten immerhin 54,5 Prozent der Frauen lesen und schreiben konnten, waren es auf dem Land nur 17 Prozent. Dennoch ist inzwischen einiges für die Ausbildung getan worden: 1982 konnten nur fünf Prozent (!) der Frauen, die auf dem Land lebten, lesen. Noch immer gibt es sehr viel mehr Männer, die zumindest eine Grundausbildung genossen haben: 1998 war gut zwei Drittel der in den Städten lebenden Männer alphabetisiert; auf dem Land konnten zu dieser Zeit immerhin schon mehr als die Hälfte der Männer lesen und schreiben (Quelle: UNIFEM, 2003). Eine aktuelle Studie hat herausgefunden, dass es besonders die Mütter sind, die in den ländlichen Gebieten einen erheblichen Einfluss auf die Erziehung ihrer Töchter haben. Die Frauenbewegungen versuchen deshalb, diesen Müttern die Vorteile einer schulischen Ausbildung aufzuzeigen, um so zu erreichen, dass immer mehr Mädchen trotz weiter Entfernungen zur Schule geschickt werden. Besonders die jungen Frauen haben inzwischen erkannt, dass eine bessere Ausbildung ihren Töchtern bessere Lebensbedingungen ermöglicht und unterstützen deshalb die Initiativen der Organisationen. Viele Nichtregierungsorganisationen haben auf dem Land eigene Initiativen gegründet, die sich darum bemühen, den Frauen Lesen und Schreiben beizubringen. Die Caravane Civique ist eine Organisation, die inzwischen auch international bekannt ist, weil sie von Fertima Mernissi unterstützt wird. Gegründet wurde sie von Jamila Hassoune, die im Universitäts-Viertel von Marrakesch einen kleinen Buchladen besitzt. „Angefangen hat alles mit der Idee, Frauen, die in entlegenen Dörfern leben und noch nie in ihrem Leben ein Buch in der Hand gehabt haben, alte, bekannte Geschichten vorzulesen“, erzählt Jamila Hassoune. Dafür packte sie Stapel von Büchern in ihren kleinen Renault und fuhr einfach los. Inzwischen hat sich die Tour in die Bergdörfer institutionalisiert: zahlreiche Ehrenamtliche helfen ihr bei ihrer Fahrt. Sogar Schriftsteller, Journalisten und Künstler nehmen inzwischen an der Karawane teil und lesen der einheimischen Bevölkerung in alter Tradition Geschichten aus dem Orient vor. „Ich habe im Hohen Atlas ganz allein eine Umfrage unter 100 Jugendlichen gemacht“, so Hassoune. „Daraus ergab sich, dass es nicht nur einen richtigen Wissenshunger gibt, sondern auch ein Bedürfnis, sich mit Künstlern, Literaten und Erzählern zu treffen.“ Neben der Caravane Civique hat Jamila Hassoune den Club du livre et de la lecture gegründet, in dem junge, engagierte Lehrer, Ärzte und Juristen mithelfen. Gemeinsam sammeln sie Jahrhunderte lang mündlich überlieferte Berbermärchen und bringen sie in eine schriftliche Form. „Unsere kleine Buchhandlung ist ein Treffpunkt geworden für alle, die sich beteiligen wol26 Marokko Antje Allroggen len.“ Im Obergeschoss der Buchhandlung zeigt sie mir großflächige abstrakte Bilder. Alle sehr ausdrucksstark, mit einzelnen konkreten Elementen. Geschichten, die über das harte Leben auf dem Land erzählen. Jamila Hassoune fördert inzwischen auch Künstlerinnen aus dem Süden Marokkos. Autodidaktinnen, die nie in eine Schule gegangen sind, nicht lesen und nicht schreiben können und stattdessen die Kunst als Vehikel benützen, um ihre Gefühlswelt anderen mitzuteilen. In Essaouira, einem Strandort im Süden Marokkos, der lange Zeit als ein wenig verschlafen galt, leben viele Künstler, die Analphabeten sind, inzwischen aber von ihrer Malerei leben können. Einige von ihnen sind außerdem stark von der Gnaoua-Musik geprägt, für die Essaouira bekannt ist. In der Gnaoua-Musik werden bestimmten Farben bestimmte Klänge zugeordnet. Die Maler setzen die Töne bildlich um. So entstehen Bilder-Geschichten, in denen die Künstler, ohne Schrift und Sprache benutzen zu müssen, sich nach außen mitteilen können. Patrick, ein Niederländer, der bereits vor Jahrzehnten in Essaouira die erste Galerie eröffnete, gilt als Entdecker dieser Bilder-Sprachen. Er hat vielen Künstlern ermöglicht, von ihrer Malerei leben zu können. Ein Mitarbeiter der Galerie erzählt, dass das marokkanische Kunstgewerbe – die Schnitzereien, Intarsien- und Knüpfarbeiten – bis heute für viele Marokkaner die einzige Ausdrucksmöglichkeit sei, weil sie weder lesen noch schreiben könnten. Vielleicht ist die Kunstfertigkeit vieler Marokkaner tatsächlich damit zu erklären, dass sie ihnen als Schrift-Ersatz im Alltag dient. 6. Zwischen Nomadenstämmen und Berberaffen - die chicste Universität Marokkos liegt in der grünen Mitte Marokkos Im mittleren Atlas, wo Berber ihre Schafe durch die öde Landschaft treiben, liegt das kleine Bergdörfchen Ifrane, der wohl ungewöhnlichste Ort innerhalb Marokkos. Denn hier gibt es gepflegte Bürgersteige und gesprengte Rasenflächen, die man nicht betreten darf. Die einstige französische Kolonialmacht hatte sich hier in den zwanziger Jahren eine Kunstwelt geschaffen, die noch heute sehr an das europäische Ausland erinnert: Ziegeldächer und Giebelhäuser wähnen den Besucher im Elsass, und in den stark französisch geprägten Cafés trifft man auf westlich gekleidete Studenten. Sie besuchen die Universität Al Akhawayn. Eine marokkanisch-saudische Gründung, die sich die saudischen Scheichs 50 Millionen US-Dollar kosten ließen. Als einzige marokkanische Hochschule bietet sie den Studierenden die Möglichkeit, einen internationalen Abschluss in den Fächern Informatik, BWL und internationale diplomatische Beziehungen zu machen. 27 Antje Allroggen Marokko Mehr als 50 Prozent der Studierenden sind weiblich – eine erstaunlich hohe Zahl für ein muslimisch geprägtes Land, in dem in der Regel nur Männer eine akademische Karriere machen. Doch viele der Studentinnen sind nicht ganz freiwillig hier. Ihre Eltern haben ihnen verboten, an eine ausländische Universität zu gehen. Um ihnen dennoch eine angemessene Ausbildung zu ermöglichen, sind sie in Ifrane. Einige der Studentinnen tragen bauchfreie Shirts auf dem Campus, andere verhüllen sich mit Kopftuch. Auch die Mädchen mit Kopftuch würden gerne an eine Universität ins Ausland wechseln. Allerdings befürchten sie, aufgrund ihrer Verschleierung Probleme zu bekommen. Hier, auf dem Campus, scheint die Integration zwischen traditionellen und westlich orientierten Marokkanern hingegen vorbildlich zu funktionieren. Abends wird zu amerikanischen Filmen eingeladen, gleichzeitig steht inmitten der Anlage eine Moschee – eine Nachbildung der Moschee Koutoubia in Marrakesch. Der Lehrkörper setzt sich aus Marokkanern und Amerikanern zusammen. Die Universität ist für ausländische Lehrkräfte allein deshalb attraktiv, weil sie ein gutes Gehalt garantiert. Hachim Haddouti lehrt Informatik und Softwareentwicklung an der Universität in Ifrane. Als Deutschmarokkaner hat er in Berlin studiert, an der TU München promoviert und war als Gastdozent in Japan und in den USA. Weil er als angehender Wissenschaftler in Deutschland nur wenig verdiente, ging er nach Marokko. Ohne habilitiert zu haben, lehrt er an der Al Akhawayn-Universität als Professor und kann sich einen großen Mercedes mit abgedunkelten Fensterscheiben leisten. Seine Nähe zu Deutschland bewahrt er sich, indem er an der Universität einen German Club gründete. Außerdem rief er eine Partnerschaft mit der TU München ins Leben. Inzwischen hat der German Club bereits mehr als 50 Mitglieder. Nicht wenige der marokkanischen Studierenden erhoffen sich von ihrer Mitgliedschaft, ihr Studium an einer deutschen Uni fortsetzen zu können. Schließlich, so sagen sie, sei das Studium in Deutschland gebührenfrei. Das Studium an der Universität Al Akhawayn hingegen kostet mindestens 1.000 Euro pro Semester. Folglich studieren an der noblen Uni nur die reichsten Töchter und Söhne angesehener marokkanischen Familien. Auch der Cousin des marokkanischen Königs studiert in Ifrane. Deswegen ist der Campus wie ein Kasernengelände abgesichert. Ein Studium hinter verschlossener Schranke – ein Studium wie im goldenen Käfig. Nur wenige Meter vom Universitätsgelände entfernt, wohnen Menschen in Hütten, ohne fließendes Wasser und Strom. Die Gegend ist bekannt dafür, dass hier viele Frauen der Prostitution nachgehen, um auf diese Weise Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Universität bemüht sich im amerikanischen Stil darum, die Armut um den Campus herum zu lindern. Man 28 Marokko Antje Allroggen spendet zum Beispiel Stifte, Schultafeln und Tornister an die Bedürftigen. Außerdem wurde im Nachbarort Azrou ein eigenes Frauenzentrum eingerichtet. Hier haben die Frauen die Möglichkeit, medizinisch versorgt zu werden und an Alphabetisierungskursen teilzunehmen. Das Beispiel Ifrane zeigt, wie dicht in Marokko Wohlstand und Armut nebeneinander stehen. Während ein Teil der Bevölkerung für viel Geld einen Master of Business and Administration erwerben kann, leben nur ein paar Kilometer weit entfernt noch heute Nomaden in ihren Zelten. 7. Eine kurze Begegnung mit Fertima Mernissi, prominenteste Frauenrechtlerin Marokkos Bereits Wochen vor meiner Abreise nach Marokko hatte ich den Versuch unternommen, bei Fertima Mernissi per e-mail nach einem Interviewtermin anzufragen. Allerdings ohne Erfolg. Auch die Friedrich-Ebert-Stiftung in Rabat, die in gutem Kontakt zur prominentesten Frauenrechtlerin des Landes steht, konnte leider nicht behilflich sein. Umso erleichterter war ich, als es über eine Veranstaltung der Deutschen Botschaft in Rabat die Möglichkeit gab, Frau Mernissi zu begegnen und sie um ein kurzes Gespräch zu bitten. Fertima Mernissi war eine der ersten Frauen, die Anfang der sechziger Jahre im Maghreb-Staat studierten und die anschließend eine wissenschaftliche Karriere ansteuerte. Auf 100 Studierende kamen damals 27 weibliche Kommilitonen. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr erging es Mernissi wie vielen anderen marokkanischen Frauen: Sie hatte ihre Heimatstadt Fès, die als besonders traditionsbewusst gilt, noch nie verlassen. Sie war 1949 in Fès geboren worden. Ihre Mutter und Großmutter waren Analphabetinnen und führten ein traditionelles, von Geschlechtertrennung und Verschleierung geprägtes Leben in einem Harem. Ihr Leben in diesem „Harem“ betont sie immer wieder in ihren Texten, ohne ihre Aussage jedoch genauer zu erläutern. Stattdessen wirken ihre Ausführungen häufig sehr assoziativ. Nach dem Besuch einer traditionellen Koran – und einer Nationalschule studierte Mernissi an der Universität in Rabat Jura. Sie fällt durch die Prüfungen und entscheidet sich für ein Studium der Soziologie. Diese Studienzeit in Rabat zu Beginn der 60er Jahre war für sie eine sehr prägende Zeit, wird sie doch bis heute mit den durch die Unabhängigkeit von Frankreich bedingten Veränderungsprozessen in Verbindung gebracht. Durch einen Au-Pair-Aufenthalt 1965 bis 1966 in London und das anschließende Studium im Paris der 68er Bewegung lernte sie die freizügige westliche Lebensart kennen. Als junge Studentin schreibt sie bereits für das renommierte Magazin Jeune Afrique, das in Paris herausgegeben wird. Ihre 29 Antje Allroggen Marokko Meinungen sind dem Blatt aber bald schon zu unkonventionell – sie muss die Zeitschrift verlassen. Nach einem Aufenthalt in den USA kehrt Mernissi schließlich in ihr Heimatland zurück, wo sie bis 1981 Soziologie an der Universität Mohammed V in Rabat lehrt. Mernissi beendet ihre Lehrtätigkeit, weil sie ihre Ansprüche, die sie an die soziologische Lehre und Forschung stellt, in Marokko scheinbar nicht verwirklichen kann: „Wenn man Soziologie als Wissenschaft genauestens betreiben will, muss man auch das wissenschaftliche Rüstzeug zur Verfügung gestellt bekommen, um soziologische Forschungen über das Land anstellen zu können. Das wird uns Wissenschaftlern in den arabischen Ländern aber verwehrt“, schreibt sie 1989 rückblickend in einem Aufsatz. Seitdem geht sie ihren Forschungsinteressen anderweitig nach, indem sie beispielsweise für die UNESCO und die UNO arbeitet. Ferner engagiert sie sich journalistisch für marokkanische Frauenzeitschriften. Gleichzeitig ist Mernissi in marokkanischen, arabischen und afrikanischen Frauenkollektiven aktiv, die gemeinsame Forschungen und Publikationen in Angriff nehmen. Inzwischen wird die Soziologin mit Preisen überhäuft. Erst vor kurzem erhielt sie den spanischen Prinz-von-Asturien-Preis, den sie sich mit der nicht minder bekannten amerikanischen Schriftstellerin Susan Sonntag teilt. Vom ägyptischen Nobelpreisträger Nagib Mahfus wurde sie zur „einflussreichsten Intellektuellen der arabischen Welt“ gekürt. Fertima Mernissi veröffentlichte zahlreiche Studien über die Vereinbarkeit von Islam und Moderne, die in mehreren arabischen Ländern teilweise heute noch verboten sind. Auch in Marokko standen einige ihrer Bücher für längere Zeit auf dem Index. Die Soziologin hat allerdings sehr früh verstanden, dass ein zensiertes Buch in einem islamischen Land den Stellenwert und Bekanntheitsgrad dieser Veröffentlichung auch international nur erhöht und hat bei späteren Büchern sogar gehofft, dass sie zunächst in Marokko nicht zu kaufen seien. Mernissi brüskiert konservative islamische Gralshüter mit der Forderung nach einer modernen Koran-Interpretation und wirbt mit wachsendem Erfolg für einen „vorurteilslosen Dialog der Kulturen“. Dieser kann ihrer Meinung nach nur gelingen, wenn sich Orient und Okzident gleichermaßen auf einander zu bewegen. Als Frauenrechtlerin meint Mernissi, dass die Frauen in der Annäherung zwischen Orient und Okzident eine wichtige Rolle spielen. Sie kämpft dafür, dass die Frauen im Maghreb mehr Rechte – vor allem auf Bildung – bekommen, damit sie sich selbst aus dem „Harem“ der männerdominierten Gesellschaft befreien können. In Wort und Schrift vermutet die Soziologin ein wahres Macht-Potential der Frauen, das ihnen dabei helfen kann, ihre Rechte ohne das Mittel der Gewalt erfolgreich durchzusetzen. Ihrer Meinung nach kann es nicht Ziel sein, dass sich die Marokkanerinnen 30 Marokko Antje Allroggen dem europäischen bzw. amerikanischen Frauenbild einfach anpassen. Auch die „westlichen“ Frauen müssen sich nämlich, so Mernissi, von ihren „Harems“ des Konsumterrors emanzipieren, sind also nicht selten genauso unfrei wie Frauen im Orient. Damit distanziert sich die Soziologin in ihren Schriften immer mehr von westlichen Konzepten, die sie bis in die achtziger Jahre hinein als Vorbild für den Orient vertreten hatte. Seit Ende des Golfkriegs wendet sich Mernissi mehr ihrem arabischen und muslimischen Erbe zu und will Marokko in einen moderneren Staat überführen, indem nicht westliche Werte kopiert, sondern alte islamische Traditionen wiederentdeckt werden. Nicht nur in den okzidentalen, auch in den orientalischen Gesellschaften sei die Vorstellung von Demokratie nämlich durchaus angelegt. Eine mutige These, hat es in den islamischen Ländern doch nie eine Aufklärung, Revolution oder einen Humanismus gegeben. Die Abgrenzung vom europäischen Ideen- und Gedankengut ist bis heute bei vielen marokkanischen Intellektuellen zu beobachten. Nadira Barkali, Professorin an der Universität Rabat und Frauenrechtlerin, macht vor allem den Westen für diese Abkehr des Orients von Europa verantwortlich. Nicht nur die Bush-Politik nehme auf die Bedürfnisse der Araber keinerlei Rücksicht, auch Europa verschärfe mit seiner Nahostpolitik den Graben zwischen dem Orient und dem Okzident. „Ich bin von meiner Mutter nach westlichen Werten erzogen worden“, erzählt Barkali. Meine Mutter hat schon vor dreißig Jahren kein Kopftuch mehr getragen und hat auf Europa als Vorbild für uns gehofft. Wie aber soll ich bei meinen Studierenden für ein Europa werben, das die USA in ihrer arabisch-feindlichen Politik unterstützt? Ich kann in Europa kein Vorbild mehr für uns Marokkaner sehen.“ Die Biographie Fertima Mernissis macht jedoch deutlich, dass sich der Zugang zur Bildung entscheidend auf die Lebensplanung auswirken kann. Durch eine entsprechende Ausbildung kann der traditionell vorgezeichnete Weg einer Frau, das heißt Ehe und Mutterschaft – Mernissi ist weder verheiratet noch hat sie Kinder – verlassen oder modifiziert werden, weil eine oder gar mehrere Alternativen zur Verfügung stehen. Diese Wahl an Möglichkeiten schärft bei vielen gebildeten marokkanischen Frauen das Bewusstsein, sich nicht als eine von ihrem Mann abhängige Frau zu definieren, sondern als ein Individuum, das vollkommen frei ist in seinen Entscheidungen. Fraglich ist dabei, ob diese Möglichkeiten von Freiheit und Individualismus wirklich allen Frauen in Marokko zur Verfügung stehen. Die Bücher Mernissis zumindest erschließen sich nur denjenigen, die französisch oder englisch sprechen können, also einer Minderheit. Die Autorin Ursula Günther geht davon aus, dass Mernissi sich auch gar nicht „an die breite arabische Masse wenden will, weil sie diese (eben) gar nicht erreichen könnte“. 31 Antje Allroggen Marokko Stattdessen will sie in erster Linie die Intellektuellen Marokkos und auch das westliche Publikum mit ihren Streitschriften ansprechen. Von den „einfachen“ Frauen Marokkos werden ihre Botschaften wohl kaum verstanden. Aus der umworbenen Intellektuellen ist im Laufe der Zeit ein Star mit Allüren geworden. Auf dem Podium in Rabat erzählt sie, dass sie gerade von einem Kongress in Madrid komme und bald nach Deutschland zur Frankfurter Buchmesse fliege. Dabei hält sie ihre neuesten Veröffentlichungen in die Luft, gestikuliert viel und redet dabei phrasenhaft ohne großen Gehalt. Eine Diva, der dennoch alle Zuhörer bewundernd an den Lippen hängen. Zwei Kollegen – ein junges Mädchen, das für die GTZ arbeitet, und ein Hörfunkkollege aus Deutschland – möchten Mernissi interviewen, geben aber schließlich auf, weil die Soziologin darauf verweist, dass sie grundsätzlich keine Interviews gebe. Auch die Deutsche Botschaft erweist sich als wenig hilfsbereit, ein Gespräch zu vermitteln. Aus irgendwelchen Gründen gibt sie mir eine kleine Chance und verspricht mir ein Interview im Van der Delegation, auf dem Weg ins Restaurant zum Mittagessen. Immerhin gelingt eine erste Frage. Ob sie es bedaure, dass so viele junge qualifizierte Leute das Land verlassen. Ja, es sei ein Verlust für Marokko, dass die besten Köpfe ins Ausland gingen. Das alles könne man aber auch auf ihrer Homepage nachlesen. Dann lässt sie sich durch ihren Nachbarn auf dem linken Fahrersitz ablenken, hat den Faden verloren, steigt aus und fängt ein neues Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger an, der ebenfalls an der Veranstaltung teilnimmt. Mernissi steuert gedankenlos auf das Restaurant zu und ist in ihren rauschenden blauen Gewändern plötzlich verschwunden. Mir wird klar, dass Frau Mernissi durch ihre Prominenz an Bodenhaftung verloren hat. Zwischen ihrem Jetset-Leben, das auf hohem Niveau für eine eigene Kultur des Orients wirbt, und dem Leben der Frauen auf dem Land, die nicht lesen und schreiben können, liegen Welten. Inzwischen hat sie die „Feldarbeiten“ längst anderen überlassen: Frauen, die vor Ort arbeiten und dadurch direkt daran beteiligt sind, den Demokratisierungsprozess voranzutreiben. 8. Frauen in den Medien – Situation der Medien Immer mehr Titelseiten marokkanischer Zeitungen und Zeitschriften schmücken Frauen. König Mohammed VI. ist der erste König des MaghrebStaates, der eine Bürgerliche geheiratet hat. Gerne zeigt er sich in den Gazetten mit seiner Frau, neuerdings auch mit ihrem Neugeborenen. Eine nach außen hin glückliche, moderne Familie. 32 Marokko Antje Allroggen Das Magazin Femmes du Maroc ist die erste marokkanische Frauenzeitschrift, die sich ganz auf eine weibliche Leserschaft eingestellt hat. Das Magazin versteht sich als eine Mischung aus Mode- und Lifestyle, aber auch Ratgeberblatt und orientiert sich offensichtlich an europäischen oder amerikanischen Produkten wie Elle oder Cosmopolitain. Allerdings nehmen die Artikel und auch die Fotos Rücksicht auf die islamische Religion des Landes. So präsentieren die Models zwar eine moderne Mode, die sich aber deutlich an der marokkanischen Tradition orientiert. Großen Raum nehmen Briefe von Leserinnen ein, die häufig in anonymisierter Weise von Problemen in ihrer Ehe sprechen. Die Frauen belastet es zum Beispiel, wenn ihre Männer eine Beziehung zu einer weiteren Frau haben und sie davon erst nach Jahren zufällig erfahren haben. Auch kommen in den Briefen viele Frauen zu Wort, die nach einer Scheidung ohne jegliche soziale oder finanzielle Absicherung dastehen und zudem keinen Rückhalt aus ihrer eigenen Familie bekommen. Femmes du Maroc erscheint auf Französisch und wendet sich deutlich an eine betuchte Leserinnenschaft, die es sich leisten kann, in den teuersten Boutiquen Casablancas zu shoppen. Auch andere Zeitungen und Zeitschriften, die sich durch eine gesellschaftskritische Berichterstattung auszeichnen, haben versucht, in Artikeln auf die Rechte der Frauen aufmerksam zu machen. Das junge Wochenmagazin telquel brachte zum Weltfrauentag im März 2003 sogar eine Ausgabe heraus, die ausschließlich den Frauen gewidmet war und sich deswegen konsequenterweise tellequelle nannte. Schon auf dem Cover der Ausgabe sieht man, welche unterschiedlichen Frauenbilder in diesem Land aufeinander treffen: Eine junge Marokkanerin, gestylt im Laura-Croft-Stil: Sonnenbrille, ein Tanktop mit der Aufschrift „Sex“, ein kämpferischer Gürtel um die Hüften gebunden. Umrahmt wird sie von zwei jungen Frauen, die Kopftuch tragen. Im Heftinneren folgen ein Porträt über die erste Kamerafrau des Landes; eine Reportage über Frauen im Gefängnis, junge Mädchen, die sich nachts ohne männliche Begleitung in Bars und Diskotheken wagen, und über Frauen auf dem Land, die eine ganze Familie ernähren müssen, weil ihre Männer nicht arbeiten. Die Hälfte der Leser dieses Blattes ist übrigens weiblich. Auch die marokkanische Tageszeitung Al Ahdath Al Maghribia, die 1998 gegründet wurde und die auflagenstärkste Zeitung Marokkos in arabischer Sprache ist, hat sich für die Rechte der Frauen stark gemacht. Mohamed El Brini, Direktor der Zeitung, kämpft schon seit langem für die freie Meinungsäußerung in der Presse. Er saß in den siebziger und achtziger Jahren häufiger im Gefängnis, weil er öffentlich seine Meinung äußerte. Selbst die Folter musste er erleiden. „Noch in den achtziger Jahren war es in Marokko möglich, eine Zeitung zu zensieren, weil ein falscher Begriff verwendet wurde“, sagt der Journalist. „So war zum Beispiel in einem Artikel ei33 Antje Allroggen Marokko ner größeren Zeitung von der marokkanischen Armee die Rede. Die Zeitung durfte nicht gedruckt werden, weil es eigentlich königliche marokkanische Armee hätte heißen müssen.“ Lange Zeit gab es in Marokko nur eine parteigebundene Presse, die kein Recht auf freie Meinungsäußerung kannte. „Inzwischen hat sich in diesem Punkt sehr viel verbessert“, so El Brini. Inzwischen gibt es ein Recht auf freie Meinungsäußerung. Dennoch kann man noch von keiner freien marokkanischen Presse sprechen. Der Code de la presse gilt als erster Schritt hin zu einer Demokratisierung. Mangelhaft ist bislang allerdings noch der rechtliche Schutz, der Journalisten gewährt wird. So gibt es in Marokko noch keine wesentliche Unterscheidung zwischen Zivil- und Strafrecht. „Ein Journalist, der von der Regierung beschuldigt wird, falsche Informationen veröffentlicht zu haben, wird vom selben Richter verurteilt, der über das Strafmaß eines Diebes entscheidet, der auf der Straße eine alte Frau überfallen hat“, erläutert El Brini. Er selber musste sich einem Gerichtsverfahren unterziehen, weil seine Zeitung von der marokkanischen Regierung beschuldigt worden war, die Polizei verunglimpft zu haben. Die Zeitung Al Ahdath Al Maghribia, eines der wenigen Blätter im Land, die einen investigativen Journalismus anstreben, hatte über den Drogenschmuggel im Norden des Landes berichtet. Ein Korrespondent hatte mit eigenen Augen gesehen und in der Zeitung darüber berichtet, wie die Polizei den Schmuggel duldete und nicht gegen die Drogenbarone vorging. Folglich war im Blatt von der korrupten Polizei im Norden Marokkos die Rede gewesen. Daraufhin wurde der Direktor der Zeitung vom zuständigen Gouverneur angezeigt und der Lüge bezichtigt. „Anstatt die Arbeitspraktiken der Polizei zu überprüfen, wird unsere Zeitung nun kritisiert, weil das Einleiten eines Gerichtsverfahrens für die Regierung inzwischen die einzige Möglichkeit ist, ein Blatt zu verbieten. Man kann einen Artikel nicht mehr einfach so zensieren. Unsere Leser jedenfalls wissen, dass wir und nicht die Regierung recht haben.“ Inzwischen gibt es in den marokkanischen Printmedien mutig recherchierte Geschichten, die zum Beispiel über verschleppte Gefangene oder über die wirtschaftliche Misere des Landes berichten. Die Zeitung Al Ahdath Al Maghribia weiß, dass ein qualitätsvoller Journalismus nur mit einer besseren Ausbildung der Medienmacher einhergehen kann. Deshalb arbeiten in der Redaktion ausschließlich junge Leute, die von Anfang an dazu angehalten werden, ihre Geschichten objektiv zu recherchieren und keinen Verlautbaru ngsjournalismus betreiben. Anders sieht es noch bei den audiovisuellen Medien aus. Die Radiostationen stehen größtenteils noch völlig unter staatlicher Kontrolle. Das Fernsehen bezeichnet Mohamed El Brini sogar als steinzeitlich. Hier mangele es vollkommen an einer professionellen Berichterstattung. Stattdessen wür34 Marokko Antje Allroggen den die Politiker einen großen Einfluss auf die Gestaltung des Programms ausüben. Einige zaghafte Versuche gibt es allerdings, auch das Medium Fernsehen für eine kritischere Berichterstattung zu öffnen. Im Rahmen einer Veranstaltung wurde ich zum Beispiel von M2, dem zweiten marokkanischen Fernsehen, interviewt und um eine persönliche Einschätzung der Medien in Marokko gebeten. Es gibt auf M2 eine Sendung, die sich an Jugendliche richtet und sich deutlich an westlichen Vorbildern orientiert. Das Fernsehen spielt in Marokko eine große Rolle: So sieht man selbst in den Slums Parabolantennen auf den Dächern, mit denen die Marokkaner CNN, Al Jazira, Arte, selbst RTL gucken können. Die Demokratisierung in den Medien ist wohl nicht mehr aufzuhalten. Deshalb plant man nun auch in Marokko, Radio und Fernsehen von der staatlichen Kontrolle zu befreien. Zu weit darf die kritische Berichterstattung zurzeit allerdings noch nicht gehen: Erst im Sommer 2003 wurden gleich zwei satirische Wochenblätter verboten. In den Heften befand sich eine Karikatur, die in einer Fotomontage die Hochzeit des Königs verballhornte. Daraufhin war der Chefredakteur der Blätter wegen Majestätsbeleidigung von der Regierung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Nach Ansicht von Mohamed El Brini ist der Karikaturist mit seiner Satire zu weit gegangen: „Um zu zeigen, dass er mutig ist, bediente er sich einer Zeichensprache, die gegen den guten Geschmack verstieß und den König bewusst diffamierte.“ Ein solches journalistisches Verständnis, so El Brini, schade der gesamten Zunft und dem Ruf der marokkanischen Presse. „Marokkos Medien sind längst noch nicht so weit wie in anderen Ländern. Deshalb müssen wir uns Schritt für Schritt an eine freie Presse annähern und dürfen unser Recht auf freie Meinungsäußerung nicht aufs Spiel setzen. Es gibt immer noch die Gefahr, dass es in Marokko zu einem Kurswechsel kommt und in Zukunft die Islamisten das Land regieren“, warnt El Brini. Paradoxerweise profitieren nämlich auch die Islamisten von der zunehmenden Demokratisierung der marokkanischen Medien: So konnte Yassine, der Anführer einer radikal islamistischen Bewegung in Marokko, den König mehrmals in den Medien offen kritisieren. Dem Fernsehsender Al Jazira sagte Yassine sogar, der marokkanische König Mohammed VI. sei ein unreligiös handelnder Monarch. Erstaunlicherweise hatte Yassine für seine Äußerungen keine staatlichen Sanktionen zu befürchten. Weder wurde ihm der Prozess gemacht, noch landete er im Gefängnis. Nach wie vor gibt es unter den Gazetten Marokkos auch noch zahlreiche Verlautbarungsblätter, die sich als Sprachrohr der Regierung verstehen. Auf Seite eins der Tageszeitung Le Matin erscheinen täglich abgedruckte Agenturmeldungen über repräsentative Termine des Königs. Gerne wird hier auch über Zusammentreffen mit internationalen Politikern berich35 Antje Allroggen Marokko tet, die alle immer sehr erfolgreich verlaufen. Auch die Problematik der Frauen wird in diesen Blättern bewusst verschwiegen. Stattdessen bringt die Zeitung Le Matin beispielsweise auf dem Titelblatt eine Geschichte über die milde lächelnde Prinzessin Lalla Hasna, die immerhin die Vorsitzende einer kleinen Stiftung ist und namhafte Marokkaner empfangen darf. Viele Tageszeitungen bringen keine recherchierten Beiträge, sondern übernehmen einfach Agenturberichte der MAP, die als äußerst regierungsfreundlich gelten. Auch das Internet spielt in Marokko eine zunehmend wichtige Rolle. Zumindest in den größeren Städten gibt es Internetcafés, die am Wochenende mit jungen Leuten regelrecht überlaufen sind. Nicht selten ist das Netz dadurch völlig überlastet. Viele von ihnen – sowohl junge Frauen als auch junge Männer – nutzen das Internet, um hier auf Partnersuche zu gehen. Die entsprechenden Homepages sind keine marokkanischen, sondern französische Domains, richten sich also an junge Marokkaner, die die französische Sprache beherrschen. Viele junge Frauen erhoffen sich, über das Internet einen Franzosen kennen zu lernen, mit dessen Hilfe sie nach Frankreich ausreisen können. Ihre äußere Erscheinung spielt hier zunächst einmal keine Rolle. Deshalb sieht man in den Cafés auch viele Mädchen mit Kopftuch, die sich Homepages mit flimmernden Herzen angucken und sich im schriftlichen Flirten üben. Problematisch ist allerdings, dass der Zugang zum Internet für viele Marokkaner einfach noch zu teuer ist. Eine Stunde Surfen kostet etwa einen Euro. „Dabei bietet das Internet für viele junge Leute die einzige Möglichkeit, Kontakt zu Gleichaltrigen in anderen Ländern aufzunehmen“, meint Jamila Hassoune, Buchhändlerin in Marrakesch. „In den letzten Jahren ist es für die marokkanischen Studierenden nicht einfacher geworden, ein Visum zu bekommen, um an einer ausländischen Universität zu studieren. Über das Internet können sie jetzt wenigstens verschiedene Informationsquellen nutzen.“ 9. Marokko im Wandel So, wie die Rechte der Frauen im Umbruch sind, ist es auch die Presse, die sich in Marokko erst langsam auf den Weg macht, den Journalisten ein Recht auf freie Meinungsäußerung zuzubilligen. Der Code de la presse soll in nächster Zeit überarbeitet werden. Das für die Medien zuständige Kommunikationsministerium steuert allerdings bislang noch heftig gegen eine Kultur der Meinungsvielfalt. „Warum soll man den Lesern zumuten, unter einer ständig größer werdenden Zahl an Zeitungen auswählen zu müssen“, fragt eine Mitarbeiterin aus dem Ministerium auf einer öffentlichen 36 Marokko Antje Allroggen Veranstaltung. „Damit überfordern wir die Menschen. Der Staat muss ihnen bei der Orientierung helfen.“ Der investigative Journalismus steckt in Marokko noch in den Kinderschuhen. Um die Qualität der Branche zu verbessern, soll vor allem die Ausbildung der Journalisten professionalisiert werden. Die Bildungspolitik des Landes kann statistisch auf eine Besserung der Alphabetisierungsrate verweisen. Allerdings beruhen die Zahlen auf offiziellen Angaben einzelner Ministerien. Bislang fehlte es an Analysen, die die bestehenden offiziellen Untersuchungen überprüft hätten. Im Herbst 2003 wurde erstmals eine regierungsunabhängige Erhebung veröffentlicht, die mit Unterstützung der UNIFEM (Fonds des Nations-Unies pour le Développement des Femmes) finanziert wurde. Die Studie hat nicht nur die Statistiken der einzelnen Ministerien zu Einschulung und Alphabetisierungsrate überprüft und nicht selten korrigiert, sondern sie hat außerdem versucht, den Ursachen für den Analphabetismus im Land mit Hilfe qualitativer Methoden nachzuspüren. Die Politik hat sich die Situation der Frauen in Marokko auf die Fahnen geschrieben. Oberflächlich betrachtet, scheint die Regierung der Bildungspolitik oberste Priorität einzuräumen. Es bleibt allerdings zu hinterfragen, ob die angekündigten Reformen mehr sind als bloße Lippenbekenntnisse. So undurchsichtig die politischen Absichten auf diesem Gebiet sind, so unklar scheint auch der generelle Kurs zu sein, den Marokko in Zukunft einschlagen möchte. Zurzeit prallen die Kulturen, wenn auch (noch) verbal, so dennoch unversöhnlich aufeinander: Die Traditionalisten wenden sich immer stärker einem konservativ orientierten Islamismus zu, die Fortschrittlichen wollen das Land in Richtung Westen öffnen, es modernisieren. Doch viele progressive Denker haben sich in letzter Zeit von den Vorbildern USA und Europa abgewandt. Ihnen missfällt die Bush-Politik, die auf die Interessen der arabischen Welt viel zu wenig Rücksicht nehme. Sie wollen ihr Land verändern. Dabei ist viel von „Modernisierung“ die Rede. Doch was sich mit einer Modernisierung konkret verbindet, so scheint mir, ist für alle recht unklar. Noch haben sie keine alternativen Modelle entwickelt, mit denen der Maghreb-Staat aus seiner Krise herauskommt, ohne die Politik des Westens blind übernehmen zu müssen. Nach meinem sechswöchigen Aufenthalt scheint es für mich offensichtlich, dass der Faktor Bildung im Demokratisierungsprozess Marokkos eine maßgebliche Rolle spielt. Bildung ermöglicht der Bevölkerung, neuen Erwerbstätigkeiten nachzugehen und sich somit Lebensgrundlagen zu schaffen, die wirtschaftlich meist attraktiver sind als die bisherigen. Die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, eröffnet vielen außerdem völlig neue Perspektiven: sie können öffentliche Diskurse verfolgen und sich ein 37 Antje Allroggen Marokko eigenes Urteil bilden. Für die Frauen erscheint es notwendig, Lesen und Schreiben zu lernen und einen Beruf auszuüben, um sich aus der gesellschaftlich nach wie vor bestehenden Ungleichheit zwischen Mann und Frau zu befreien. Der Wunsch vieler Frauen in Marokko, lesen und schreiben zu können, kann aber auch völlig andere Motive haben, als die, die man als Europäer gemeinhin vermutet: viele streng religiöse Frauen, die ihre finanzielle und soziale Abhängigkeit von ihrem Ehemann vollkommen akzeptieren, möchten ihre Ausbildung verbessern; nicht, um sich aus ihrer Ungleichheit zu befreien und ihr politisches Bewusstsein zu schärfen, sondern, um sich noch mehr als bisher in den islamischen Glauben vertiefen zu können. Das Erlernen von Lesen und Schreiben soll diesen Frauen ermöglichen, noch intensiver als bisher die Koranverse zu beten und zu verstehen. Dennoch wird es meiner Meinung nach so sein, dass auch diese Frauen sich durch ihre Lese- und Schreibfähigkeit langfristig mit anderem, eher westlich geprägtem Ideen- und Gedankengut auseinandersetzen werden müssen. Vielleicht werden es in Marokko tatsächlich die Frauen sein, die darüber entscheiden, ob es im Maghreb zu einem „Clash of Civilization“ kommen wird, in dem sich Tradition und Moderne in der Gesellschaft unversöhnlich bekriegen, oder ob es gelingen kann, beide Kulturen versöhnlich nebeneinander bestehen zu lassen. 10. Danksagung Ich danke der Heinz-Kühn-Stiftung, insbesondere Frau Ute Maria Kilian für ihre begleitende Betreuung. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei Frau Kathrein Hölscher von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Rabat, die mir bei den Recherchen vor Ort sehr behilflich war. 38 Thorsten Bothe aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Tansania vom 16. September bis 15. Dezember 2003 39 Tansania Thorsten Bothe Vergangenheit mit Zukunft – die ehemalige Sklavenhandelsroute in Tansania Von Thorsten Bothe Tansania vom 16.09. bis 15.12.2003 41 Tansania Thorsten Bothe Inhalt 1. Zur Person 46 2. Aller Anfang ist schwer – auch in Dar es Salaam 46 3. Die Geschichte hinter dieser Geschichte - der Sklavenhandel 48 4. „Kooperations“-Partner Schweden – die Entwicklungshilfeorganisation SIDA 49 5. Der Weg ist das Ziel – Gespräche im Department of Antiquities 51 6. Systemloses Sammelsurium – der Sklavenhandel im Nationalmuseum 53 7. „Der Sklavenhandel wird instrumentalisiert“ – sagt der Schriftsteller Adam Shafi Adam 53 8. „Hallo mein Freund, wie geht‘s?“ – Alte Bekannte in Dar 54 9. „Hier gibt‘s keinen Fahrplan“ – Unterwegs mit der Zentralbahn, Teil 1 55 10. Unter ständiger Beobachtung – in Tabora 57 11. Ein paar Kili zum Frühstück – Unterwegs mit der Zentralbahn, Teil 2 57 12. Versteckte Geschichte – Ujiji am Lake Tanganyika 58 13. Nicht nur der Fisch müffelt – Schifffahrt auf dem Tanganyika-See 60 14. Grenzer mal so, mal so – Via Sambia zurück an die Küste 62 15. Steinerne Geschichte – in Sansibars Altstadt 63 16. „Das war gar nicht die Hauptroute“ – Zweifel an der „Historical Correctness“ 66 43 Tansania Thorsten Bothe 17. „Irgendwann werden sie kommen“ – nach Bagamoyo 67 18. „Ich muss gehen“ – Träume eines Touristenführers 69 19. „Sie leiden noch immer“ – sagt Father Gallus vom Missionsmuseum 70 20. Kulturhauptstadt Bagamoyo – Ein Exkurs zum College of Arts 72 21. „Modellort Bagamoyo“ – Visionen einer Hotelbesitzerin 76 22. Ja, es war richtig – Rückblick am Ende der Reise 77 23. Danksagung 78 45 Thorsten Bothe Tansania 1. Zur Person Neugierig in die Welt blickte ich, Thorsten Bothe, erstmals am 26. Januar 1969 in Göttingen. Der Schulzeit dort folgte ein Studium der Politik, Publizistik und Völkerkunde an der Uni Göttingen, und diesem von 1997 bis 1999 ein Volontariat beim Göttinger Tageblatt. Seit Januar 2000 arbeite ich als Redakteur in der Nachrichtenredaktion der Tageszeitung „Die Glocke“ in Oelde (Kreis Warendorf). Fast 31 Jahre lang in Göttingen gelebt zu haben bedeutet allerdings nicht, dass ich nie über Südniedersachsen hinausgekommen bin. Schon mit meinen Eltern bin ich oft verreist, später mehrfach allein – Neuseeland, Australien – oder in Gruppen (Marokko, Namibia). Auf Tansania aufmerksam geworden bin ich durch die Aktivitäten des Freundeskreises Bagamoyo, der unter anderem Schulen und Krankenhäuser in dem Küstenstädtchen nördlich der Metropole Dar es Salaam unterstützt und sich insbesondere dem Kulturaustausch verschrieben hat. Da viele Mitglieder des Freundeskreises im Verbreitungsgebiet der „Glocke“ leben, ist der Verein hier besonders aktiv und es gibt zahlreiche Verbindungen zwischen der Region und Bagamoyo. 2. Aller Anfang ist schwer – auch in Dar es Salaam Ob das alles so richtig war? Die Entscheidung, für drei Monate nach Tansania zu gehen? Ich sitze in meinem Hotelzimmer in Dar es Salaam und bin mir diesbezüglich alles andere als sicher. Vor ein paar Stunden, am späten Nachmittag, bin ich angekommen und habe nach der Fahrt ins Hotel nichts weiter gemacht, als ein paar Ecken weiter einen Happen zu essen. „Und pass auf, die Männer draußen sind nicht gut“, hatte die Frau an der Rezeption gesagt, nachdem sie mir den Weg zu dem kleinen Restaurant erklärt hatte. Na prima. Im Reiseführer wird auch vor Taschendieben gewarnt, und von Bekannten, die schon mal in Tansania gewesen waren, war ich ebenfalls zur Vorsicht gemahnt worden. Tatsächlich lungern auf der Straße und dem kleinen Platz vor dem Hotel einige Leute herum, die nicht unbedingt mein Vertrauen erwecken. Kaum bin ich „entdeckt“ worden, prasseln die Fragen auf mich ein: „Hallo, woher kommst Du, was machst Du – willst Du auf Safari gehen? Wir haben hier ein Büro, da kannst Du Dich informieren...“ Nein danke, entgegne ich stoisch, dabei mein Portemonnaie in der Tasche immer im Griff behaltend. Eine Safari interessiere mich nicht. Oder: Ich weiß es noch nicht. Oder: Ich habe schon gebucht. Die Antwort ist ein Fehler: „Bei wem? Warum nicht bei uns?“ Meine Güte, denke ich, lasst mich doch einfach nur in Ruhe! In den 46 Tansania Thorsten Bothe folgenden Tagen werden mir meine unterschiedlichen Antworten noch zum „Verhängnis“: Ich kann mich natürlich nicht mehr daran erinnern, welchem Safari-Werber ich welche Version erzählt habe – aber die Jungs wissen es noch ganz genau und verwickeln mich in Widersprüche. Hätte ich doch nur an einer Variante festgehalten! Jetzt bin ich erstmal froh, wieder im „sicheren“ Hotel zu sein. So ähnlich muss sich ein junger Vogel fühlen, der zum ersten Mal das Nest verlassen hat. Tag 2. Der Vogel entfernt sich zwangsläufig weiter vom Nest, um diverse Dinge zu regeln. Der Herr beim „Information Services“, von dem ich eine offizielle Arbeitserlaubnis als Journalist haben möchte, liest sorgfältig das HKS-Empfehlungsschreiben, reicht mir ein Formular zum Ausfüllen, sieht sich auch das in Ruhe an. „Kommen Sie in zwei Stunden wieder, mit zwei Passfotos“, sagt er, jetzt habe er einen Termin. Zweieinhalb Stunden später bin ich Besitzer einer „Temporary Press Card“, für die der freundliche Herr nicht einmal eine Gebühr verlangt hat. Wenn die Bürokratie doch nur immer und überall so einfach funktionieren würde! Das macht doch gleich Mut, die Nervosität beim Gang durch die Stadt lässt nach. Das Gewusel auf den Straßen fängt an, mich zu faszinieren. Aber es nervt noch immer, ständig angesprochen zu werden. Tag 3. Der Taxifahrer, der mich zum Verlagshaus der englischsprachigen Tageszeitung „The Guardian“ bringen soll, behauptet zwar, er kenne den Weg. Trotzdem biegt er auf halber Strecke falsch ab, muss mehrfach fragen, bis wir schließlich an der in einem Vorort gelegenen Redaktion ankommen. An einer Ampel trinkt er aus einem Plastiksäckchen Wasser – der Beutel landet auf der Straße. Es liegt viel Müll herum auf und neben den Straßen von Dar, obwohl immerhin ab und zu Leute mit einem Besen unterwegs sind. Zurück in die Innenstadt nehme ich ein Dalladalla. Die Dalladallas – alte, zumeist japanische Kleinbusse – bilden das öffentliche Nahverkehrssystem der 3,5-Millionen-Stadt. Sie fahren auf den Hauptverkehrsachsen, nicht nach Fahrplan, sondern dann, wenn sie voll sind. Am besten übervoll. Wo 20 Sitzplätze drin sind, passen locker 27 Fahrgäste rein. Wer zu spät kommt, muss mit eingezogenem Kopf stehen. Eine Fahrt kostet 150 Tansanische Schilling – so etwa 12 Cent. Neben mir sitzt eine junge Frau. Nach einer Weile spricht sie mich an: „Hello, where are you from? Oh, Germany?“ Ein echtes Gespräch entwickelt sich leider nicht – sie kann kaum Englisch, ich kein Kisuaheli. Dann muss sie aussteigen. „Welcome to Tanzania“, sagt sie noch. Als der Bus anfährt, winke ich ihr durch das Fester zu. Sie winkt zurück. Und strahlt. 47 Thorsten Bothe Tansania 3. Die Geschichte hinter dieser Geschichte - der Sklavenhandel Tansania, erst deutsche Kolonie (1885-1918) und dann britisches Mandatsgebiet (1921-1961) – beides bezieht sich auf den Festlandteil –, ist eines der ärmsten Länder der Welt, politisch recht stabil und daher Aktionsfeld zahlreicher Entwicklungshilfeorganisationen und Geberländer. Die Bundesrepublik engagiert sich staatlicherseits vor allem in klassischen Entwicklungsfeldern wie dem Ausbau des Gesundheitssystems, der Wasserversorgung oder der sonstigen Infrastruktur. Deutschland hilft Tansania aber auch, seine zahlreichen Nationalparks zu verwalten und touristisch zu nutzen. Allein an direkter Hilfe zahlt die Bundesrepublik in den Jahren 2003 bis 2005 85 Millionen Euro. Parteinahe Stiftungen unterstützen das Land zum Beispiel beim Aufbau demokratischer Strukturen. Die kulturelle Zusammenarbeit dagegen ist noch deutlich ausbaufähig, gibt Ulrike Haffner, Kultur- und Wirtschaftsattaché an der Deutschen Botschaft in Dar, zu: „Wir unterstützen den Kulturaustausch, aber es fehlt das Geld, um zum Beispiel Musiker aus Deutschland nach Tansania einzuladen und umgekehrt.“ Daher sei auch keine finanzielle Beteiligung Deutschlands an einem Projekt zu erwarten, an dem in Tansania derzeit gearbeitet wird: die Ernennung der ehemaligen Sklavenhandelsroute von Ujiji am Lake Tanganyika – der Tansania im Westen begrenzt – nach Bagamoyo, ca. 70 Kilometer nördlich von Dar. Auf dieser rund 1.200 Kilometer langen Route sind bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein vornehmlich von arabischen Händlern ausgerüstete Karawanen entlanggezogen, die neben der menschlichen „Ware“ auch Elfenbein aus dem östlichen Kongo und dem Landesinnern des heutigen Tansania an die Küste brachten. Abnehmer für die Sklaven waren unter anderem Araber, die entlang der Küste siedelten, und die Besitzer der Gewürzplantagen auf den arabisch beherrschten Inseln Sansibar – etwa 60 Kilometer vor Bagamoyo gelegen – und Pemba. Ein großer Teil der Sklaven wurde nach Arabien weiterverkauft sowie auf Zuckerrohrplantagen auf den französischen Inseln Mauritius und Réunion ausgebeutet. Es kann nur geschätzt werden, wie viele Afrikaner auf dieser oder einer der beiden anderen Hauptrouten, die durch Ostafrika an die Küste des Indischen Ozeans führten, im Laufe mehrerer Jahrhunderte verschleppt wurden. 1,5 Millionen, zwei Millionen, drei Millionen – genaue Zahlen wird es nie geben. Hinzu kommen jedenfalls noch zahllose Menschen, die den Marsch an die Küste gar nicht überlebten. Offiziell verboten wurde der Sklavenhandel 1873 auf Druck der Briten, doch noch jahrelang ging das schmutzige Geschäft weiter, versuchten die Händler, ihren 48 Tansania Thorsten Bothe britischen Verfolgern Schippchen zu schlagen, indem sie die Sklaven nachts transportierten und in Höhlen auf Sansibar versteckten. Jetzt also soll das, was von der Route noch erkennbar ist – Wege, Karawansereien, Häuser von Händlern oder Plätze, die als Sklavenmarkt dienten von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt werden, hoffen die Tansanier. Und nicht nur das: Da es nicht mehr allzu viele sichtbare Erinnerungsstätten gibt, soll auch das immaterielle Erbe den Kulturerbestatus erhalten und besser erforscht und dadurch bewahrt werden – also die Erzählungen ehemaliger Sklaven und Sklavenhändler bzw. derer Nachkommen und die Kultur der entlang der Route lebenden Menschen. 4. „Kooperations“-Partner Schweden – die Entwicklungshilfeorganisation SIDA „Wir sind nicht diejenigen, die das Projekt vorantreiben – wir kooperieren mit den Tansaniern!“ Gudrun Leirvaag schmunzelt allerdings vielsagend, während sie das sagt. Leirvaag arbeitet als „Programme Officer Culture and Media“ für das Tansania-Büro der schwedischen Entwicklungshilfeorganis ation SIDA und ist damit auch für das Sklavenrouten-Projekt zuständig. Für die Schweden ist die kulturelle Entwicklung Tansanias ein deutlich wichtigerer Aspekt der Zusammenarbeit als für die Deutschen. SIDA kooperiert beim Sklavenrouten-Projekt sehr intensiv mit den Tansaniern und hat beispielsweise Konferenzen zu dem Thema und die Sanierung historischer Gebäude in Bagamoyo (mit-)finanziert. „Ziel ist es, einen Kulturtourismus zu schaffen“, erklärt Leirvaag. Eine Form des Tourismus, „der Arbeitsplätze schafft, der Stolz vermittelt, der dazu beiträgt, die eigene Geschichte zu verstehen und zu wissen, wo man jetzt steht und wo vielleicht in der Zukunft“ – wobei sich Leirvaag auf die Tansanier selbst bezieht. Sie ist sich sicher: „Die Tansanier sind nicht stolz darauf, Sklaven gewesen zu sein, aber stolz darauf, dies hinter sich gelassen zu haben.“ Das Bewusstsein, dass es wichtig ist, das eigene Erbe zu bewahren, wachse. Gerade ältere Leute seien daran interessiert, dass ihre Kultur dokumentiert und bewahrt wird – ein wichtiger Aspekt im Rahmen des WeltkulturerbeVorhabens, wie Leirvaag noch einmal betont. Erfolgreich sein kann das Projekt ohnehin nur, wenn die lokale Bevölkerung involviert ist, hebt die Schwedin hervor. Die Leute müssen auf eine wachsende Zahl von Besuchern vorbereitet werden, sagt sie – denn dass der Weltkulturerbe-Status mehr Touristen anziehen würde, dessen ist sich Leirvaag sicher. Bei anderen Weltkulturerbestätten sei dies stets der Fall gewesen. 49 Thorsten Bothe Tansania Damit nicht nur der Tourismussektor profitiert, unterstützt SIDA zugleich ein „Strategic Urban Development Planning Framework“ (SUDPF; etwa: Netzwerk zur strategischen Planung städtischer Entwicklung) in Bagamoyo. In diesem diskutieren Vertreter der Ortsteile der 30.000-Einwohner-Stadt, der Stadt- bzw. Distriktverwaltung und Experten der Universität Dar es Salaam, wie die allgemeine Situation des Ortes verbessert werden kann – durch eine neue Busstation zum Beispiel oder einen neuen Markt für einen Ortsteil. Auch für andere Städte entlang der Route sind solche Gremien geplant. Die Idee für das Kulturerbe-Projekt, erläutert Leirvaag weiter, entstand schon in den 80er Jahren. Zunächst war nur von Bagamoyo die Rede: Ausgangs- und Endpunkt der Karawanen, Startort für die Expeditionen vieler europäischer Forscher, Ausgangsort sowohl für die christliche als auch die islamische Missionierung Ostafrikas sowie für die Verbreitung des Kisuaheli als Verkehrssprache in Tansania und angrenzenden Staaten, von 1888 bis 1891 erste deutsche Kolonialhauptstadt – ein historisch bedeutender Ort halt. Ein Ort, der zudem eine Altstadt aus Steinhäusern vorweisen konnte, eine alte deutsche „Boma“ (Verwaltungssitz), ein Fort, eine Karawanserei und einen lebendigen Dhau-Hafen. Bald aber wurde deutlich, dass Bagamoyo allein den UNESCO-Kriterien für ein Welterbe nicht genügen würde. Auf die Weltkulturerbe-Liste kommen Orte, die von „universeller Einzigartigkeit“ sind und deren „historische Echtheit“ noch erhalten ist. Reicht ein Staat eine Bewerbung ein, muss er den aktuellen Zustand der zu schützenden Stätte dokumentieren und einen Plan für deren Erhalt. Ärmere Staaten bekommen für die Arbeiten an den historischen Orten finanzielle Unterstützung aus einem UNESCO-Fonds, in den die derzeit 176 Unterzeichnerstaaten der Welterbe-Konvention einzahlen. Um also die Chancen zu erhöhen, die UNESCO-Kriterien zu erfüllen, wurde das Vorhaben um die gesamte Sklavenroute erweitert. Im September 2002 wurde dies als Ergebnis einer internationalen Konferenz in Bagamoyo festgeschrieben, im November 2003 auf einer kleineren Tagung beteiligter Institutionen noch einmal bestätigt. „In drei, vier Jahren sollte Tansania die Bewerbung der UNESCO präsentieren können“, sagt Leirvaag. Langfristig, fügt sie an, müsse das Projekt vollständig in tansanisches Management übergehen, müsse sich das „System“ – Werbung für die historischen Stätten gleich steigende Einnahmen aus dem Tourismus gleich Geld für den Erhalt des kulturellen Erbes – selbst tragen. 50 Tansania Thorsten Bothe 5. Der Weg ist das Ziel – Gespräche im Department of Antiquities Der Chef selbst ist nicht da, aber ein Mitarbeiter nimmt sich Zeit für mich und meine Fragen. Sehr nett, denn angemeldet bin ich nicht. Doch im Department of Antiquities (D.o.A.), der für die historischen Stätten des Landes zuständigen Denkmalschutz-Abteilung des Tourismus-Ministeriums, scheint man fast glücklich darüber zu sein, dass sich mal jemand von der Presse für seine Arbeit interessiert. Ich stelle mich nicht nur als HKS-Stipendiat vor, sondern auch als Mitarbeiter der englischsprachigen Tageszeitung „The Guardian“, bei der ich vier Wochen lang hospitiere. Die tansanischen Zeitungen haben das Sklavenrouten-Projekt bis dato noch nicht aufgegriffen, sagt Fabian Kigadye vom D.o.A. Seiner Ansicht nach sprechen drei Gründe für das Projekt: 1. Als Teil der Geschichte müssen die historischen Stätten erhalten bleiben. Wobei auch Kigadye sagt, dass die Tansanier ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Epoche haben: „Viele würden die Geschichte gerne begraben. Aber viele andere sagen: Die Initiative kommt zu spät.“ 2. Das Projekt fördert den Tourismus. 3. Es dient der Entwicklung der Infrastruktur entlang der Strecke. Die Route, erläutert der Experte, führt durch immerhin sechs der 25 Regionen (Verwaltungsbezirke) des Landes, wobei die Regionen hinsichtlich ihrer Größe etwa den deutschen Bundesländern entsprechen. Vielerorts ist der Weg noch heute als solcher erkennbar und wird als Fußweg oder Straße genutzt, erklärt Kigadye. Zum Teil wurden Hauptverkehrsstraßen auf der Trasse gebaut, und auch die zentrale Eisenbahnstrecke zwischen Dar und Kigoma am Tanganyika-See verläuft streckenweise auf oder unmittelbar neben der historischen Route. Experten des D.o.A. sowie des University College of Lands and Architectural Studies (UCLAS) der Uni Dar – zusammen mit dem D.o.A. Hauptträger des Projekts auf tansanischer Seite – haben die gesamte Route im Sommer 2003 bereist, erzählt Kigadye. Ziel war eine detaillierte Bestandsaufnahme. „Einige historische Gebäude sind verschwunden, andere in schlechtem Zustand und ganz oder teilweise verfallen“, sagt Kigadye bedauernd. Ein weiteres Ergebnis der Reise: „Es gibt Teilstücke, wo kein Weg mehr zu erkennen ist – aber alte Leute erinnern sich oft noch an den Verlauf.“ Die Pläne des D.o.A. gehen dahin, die fehlenden Abschnitte zu rekonstruieren. Der Weg ist quasi das Ziel. Wieviel in das gesamte Projekt – etwa in die Renovierung der Route und historischer Gebäude und in die Ausbildung lokaler Gästeführer – investiert werden muss, kann Kigadye noch nicht sagen: „Wir arbeiten noch am Budget.“ Die tansanische Regierung habe aber schon ihre Unterstützung 51 Thorsten Bothe Tansania zugesichert, die lokalen Behörden werden einen Teil beitragen müssen, und schließlich hofft das D.o.A. darauf, dass auch SIDA wieder in die Geldschatulle greift. Kigadye ist wirklich sehr entgegenkommend; er kopiert mir den Bericht der Expertengruppe über die Reise entlang der Route. Der Report führt, nach Regionen gegliedert, auf, was von der Strecke noch zu sehen ist, was den Erhalt des Weges gefährdet – zum Beispiel die sich ausweitende Landwirtschaft – und welche historischen Gebäude und Stätten es noch gibt. Praktischerweise nennt der Bericht auch lokale Ansprechpartner. Zwei Tage später klopfe ich noch mal mit weiteren Fragen beim D.o.A. an, wieder unangemeldet. Diesmal nimmt sich Simon Odunga eine gute Stunde Zeit für mich. Er ist verantwortlich für die Arbeit an sämtlichen historischen Stätten im Land. „Das Problem ist, den Leuten die Bedeutung des kulturellen Erbes nahe zu bringen“, sagt Odunga. Häufig werden beispielsweise alte Gebäude einfach abgerissen, weil den Besitzern das Bewusstsein für deren geschichtlichen Wert fehle. Deswegen hat das D.o.A. schon vor Jahren ein „Public awareness on Cultural Heritage“-Programm ins Leben gerufen. In Seminaren und Workshops werden die Vertreter lokaler Behörden und Institutionen, aber auch Lehrer mit der jeweiligen Historie vertraut gemacht. „Die lokalen Behörden sind dafür verantwortlich, das Erbe zu schützen und zu bewahren“, hebt Odunga hervor. „Wir erklären ihnen, wie das geht.“ Ist entsprechendes Wissen vorhanden, könne dieses auch mit Besuchern geteilt werden: „Wenn sich die Stätten in gutem Zustand präsentieren, kommen die Touristen automatisch.“ Dass noch immer nicht sonderlich viele Touristen den Weg zu den bereits 1981 zum Weltkulturerbe ernannten Ruinen der früher bedeutenden Handels- und Hafenstadt Kilwa Kisawani finden, liegt vor allem an fehlenden Verkehrsverbindungen, erklärt der Experte. Immerhin wird derzeit ein Anlegesteg auf der Insel gebaut, so dass Besucher die Sehenswürdigkeit leichter per Boot erreichen können. Die Kooperation mit den lokalen Behörden ist ungeheuer wichtig für den Erfolg des gesamten Sklavenrouten-Projektes, betont Odunga zum Schluss noch einmal. Schließlich muss nicht nur das Ministerium für Land- und Stadtplanung zustimmen, wenn eine Stätte zum geschützten Gebiet erklärt werden soll, sondern auch die Verwaltungen vor Ort: „Wenn die nein sagen, bedeutet dies das Ende.“ 52 Tansania Thorsten Bothe 6. Systemloses Sammelsurium – der Sklavenhandel im Nationalmuseum Das D.o.A. hat seinen Sitz im Nationalmuseum Tansanias. In diesem widmet sich eine Abteilung der Entstehung des Menschen – Tansania gilt als eine der Wiegen der Menschheit –, wobei einige Angaben ziemlich veraltet sind. Eine andere Abteilung beschäftigt sich mit den verschiedenen Völkern des Landes, ein Naturkunde-Teil gibt mit Hilfe in Alkohol konservierter Schlangen, ausgestopfter Vögel und aufgespießter Insekten einen Einblick in die Tierwelt, und eine Etage ist für die Geschichte Ostafrikas reserviert. Die Ausstellung wirkt ziemlich systemlos. Bilder und Exponate hängen an der Wand bzw. liegen in Vitrinen, mit zwei, drei Zeilen beschrieben – doch es werden kaum Zusammenhänge deutlich, Entwicklungen werden nicht kontinuierlich dargestellt. Das gilt auch für die Ecke, die sich mit dem Sklavenhandel beschäftigt. Verblichene Karten, auf denen die Handelswege eingezeichnet sind, ein paar Bilder von Karawanen, von den deutschen Kolonialbehörden ausgestellte Freibriefe für Sklaven. Ein Bild des berühmten Händlers Tippu Tipp, ein Elefantenstoßzahn, eine eiserne Schelle. Das ist alles. Keine Daten über Anfang und Ende dieser dunklen Epoche, keine Zahlen, keine Angaben über die Abnehmer der Sklaven, kaum welche darüber, woher die Gefangenen stammten und welche sozialen und demographischen Folgen die gnadenlose Menschenjagd hatte. 7. „Der Sklavenhandel wird instrumentalisiert“ – sagt der Schriftsteller Adam Shafi Adam Adam Shafi Adam stimmt der Einschätzung zu, dass die Ausstellung im Nationalmuseum dürftig ist. Der Schriftsteller – er ist Vorsitzender der Dachorganisation aller im weitesten Sinne mit der Herstellung und Verbreitung von Büchern befassten Institutionen, des „Book Development Council of Tanzania“ – bedauert das. Auch er hält das Sklavenrouten-Projekt für bedeutsam: „Sie sollte bewahrt werden als Teil unserer Geschichte.“ Bislang aber „ist das Thema von tansanischen Wissenschaftlern noch nicht ausreichend erforscht worden“, findet der Intellektuelle. Eine vorurteilsfreie Forschung ist nach Shafi Adams Ansicht noch aus einem anderen Grund wichtig: „Es gibt Leute in Ostafrika, die den Eindruck zu vermitteln versuchen, dass der Islam als Religion für den Sklavenhandel verantwortlich war. Doch das stimmt nicht – es waren Vertreter aller Religionen beteiligt. Die Araber waren nicht deshalb im Sklavenhandel involviert, weil sie Moslems waren, sondern weil sie Geschäftsleute waren.“ Der Sklavenhandel wird also nach Meinung des Schriftstellers für religiöse Gefechte instrumentali53 Thorsten Bothe Tansania siert: „Es gibt starke Vorbehalte zwischen Christen und Moslems. Und daher versucht jede Seite, die dunklen Punkte in der Geschichte der anderen Seite herauszustellen.“ Das treibt laut Shafi Adam bereits unschöne Blüten: So habe ein Autor von der (zu 95 Prozent muslimischen) Insel Sansibar schon ein Buch auf Kisuaheli geschrieben über den Einfluss der Christen auf den Sklavenhandel – als Reaktion auf entsprechende umgekehrte Publikationen christlicher Verfasser. Kein Wunder, dass Shafi Adam abschließend warnt: „Wenn die Diskussion über die Sklaverei aus religiösen Gründen missbraucht wird, geht der Sinn der Forschung verloren.“ 8. „Hallo mein Freund, wie geht‘s?“ – Alte Bekannte in Dar Nach gut vier Wochen habe ich das Gefühl, in der überschaubaren Innenstadt Dar es Salaams kenne mich jeder. Immer wieder werde ich wie ein alter Bekannter begrüßt, wenn ich durch die Straßen gehe. Immerhin wissen die Jungs von den Safari-Unternehmen irgendwann, dass ich nicht bei ihnen zu buchen gedenke. Vor dem Hotel sitzt häufig Muhammad: „Hallo mein Freund, wie geht‘s, was machst Du heute?“ fragt er fast jeden Morgen auf Deutsch und abends, was ich denn gemacht habe. Er hat mal eine zeitlang in Deutschland gelebt und unter anderem als Seemann gearbeitet, aber da er keine Arbeitserlaubnis hatte, ist er nach einer Weile nach Tansania zurückgekehrt. Jetzt arbeite er als Führer in den Nationalparks, sagt er, aber derzeit gebe es kaum Arbeit. Seitdem im Frühjahr 2003 vor angeblich geplanten Terroranschlägen gewarnt wurde, kommen weniger Touristen. Und die Konkurrenz unter den Safariunternehmen ist riesig. Ab und zu begleitet mich Muhammad ein paar Schritte, etwa wenn ich an einem der vielen Straßenstände frische Mangos oder Bananen kaufen will. Natürlich erhofft er sich davon ein bisschen Geld. Ich verabrede mit ihm, dass er mir an einem Samstag den riesigen Markt im etwas verrufenen Stadtteil Kariakoo zeigt. Obst und Gemüse in Hülle und Fülle, Fisch, Haushaltswaren – ein Fest für die Augen, aber weniger für die Nase. Ein paar meiner „Bekannten“ aus dem Viertel wollen sich einfach nur mit mir unterhalten, wenn möglich bei einem spendierten Bier. Manchmal will ich meine Ruhe haben, wenn ich abends vom „Guardian“ komme. Zwei, drei Mal willige ich ein. Und rede zum Beispiel mit Alan und einem seiner Freunde über die vielen Probleme Tansanias, aber auch darüber, dass das Zusammenleben zwischen Christen und Moslems – die jeweils etwa 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen – in Tansania gut funktioniert. Noch zumindest. 54 Tansania Thorsten Bothe An meinem letzten Arbeitstag beim „Guardian“ organisieren die Kollegen ein Abschiedsessen in einem Open-Air-Pub. Jeder gibt ein bisschen Geld – nur ich darf nichts beisteuern, das wird mir ausdrücklich „verboten“. Es wird ein sehr schöner Abend. Ich muss viel von Deutschland und meiner Arbeit bei der „Glocke“ erzählen, und wir vergleichen die Lebensverhältnisse in unseren Ländern. Die „Guardian“-Kollegen sind einerseits stolz darauf, dass das Land politisch stabil ist, dass Völker und Religionen weitgehend spannungsfrei miteinander leben und dass die Presse frei ist. Das alles könne die Grundlage für eine positive Entwicklung sein, heißt es. Andererseits spüre ich auch tief sitzenden Pessimismus. In 42 Jahren Unabhängigkeit habe Tansania wenig erreicht, lautet eine verbreitete Meinung. Von den Regierenden seien viele korrupt und steckten das Geld westlicher Geberländer zum Teil in die eigene Tasche, höre ich. Sie kümmerten sich aber nicht wirklich um das mangelhafte Gesundheits- und das ebenfalls nicht gerade optimale Bildungssystem und unternähmen zu wenig gegen die Armut. Eine ambivalente Haltung, die mir in Dar häufig begegnet ist und die ich auch im übrigen Tansania noch oft registrieren werde. 9. „Hier gibt‘s keinen Fahrplan“ – Unterwegs mit der Zentralbahn, Teil 1 Sonntag, 16 Uhr. Im Bahnhof der Zentral-Eisenbahn in Dar herrscht dichtes Gewusel. Verkäufer bieten Wasserflaschen, Brote, Früchte und Süßigkeiten an. Ganze Familien sitzen mit ihrem Gepäck auf dem Bahnsteig, die Frauen zumeist in bunte Wickelgewänder, Kangas, gehüllt. Die Passagiere der 1. und 2. Klasse schauen auf einer Tafel nach, welche Liege in welchem Abteil für sie reserviert ist. Ich teile mir ein 2.-Klasse-Abteil mit sechs Liegen mit drei weiteren Männern. Sie sind mit reichlich Taschen, Säcken und Bündeln unterwegs. Pünktlich um 17 Uhr ruckelt der Zug los – doch ab jetzt gilt für die 1.200-Kilometer-Fahrt nach Kigoma am Tanganyika-See nur noch ein ungefährer Fahrplan. Mehr als 40 Stunden dauert die Tour. Gebaut haben die Bahn noch die Deutschen. Bald nach der Abfahrt wird es dunkel. Der Schaffner verteilt Kopfkissen und Laken, später bringt er einen Holzpflock in jedes Abteil. Die werden, wenn der Zug nachts irgendwo hält, unter das Schiebefenster geklemmt. „Als Schutz vor Dieben“, erklärt Abteilnachbar Alphonce, „die laufen über die Waggondächer und langen von oben durch offene Fenster“. Alphonce kehrt nach dreimonatiger Geschäftsreise durch Südafrika zu seiner Familie nach Kigoma zurück. Er schwärmt von Südafrika: „Alles sauber, gute Straßen, im Supermarkt geht alles automatisch – man muss zum Bezahlen einfach eine 55 Thorsten Bothe Tansania Karte in einen Automaten stecken.“ Verglichen mit Johannesburg sei Dar ein Dorf, und Kigoma sei ein Dorf verglichen mit Dar. „Ich habe Fisch mit Reis, Rindfleisch mit Reis und Huhn mit Reis“, zählt ein Speisewagenkellner das Angebot zum Abendessen auf. Kurze Zeit später bringt er die Mahlzeit ins Abteil. Einen Tisch gibt es nicht, die Knie müssen als Ablage reichen. Die Frau eines Mitreisenden ist herübergekommen – Männer und Frauen schlafen strikt getrennt –, die beiden essen mitgebrachtes Mishkake, am Spieß gebratene Fleischstückchen, mit Chappatis, Fladenbroten. An jedem Bahnhof warten Verkäufer auf den Zug, selbst mitten in der Nacht. Sie halten Tabletts und Eimer mit Früchten, Gebäck oder Tomaten an die Fenster. In der ersten größeren Stadt hinter Dar, Morogoro, deckt sich Alphonce mit Kokosnüssen ein. Auch die übrigen Mitreisenden kaufen ein: Orangen, Bananen, ein Sack Zwiebeln. Bei jedem Halt füllt sich das Abteil weiter, bald stapeln sich Körbe, Matten, Mörser und andere Haushaltswaren in der Mitte des Abteils und auf den freien Liegen. In Dodoma, der offiziellen Hauptstadt Tansanias, werden auch lebende Hühner angeboten – aber von denen reist dann doch keines mit nach Westen. Die meisten Reisenden frühstücken auf dem Bahnsteig: Chappatis, Tee, Obst. Hinter Dodoma folgen die Gleise in etwa der historischen Handelsroute. Der Zug zockelt dahin und wird schon mal von Radfahrern überholt. Die Landschaft ist trocken, das Gras- und Buschland liegt unter flirrender Hitze. Über die Ebene sind kleine Gehöfte gesprenkelt, einfache Lehmhütten, oft mit Stroh gedeckt. Überall, wo ein paar Hütten dichter beisammen stehen, hält der Zug, überall warten die Verkäufer bzw. sind kleine Garküchen aufgebaut. Immerhin sind die Gleise für die meisten Orte die beste Verbindung zum Rest des Landes, die Straßen oder eher Pisten sind meist schlecht. Ich beginne mich zu fragen, was die erwarteten Touristen denn hier anschauen sollen, wie sie in die kleinen Dörfer kommen und wo sie übernachten sollen. Aber die Fahrt mit der Zentralbahn – das ist ein Erlebnis nicht nur für Eisenbahnfreunde. Schon der Menschen wegen, die mitreisen. Irgendwann sitzt ein alter Mann im Abteil, mit dunklem Anzug und dunkler Kappe. „Ein Witchdoctor“, erklärt Alphonce, ein Naturheiler. In einem Beutel trägt er allerlei Heilmittel mit sich. Zum Beispiel Holz, von dem ein Stückchen in Wasser gekocht wird, und das Wasser hilft dann gegen Asthma, übersetzt Alphonce. „Aber ich glaube nicht daran“, fügt er lachend hinzu. Später sehe ich den Witchdoctor im Gang auf dem Fußboden schlafen. Der Zug ist ziemlich voll, da muss man sich halt mit jedem Plätzchen zufrieden geben, das noch frei ist. Die Fahrt führt über die Hochebene Zentraltansanias, meist ziehen sich die Gleise durch trockene, niedrige „Miombo“-Wälder. Gegen 22 Uhr 56 Tansania Thorsten Bothe am Montag Abend erreicht der Zug Tabora, etwa zwei Drittel der Strecke sind zurückgelegt. Eigentlich hätte er – glaubt man der Homepage der Zentralbahn-Gesellschaft – schon um 20.10 Uhr Richtung Kigoma weiterfahren, ein Anschlusszug nach Mwanza Tabora um 21.30 Uhr verlassen sollen. „Du bist in einem afrikanischen Land“, lacht Alphonce, „hier gibt‘s keinen Fahrplan“. Ich unterbreche meine Fahrt in Tabora, um mich dort ein wenig umzusehen. 10. Unter ständiger Beobachtung – in Tabora Tabora hat wohl um die 200.000 Einwohner, ist Eisenbahnknotenpunkt, über Straßen allerdings schlecht zu erreichen. Früher war die Stadt ein bedeutender Handels- und Karawanenort. Der im Reisereport des D.o.A. genannte Ansprechpartner ist leider gerade in Dar, also fahre ich auf eigene Faust mit dem Taxi zum etwas außerhalb gelegenen David-Livingstone-Museum. In dem kleinen Haus, das als nationales Denkmal sogar auf einer Briefmarke abgebildet ist, hat der berühmte Afrika-Forscher und Gegner der Sklaverei (1813-1873) mehrfach gewohnt. Es ist geschlossen, der Taxifahrer spricht einen Jungen an, der zum Glück weiß, wen er holen muss. Die beiden fahren mit dem Wagen los und kommen kurze Zeit später mit dem Museumswärter zurück. Erklären kann der wenig – er spricht, ebenso wie der Fahrer, praktisch kein Wort Englisch. Zu sehen ist in dem Häuschen nicht viel: ein paar Bilder, kopierte Zeitungsseiten und Dokumente. Die meisten Räume sind leer. Eine halbe Stunde Aufenthalt reicht völlig. Die als solche verzeichnete Touristenattraktion hatte ich mir ein bisschen anders vorgestellt. Allzu viele Touristen scheinen ohnehin nicht in die Stadt zu kommen. Während ich durch die Stadt laufe habe ich das Gefühl, ich sei der einzige „Mzungu“, Weiße, weit und breit. An jeder Ecke höre ich jemanden „Mzungu, mzungu“ rufen. Irgendwie fühle ich mich stets beobachtet. 11. Ein paar Kili zum Frühstück – Unterwegs mit der Zentralbahn, Teil 2 Der nächste Zug nach Kigoma fährt am Mittwoch Abend. Am Bahnhof will zunächst niemand etwas davon wissen, dass ich eine Liege gebucht habe, schließlich werde ich doch noch in einem Abteil untergebracht. Diesmal ist es mit sechs Mann voll belegt, alle haben reichlich eingekauft. Entsprechend schwierig ist es, meinen großen Koffer unterzubringen. Mit Mike, der ebenfalls zu seiner Familie fährt, unterhalte ich mich über Tansania. „We‘re happy“, sagt er. Glücklich, weil es keine Kriege im Land gibt, und weil die 57 Thorsten Bothe Tansania Volkszugehörigkeit keine Rolle spiele. Die Verkehrssprache Kisuaheli sei das verbindende Element, dank derer sich jeder in jedem Landesteil verständigen kann. Von der Sklavenroute habe er gehört, vom Weltkulturerbe noch nicht. „Es ist gut, dass die Erinnerung an die Geschichte für die kommenden Generationen bewahrt wird“, findet er. Eine typische Antwort. Die Sklaverei wird zwar im Geschichtsunterricht behandelt, das höre ich stets, wenn ich mal danach frage. Aber egal ob bei einem Taxifahrer in Dar, bei einem Kollegen vom „Guardian“ oder eben beim Abteilnachbar Mike – ich habe oft das Gefühl, als wolle man nicht so recht über das Thema sprechen. Am nächsten Morgen ist die Landschaft grüner. Teilweise reicht dichter Wald an die Gleise, an den Haltepunkten gibt es Zuckerrohr zu kaufen. Zum Frühstück werden im Speisewagen Nudeln zum öligen Omelett gereicht. Am Nachbartisch gibt es stattdessen ein paar „Kili“ – Kilimanjaro-Bier in Halbliterflaschen. Ein paar Stunden nach Sonnenaufgang ist der Tanganyika-See zu sehen, und gegen 10 Uhr fährt der Zug in den riesigen Kolonialzeiten-Bahnhof von Kigoma ein. 12. Versteckte Geschichte – Ujiji am Lake Tanganyika Eliud Mulilo hat eine Menge Ideen. „Man könnte ein Hotel mit Restaurant am Strand bauen“, sagt der Stadtplaner von der Distriktverwaltung KigomaUjiji und zeigt auf das Ufer des Tanganyika-Sees. „Davon könnten die lokale Bevölkerung und die Stadt profitieren.“ Die Stadt, das ist in diesem Fall Kigomas Nachbarort Ujiji. Hier landeten früher Boote mit Sklaven, die auf der anderen Seite des Sees, im heutigen Kongo, geraubt worden waren. Und von hier aus zogen dann die Sklaven- und Elfenbeinkarawanen los in Richtung Küste. Heute ist Ujiji ein eher verschlafenes Städtchen. Aber das soll sich ändern, findet Mulilo. Nicht zuletzt mit Hilfe des WeltkulturerbeVorhabens. Ein paar Tage zuvor war ich schon einmal alleine durch den Ort gelaufen. Eine der Attraktionen ist das Livingstone Memorial Museum, errichtet an dem Ort, an dem der amerikanische Journalist Henry M. Stanley 1871 den verschollen geglaubten Livingstone fand. Ein Gedenkstein erinnert an den Moment, eine kleine Ausstellung an die beiden Forscher. Ihr Aufeinandertreffen, bei dem Stanley den Briten mit den Worten „Dr. Livingstone, I presume?“ begrüßt hat, ist mit zwei Pappmaché-Figuren nachgestellt. Darüber hinaus sind ein paar Bilder und Dokumente ausgestellt. Immerhin ist mit Haruna Kapitulo ein kompetenter Ansprechpartner 58 Tansania Thorsten Bothe anwesend, der aus einer Kladde etwas über Livingstones Leben erzählt bzw. abliest. Er ist auch für die Pflege des kleinen Grundstücks mit seinen alten Mangobäumen zuständig – das Ergebnis kann sich sehen lassen. Laut Gästebuch waren von Anfang Februar bis jetzt, Ende Oktober, grob geschätzt 1.800 Besucher in dem Museum, zu vielleicht 80 Prozent Tansanier. Beim Spaziergang durch den Ort höre ich wieder an allen Ecken „Mzungu, mzungu“, aber es wirkt freundlicher als in Tabora, und die Kinder freuen sich über ein Winken oder ein „hello“. Kisuaheli-Kenntnisse wären jetzt hilfreich, Englisch spricht kaum jemand. Schade, denn ich suche nach laut Reiseführer noch vorhandenen Relikten der Vergangenheit, aber von denen ist nichts zu erkennen (kein Wunder – zumindest die Existenz von Sklavengefängnis-Ruinen hat der Autor des Buches fälschlicherweise vermeldet, den Fehler in einer späteren Auflage aber korrigiert). Ausnahme: eine prachtvolle Mangoallee am Ortsrand. Solche Alleen hat es früher über weite Strecken der Sklavenroute gegeben, sie spendeten Schatten und zugleich die leckeren Früchte. Heute sind die meisten dieser Baumreihen verschwunden. Gemeinsam mit Mulilo fällt der Blick in Ujijis Vergangenheit leichter. Wir hatten uns für den Morgen in seinem Büro verabredet, doch nachdem wir eine Weile über das Sklavenrouten-Projekt gesprochen hatten, meint er plötzlich: „Ein alter Mann in der Stadtverwaltung kommt aus Ujiji, der kann uns die Plätze dort zeigen.“ Sprachs und verschwindet, um den Kollegen Bakari Tambwe zu holen. Ein Auto samt Fahrer findet sich auch bald, dennoch geht es noch nicht gleich los. Es dauert ein bisschen, bis ich begreife: „Die Benzinkosten übernehme ich natürlich.“ In Ujiji steigen wir am Museum aus. Die Moschee nebenan war einmal das Haus des berühmten Händlers Tippu Tipp, erklärt Mulilo. Aha, man muss es nur wissen. Ein paar Meter weiter steht ein weiteres unscheinbares, etwas heruntergekommenes Haus: „Hier lebten auch Araber“, sagt Mulilo, „noch fünf Jahre, ohne dass etwas getan wird, und es verfällt, und wir verlieren wieder einen Teil unserer Geschichte“. Der Bewohner wollte einmal neue Fenster und Türen einbauen. Aber das verhinderte die Distriktverwaltung, die historischen Relikte blieben erhalten. Geld für Renovierungen fehlt der Behörde allerdings, bedauert der Stadtplaner. Ein paar Ecken weiter, auf einem kleinen Platz, bleibt Tambwe wieder stehen. Das sei Kabondo, erklärt er. Heute liegt das Stadtviertel einige hundert Meter vom See entfernt, doch im 19. Jahrhundert verlief hier noch dessen Ufer. „Hier war ein Sammelpunkt für die Sklaven“, sagt Mulilo. Früher stand hier sogar ein aus Stein gebautes Lager, im Untergrund seien davon noch Reste zu finden. Ein Anwohner führt uns in den Hof eines der flachen Lehmhäuschen, in dem ein Haufen Steine liegt. Mulilo hebt einen Brocken 59 Thorsten Bothe Tansania hoch: „Die stammen von dem Lager. Jetzt dienen sie dem allgemeinen Gebrauch, aber wir wollen sie als historische Relikte bewahren.“ Wieder nur ein paar hundert Meter weiter öffnet sich die Straße – eigentlich mehr ein festgetretener breiter Weg - zu einem gänzlich unspektakulären Platz. „Hierher wurden die Sklaven von Kabondo gebracht und verkauft“, erklärt Tambwe – wir stehen auf dem ehemaligen Usagara-Sklavenmarkt. Ein Fort soll es an dessen Rand gegeben haben, doch das ist verschwunden. „Man könnte hier einen Gedenkstein errichten der zeigt, dass hier der Sklavenmarkt war. Mit einem Zaun drumherum, wie beim Livingstone Museum“ – Mulilo hat wirklich einige Ideen. Am Usagara-Markt begann einmal die lange Mangoallee, jetzt sind es vielleicht zwei Kilometer, die wir mit dem Geländewagen zu deren Beginn zurücklegen. „Es wäre doch denkbar, dass Touristen in einem Hotel am Strand von Ujiji wohnen und vom Livingstone Memorial Museum aus die Strecke über Kabondo und Usagara bis zur Mangoallee erwandern“ – Mulilo hat schon ganz konkrete Vorstellungen. Erklärende Tafeln an den entsprechenden Orten müssten aufgestellt werden, dann könnten die Besucher den historischen Wegen folgen. Schön wäre es auch, fährt Mulilo fort, wenn es ausgebildete Führer gäbe, die den Touristen die Geschichte wirklich nahebringen können und nicht nur ein paar Zahlen vorlesen – der Traum bezieht sich auch auf das Museum. Das, erzählt der Stadtplaner, soll ohnehin irgendwann aus der Verantwortung der Zentralregierung in die der Stadt übergehen. Mulilo ist auf jeden Fall dafür: „Wir wollen spüren, dass es uns gehört.“ Wenn dann wirklich einmal etwas zu erleben ist in Ujiji und die Touristen im Ort auch wohnen können, dann werden sie auch Geld dalassen und nicht nur, wie heute, einen wenige Stunden dauernden Ausflug hierher machen. Daran glaubt Mulilo fest. Aber er versichert auch, dass neben dem finanziellen Aspekt die Bewahrung der Geschichte an sich eine große Rolle spielt, wenn über das Weltkulturerbe-Projekt gesprochen wird. Den ganzen Vormittag über haben sich Mulilo und Tambwe für mich Zeit genommen. Einfach so. Einfach nett. 13. Nicht nur der Fisch müffelt – Schifffahrt auf dem Tanganyika-See Kigoma hat noch mehr zu bieten als Ujiji und seine Vergangenheit, was den Glauben an eine steigende Gästezahl durchaus realistisch erscheinen lässt. Der Gombe-Stream- und der Mahale-Nationalpark, jeweils Lebensraum von Schimpansen, sind von hier aus zu erreichen, der See ist für seinen fantastischen Fischreichtum berühmt und damit für Taucher und Schnorchler 60 Tansania Thorsten Bothe attraktiv. Kigoma ist zudem der einzige nennenswerte tansanische Hafen am Lake Tanganyika. Einmal in der Woche, mittwochs, fährt ein Schiff die Küste entlang bis zur Südspitze des Sees. Soll ein tolles Erlebnis sein, heißt es im Reiseführer. Also auch eine weitere potenzielle Attraktion für weitere Touristen, denke ich. An diesem Mittwoch bin ich der einzige. 55 US-Dollar kostet eine Fahrt in der 1. Klasse, bar und in Devisen zu zahlen. Gut eine Stunde vor der Abfahrt – die für 16 Uhr vorgesehen ist – bin ich am Hafen. Ein älterer Mann schnappt sich gleich meinen Koffer, lotst mich in den Wartebereich. Wie üblich warten ganze Familien, Kinder spielen zwischen den Gepäckbergen. Es wird 17 Uhr, 17.30, „mein“ Gepäckträger geleitet mich zu einem Tor, das den Weg zum Kai öffnet. Doch auch hier heißt es erst einmal: warten. 18 Uhr ist es schließlich, als die Passagiere auf das Schiff gelassen werden. Leider bedient diesmal die „MV Mwongozo“ die Strecke – und nicht die „Liemba“. Die „Liemba“ ist 1914/15, mit von Deutschland nach Ostafrika gebrachten Einzelteilen, als „Graf von Götzen“ zusammengebaut worden. Im ersten Weltkrieg versenkten die Deutschen das Schiff, nach ihrer Niederlage wurde es von den siegreichen Belgiern geborgen, sank jedoch erneut. 1924 wurde es erneut gehoben, und seit 1927 dampft es als „Liemba“ über den See. Der Kofferträger stürmt mir voran in den 1.-Klasse-Teil, wo sich erst einmal alles auf den Gängen staut. Schließlich will wieder reichlich Gepäck zwischengelagert werden. Ich zucke zusammen, als mein Helfer seinen Preis nennt – 10.000 Schilling will er haben, gut acht Euro! Das ist ein Vielfaches dessen, was sonst üblich ist. Ich beginne die Verhandlungen bei 2000, bei 4000 habe ich keine Lust mehr zu diskutieren und gebe ihm das Geld. Der Steward lässt sich Zeit, jedem einzelnen Passagier Kabine und Bett zuzuweisen. Ich beziehe alleine eine Zwei-Bett-Kabine – und schrecke beim Eintreten zurück. Es müffelt heftig aus Richtung der stellenweise aufgeschlitzten Matratzen. Sanitäre Anlagen gibt es auch nicht. Als ich, nachdem das Schiff gegen 19 Uhr endlich abgelegt hatte, die Gemeinschaftstoiletten betrete, schüttelt es mich noch mehr. Meinen Plan, mit der Liemba von der Südspitze des Sees aus gleich wieder zurück nach Kigoma zu fahren, lasse ich fallen. Ich ertappe mich dabei, in touristischen Kategorien zu denken – die Europäer, Amerikaner, Japaner oder Australier, die wirklich Geld brächten, würden zweifellos mehr Komfort erwarten. Dabei ist die Fahrt trotz allem sehr erlebnisreich. Da die kleinen Fischerorte, von zwei Ausnahmen abgesehen, nicht über Anlegestege verfügen, ankert die „Mwongozo“ ein Stück vor dem Ufer. Nach kurzer Zeit schwirren mindestens ein Dutzend Boote um das Schiff herum, und in wildem Chaos – zumindest sieht es für Außenstehende so aus – und lautem Geschrei 61 Thorsten Bothe Tansania klettern Passagiere aus den Booten an Bord, wird Fracht an Bord gehievt. Gleichzeitig aber versuchen Frauen, Männer und Kinder vom Schiff aus in die schaukelnden Nussschalen zu klettern, Gepäck – darunter auch schon mal ein paar Hühner – natürlich inklusive. Immerhin: Außer dem einen oder anderen Bootsführer geht niemand baden, und Gepäck oder Fracht scheinen auch vollständig an ihr Ziel zu gelangen. Das gilt auch für die Säcke mit kleinen, getrockneten Fischchen, die sich zu Hunderten auf dem Vorderdeck stapeln. Das Schauspiel wiederholt sich 15 Mal. Fotografieren ist nicht gern gesehen, das wird mir beim ersten Versuch wort- und gestenreich deutlich gemacht. Am zweiten Abend – die einfache Fahrt dauert bis Freitagmittag, also fast zwei Tage – spricht mich im Bordrestaurant ein Junge an, vielleicht 17 oder 18 Jahre alt. Ob er meine Adresse haben und ein Foto von uns beiden machen lassen könne. Klar, kein Problem. Dann erzählt John Paul in passablem Englisch, dass er ja gerne noch zwei Jahre lang zur Schule gehen würde, in die Sekundarstufe: „Aber für ein Jahr muss man 150.000 Schilling (etwa 120 Euro) zahlen. Und meine Eltern haben kein Geld, wir leben in einem kleinen Dorf, und mit der Landwirtschaft verdienen sie kaum etwas.“ Es wird wieder eines dieser deprimierenden Gespräche, nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal während der drei Monate: Ich muss erklären, dass ich auch nicht jedem helfen kann, der um Geld bittet – obwohl klar ist, dass jeder Tourist per se „reich“ ist für tansanische Verhältnisse. „Wenn Gott will, treffen wir uns wieder“, sagt John Paul zum Abschied. 14. Grenzer mal so, mal so – Via Sambia zurück an die Küste Da die Rückfahrt nach Kigoma nun also ins Wasser fällt und die Südspitze des Tanganyika-Sees schon zu Sambia gehört, sind nach dem Ausschiffen in Mpulungu erst einmal 25 US-Dollar für ein Transitvisum fällig. Die sambischen Grenzer nehmen ihren Job sehr genau, der Name jedes Einreisenden wird in diverse Listen eingetragen, das Gepäck kontrolliert. „Ich habe Durst, ein Drink wäre nicht schlecht“, murmelt ein Grenzer, während er meinen Koffer durchsucht, und eine leichte Fahne weht mir entgegen. Wie soll man denn darauf reagieren? Einen ausgeben – und Ärger bekommen, weil man die Grenzer bestechen wollte? Gar nicht – und ein paar Stunden in der Grenzbaracke verbringen? Der Mann in Uniform macht jede Seitentasche des Koffers auf, ganz geruhsam. „Mein Hals ist ziemlich trocken“, meint jetzt auch der Kollege des Koffer-Durchsuchers. „Meiner auch“, fällt mir nur als Antwort ein, und daraufhin geben es die beiden Uniformierten zum Glück auch schon auf. 62 Tansania Thorsten Bothe Am nächsten Morgen geht es ganz früh weiter, mit einem Lkw Richtung Grenzort Nakonde. Der ist von Mpulungu etwa 240 Kilometer entfernt. Die Erdstraße ist mit Schlaglöchern und Spurrinnen übersät, der junge Fahrer heizt trotzdem ziemlich. Zum Glück sitze ich im Führerhaus – die vielleicht zwei Dutzend Passagiere auf der Ladefläche müssen neben dem Gerüttel auch noch jede Menge Staub ertragen. Nach gut fünf Stunden ist die Grenze erreicht. Wieder wird mein Name auf sambischer Seite in mehrere Listen eingetragen – als ob die jemals mit den Einreiselisten abgeglichen werden. Auf tansanischer Seite sind gleich wieder 20 US-Dollar fällig, denn mit dem Verlassen des Landes hatte mein Drei-Monats-Visum seine Gültigkeit verloren. „Auch wenn Sie nur eine Stunde in Sambia gewesen wären, bräuchten Sie ein neues Visum“, sagt die Grenzbeamtin. Aber sie lächelt dabei und wünscht noch freundlich einen schönen Tag. Der Kleinbus in die nächste Großstadt, Mbeya, ist wie üblich überfüllt, der überraschend modern scheinende Reisebus, mit dem ich ein paar Tage später nach Dar fahre, ist es nicht. Dafür ist er auf den gut ausgebauten Straßen aber verdammt schnell unterwegs. Für die 850 Kilometer benötigt er keine zehn Stunden reine Fahrzeit. Das Busunternehmen, Scandinavia, gilt gemeinhin als das zuverlässigste im Land, die Fahrer als die vorsichtigsten... dennoch bin ich ganz froh, auf einem der hinteren Plätze zu sitzen und dadurch nicht so genau mitzubekommen, was sich alles auf der Straße abspielt. 15. Steinerne Geschichte – in Sansibars Altstadt Sansibar. Schon als die Fähre, von Dar kommend, die auf einer Halbinsel liegende historische Altstadt umfährt, bin ich von der abwechslungsreichen Architektur der Wasserfront fasziniert. Und dann der erste Gang durch die „Stone Town“ genannte Altstadt! Das Gewirr enger Gassen – Ortsfremde verlaufen sich unweigerlich nach ein paar Minuten. Die Häuser aus Korallengestein aus dem 19. Jahrhundert, von denen zwar viele verfallen und viele andere in schlechtem Zustand sind, einige aber auch wunderschön renoviert sind. Die vielen mit Schnitzereien reich verzierten Holztüren. Einfach toll. Kein Wunder, dass die Stone Town bereits als Weltkulturerbe auf der Liste der UNESCO steht, seit 2000. Dass der relative Reichtum der Stadt früher zum guten Teil aus ganz dunklen Quellen sprudelte – nämlich dem Sklavenhandel und der auf Sklavenarbeit angewiesenen Kultivierung von Gewürzen – gerät leicht in Vergessenheit. 63 Thorsten Bothe Tansania Auch bei der Bewerbung der Stone Town haben schwedische Experten geholfen, erläutert Mwalim A. Mwalim. Geschrieben haben die Mappe die Leute der „Stone Town Conservation and Development Authority“ (STCDA, etwa: Stone Town Denkmalschutz- und Entwicklungsbehörde), deren Generaldirektor Mwalim ist. Ins Leben gerufen wurde die STCDA 1985, aber erst 1994 erhielt ihre Arbeit eine gesetzliche Grundlage. „Prinzipiell haben wir fast unbeschränkte Befugnisse“, antwortet Mwalim auf die Frage, was die Denkmalschutzbehörde denn gegen die Zerstörung historischer Gebäude tun könne. So ist im Prinzip für jede Baumaßnahme eine Genehmigung erforderlich, die STCDA kann das Aussehen zum Beispiel der Türen und Fenster eines Hauses vorschreiben. „Praktisch aber haben wir wenig Einfluss“, fährt Mwalim bedauernd fort. Grund sei zum einen die mangelhafte finanzielle Ausstattung durch die Regierung Sansibars (Sansibar bildet gemeinsam mit dem Festlandteil Tanganyika den Bundesstaat Tansania, verwaltet sich aber weitgehend selbst). Zum anderen werde seine Behörde in den politischen Strukturen zerrieben – mit der Regierung Sansibars, der Verwaltung der Region West-Unguja (Unguja ist der offizielle Name der Insel, auf der die Stadt Sansibar liegt) sowie der Stadtregierung gibt es gleich drei Ebenen, die ihre Macht beweisen müssten, indem sie sich in die die Altstadt betreffenden Angelegenheiten einmischen. Das verkompliziert die Entwicklung der Stone Town oft genug, ärgert sich Mwalim. „Ein Teil der Bewohner ist sich der kulturellen Bedeutung der Stone Town bewusst, ein anderer Teil nicht. Aber alle wissen, dass Stone Town etwas ganz besonderes ist“, glaubt Mwalim. Was oft unterschätzt werde sei das Interesse des Auslands an dem geschichtsträchtigen Ort. Die jüngere Generation und insbesondere die Geschäftswelt haben die Attraktivität der Stadt für den Tourismus aber längst erkannt. Leider hat Mwalim nur wenig Zeit – er muss zu einem mehrtägigen Fachkongress. „Ich wünschte, ich selbst könnte Ihnen die Stadt zeigen“, sagt er, als er mich für weitere Fragen an die „Zanzibar Tourist Corporation“ (ZTC) verweist. Bei der ZTC zeigt man sich sehr an dem interessiert, was ich so über das Sklavenrouten-Projekt in Erfahrung gebracht habe. Sansibar ist daran nicht beteiligt, bedauert Marketing-Mitarbeiter Muhidin B. Rajab: „Wir haben erst vor drei Monaten (also im August 2003) überhaupt davon gehört.“ Einerseits sei das verständlich, weil die Stone Town eben schon den WeltkulturerbeStatus besitzt. Andererseits gibt es historische Stätten auf der Insel, die nicht dazugehören und in das Schema der neuen Initiative passten. Der Sitz der ZTC etwa, das Livingstone House, in dem der Forscher mal gewohnt hat. Und die Sklavenhöhlen von Mangapwani, rund 20 Kilometer nördlich der Stadt 64 Tansania Thorsten Bothe an der Westküste der Insel. Dort, in einer in das Korallengestein gehauenen, überdachten Höhle haben die Sklavenhändler ihre Opfer versteckt, nachdem die Briten den Sklavenhandel verboten hatten und die Händler auf dem Meer jagten. Jede „Spice-Tour“, eine Tagesfahrt durch die Gewürzplantagen Sansibars, führt auch zu dieser Höhle. Dunkel ist es darin, steile Treppen führen hinunter in die Kammer. Es gruselt bei der Vorstellung, dass hier von Zeit zu Zeit vielleicht ein paar hundert arme Menschen zusammengepfercht waren, ein ungewisses Schicksal erwartend. In der Stone Town selbst gibt es auch einige Spuren der düsteren Vergangenheit. Zum Beispiel einen Keller nahe der anglikanischen Kirche, die wiederum auf einem Platz errichtet wurde, auf dem zuvor Sklaven gehandelt worden waren. In den dunklen Gewölben seien die Opfer „zwischengelagert“ worden, erzählt ein Gästeführer – angeblich oft mehrere Tage ohne Nahrung, um ihr Durchhaltevermögen zu testen. Es ist allerdings umstritten, ob die Keller wirklich diesem Zweck dienten. Vor der Kirche erinnert ein Skulpturen-Monument – lebensgroße, realistisch gestaltete Figuren mit Ketten um den Hals – an die Zeit des Sklavenhandels. In das wunderschöne „House of Wonders“, einem früheren Sultanspalast, wird im Herbst 2003 gerade die Sammlung des Historischen Museums verlagert – auch der Sklavenhandel spielt in der Ausstellung eine gebührende Rolle. Und in der Stone Town steht auch noch das Haus von Tippu Tipp, dem berühmt-berüchtigtsten Händler des 19. Jahrhunderts. Von außen ist es unscheinbar, grau, alles andere als gepflegt. Die wunderschön geschnitzte Tür hat auch schon bessere Zeiten gesehen. Dennoch – ein Foto muss sein. „Hey my friend, welcome, have a look inside“, höre ich plötzlich eine Stimme hinter mir, während ich noch mit der Kamera hantiere. Ein Bewohner des Hauses kommt auf mich zu, Einkaufstüten in der Hand. „Weißt Du, dass das Tippu Tipps Haus war?“, fragt er, während er mich hinein bittet. Aspara wohnt unter dem Dach, in einer riesigen Wohnung – sicher 100 Quadratmeter, sparsam möbliert. Die Außenmauer ist nach oben hin, unter dem Dach, einen Spalt breit offen, so dass Luft zirkulieren kann. Eine Holztreppe führt auf eine herrliche überdachte Dachterrasse. Es könnte eine Traumwohnung sein – doch sind die Treppenstufen marode, die Fensterläden schief und kaputt, und die Holzbalustrade des ohnehin wenig Vertrauen erweckenden Balkons sieht aus, als breche sie bei der kleinsten Berührung zusammen. „Das ist alles noch original“, erläutert Aspara. „Wir reparieren hier immer mal ein bisschen was“, sagt er, doch für die große Instandhaltung fehle den vier Mietparteien im Haus schlicht das Geld. Das Gebäude gehört der Regierung von Sansibar, sagt mein freundlicher Gastgeber, aber die kümmere sich nicht 65 Thorsten Bothe Tansania darum. Dabei zahlt er für tansanische Verhältnisse eine durchaus ordentliche Miete von 100.000 Schilling, etwa 80 Euro. Ja, natürlich freue er sich über ein bisschen Geld, sagt Aspara beim Abschied. Ich habe nur 1.000 Schilling klein. „Normalerweise nehmen wir 2.000 oder 3.000“, sagt Aspara fröhlich – es kämen immer mal wieder Touristen vorbei –, „aber Du bist mein Freund, also sind 1.000 genug“. Und wenn ich mal wieder nach Sansibar komme und einen Platz zum Übernachten brauche, sei ich jederzeit willkommen – „weil wir jetzt Freunde sind“. 16. „Das war gar nicht die Hauptroute“ – Zweifel an der „Historical Correctness“ Mr. Rajab von der Tourismus-Vereinigung ZTC hatte mir noch den Tipp gegeben, dass ich im Archiv von Sansibar weitere Informationen über den Sklavenhandel bekommen könnte. Archivleiter Hamadi Hassan ist nirgendwo zu finden, doch der ZTC-Mitarbeiter, der mich später auch noch bis zu den Höhlen von Mangapwani fährt, findet im „House of Wonders“ immerhin Prof. Abdul Sheriff. Der ist Dozent für Geschichte an der Uni Dar es Salaam sowie Berater und Kurator der Museen von Sansibar. „Meine eigenen Forschungen haben ergeben, dass die Route Ujiji – Bagamoyo nicht die wichtigste Handelsroute war“, sagt er zu meiner Überraschung. Vielmehr seien 80 bis 90 Prozent der für Sansibar und Arabien bestimmten Sklaven aus dem Bereich des heutigen Nord-Malawi über eine vergleichsweise geringe Entfernung nach Kilwa, gut 200 Kilometer südlich von Dar, verschleppt worden. Auf der zentralen Route, die ja durch sehr trockene Gebiete führt, hätten die meisten Opfer nur ein Teilstück zurücklegen müssen. „Nur wenige Sklaven sind überhaupt nach Bagamoyo gebracht worden und wenn, dann kamen sie nicht aus dem Osten Kongos, sondern eher aus Zentraltansania“, sagt Sheriff. Für die „Popularität“ Bagamoyos und der Zentralroute sieht der Historiker vor allem zwei Gründe: 1. Die ersten Missionare haben vor allem dort Sklaven befreit und „bekehrt“ - also wurde die Bedeutung des Ortes als Sklavendrehscheibe hervorgehoben. 2. Die Bekanntheit Tippu Tipps. Dabei sei der eher Elfenbein- als Sklavenhändler gewesen: „Tippu Tipp war vor allem Geschäftsmann, und Elfenbein war einträglicher. Der Sklavenhandel war eher ein Nebengeschäft.“ Er habe zwar selbst viele Plantagensklaven für sich schuften lassen, aber keine großen Sklavenkarawanen von Ujiji nach Bagamoyo geführt – dessen ist sich Sheriff sicher. 66 Tansania Thorsten Bothe Auch andernorts werde, der guten Story wegen, eifrig an Mythen gebastelt. So wird in der Anglikanischen Kirche erzählt, dass an der Stelle, an der sich heute der Altar befindet, früher ein Pfahl gestanden habe, an den Sklaven zur Auspeitschung gekettet wurden. Dafür gebe es jedoch keinerlei Belege. Und von den Kellern eines heute als Schule genutzten Gebäudes wird behauptet, sie hätten als Sklavenkerker gedient – in den Augen Sheriffs ebenfalls eine fragwürdige Geschichte. Denn das Gebäude sei im 19. Jahrhundert von Franzosen als Hospital gebaut worden, und die Kammern wurden, so seine Vermutung, zum Lagern von Medikamenten genutzt. „Vor einigen Jahren bin ich um meine Beteiligung an dem UNESCOProjekt gebeten worden“, sagt Sheriff – aber da damals bereits das Hauptaugenmerk auf der Route Ujiji - Bagamoyo lag, hat er abgelehnt: „Ich wollte nicht an den falschen Mythen mitbauen.“ Grundsätzlich unterstützt er die Bemühungen, die Geschichte zu erforschen und zu bewahren, fährt Sheriff fort, aber: „Ich möchte nicht, dass die Geschichte benutzt wird, um heute damit Auseinandersetzungen auszutragen.“ Der Historiker bezieht sich dabei unter anderem auf die Debatte um die „Schuld“ an der Sklaverei, die – vor allem in Westafrika - nicht selten in Reparationsforderungen afrikanischer Staaten an die Europäer und Amerikaner mündet. Schließlich sind auch die Afrikaner selbst in den traurigen Handel verstrickt gewesen, gibt Sheriff zu bedenken. Und während der sozialistischen Revolution auf Sansibar 1964, die den arabischen Sultan stürzte, seien tausende Araber nur aufgrund ihrer Abstammung ermordet worden, obwohl sie selbst nichts mit der Sklaverei zu tun gehabt hätten. „Schuld war nicht eine bestimmte Volksgruppe, sondern eine bestimmte Klasse von Leuten - die Oberschicht, die Händler“, meint Sheriff. 17. „Irgendwann werden sie kommen“ – nach Bagamoyo „Wir sagen gar nicht, dass Ujiji-Bagamoyo die einzige Handelsroute war – es gab ja mindestens zwei weitere“. Felix Ndunguru reagiert gelassen, als ich ihn mit der Kritik des Historikers Sheriff am Sklavenrouten-Projekt konfrontiere. Der für Bagamoyo zuständige Konservator des Department of Antiquities ist überzeugt, dass die Ausrichtung des Vorhabens die richtige ist: „Wir haben die Zentralroute gewählt, weil hier mehr Karawanen unterwegs waren als auf den anderen Routen. Außerdem gibt es mehr Landmarken wie Mangoalleen und Ruinen. Und es gibt hier noch mehr Nachkommen ehemaliger Sklaven als entlang der anderen Routen.“ Literatur und Augenzeugenberichte legten ebenfalls nahe, sagt Ndunguru, dass er und seine Kollegen vom D.o.A. Recht haben: „Ich bin überzeugt, dass die 67 Thorsten Bothe Tansania Zentralroute die Hauptroute war.“ Wohl nicht umsonst bedeutet Bagamoyo soviel wie „Lege Dein Herz nieder“ – offenkundig eine Anspielung auf das Schicksal der Sklaven, die hier auf die nach Sansibar auslaufenden Dhaus verfrachtet wurden und von da an wussten, dass es keine Hoffnung mehr gab, der Sklaverei zu entrinnen. Ohnehin könne nicht jeder Weg, den einmal Sklavenkarawanen nahmen, zum Weltkulturerbe werden – da müsse es schon eine Beschränkung geben, fährt Ndunguru fort. Die Stadtoberen von Bagamoyo hätten es am liebsten, dass sich die Denkmalschützer und die UNESCO sogar nur auf ihren Ort beschränken. Bei der Konferenz im November hätten sie dies noch einmal deutlich gemacht. Doch war das Ergebnis der Konferenz eindeutig: „Nein, die sechs Zentren entlang der Route müssen um Zuwendungen ‚kämpfen’.“ Die D.o.A.-Leute, die die Strecke im Sommer zurücklegten, verteilten damals auch Broschüren an die Stadtverwaltungen, erzählt Ndunguru. Die Faltblätter sollten das Bewusstsein der lokalen Autoritäten für ihr historisches Erbe wecken und sie zum Mitmachen animieren. In einigen Kommunen funktioniert das auch schon ganz gut – „die in Kigoma zeigen großes Interesse“, lobt der D.o.A.-Konservator den dortigen Stadtplaner Eliud Mulilo und dessen Kollegen. Anderswo geschehe hingegen wenig. Bagamoyo zählt Ndunguru eher zur zweiten Gruppe, das wird im Gespräch deutlich. Dabei sind in dem Städtchen noch einige Relikte aus der Vergangenheit sichtbar: ganze Straßenzüge steinerner, zweigeschossiger Häuser, der alte deutsche Verwaltungssitz – die „Boma“ – nebst weiteren Hinterlassenschaften der Kolonialzeit, eine Karawanserei, ein von der Mission betriebenes Museum zur Geschichte des Ortes und des Sklavenhandels in historischen Mauern, einen überdachten Markt. Allerdings sind - von einigen restaurierten Gebäuden abgesehen – viele Gemäuer nur noch Ruinen oder kurz davor, welche zu werden. Das gilt insbesondere für Wohnhäuser in der Altstadt, die wie in Sansibar Stone Town genannt wird. Zahlreiche Häuser sind sogar ganz verschwunden. Aber auch das Prunkstück, die Boma, ist in erbärmlichem Zustand: Die Außenmauern sind verwittert, Fensterladen hängen herunter, ein Teil der Vorderfront ist bereits zusammengebrochen. Wäre das Gebäude vor ein paar Jahren nicht zumindest notdürftig gesichert worden – es wäre vermutlich jetzt nicht mehr als ein Schutthaufen. „Zum Teil gehören die Altstadtgebäude der Regierung, zum Teil der Stadtverwaltung, zum Teil der Kirche oder den islamischen Gemeinden“, erklärt Ndunguru. Die in Privatbesitz befindlichen werden seinen Angaben zufolge selten von den Besitzern bewohnt, die sich zudem kaum um den Verfall ihrer Immobilie scheren – während den Bewohnern das Geld für die Instandsetzung fehlt. Besonders aber ärgert sich der D.o.A.-Experte über die Nachlässigkeit der staatlichen Stellen: „Wenn es die Zentralregierung 68 Tansania Thorsten Bothe ernst meinen würde, könnten sie sich sicher um die Gebäude kümmern und Geld für Renovierungen in den Haushalt einstellen – aber sie kümmert sich nicht darum.“ Die lokale Verwaltung sei da nicht viel besser: „Der Distriktvorsteher will lieber ein neues Verwaltungsgebäude bauen als das alte, die Boma, zu renovieren“, schimpft der Konservator. Wenn sich aber die Leute vor Ort um die Bauten kümmerten und zur Instandhaltung wenigstens einen Teilbeitrag leisteten, dann ließen sich auch Investoren aus dem Ausland anlocken. Da ist sich Ndunguru ganz sicher. Bei allen Problemen und Hindernissen, die es zu überwinden gilt – Ndunguru ist vom Erfolg des Projekts überzeugt. „Unser Hauptanliegen ist es, das kulturelle Erbe zu bewahren, zum Wohle dieser und der kommenden Generationen“, betont auch er. Der Tourismus wachse dann ganz von selbst, quasi als Nebenprodukt. Also gelte es, das Bewusstsein der Leute zu schärfen – wie oft habe ich das jetzt schon gehört, frage ich mich –, was in erster Linie Aufgabe der Verantwortlichen vor Ort sei. Die müssen den Leuten deutlich machen, dass sie von ihrem kulturellen Erbe auch materiell profitieren können. „Ich bin optimistisch, dass viele Touristen die Orte entlang der Route besuchen, wenn sie einmal Weltkulturerbe ist“, sagt Ndunguru. „Das dauert sicher etwas, aber irgendwann werden sie kommen. Vielleicht werden einige auch die gesamte Route erwandern. Warum nicht?“ Warum nicht? Ich denke an die kleinen Dörfer an der Bahnstrecke, an die eintönigen, heißen, trockenen Ebenen im Landesinneren, an die fehlende Infrastruktur und möchte klar und deutlich antworten: Darum nicht. Aber ich lasse es bei einem zaghaften Einwand bewenden. Ndungurus Optimismus ist unerschütterlich – und Optimismus kann ja auch nicht schaden. 18. „Ich muss gehen“ – Träume eines Touristenführers Immerhin – in Bagamoyo tut sich schon einiges in Sachen Tourismus. Es gibt ein paar gute Hotelanlagen, die zum Teil Räumlichkeiten für Konferenzen offerieren. Und das D.o.A. hat ein paar junge Leute zu Gästeführern ausgebildet. Joshua, 27, ist einer von ihnen. Er zeigt mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt, fährt mit mir über die breiten, staubigen, mit knietiefen Schlaglöchern übersäten Straßen zum alten Fort, in dem die Händler ihre menschliche „Ware“ „zwischengelagert“ haben sollen – was allerdings nicht eindeutig belegt ist. Wir besuchen den alten deutschen Friedhof und die – renovierte – Karawanserei, in der früher die Händler abstiegen und die heute eine Mini-Ausstellung über Bagamoyo beherbergt. Joshua zeigt mir den Dhau-Hafen, also den Strand vor dem Fischmarkt, an dem noch immer die traditionellen Holzboote gebaut werden. Und das 69 Thorsten Bothe Tansania Grab einer in den 70er Jahren gestorbenen Frau, die als Kind noch Sklavin gewesen war. Joshua weiß viel zu erzählen über die Geschichte der Stadt. Wir fahren zwischen den einstöckigen, oft aus Lehm gebauten Häuschen entlang, in denen sich vielfach kleine Läden befinden. Besonders „urban“ ist die Atmosphäre in dem Städtchen nicht. Abends holt mich Joshua auf ein Bier ab. In einer typischen Kneipe – eine Bar unter einem Dach aus Palmwedeln, nach zwei Seiten offen – erzählt er, dass er bald Grundschullehrer werden und damit ca. 50 Euro im Monat verdienen möchte. Auch als Touristenführer will er weiter arbeiten und die Einnahmen daraus zurücklegen. Und wenn er genug gespart hat, will er nach Europa, vielleicht nach Deutschland, zum Arbeiten: „Andere haben es auch geschafft – warum nicht ich? Ich weiß es – ich muss gehen.“ Was er vom Leben in Deutschland wisse? „Das Klima ist kälter, und die Leute haben viel zu tun.“ Wir treffen uns noch zwei, drei Mal, und jedes Mal erzählt Joshua mehr von seinen Plänen. Eine weiße Frau will er heiraten, und er nimmt jede Arbeit in Europa an, vielleicht in einem Hotel, aber er würde alles machen. Im Zweifelsfall eben schwarz. Um Geld zu sparen, würde er sogar im Freien übernachten, er brauche nicht viel. Das Geld, dass er verdient, will er sparen. Und irgendwann kehrt er wieder nach Tansania zurück, ein paar gebrauchte Computer im Gepäck: „An denen lasse ich die Leute spielen, damit kann man viel Geld verdienen.“ Eine Kokosplantage will er anlegen, davon könne man bei geringem Aufwand gut leben. Joshua hat viele Pläne. Da auch er mit einem Anwachsen der Besucherzahl rechnet, überlegt er, gemeinsam mit Freunden eines der historischen Häuser zu übernehmen und daraus ein Hotel zu machen. Und schließlich spricht er von seinem ganz großen Traum: „Ein großes Motorrad, eine 750er.“ Da ist er wieder, dieser beeindruckende und zugleich verwirrende Optimismus – in meinen Augen realitätsfremd, aber offenbar für viele Tansanier ein zumindest gedanklicher Fluchtweg aus einem Alltag, in dem nicht einmal die täglichen ein, zwei Euro für eine ausreichende Ernährung gesichert sind. 19. „Sie leiden noch immer“ – sagt Father Gallus vom Missionsmuseum Wer nach Bagamoyo kommt, der besucht zumeist auch das Museum der katholischen Mission. Ein Gemälde an der Außenwand des wunderbar renovierten Gebäudes verweist auf den Schwerpunkt der Ausstellung: Es illustriert die Geschichte eines Mädchens, das in die Hände arabischer Sklavenhändler geriet, nach Sansibar verfrachtet wurde, schließlich unter dramatischen Umständen von christlichen Missionaren gerettet wird und 70 Tansania Thorsten Bothe als Krankenpflegerin einen ihrer früheren Peiniger wiedertrifft. Ein inzwischen wieder in Deutschland lebender deutscher Pater, John Henschel, hat die Geschichte aufgeschrieben und als Büchlein veröffentlicht. Henschel hat viel über die Sklaverei geforscht und war auch maßgeblich am Aufbau des Museums beteiligt, erzählt sein Nachfolger als Museumsdirektor, Father Gallus Marandu. Die liebevoll aufbereitete Sammlung beschäftigt sich mit dem Sklavenhandel und der Befreiung vieler Sklaven durch die christlichen Missionare. Diese kauften die Menschen frei, soweit sie es finanzieren konnten, und gründeten für sie in Bagamoyo eine kleine Siedlung, von der heute nichts mehr zu sehen ist. „15.000 Besucher hatten wir 2002 im Museum“, sagt Father Gallus, „dieses Jahr (2003) werden es wohl 30.000 sein“. Mindestens 70 Prozent kommen aus Tansania: Studenten, Schulklassen aller Altersstufen, zum Teil Familien auf einem Ausflug etwa von Dar es Salaam aus. „Die Tansanier wollen ihren Kindern die Realität der Geschichte vermitteln“, als Ergänzung zu dem, was sie in der Schule lernen, ist Father Gallus’ Erfahrung. Und gerade Einheimische mit höherer Bildung wollen ihre eigene Familiengeschichte verstehen. Es kämen sogar Tansania-stämmige Araber, die jetzt im Ausland leben und ihren Kindern zeigen wollen, wo sie herkommen. In Bagamoyo selbst ist es allerdings nicht ganz einfach, über das Thema zu reden, sagt Father Gallus. Dabei leben hier noch viele, deren Vorfahren als Sklaven an die Küste gebracht worden waren, aber: „Einige von ihnen sprechen darüber, einige haben Angst davor.“ Die bitteren Erfahrungen ihrer Ahnen sitzen offenbar bei vielen noch zu tief, so dass sie sich nicht als deren Nachkommen zu erkennen geben wollen: „Sie leiden noch immer darunter, unter einem Gefühl der Erniedrigung.“ Oft, sagt Father Gallus, bedarf es langer Gespräche, bevor die inzwischen meist alten Leute erzählen, was sie von ihren Eltern oder Großeltern über deren Leiden in der dunklen Epoche erfahren haben. Pater Henschel und Felix Ndunguru vom D.o.A. haben viele solcher Gespräche geführt und sie in einem Büchlein dokumentiert. Das ist, wie die Geschichte des Sklavenmädchens, im Museum erhältlich. Es zeigt auch, dass in Bagamoyo Vertreter zahlreicher Volksgruppen aus ganz Tansania und sogar dem benachbarten Ausland – Kongo, Uganda, Mosambik – zusammenleben. Auch eine Folge der Sklaverei. Henschel und Ndunguru sprachen auch mit den Nachkommen von Sklavenbesitzern – doch die, so das Fazit der Autoren, waren noch weniger bereit, über ihre Familiengeschichte Auskunft zu geben. Der frühere Standesdünkel sei auch noch immer nicht verschwunden, meint Father Gallus: „Früher traten vor allem befreite Sklaven zum Christentum über – also sahen die Moslems in Christen vor allem ehemalige Sklaven. Und da Sklaven, die zum Islam übergetreten waren, nach ihrer Freilassung einen 71 Thorsten Bothe Tansania besseren Stand hatten als die Christen, blickten sogar sie oft auf diese herab. Das schwingt selbst heute noch etwas nach.“ Das vielfache Verdrängen der Geschichte hat dazu geführt, dass die jungen Leute in Bagamoyo kaum etwas über die Vergangenheit des Ortes wissen, bedauert Father Gallus. In seiner Gemeinde allerdings wird darüber gesprochen, denn „die Leute müssen darüber Bescheid wissen“. Zum einen, um aus der Geschichte zu lernen. Und zum anderen, um Besucher informieren zu können. Denn im Gespräch, im Gedankenaustausch können Besucher und Bewohner voneinander lernen, glaubt der Geistliche. Das WeltkulturerbeProjekt könne hierzu beitragen, meint er: „Es animiert die Leute dazu, sich ihrer historischen und kulturellen Wurzeln bewusst zu werden.“ Da ist es wieder, das Stichwort „Bewusstsein wecken“. Die Leute von Bagamoyo sind bereit, es wecken zu lassen, glaubt Father Gallus. 20. Kulturhauptstadt Bagamoyo – Ein Exkurs zum College of Arts Bagamoyo – das ist neben aller historischen Bedeutung auch so etwas wie die gegenwärtige Kulturhauptstadt Tansanias. Denn in Bagamoyo ist seit 1980 das „College of Arts“ beheimatet, die einzige Kulturhochschule Ostafrikas. Aus allen Teilen des Landes bewerben sich Kulturschaffende, etwa 20 bis 30 erhalten nach einem mehrstufigen Auswahlverfahren die Zulassung. Drei Jahre lang werden sie in Tanz, Musik, Schauspiel/Drama, bildende Künste und Bühnentechnik unterrichtet, wobei sich jeder ab dem zweiten Jahr auf eine Fachrichtung spezialisiert. Auch Akrobatik steht auf dem Stundenplan, hinzukommen Englisch und Kisuaheli sowie Kulturpromotion und Forschungsmethodik. Die Absolventen sind früher von der Regierung in die Regionen des Landes entsandt worden, um dort ein kulturelles Leben aufzubauen. Jetzt hat der Staat kein Geld mehr dafür, die Studenten müssen sich selbst oder in Gruppen durchschlagen. „Wir bewahren alte Traditionen und versuchen dabei, die Kultur des ganzen Landes abzudecken“, erzählt der Akademische Rat Juma Swafi. „Aber wir lehren auch moderne Kunst.“ Aushängeschild des College sind die „Bagamoyo Players“, das aus den Lehrern des College bestehende Nationalensemble Tansanias. Mit Tanz- und Theatervorführungen ist die Gruppe schon oft im Ausland aufgetreten, zum Beispiel in Skandinavien – Schweden und Norwegen leisten der Hochschule finanzielle Hilfe – und Deutschland. Auf der Expo 2000 in Hannover repräsentierten die Bagamoyo Players ihr Land. Darüber hinaus leistet das Ensemble einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung Tansanias. Viele der selbst erarbeiteten Stücke behandeln 72 Tansania Thorsten Bothe aktuelle soziale Probleme wie Aids, die Position der Frauen – die traditionell nach dem Tod des Mannes nichts von diesem erben und daher als Witwe oft mittellos sind –, Alkoholmissbrauch oder Malaria-Vorsorge. „In Zusammenarbeit mit UNICEF gehen wir regelmäßig auf Tournee durch das Land“, erzählt Swafi. Gerade in den Dörfern hätten die Aufführungen großen Einfluss, sagt Swafi, dort bekomme die Gruppe immer ein gutes Feedback. Schauspieler Nkwabi Nghangasamala ergänzt, dass die Aufträge für solche Stücke und Tourneen nicht nur von UNICEF, sondern auch von anderen Entwicklungs-Organisationen kommen. Viele Anfragen gebe das College inzwischen an ehemalige Studenten weiter, da diese zum Teil in den betreffenden Regionen leben und die College-Lehrer ohnehin nicht ständig auf Achse sein können. Die Studenten sind mit hoher Motivation bei der Sache, zeigt eine MiniUmfrage unter ein paar Nachwuchskünstlern in einer Unterrichtspause. Francis Mallindi, 28, Hauptfach Tanz, Nebenfach Musik im dritten Studienjahr, „ist mit einem Künstlerherzen geboren“, wie er selbst sagt. Vor dem College-Studium war er Grundschullehrer, aber schon als Kind hat er gesungen, getrommelt und Gitarre gelernt. Später hat er für Radiosender Jingles eingespielt. Nach seinem Examen in Bagamoyo möchte er sich noch weiter bilden, am liebsten an der Universität Dar es Salaam. Und später will er einmal professionell Musik machen und unterrichten – „denn beim Unterrichten entwickele ich mich weiter“. Er möchte experimentieren, beispielsweise afrikanische mit europäischen Rhythmen mixen. „Es gibt nicht viele professionell arbeitende Musiker in Tansania. Die meisten können Instrumente spielen, haben aber keine theoretischen Kenntnisse“, sagt Francis. Er habe am College wichtige Grundlagen erlangt. Saada Mohammedi steht ebenfalls kurz vor ihrem Abschluss. Auch die 21Jährige hat sich auf das Tanzen spezialisiert. Sowohl traditioneller als auch moderner Tanz gehören zu ihrem Repertoire. „Ich möchte einmal Kinder unterrichten, das mag ich soooo gerne“, sagt die junge Frau. Das Studium ermöglicht ihr eine Familie aus Deutschland, die ihr die jährlich 150.000 Schilling (ca. 120 Euro) Gebühr für Unterricht, Unterkunft und Verpflegung bezahlt. Die Familie hat sie 1998 in Deutschland kennen gelernt, als sie mit einer von Nkwabi Nghangasamala geleiteten Gruppe von Kindern und Jugendlichen an einem Musical-Projekt im Kreis Warendorf teilnahm. Edgar Ngelela will einmal etwas für Tansania völlig Neues auf die Beine stellen: „Ich denke daran, eine Filmindustrie zu gründen – so Gott will“, sagt der 23-Jährige mit dem Hauptfach Drama. Schon als Kind hat er Theater gespielt, sich aber von jeher für den Film interessiert. Regisseur oder Schauspieler will er werden, Science Fiction und Werke über die tansanischen Traditionen drehen. „Seit vier Jahren habe ich eine Videokamera“, 73 Thorsten Bothe Tansania erzählt er stolz, einen Kurzfilm hat er damit schon hergestellt. Auch Edgar schwebt ein weiterführendes Studium an der Uni Dar vor – „aber dafür bräuchte ich einen Sponsor“. Höhepunkt im College-Jahr ist das „International Bagamoyo Festival of Arts“ am letzten September-Wochenende. Tanz-, Musik- Theater- und Akrobatik-Gruppen aus ganz Tansania, aus den Nachbarländern und immer wieder auch mal aus Europa sorgen dafür, dass in dem eher verschlafenen Städtchen ein paar Tage lang richtig Trubel ist. Die Hotels sind gut belegt, auf den Straßen ist deutlich mehr Leben als sonst, auf dem College-Gelände wird ein kleiner Kunsthandwerk-Markt aufgebaut. Spielort ist die einzige feste Bühne Tansanias: das College-eigene Freilufttheater, das allerdings nur noch eine Ruine ist. Anfang 2002 hat es mutmaßlich der damalige College-Direktor in Brand gesetzt, als Motiv wird Versicherungsbetrug vermutet. Jetzt soll es wieder aufgebaut werden. Die tansanische Regierung wird, so Swafi, einen Beitrag leisten – und natürlich hilft auch die schwedische Organisation SIDA wieder, die schon den ursprünglichen Bau mitfinanziert hat. Auch Norwegen hat Hilfe zugesagt. Das Festival ist beliebt im Ort: Schon die Nachmittagsvorstellungen sind gut besucht, abends ist das Amphitheater brechend voll. Dabei kostet es immerhin 500 Schilling Eintritt – nicht wenig für tansanische Verhältnisse. Kinder zahlen 100 Schilling – und es kommen reichlich, auch abends. Kostenlos ist der Besuch einer kleinen Nebenbühne. Hier treten Amateure und Anfänger auf, denen das Festival die Gelegenheit gibt, erste Bühnenerfahrungen zu sammeln. Die Begeisterung ist groß, auch während der „Problem“-Stücke: Das über die Erbschaftsproblematik haben die Bagamoyo Players auf eine witzige Art inszeniert, die an das Ohnsorg-Theater erinnert. Das kommt an beim Publikum. Die Zuschauer gehen mit, lachen viel, spenden immer wieder Beifall. Anders als in Europa üblich, gibt es jedoch keinen anhaltenden Schlussapplaus mit mehreren „Vorhängen“. Hier werden die Akteure mit kurzen Klatschrhythmen auf Kommando des Moderators verabschiedet. Die Akrobaten agieren auf teilweise hohem Niveau – viele könnten, denke ich, problemlos ein Engagement in einem Zirkus in Europa bekommen. Die traditionellen Trommel- und Tanzvorführungen beeindrucken durch ihre Intensität, die die meist farbenfrohen Gewänder der Künstler noch unterstreichen. Ein vielstimmiges „Iiiihhh – ääähhh“ ist in dem steinernen Halbrund zu hören, während eine tansanische Gruppe einen „Schlangentanz“ mit echter Schlange darbietet. Das arme Viech wird arg verdreht, fast schon verknotet. Schließlich wirft der Tänzer das Reptil in Richtung der Zuschauer, die laut schreiend auseinanderstieben. Einem Polizisten treibt das den Schweiß auf 74 Tansania Thorsten Bothe die Stirn: „Die Schlange ist giftig“, sagt er nervös. Doch es passiert nichts. Zu überfordern scheint die Tansanier ebenso wie die vielen europäischen Gäste nur der Auftritt einer Gruppe aus Uganda: Als während der wohl als Opern-Persiflage gedachten Gesangsshow der Strom ausfällt, ist erleichterter Applaus zu hören – als die Lichter wieder angehen, eher verzweifelte Ausrufe. Europäische Gäste hat das College im Übrigen nicht nur zu Festival-Zeiten. Immer wieder mal nehmen Gruppen oder Einzelpersonen an Workshops teil. Die Werbung dafür könnte noch besser laufen, gibt Swafi zu. Das sei einer der Punkte, in denen man sich in den nächsten Jahren verbessern wolle. „Wir haben eine Reihe von Problemen“, fährt er fort und blättert in einer Liste: „Ineffizientes Finanzmanagement... einige Lehrer stehen vor der Rente, aber es fehlt am Nachwuchs... wir haben nicht genug Erfahrung in der Forschung – aber wir wollen die Traditionen der verschiedenen Völker Tansanias erforschen... und es fehlt an kompetenten, professionellen Organisatoren für das Festival.“ Jetzt wird die Großveranstaltung noch mehr oder weniger nebenamtlich von Mitgliedern der Stadtdistriktverwaltung, vom College-Personal und vom Department of Culture der Regierung in Dar es Salaam vorbereitet. Ein „Untermieter“ des College of Art ist die Bagamoyo Sculpture School, die sich ganz dem Schnitzen und Modellieren sowie dem Zeichnen verschrieben hat. Die etwa 15 Studenten pro Jahrgang bekommen während der dreijährigen Ausbildung aber auch Englisch-Unterricht und lernen, ihre Produkte zu vermarkten. Seit 1995 existiert die schwedisch-tansanische Kooperation, berichtet Schuldirektor Andrew Mwaselela. Die meisten bisherigen Absolventen haben sich zu Gruppen zusammengeschlossen oder versuchen, selbstständig über die Runden zu kommen. „Wir kooperieren mit früheren Studenten“, erzählt Mwaselela, „zum Beispiel, wenn wir von Botschaften, dem Bagamoyo Festival oder Messen zu Ausstellungen eingeladen werden, dann stellen immer auch einige unserer Absolventen ihre Werke aus“. Wenn die Studenten ihre Werke verkaufen können, fließt ein Teil des Erlöses an die Schule – neben der Unterstützung durch SIDA ist das ihre Haupteinnahmequelle, sagt der Direktor. Gebühren müssen die Lernenden nicht zahlen, obwohl ein Essen am Tag und die Gesundheitsversorgung frei sind. Mit dem College kooperiert die Sculpture School, etwa indem Lehrer an beiden Institutionen unterrichten. Mit einem früheren Schüler der Sculpture School komme ich zufällig an einem der vielen Souvenirstände in Bagamoyo ins Gespräch. Ein kleiner Stand, zusammengezimmert aus ein paar Latten, mit einem löchrigen Strohdach. Im Angebot: Schnitzereien, Postkarten, Ketten und ähnliches Kunsthandwerk. Shabani, der sich den Stand mit ein paar Freunden teilt, hat erst wenige Monate zuvor seine Ausbildung an der Sculpture School abge75 Thorsten Bothe Tansania schlossen. Er schwärmt vor allem von einem polnischen Gastdozenten, bei dem er die realistische Schnitzerei gelernt hat. „Früher war ich Straßenjunge“, erzählt der 24-Jährige. „Aber jetzt ist alles besser, weil ich manchmal etwas an Touristen verkaufen kann, hier oder am Strand an Hotelgäste.“ An Ausstellungen der Schule hat er auch schon mitgewirkt, und auch dafür ist er dankbar: „Alleine habe ich keine Chance, ausstellen zu können.“ 21. „Modellort Bagamoyo“ – Visionen einer Hotelbesitzerin Eine historische Vergangenheit, eine Gegenwart als Kulturzentrum, Strand – Bagamoyo ist ein Ort, der für Touristen immer interessanter wird. Helen Pieper ist das nur recht. Die Südafrikanerin hat Anfang der 90er Jahre mit ihrem deutschen Mann Frank eine der ersten Hotelanlagen im Ort eröffnet. Seitdem sind vier, fünf hinzugekommen. Natürlich begrüßt Helen auch das Sklavenrouten-Projekt – nicht ohne die ihrer Ansicht nach viel zu passive Stadtverwaltung zu kritisieren: „Die tun wenig und das ganz langsam. Außerdem wollen sie Profit machen, übersehen dabei aber die Bedeutung des Kulturgutes.“ Das führe naturgemäß zu Differenzen mit potenziellen Gebern, die sich für den Erhalt eben dieses Erbes engagieren wollen. Zudem müssten die Geschäftsleute verschiedene Abgaben an die Stadt zahlen, die in die Infrastruktur des Ortes investiert werden sollen – was dann aber nicht immer der Fall sei. Die Polizei wiederum sehe sich nicht in der Lage, für die nötige Sicherheit der Gäste im Ort zu sorgen – nach eigenen Angaben fehlt es ihr an Personal. Doch auch Helen lässt diese ambivalente Haltung aus Resignation und Optimismus erkennen. Denn sie sagt ebenfalls ganz deutlich: „Seit wir hier sind, hat sich schon eine Menge getan.“ Die Stromversorgung klappt viel besser, es gibt Internetanschluss, die Teerstraße nach Dar es Salaam ist eine große Erleichterung, da sie früher zum Einkaufen stundenlang auf holperigen Pisten in die Stadt fahren musste. Und bei der einzigen Bank im Ort konnten Gäste noch vor drei, vier Jahren nicht einmal Reiseschecks in Bargeld tauschen – was jetzt möglich ist. Ganz allgemein registriert sie eine positive Aufbruchstimmung im Land: „Es weht ein frischer Wind. Es kommen immer mehr dynamische, professionelle Leute in die Führungspositionen, die engagiert sind und mit viel Enthusiasmus wirklich etwas für das Land erreichen und dessen Ruf verbessern wollen.“ Und so träumt sie davon, dass Bagamoyo einmal zu einem „Modellort“ wird, der sich mit einer ganzen Palette an Attraktionen einen festen Platz auf der internationalen touristischen Landkarte erobert. Mit einer renovierten Stone Town: „Man soll sich vorstellen können, wie es hier zur Zeit 76 Tansania Thorsten Bothe der Sklaverei aussah, man soll verstehen können, wie es damals war, die Geschichte begreifen und auf eine gewisse Art nachempfinden“, beschreibt Helen plastisch ihre Idee. So bliebe das „Flair der Vergangenheit“ des Ortes erhalten. Die Vergangenheit wird ihren Vorstellungen zufolge zugleich mit der Gegenwart verknüpft. Zum Beispiel durch ein Meeresschutzgebiet am vorgelagerten, allerdings schon teilweise zerstörten Riff, das Möglichkeiten zum Schnorcheln und Tauchen bietet. Und durch einen Kulturtourismus mit dem College of Arts als tragende Säule, das zum Beispiel abendliche Theateraufführungen und Konzerte anbietet, aber auch sein bereits bestehendes Angebot an Workshops und Kursen für zahlende Gäste aus dem Ausland ausweitet und besser vermarktet. „Das ist meine Vision“, sagt Helen, und zwar so, dass deutlich wird: Sie meint es ernst. Visionen sollen ja auch manchmal wahr werden. 22. Ja, es war richtig – Rückblick am Ende der Reise 14. Dezember, Flughafen Dar es Salaam. In einer Stunde geht das Flugzeug Richtung Heimat. Ob das alles so richtig war – drei Monate Tansania? Ja, es war richtig. Es war nicht immer alles „schön“ im wörtlichen Sinne. Es nervte mitunter, fast nie unbeobachtet zu sein und ständig angesprochen zu werden. Und wenn ich in Gesprächen oder durch eigene Anschauung mit großer Armut konfrontiert wurde, habe ich mich oft schwer damit getan, die Eindrücke zu verarbeiten und mit der Situation umzugehen. Diese „Bauchschmerzen“ wurden noch verstärkt durch das Bewusstsein, dass ich selbst allein schon durch die Tatsache, eine Reise von Deutschland nach Ostafrika finanzieren zu können, relativen Reichtum zur Schau stellte. Es war eine Erfahrung für sich zu erleben, dass die Vorbereitung von Gesprächsterminen nicht oder nur schwer möglich ist, wenn es selbst in Behörden kaum Telefone gibt. Doch wage ich zu bezweifeln, dass sich deutsche Behördenvertreter auch so spontan die eine oder andere Stunde Zeit für mich genommen hätten, wie dies bei Besuchen diverser Institutionen in Tansania der Fall war. Andererseits war es, trotz mehrerer Versuche, nicht möglich, einen Termin mit einem kompetenten Mitarbeiter des UNESCOBüros in Dar zu bekommen. Schade, aber das gibt’s natürlich auch in Deutschland. Genau diese Vielfalt, diese Gegensätze aber haben die Reise ausgemacht – sie war, von Anfang bis Ende, spannend, erlebnisreich und intensiv. Ich habe viele Gespräche geführt, die mich nachdenklich machten und die mich bedrückten, die mir aber unglaublich viel über die Probleme in einem Entwicklungsland vermittelten. Und ich habe mindestens ebenso viele 77 Thorsten Bothe Tansania Gespräche geführt – und nicht selten waren es dieselben wie die vorgenannten –, die ob des Optimismus meiner Gegenüber ermutigend waren. Viele Diskussionen haben Spaß gemacht und stellten einen echten Austausch von Ansichten und Ideen dar. In solchen Momenten hatte ich das Gefühl, dass so etwas wie Freundschaft schon in einem kurzen Dialog seine Wurzeln haben kann. Und deshalb: Kwaheri, Tanzania - auf Wiedersehen, Tansania. 23. Danksagung Ohne die Heinz-Kühn-Stiftung wäre ich vermutlich nie auf die Idee gekommen, für drei Monate in ein Land wie Tansania zu reisen – und schon gar nicht auf diese Weise. Deshalb gilt mein Dank der Stiftung, die mir diese großartige Erfahrung ermöglicht hat. Frau Kilian von der HKS danke ich für die Unterstützung bei der Vorbereitung der Reise und die vielen Kontaktadressen. Zahlreiche Ansprechpartner hat mir auch Rudolf Blauth vom Freundeskreis Bagamoyo genannt, der mir zudem durch seinen Hinweis auf das Sklavenrouten-Projekt überhaupt erst den Weg in „mein“ Thema gewiesen hat. Dafür danke ich ihm - ebenso wie für die wertvollen praktischen Reisetipps, die er, wie auch sein Freundeskreis-Vorstandskollege Peter Harke, mir gegeben haben. Doch was wäre ein solches Unternehmen ohne die Gesprächspartner vor Ort!? Ich danke daher allen in Tansania, die sich für ein Gespräch Zeit genommen haben. Mindestens ebenso hilfreich waren diejenigen, die mich in das Land „hineingeleitet“ und mir viel von der Lebenswirklichkeit vermittelt haben – was besonders für die Kollegen vom „Guardian“ gilt, von denen ich stellvertretend Ludger Kasumuni und Pastory Nguvu nennen möchte. 78 Birte Detjen aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Burjatien 15. Juni bis 15. September 2003 79 Burjatien Birte Detjen Burjatien – Streifzug durch eine russische Republik Von Birte Detjen Burjatien vom 15.06. – 15.09.2003 81 Burjatien Birte Detjen Inhalt 1. Zur Person 86 2. Ankunft 86 3. Warum Burjatien? 87 4. Stadtleben: Ulan-Ude 88 5. Die Mentalität 90 6. Burjaten 90 7. Ewenken 7.1 Der Rentierzüchter 7.2 Alptraum, schön verpackt 7.3 In der Taiga 92 93 94 95 8. Schamanismus 8.1 Die Macht der heiligen Orte 8.2 Schamanen 8.3 Exkurs: Schamanismus auf Olchon 97 98 99 99 9. Buddhismus 9.1 Eine kurze Einführung 9.2 Der Tempel von Ivolginsk 9.3 Buddhistische Zeremonien 100 100 101 103 10. Die Altgläubigen 10.1 Tourismus pur 10.2 Der ganz normale Alltag 103 104 105 11. Nichtregierungsorganisationen 11.1 Firn 106 106 12. Rendezvous mit dem Baikalsee 107 13. Das Workcamp von Daimler Chrysler 109 83 Burjatien Birte Detjen 14. Jahresurlaub für den Umweltschutz 14.1 Gran 14.2 Junge Ökojournalisten 109 110 111 15. Wasser für das Leben 112 16. Resumée 113 17. Danke 114 85 Birte Detjen Burjatien 1. Zur Person Birte Asja Detjen, geboren 1969 in Osnabrück. Studium der DiplomSozialwissenschaften, 1995/96 Aufenthalt in Südamerika, hier unter anderem Autorin für das ecuadorianische Fernsehen. Anschließend Presse- und Öffentlichkeitsreferentin bei der Fairhandelsorganisation El Puente in Hildesheim und berufsbegleitendes Studium für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit an der Medienakademie Leipzig. 1999/2000 Projektmanagerin bei der Expo 2000 GmbH im Bereich Weltweite Projekte International. Seit 2001 freiberufliche Print-, Hörfunk- und Fernsehjournalistin in Köln, Anfang 2003 Abschluss eines Fernlehrgangs Fotografie. 2. Ankunft Irkutsk, Juni 2003. Da sitze ich nun, in der transsibirischen Eisenbahn. Nach zwei Flug(hafen)tagen trennt mich nur noch ein Katzensprung von meinem Ziel: der Russischen Republik Burjatien. In der Nacht werde ich von Irkutsk aus den Baikalsee entlang bis in Burjatiens Hauptstadt UlanUde fahren. Was wird mich dort erwarten? Ich verstaue mein Gepäck unter der Bank und mustere meine Abteilgenossen: zwei Männer, eine Frau, offensichtlich eine burjatische Familie. Sie haben asiatische Gesichtszüge, sind klein, untersetzt. Sie wirken zurückhaltend. Der jüngere der beiden Männer stellt eine 2-Liter-Flasche mit Bier auf den Tisch und beginnt, mit seinem Vater zu trinken. Als sie merken, dass ich mit der Schaffnerin Russisch rede, sprechen sie mich an. Wir unterhalten uns radebrechend – über Schröder und Putin, den Irakkrieg und Hitler. Im Laufe der ersten zwei Stunden leeren die Männer die Bierflasche. Die Frau schaut ihnen zu, spricht nicht viel. Als wir müde sind, bereitet sie den Männern das Nachtlager. Wir wissen: Die Fahrt entlang des Baikalsees werden wir verschlafen. Erst als uns die Schaffnerin am nächsten Morgen weckt, ergattere ich einen Blick aus dem Fenster. Was ich sehe, ist wunderschön: ein Fluss, der sich durch die Landschaft schlängelt, kleine Holzhäuser im Nebel, im Hintergrund Berge, die Morgendämmerung - geheimnisvoll. Pünktlich um 6.01 kommen wir in Ulan-Ude an. Ich verabschiede mich von meinen Reisegefährten und halte Ausschau nach Larissa, meiner Gastgeberin. Sie arbeitet bei der burjatischen Umweltorganisation Firn. Ihre Arbeit werde ich in den nächsten Wochen begleiten. 86 Burjatien Birte Detjen Larissa ist mit ihrer Kollegin Irina gekommen. Mit dem Auto fahren wir durchs morgendliche Ulan-Ude. Die Stadt schläft noch, es ist Wochenende. Die breiten Straßen sind matschig, es hat geregnet und gestürmt. Das Zentrum der Hauptstadt wirkt gemütlich. Hier stehen viele alte Holzhäuser, die blau bemalten Fensterrahmen sind mit Schnitzereien verziert, Pappeln säumen die Straßen. Wir fahren über den Fluss Uda in einen Wohndistrikt. Vorbei mit der Idylle. Es sind die üblichen russischen Häuserblocks, die hier den Ton angeben: in Karrees angelegte, mehrstöckige graue Gebäude – schäbig, trist. In ihrer Mitte Sand, ein paar alte Klettergerüste, Sitzbänke. Vermächtnisse des Sozialismus. Wir biegen in Larissas Karree ein. Nun ist es gleich soweit: Nach fast drei Tagen Anreise naht die heiße Dusche. Meine Gastgeberin dreht sich zu mir um. „Übrigens haben wir momentan kein heißes Wasser, die Stadt hat wohl Zahlungsprobleme“, sagt sie, und: „Gestern Abend haben sie uns das Licht abgedreht. Da konnte ich nicht mehr richtig aufräumen“. Bevor ich mich davon überzeugen kann, dass mein neues Domizil gar nicht so übel zugerichtet ist, nimmt Larissa ihren täglichen Kampf mit dem klemmenden Wohnungsschloss auf. Nach wenigen Minuten öffnet sie die Tür. Ich bin angekommen. 3. Warum Burjatien? „Burjatien? Noch nie gehört.“ So reagierte fast jeder, dem ich von meinen Plänen erzählte, drei Monate in Ostsibirien zu verbringen. Doch: Es gibt jede Menge Gründe, diese „kleine“ russische Republik einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Burjatiens westliche Landesgrenzen liegen am Baikal – dem ältesten, tiefsten und wasserreichsten See der Welt. Von vielen Einheimischen wird die „Perle Sibiriens“ als heiliges Meer verehrt. Andere betrachten den See samt seiner artenreichen Tier- und Pflanzenwelt schlicht und ergreifend als Einnahmequelle. Und die UNESCO erklärte ihn 1996 zum Weltnaturerbe. Eine Million Menschen lebt in Burjatien, auf einer Fläche, die so groß ist wie Deutschland. 70 Prozent von ihnen sind Russen, etwa 24 Prozent Burjaten. Auch kleine Volksgruppen wie Ewenken und Tuwiner sind hier zuhause – genau wie Ukrainer, Mongolen, Chinesen und Russlanddeutsche. Doch: Burjatien ist nicht nur ein Sammelsurium an Völkern. Es ist auch ein Schmelztiegel der Religionen. Noch immer sind viele Menschen vom Schamanismus geprägt, einem Glauben, der Bergen, Pflanzen und Flüssen eine Seele zuspricht. Mit den Russen kamen auch das Christentum – und die 87 Birte Detjen Burjatien Altgläubigen, von der orthodoxen Kirche nach Sibirien verbannt. Last but not least ist Burjatien Russlands buddhistisches Zentrum. Nach Dagestan und Tschetschenien ist Burjatien die ärmste der 21 russischen Republiken. Seit ihrer Gründung im Jahr 1923 gab es keinerlei Bestreben nach Unabhängigkeit. Zwar hat Burjatien autonome Entscheidungsbefugnisse, ein Parlament, eine Verfassung und eine eigene Gerichtsbarkeit. Den Gesetzen der Förderation muss sich die Republik allerdings unterordnen. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich die wirtschaftliche Situation in Burjatien zugespitzt. Das Leben vieler Menschen ist bitter und hart – besonders auf dem Land. Industriebetriebe und Sowchosen liegen brach, die Menschen sind auf sich allein gestellt. Mit Viehzucht, Fischfang und eigenem Gemüsegarten halten sie sich über Wasser. Sie bauen illegal Holz ab oder handeln heimlich mit wertvollen Pelzen. Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und ein langer, kalter Winter nehmen vielen die Lebensfreude, treiben sie in den Alkohol. Aber: Burjatien ist auch ein Land voller Hoffnung. Viele kleine Organisationen engagieren sich für eine lebenswerte Zukunft – für wirtschaftliche Entwicklung, burjatische Kultur, Umweltschutz und nachhaltigen Tourismus. Einige dieser Organisationen besser kennen zu lernen und ihre Arbeit zu begleiten: das war mein Ziel. Zunächst allerdings hatte ich alle Hände voll zu tun, mir die Vielfalt dieses Landes und seiner Menschen zu erschließen. 4. Stadtleben: Ulan-Ude Lautes Hupen, Musik, Menschenmassen, Verkehrschaos und Hitze – für den sensiblen Westeuropäer ist diese Melange immer wieder gewöhnungsbedürftig. Im Zentrum von Ulan-Ude macht einem noch dazu der omnipräsente Sommerschnee das Leben schwer. Die Pappelbäume treiben ihr Unwesen. Ihre Kätzchen lassen sich im Sommer auf Bussen, Verkaufsständen und Fenstersimsen nieder. Sie landen auf dem aufgewölbten Asphalt, in den verschlafenen Seitenstraßen und auf der schönen Hauptgeschäftsstraße, die wie in vielen russischen Städten noch immer Uliza Lenina heißt. Nicht mal vor Wladimir Iljitsch selbst machen sie Halt. Der Revolutionsheld ist UlanUdes ganzer Stolz. Besser gesagt: Sein Kopf. Denn der steht als fünf Meter hoher Granitblock auf dem Sowjetischen Platz – als größter Leninkopf der Welt. 88 Burjatien Birte Detjen Auf den ersten Blick irritiert die Hauptstadt mit ihren 400.000 Einwohnern. Ist Ulan-Ude asiatisch? Russisch? Europäisch? Ist es eine Großstadt? Eine Kleinstadt? Ein Dorf? Sie hat wohl von allem etwas. Asiatisch ist Ulan-Ude, weil die vielen Burjaten und so manch ein Chinese das Straßenbild prägen; weil das Leben auf den Straßen nur so tobt und die Menschen allüberall Produkte verkaufen: Lebensmittel, Kleidung, Bücher, CDs. Russisch ist die Stadt wegen der orthodoxen Kathedralen, der Pelze auf dem Markt, der sozialistisch verhangenen, Kauflust erstickenden Schaufenster. Und natürlich wegen der unüberschaubaren Flut an Kiosken. Es gibt Kassettenkioske, Kosmetikkioske, Schmuckkioske, Zeitungskioske, Eiskioske, Brotkioske, Kartenvorverkaufskioske, Schuhreparaturkioske, Loseverkaufskioske und Allzweckkioske. Diese wiederum finden sich auch in Europa – genau wie die Kaufmannshäuser aus dem 19. Jahrhundert, das Yves-Rocher-Geschäft an der Ecke und die Hot-Dog-Bude auf der Flaniermeile. Ulan-Ude ist Großstadt – schon allein deshalb, weil die Republik eine Metropole braucht. Hier gibt es die meisten Fabriken, mehrere Hochschulen, drei Fernsehstationen, vier Theater, eine Reihe Museen, die Philharmonie, ein respektables Straßenbahnnetz und den größten Flughafen des Landes. Hier befinden sich Ministerien, Parlament und Regierung. Hier sind die zentralen Vereinigungen von Minderheiten zuhause, hier gibt es zwei große Touristenhotels, großzügige Sportstadien, Schulen mit Internetanschluss und einen Kinokomplex mit Popcorn. Ulan-Ude ist Kleinstadt, weil das Zentrum trotz Verkehrschaos und Menschengewirr absolut übersichtlich ist. Weil es eine vertrauenerweckende Beschaulichkeit ausstrahlt. Weil, wer nur wenige Wochen hier ist, täglich Bekannte trifft. Und weil Jugendliche sich in aller Gemütlichkeit zum Rendezvous am Springbrunnen treffen können. Und Ulan-Ude ist Dorf. Weil hier Ruhe einkehrt, sobald man sich in eine der Seitenstraßen im Zentrum verirrt. Weil es hier immer noch Menschen gibt, die ihr Wasser aus dem Brunnen holen. Weil viele alte Frauen hier nicht nur landwirtschaftliche Produkte verkaufen, sondern ihnen auch eine dörfliche Aura anhaftet: Sie sind klein, gedrungen und gehen leicht gebeugt. Sie tragen Kopftücher und meist eine Strickjacke über dem geblümten Kleid – in Russland das typische Erscheinungsbild einer alten Frau vom Land. Und dann gibt es in Ulan-Ude noch so vieles, das sich nicht in ohnehin zweifelhafte Schemen pressen lässt. Zum Beispiel das dick aufgetragene Pathos, mit dem die Stadtväter auf riesigen Plakaten den 80. Jahrestag der Republik ankündigen. Die Schießstände, an denen Burjaten ihre Geschicklichkeit erproben. Die respektvollen Jugendlichen, die älteren Mitfahrern 89 Birte Detjen Burjatien in der Straßenbahn Platz machen. Und die Menschen, die trotz ihrer Armut nicht betteln. 5. Die Mentalität Wie sind die Menschen in Burjatien? In den Geschäften, auf den Straßen, in den Bussen wirken viele zunächst skeptisch, gleichgültig, verhalten, fast rüde. Doch unter dem Deckmäntelchen der Zurückhaltung verbergen sich meist große Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft. Oft erscheinen mir die Menschen melancholisch, in sich gekehrt, nachdenklich. Dann wieder gehe ich durch die Straßen und bin erstaunt über die heitere, unbeschwerte Stimmung. Ich versuche zu unterscheiden zwischen russischer und burjatischer Mentalität. Sind Russen schwerblütiger als Burjatien? Eine eindeutige Antwort finde ich nicht. Mentalitäten, Traditionen, Kulturen, Gesichter: all das hat sich in Burjatien im Laufe der Jahrhunderte vermischt. Anfangs fällt es mir schwer zu entscheiden, wer Burjate ist, wer Mongole und wer Chinese. Welche Wurzeln haben die hellhäutigen, hochgewachsenen, extrem schlanken Asiaten? Woher kommen die kleinen, gedrungenen, etwas dunkleren Menschen? Und können so unterschiedliche Typen überhaupt eine gemeinsame Herkunft haben? 6. Burjaten Ich treffe mich mit Elvira im Zentrum von Ulan-Ude nahe der Deutschen Fakultät, an der sie als Professorin arbeitet. Elvira ist Burjatin. Sie hat ein Faible für deutsche Literatur und erzählt liebend gern von den Expeditionen deutscher Forscher in Sibirien. Heute hat Elvira mich zu einer Fahrt ins Ethnografische Freilichtmuseum eingeladen. Hier stehen inmitten von Birken- und Kiefernwäldern die Wohnhäuser von Burjatiens ethnischen und religiösen Gruppen. Elvira erzählt, dass sie das Museum mitbegründet hat. Sie führt mich zu einem kleinen Gelände, auf dem zwei Holzhäuser und eine Jurte stehen. Es ist ihr Elternhaus. Sie hat es in der Nähe von Irkutsk abtragen und auf dem Museumsgelände wieder aufbauen lassen. Wir gehen ins Wohnhaus. Hier liegen Teppiche aus Rinderhaut, hier stehen Truhen aus Birkenrinde und hier hängt die Babywiege, in der Elvira vor über 60 Jahren in den Schlaf geschaukelt wurde. Ich erfahre, dass Elvira nicht aus der Republik Burjatien 90 Burjatien Birte Detjen stammt, sondern Westburjatin ist – Anlass genug, mir einen kleinen Einblick in die Geschichte ihres Volkes zu geben. Die Burjaten waren ursprünglich Nomaden und lebten von Viehzucht, Jagd und Fischfang. Sie siedelten in der Baikalregion, die lange Zeit zum Mongolischen Reich gehörte. Erst im 17. Jahrhundert ließen sich auch Russen auf dem wasserreichen Territorium nieder, das ihnen nach Grenzstreitigkeiten mit China im 18. Jahrhundert zugesprochen wurde. Die neuen Siedler arbeiteten im Bergbau, als Händler oder Bauern – und sie beeinflussten den Lebensstil der Burjaten. Besonders auf der Westseite des Baikals passten die Burjaten sich ihren russischen Mitbürgern an. Sie wurden sesshaft, vernachlässigten die Viehzucht und widmeten sich Ackerbau und Holzverarbeitung. Aus Filzjurten wurden Holzjurten, und so manch ein Westburjate trat zum Christentum über. Anders die Ostburjaten. Bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts behielten sie ihre traditionelle Lebensweise bei. Dann übernahm Stalin das Regime. Er verbot das Nomadentum und ließ die Menschen in landwirtschaftlichen Großbetrieben arbeiten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion schlossen viele Kolchosen. Seitdem sind die Menschen auf sich gestellt. Das ist hart, sagt Elvira. „Trotzdem: Die Zeiten waren nie so gut wie jetzt. Wir können frei reden – und das ist das Wichtigste“. Dann erzählt sie, dass die Burjaten sich heute wieder auf ihre Herkunft, ihre Kultur und ihre Traditionen besinnen. Zwar sei es richtig, dass der Lebensstil von Russen und Burjaten sich mittlerweile kaum noch voneinander unterscheide. Dennoch: „Es gibt wieder Gruppen, die burjatische Tänze tanzen. In unseren Schulen singen Kinder in burjatischen Kostümen burjatische Lieder, und viele junge Leute lernen unsere Sprache - wenn auch manchmal nicht ganz so gern“. Sie berichtet von burjatischen Zeitungen und Radioprogrammen und lässt mich wissen: „Unsere Traditionen und unsere Sprache sind eng mit dem Mongolischen verwandt“. Das ist mein Stichwort. „Woher kommen nun eigentlich die Burjaten?“, frage ich sie. „Darüber streiten sich die Wissenschaftler. Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage nach unseren ethnischen Wurzeln. Man weiß nicht genau, wie wir zum Baikalsee gelangt sind und von welchen Völkern wir abstammen. Einige Gelehrte meinen, dass wir mit den Mongolen verwandt sind – dafür sprechen Gemeinsamkeiten in Sprache, Sitten und Bräuchen. Andere behaupten, wir hätten unsere Wurzeln bei den Turkvölkern, die ähnliche Kopfbedeckungen trugen wie wir. Wahrscheinlich ist beides richtig. Sicher ist zumindest, dass verschiedene Stämme für unsere Herkunft verantwortlich sind“. 91 Birte Detjen Burjatien 7. Ewenken Und da ist noch etwas, dessen man sich gewiss sein kann. Es gibt mindestens zwei Volksgruppen in Burjatien, die felsenfest davon überzeugt sind, die Ureinwohner der Baikalregion zu sein: Burjaten und Ewenken – ein tungusisches Volk, das in Sibirien, China und der Mongolei siedelt. Die Ewenken lebten ursprünglich als Jäger und Rentierzüchter, im Norden des Baikalsees auch als Fischer. Im 18. Jahrhundert drangen die Russen in ihren Lebensraum ein – und zwangen die Ewenken, fortan einen Tribut zu zahlen, wenn sie sich in angestammten Jagdgebieten aufhalten wollten. Die Folge: Viele Ewenken verarmten und mussten sich als schlechtbezahlte Jäger ausbeuten lassen. Im 19. Jahrhundert eskalierte der Run auf Zobel und andere Pelzträger. Mehrere Tierarten waren in ihrem Bestand bedroht, und viele Ewenken wurden bitterarm. Sie schufteten in Goldminen, litten unter eingeschleppten Krankheiten und verfielen dem Alkohol. Russische Wissenschaftler befürchteten, die Ewenken könnten schon bald aussterben. Einen Ausweg aus dieser Situation schien der Sozialismus des frühen 20. Jahrhunderts zu versprechen. Mit Bildungs- und Integrationsprogrammen unterstützte er Ewenken und andere bedrohte Völker. Doch schon in den 30er Jahren wendete sich das Blatt: Stalin wollte die Industrialisierung Russlands forcieren. Er ließ ganze Völker kollektivieren und sesshaft machen. Viele Ewenken mussten ihre angestammten Gebiete verlassen, Kinder wurden in Internate gesteckt und entfernten sich von Lebensweise und Know-how ihrer Eltern. Die Identitätsfindung von Minderheiten hatte sich erübrigt. Das neue Leben hinterließ viele Ewenken orientierungslos. Mit der von oben aufgedrückten „Modernisierung“ kamen sie nicht zurecht – im Gegensatz zu vielen Russen, die sich schneller an die veränderte Situation anpassten. Fazit: Die Selbstachtung eines ganzen Volkes sank auf den Nullpunkt. Heute leben in Burjaten etwa 2.000 Ewenken. Sie siedeln vor allem im Norden des Baikalsees, in der schwer zugänglichen Region Baunt im Osten des Landes und im weiter westlich gelegenen Distrikt Kurumkan. Russische und burjatische Sprachen, Bräuche und Arbeitsweisen haben sie übernommen. Die soziale Situation der Ewenken bleibt auch nach dem Ende der Sowjetunion schwierig, die Arbeitslosigkeit ist – wie in ganz Burjatien – hoch. Dennoch: Seit einigen Jahren besinnen viele sich wieder ihrer Herkunft. In den Städten fördern sie ewenkische Musik, ewenkischen Tanz und ewenkischen Journalismus. Auf dem Land gehen sie jagen oder investieren in Rentiere – genau wie Juri Iwanowitsch Tschernoew aus dem Dorf Cholodnaja. 92 Burjatien Birte Detjen 7.1 Der Rentierzüchter Ich begegne Juri zum ersten Mal in Ulan-Ude. Er ist mit dem Flugzeug aus dem Norden der Republik gekommen, um am ewenkischen Fest Boldjor teilzunehmen. Alle zwei Jahre treffen sich Ewenken aus Burjatien, Jakutien, China und anderen Regionen. Sie diskutieren über ihr Volk, sitzen beisammen und feiern, machen Musik, genießen die ewenkische Küche. Und: Sie präsentieren ihre Kunst. In einer Ausstellung zeigen sie Wandbilder aus Robbenfell, Schuhe vom Rentier, Puppen aus Zobel. Pawel, ein ewenkischer Künstler, hat mir den Kontakt zu Juri vermittelt. Bei der Eröffnungsausstellung lerne ich den Rentierzüchter kennen. Er ist ein zurückhaltender, etwas bulliger Mann mit einem markanten, besorgt dreinblickenden Gesicht. Sicher könne ich ihn und seine Familie besuchen kommen, sagt er. Wenn ich allerdings die Rentiere sehen wolle, müsse ich Zeit mitbringen. Dazu müssten wir in die Taiga fahren. Und das werde einige Tage in Anspruch nehmen. Wenige Tage später sitze ich im Flugzeug nach Nischneangarsk, einer kleinen Stadt im äußersten Norden des Baikalsees, etwa 400 Kilometer von Ulan-Ude entfernt. Es ist Mitte September. Als das Flugzeug zur Landung ansetzt, bin ich überwältigt: strahlender Sonnenschein, tiefblauer Himmel, Unmengen von Birken in wunderschönsten Herbstfarben – und der Baikal, umgeben von schneebedeckten Bergmassiven. Das ist sie, die Perle Sibiriens, der Brunnen des Planeten, das Kleinod des Klaus Bednarz. Endlich. Fast den ganzen Sommer über hatte sich der Gigant von seiner schlechtesten Seite gezeigt: grau, verhangen, verregnet, die Sicht aufs gegenüberliegende Ufer durch Nebel und Rauch verdeckt. Wie verabredet holt mich Galina ab. Sie ist Vorsitzende des ewenkischen Komitees in der Region. Die große, burschikose Frau hatte zugesagt, mich bei der Organisation meines Aufenthalts im Norden der Republik zu unterstützen. Sie weiß: Mein vordringlichstes Anliegen ist es, zu Juri und seiner Familie zu kommen. Wir fahren zu Galinas Büro in der Stadtverwaltung. Hier warte ich fünf Stunden, bis ich erfahre, dass man mich leider erst am nächsten Morgen ins 15 Kilometer entfernte Cholodnaja bringen kann. Pünktlich um neun holt mich Galinas Schwiegersohn am nächsten Tag ab. Wir fahren am Baikal entlang durch dichten Herbstwald. Die Straßen sind kurvig, mein Fahrer plaudert lustig daher und steuert sein Auto so halsbrecherisch, dass ich die schöne Stimmung kaum zu genießen wage. Mit heilen Knochen landen wir 20 Minuten später vor Juris Haustür. Der Tag ist freundlich, die Sonne strahlt, das Dorf schmiegt sich gemütlich an einen Berghang, bunte Birken verwöhnen den Blick, aus den Holzhäuschen 93 Birte Detjen Burjatien steigt Rauch auf, die Straßen sind ruhig, nur ein paar Menschen, hier und da ein Hund – Idylle pur. 7.2 Alptraum, schön verpackt Wenige Menschen haben ab und an das Glück, diese Atmosphäre zu genießen. Cholodnaja hat nur ein paar Hundert Einwohner. Hier lebt ein Potpourri aus Ewenken, Russen und Burjaten. Eigentlich sollte ich gleich nach meiner Ankunft zu den Rentieren in die Taiga fahren – mit dem deutschstämmigen Michel und seinem geländegängigen Militärfahrzeug. Aber weder Michel noch seine Wunderkarre sind zu sehen – und niemand weiß, ob sie überhaupt auftauchen. Doch: Ich habe Glück. Nach schlappen anderthalb Tagen sind die beiden sowohl eingetrudelt als auch startklar. In der Zwischenzeit bin ich zu einer längst geahnten Erkenntnis gelangt: Die Idylle von Cholodnaja ist ein Privileg des ersten Blicks. Tatjana, eine Bewohnerin des Dorfes, hat mich unter ihre Fittiche genommen. Gemeinsam machen wir einen Streifzug durch ihre Heimat. Wir besuchen die Schule und eine ewenkische Babuschka (jede ältere Frau in jedem russisch-burjatischen Dorf wird von jedem Bewohner Babuschka, Großmutter, genannt). Nach einem starken Tee ziehen wir weiter. Wir nähern uns dem Nachbarhaus. Weil die Grundstücke in den Dörfern von hohen Bretterzäunen umgeben sind, weiß man nie, was einen dahinter erwartet. In diesem Fall staune ich nicht schlecht: Auf einem Holzboden im Innenhof liegen unzählige tote Wasserratten mit abgezogenem Fell. Auf der Treppe zum Haus sitzt ein junger Mann mit einem Holzbrett zwischen den Beinen. Eines der Tiere hat er auf das Brett gespannt. Er kratzt ihm das letzte Stückchen Fleisch vom Leibe. Ich frage ihn, was er denn mit der Haut vorhabe. „Mützen machen“, sagt er wortkarg. Ein Foto gestattet er nicht. Offensichtlich arbeitet er illegal – wie so viele Menschen in den vergessenen Dörfern Burjatiens. Wir ziehen weiter, sammeln Tatjanas angetrunkenen Gatten ein und gehen zum Fluss in dem kleinen Wäldchen am Dorfrand. Hier sitzen ein paar Männer am Lagerfeuer. Sie haben Wodka besorgt und Fisch aufgespießt – Okun, eine Spezialität der Region. Es ist gegen Mittag. In den nun folgenden Stunden sitzen wir am Feuer und unterhalten uns. Wir essen Fisch und mitgebrachte Kartoffeln, meine Gastgeber rauchen ununterbrochen Zigaretten, trinken Bier und Wodka. Zwischendurch bitten sie mich, zum Laden zu gehen und Nachschub zu holen. 94 Burjatien Birte Detjen Wir haben es uns inmitten einer sibirischen Traumlandschaft gemütlich gemacht – ich und lauter fremde Erwachsene, die Zeit haben, den ganzen Tag am Lagerfeuer zu verbringen. Zu singen. Zu lachen. Zu reden. Mitten in der Woche. An einem Dienstag – beneidenswert. Doch: Je mehr Zeit vergeht, desto weniger vergnüglich ist unser Zusammensein. Der Alkoholpegel meiner Gefährten steigt so stark, dass sie Stunden später nur noch nach Hause taumeln können. Tatjanas Bruder bleibt auf der Strecke, er sinkt am Wegesrand zusammen. Die anderen interessiert das nicht. Im Laufe des nächsten Tages bemerke ich, dass sich fast die Hälfte der Bewohner Cholodnajas wankend fortbewegt. Dass viele Menschen aufgeschlagene, blutunterlaufene, geschwollene Gesichter haben. Aus der Ferne beobachte ich ein Handgemenge zwischen mehreren Männern. Ich begegne einem Ehepaar, das sich auf offener Straße hemmungslos streitet. Ich treffe eine Frau, die so betrunken ist, dass sie nicht einmal merkt, wie ihr das Blut von den Wangen läuft. Ich lerne Kinder kennen, die ihren Eltern weggelaufen sind, weil sie deren Alkoholsucht nicht mehr ertragen können. 7.3 In der Taiga Zum Beispiel Tatjanas Sohn, der 13-jährige Valerij. Er und seine beiden älteren Brüder leben und arbeiten seit einigen Jahren bei Juri und seiner Familie. „Die Tschernoews sind die einzigen, die wirklich was auf die Beine stellen. Sonst gibt es hier doch keine Arbeit. Das Einzige, was man tun kann, ist Gemüse anbauen, Fische fangen oder in den Wald gehen und jagen“, sagen die Dorfbewohner. Und tatsächlich: Den Tschernoews geht es besser als den meisten Menschen in Cholodnaja. Mit ihren Rentieren haben sie sich einen bescheidenen Wohlstand geschaffen. Sie können es sich leisten, Leute zu beschäftigen - in der Taiga und auf dem großen Kartoffelacker im Dorf. Bis vor wenigen Jahren war Juri selbst schwerer Alkoholiker. Aus eigener Kraft hat der Mittfünfziger es geschafft, dem Wodka zu entsagen. Der Handel mit den Rentieren gibt ihm Kraft und neuen Lebensmut. Fell, Fleisch, Milch, Geweih - für Geschäftsmann Juri ist das Rentier ein wirtschaftliches Allroundtalent. Auch aus der Schönheit der Landschaft schlägt er Kapital. Für umgerechnet 300 Euro bringt Juri Touristen in die Taiga. Hier leben sie in Holzhütten und genießen die Natur. Auch für mich ist nun endlich die Zeit gekommen, die Taiga kennen zu lernen. Mit Michel und Juris zweitältestem Sohn Pawel mache ich mich auf den Weg. Es wird die abenteuerlichste Fahrt meines Lebens. Unsere 95 Birte Detjen Burjatien schwere Militärmaschine kämpft sich durch Flüsse, überfährt Sträucher und riesige Steine und manövriert uns durch eng bewachsene Waldwege. Nachts um zwei haben wir acht Stunden Fahrt hinter uns – und ganze 110 Kilometer geschafft. Wir halten auf einem freien Feld. Hier grasen Rentiere bei einer winzigen Wellblechhütte. Zwei Pritschen und ein kleiner Ofen haben darin Platz. Pawels Bruder und ein junger Mann aus Cholodnaja liegen auf ihrem Nachtlager. Sie haben es sich beim Schein einer Petroleumlampe gemütlich gemacht. Nach kurzer Begrüßung fahren wir weiter und halten an einer nahe gelegenen Anhöhe. Hier stehen zwei weitere Hütten. Die beiden Männer, die hier leben, freuen sich über den späten Besuch. Auch sie wachen über die knapp 500 Rentiere, die auf dem großen Terrain von Juris Familie verstreut sind – damit Wilderer keine Chance haben, die Tiere zu jagen. Die Männer sind hier oben völlig unabhängig, Lichtjahre entfernt von jeglicher Zivilisation. Der einzige Kontakt zur Außenwelt: Die geländegängigen Fahrzeuge der Familie, die ab und zu Verpflegung oder Menschen vorbeibringen. Auch Pawel wird den Winter hier verbringen. Er ist froh darüber. „In der Taiga bin ich frei. Ich kann machen, was ich will, bin eins mit der Natur“. Das Leben in Cholodnaja gefällt ihm nicht. „Zuviel Alkohol, zu viele Schlägereien“. Die Hütte, in der Pawel den Winter verbringen wird, ist von Taigawäldern umgeben, von Schnee und Bergen, kleinen Bachläufen, klarem Wasser und Rentieren. Es ist eine Welt mit besonderem Zauber. Das finden auch Pawels Eltern und Geschwister. Und deshalb freuen sie sich auf den Juni. Dann wird die ganze Familie die winterliche Unterkunft in Cholodnaja verlassen und in der Taiga ihr Sommerlager aufschlagen. Gemeinsam werden sie hier leben – bis es Ende August zu kalt wird und die Ernte im Dorf auf sie wartet. Juri hat fünf Kinder. Zu Beginn des Jahres ist sein ältester Sohn bei einem Asthmaanfall in der Taiga ums Leben gekommen. Er war ledig – genau wie seine Geschwister, die zwischen 23 und 30 sind. Für Burjatien ist das ungewöhnlich. Wer hier mit Mitte 20 nicht unter der Haube ist, wird schräg angesehen – besonders auf dem Land. Doch wo jemanden finden? „Die Taiga ist einsam, Cholodnaja betrunken, und in die Stadt komme ich nicht“, meint Pawel lakonisch. Nach einer kurzen Nacht auf Rentierfellen und einem deftigen Frühstück fahren wir am nächsten Vormittag zu den Tieren an der Wellblechhütte. Sie sind zahm und ziemlich faul. Nur die Herren der Schöpfung sind brünstig und laufen ab und zu erregt schnaufend hinter einem Weibchen her. Auch sie werden früher oder später irgendwo in Russland verspeist, und ihr Fell wird einen fröstelnden Menschen wärmen. Wir verweilen ein paar Stündchen bei 96 Burjatien Birte Detjen Pawels Bruder und den Tieren. Dann verlassen Michel und ich diese heile, aber harte Welt. Acht Stunden Fahrt durch die wilde Taiga liegen vor uns – und ein Dorf, in dem die Hoffnung ein seltener Gast ist. 8. Schamanismus Vielleicht ist Cholodnaja ein Extremfall. Es heißt, Ewenken würden den Alkohol aus biologischen Gründen besonders schlecht vertragen. Doch: Wodka- und Bierkonsum sind auch aus dem Leben vieler Russen und Burjaten nicht wegzudenken. „Eigentlich haben wir goldene Hände. Wir sind sehr begabte Künstler, Handwerker, Musiker. Aber der Alkohol zerstört die Menschen“, erzählt mir eine junge Russin, die mir ab und zu beim Übersetzen hilft. Auch aus religiösen Zeremonien ist der Alkohol in Burjatien nicht wegzudenken. Zum Beispiel, wenn die Menschen ihren Göttern Opfer bringen. Dann gießen sie Wodka ins Feuer oder sprenkeln ein paar Tropfen in die Luft. Solche Rituale haben ihren Ursprung im Schamanismus. Bis heute hängen viele Burjaten diesem Glauben an. Für sie hat jeder Berg, jeder Stein, jeder Fluss eine Seele. Den Baikalsee verehren sie besonders. Hier gibt es unendlich viele „Heilige Orte“ – genau wie im Rest der Republik. Meist liegen sie in der Nähe eines Berges. Denn: Eine Erhebung gilt als besonders sakral. Hier ist man den Göttern am nächsten. Oft steht an Heiligen Orten ein sogenannter Obo – eine Gottheit, symbolisiert durch einen Pfahl oder eine Gestalt aus Holz. Früher banden die Menschen zum Zeichen ihrer Ehrerbietung Stofffetzen um die Obos. Sie schrieben Gebete und Wünsche auf den Stoff, der möglichst von einem Kleidungsstück stammen sollte, das sie am Körper trugen. Heute hat sich das Ritual verändert. Wenn die Gläubigen Stoff um den Holzgott knoten, sprechen sie ihre Wünsche in Gedanken. Gibt es keinen Obo, nehmen sie eine Pflanze – weshalb an heiligen Stellen oft bunte Bäume oder Sträucher stehen. Wer keinen Stoff hat, hinterlässt einen Rubel, ein Streichholz, eine Zigarette oder eine Visitenkarte. Möchte jemand den Göttern besondere Aufmerksamkeit schenken, genehmigt er sich am heiligen Ort ein Picknick, Wodka inklusive. Bonbonpapiere, leere Flaschen und anderen Abfall lässt er liegen – den Geistern darf nichts entrissen werden. So stapeln sich an vielen heiligen Stellen Müllhaufen, die vor allem aus zerbrochenen Glasflaschen bestehen. Wer keine Zeit zum Wodkatrinken hat (der Hochprozentige hat übrigens im Laufe der Jahrhunderte die Milch verdrängt – ein wichtiges Getränk 97 Birte Detjen Burjatien der Burjaten, das u.a. die Reinheit der Gedanken symbolisiert), sollte im Vorbeifahren wenigstens ein paar Kopeken aus dem Fenster werfen. So stimmt er die Geister gnädig – und sorgt dafür, dass er selbst beschützt ist. 8.1 Die Macht der heiligen Orte Ich bin mit der Organisation Firn und einer deutschen Reisegruppe im Zabaikalsk- Nationalpark unterwegs. Einer der Betreuer ist Juri Mangutow, ein Burjate Ende 20. Juri arbeitet in einer Textilfirma in Ulan-Ude. Hier ist er auch geboren. Seine Eltern kommen aus Ranschurovo. Der kleine Ort in der Nähe des Baikalsees ist schamanistisch geprägt. Deshalb ist auch Juri Anhänger des Schamanismus. Denn: Kinder übernehmen ihren Glauben automatisch von den Eltern. Für Juri ist das keine Formalität. „Für die Reise in den Park habe ich extra Geld gewechselt. Ich brauche genügend Kopeken. Schließlich möchte ich nicht, dass mir ein Unglück zustößt“, erzählt er. Schon zweimal habe er einen Unfall gehabt, weil er heilige Stellen übersehen habe. „Vor einigen Jahren bin ich mit ein paar Freunden über eine Brücke gefahren, in deren Nähe ein heiliger Platz war. Kurze Zeit später gab unser Auto den Geist auf. Wir versuchten, es zu reparieren – erfolglos. Plötzlich kam ein Mann und erzählte uns, dass in der Nähe eine heilige Stelle ist. Wir gingen sofort dorthin, ehrten die Götter und hinterließen einige Rubel. Als wir zurück zum Auto kamen, sprang es nach kurzer Zeit wieder an“. Gemeinsam mit Juri betreut meine Gastgeberin Larissa die deutsche Gruppe. Larissa ist Buddhistin und kommt aus Nowosibirsk, wo der Schamanismus keinerlei Bedeutung hat. Dennoch glaubt auch sie, dass die Baikalregion von einer ganz besonderen Magie beseelt ist. „Als meine Eltern in Burjatien zu Besuch waren, haben sie an einer heiligen Stelle einen Zweig abgeschnitten und mit zu uns nach Hause gebracht. Am gleichen Tag wurde meine Tochter Isabella krank. Ich rügte meine Mutter und sagte ihr, das könne Unglück bringen. Als Isabella nicht gesund wurde, entfernte meine Mutter den heiligen Zweig aus der Wohnung. Schon am gleichen Nachmittag ging es meiner Tochter wieder besser“, erzählt die 30-jährige. Wenn man wolle, könne man daran glauben, dass Isabellas Krankheit eine Rache der Geister war. „Auf jeden Fall können wir mit dem Schamanismus vieles erklären, was rational nicht zu verstehen ist“. Dieser Ansicht sind viele Menschen in Burjatien, seien sie Russen, Ewenken oder Burjaten, Buddhisten oder Schamanisten. 98 Burjatien Birte Detjen 8.2 Schamanen Wenn schwierige Entscheidungen anstehen, geht Larissas Mann Sorik schon mal zu einem Schamanen. Dabei ist er weit entfernt von bedingungsloser Verehrung. „Schamanen sind oft schwierige Leute, sie sind entweder total verstockt oder ziemlich kommerziell. Aber sie können dich beraten und dir wichtige Impulse für dein Leben geben“, erklärt er mir. Viele Burjaten haben dieses Bedürfnis nach einer höheren, vermittelnden Instanz. Seit dem Ende der Sowjetunion bekennen sie sich auch öffentlich wieder dazu – genau wie die Schamanen selbst. Als Vermittler zwischen Menschen und Geistern haben sie die Macht, ihren Schützlingen die Zukunft vorauszusagen und sie von Krankheiten zu heilen. Sie beten um ihr Glück und befreien sie von bösen Geistern. Sie segnen sie, wenn sie geboren werden oder heiraten – und wenn sie wollen, bringen sie Unheil und Krankheit über die Menschen. Ein Schamane „vererbt“ seine Fähigkeiten meist einem Familienmitglied. Der Auserkorene muss sein Schicksal akzeptieren, will er nicht krank werden oder den Tod erleiden. Ein kleiner Trost bleibt auch dem Widerwilligen: Schamanen genießen hohes Ansehen – vor allem auf dem Land. 8.3 Exkurs: Schamanismus auf Olchon Eine besondere Rolle spielt der Schamanismus auf der Baikalinsel Olchon, die – entgegen anders lautender Berichte in der deutschen Presse - nicht zur Republik Burjatien, sondern zum Irkutsker Gebiet gehört. Die Insel hat etwa 1.500 Einwohner, fast die Hälfte sind Burjaten. Während der Sowjetunion war Olchon Zufluchtsort für Schamanen. Heute treffen sich hier völlig unbehelligt heilige Männer aus aller Welt. Sie tauschen sich aus, zelebrieren Rituale und heilen sich gegenseitig. Normalsterbliche pilgern auf die Insel, um an heiligen Plätzen Tuchfühlung mit der Götterwelt aufzunehmen. Und Touristen lassen sich bei einer Stippvisite schamanistische Rituale vorführen – zum Beispiel die Reisegruppe aus Dänemark, die nur ein paar Stunden auf der Insel verweilt. Zu ihrer Unterhaltung ist Valentin Schagdaew nach Olchon gekommen. Er ist einer der bekanntesten Schamanen der Region. Vor dem Hintergrund des heiligen Schamanenfelsen, der malerisch aus dem Baikal ragt, erzählt er den Touristen von Ritualen und Bräuchen. Er singt ein paar Lieder, lädt seine Gäste zum Gruppentanz ein, lässt sich mit ihnen ablichten, begleitet sie zum Mittagessen und erklärt ihnen, dass man vor dem Wodkatrinken zu Ehren der Götter ein paar Tropfen des köstlichen Wässerchens in die Luft sprenkelt. Anschließend verabschiedet er sich, quält sich aus seiner 99 Birte Detjen Burjatien strahlend blauen Tracht und schleicht sich ungesehen vom Gelände. Die Touristen sollen nicht merken, dass er ein „ganz normaler Mann“ ist. 9. Buddhismus Während meiner ersten Wochen in Burjatien verwirren mich viele der Beobachtungen, die ich in punkto Religion mache. Eine klare Trennung zwischen Buddhismus und Schamanismus scheint es nicht zu geben. Vor buddhistischen Monumenten hängen Zweige voller Stofffetzen, Christen opfern an heiligen Stellen, Schamanisten lassen sich von buddhistischen Lamas beraten. Ich spreche mit Buddhismusexperten, Künstlern und Wissenschaftlern über diese Frage. Die plausibelste Erklärung kommt von Larissas Mann Sorik, einem Vollblutmusiker: „Burjatien ist schamanistische Erde, hier sind die Geister zuhause, sie leben in Seen und Bergen. Den Buddhismus gibt es hier erst seit wenigen Jahrhunderten. Da ist es ganz klar, dass er sich anpassen musste“. 9.1 Eine kurze Einführung Hilfreich für die friedliche Koexistenz beider Religionen ist sicher, dass sie in wichtigen Punkten miteinander vereinbar sind. Bestes Beispiel: die Achtung der Natur, die bei beiden sehr ausgeprägt ist. Der Buddhismus (auch Lamaismus genannt) kommt im 17. Jahrhundert von Tibet über die Mongolei nach Burjatien und findet schnell Anhänger. Viele Menschen beschäftigen sich mit den heiligen Büchern Tibets – und verehren gleichzeitig ihre alten Götter. Als Religion der Toleranz übernimmt der Buddhismus schamanistische Bräuche. Viele Lamas beginnen, als Schamanen zu wirken. 1741 ernennt der Zar ein lamaistisches Oberhaupt – schließlich soll der russische Buddhismus von Tibet unabhängig sein. Im 19. Jahrhundert gibt es einen wahren Boom: Fast jeder fünfte Mann auf burjatischem Gebiet ist Buddhist, und es entstehen mehr und mehr Datzans (Tempel). Viele von ihnen werden in der Stalinzeit wieder zerstört. Lamas werden verfolgt und in Zwangslager gesteckt. Dennoch kann sich auch der Buddhismus über die offiziell religionslose Sowjetzeit hinwegretten. Seit gut zehn Jahren ist er nun wieder im Aufwind. Überall in Burjatien entstehen buddhistische Tempelanlagen – zum großen Teil von privaten Geschäftsleuten finanziert. Menschen besuchen Datzans, um ihren Göttern Opfer zu bringen. Und in 100 Burjatien Birte Detjen den Städten treffen sich Gruppen, die unter Anleitung eines Lehrers buddhistische Rituale vollziehen. Dreh- und Angelpunkt des Buddhismus in Russland ist nach wie vor die Klosteranlage von Ivolginsk. Hier lebt auch der Hambo-Lama, der ranghöchste Lama der Russischen Föderation. 9.2 Der Tempel von Ivolginsk Es ist absurd: Obwohl Stalin und seine Schergen die Buddhisten in Arbeitslagern gefangen hielten, bauten sie ihnen 1949 einen Tempel – in Gedenken an ihre Heldentaten im Zweiten Weltkrieg. Der Ivolga-Datzan liegt nur eine halbe Autostunde von Ulan-Ude entfernt. Mein erster Eindruck: Auf dem großen Gelände mit seinen Tempeln und Holzhäusern gibt der Tourismus den Ton an. Am Eingang empfangen mich Andenkenstände mit kitschigen Souvenirs aus China und der Mongolei. Die Erlaubnis zu fotografieren muss ich mir erkaufen, und auch das Museum ist für burjatische Verhältnisse recht teuer. Ich bin mit Dschingis verabredet, einem Lamaanwärter Mitte 20. Er hat mich eingeladen, bei ihm und seiner Mutter zu wohnen. In roter Lamakutte kommt er auf mich zu. Er soll eine Gruppe koreanischer Touristen durch die Anlage führen, und so begleite ich ihn. Im Uhrzeigersinn bewegen wir uns auf dem großen Gelände – vorbei an Gebetstrommeln, Wohnhäusern und der buddhistischen Akademie. Dschingis erzählt uns, dass hier über 100 Studenten eingeschrieben sind. Auch er gehört dazu. Die jungen Männer kommen aus verschiedenen Regionen der Republik. Die meisten von ihnen wohnen mit ihren Lehrern in Häusern auf dem Klostergelände. Neben vielen anderen Fächern lernen die Studenten altmongolisch, tibetisch und englisch. Intensiv widmen sie sich der buddhistischen Lehre Burjatiens, die sich von tibetischen Grundsätzen kaum unterscheidet. Insgesamt 5 Jahre dauert das Studium. Erst dann darf ein Student sich Lama nennen. Wir erfahren, dass viele Tempel in den Provinzen schon auf die Absolventen warten, denn noch gibt es nicht genügend Lamas in Burjatien. Auf dem Gelände stehen mehrere Tempel, das älteste aus buntem Holz. Die neueren Datzans sind aus Stein und wirken ziemlich nüchtern – von außen. Als wir ins Innere des Haupttempels kommen, bin ich überwältigt: Diese Farben! Überall hängen bunte Deckenbehänge und Gebetstücher, und auch die Sitzkissen der Lamas sind absolut farbenfroh. Auf die Simse der bemalten Säulen haben die Gläubigen Münzen, Reiskörner und Streichhölzer gelegt. Gläserne Kästen voller Kopeken erwarten neue Spender, und ein großer Tisch bietet Platz für Opfergaben. Von 101 Birte Detjen Burjatien der Rückwand des Raumes blicken mir unzählige Buddhas entgegen. In ihrer Mitte stehen eine überdimensionale Buddhastatue und ein Bild des Dalai Lama, der auch in Burjatien verehrt wird. Einige Gläubige beten andächtig, die Handflächen aneinandergelegt. Andere verbeugen sich und gehen rückwärts zum Ausgang – ein Zeichen des Respekts vor Buddha, dem man nicht den Rücken kehren sollte. Bevor wir den Tempel verlassen, sehen wir einen Mann, der aus einer Teekanne Wasser trinkt und sich die Haare beträufelt – ein buddhistisches Reinigungsritual. Die Führung ist vorbei. Gemeinsam mit Dschingis verlasse ich das Gelände. Über eine knarrende Holzbrücke gehen wir ins nahegelegene Verhnyaya Ivolga. In dem kleinen Dorf wohnt der künftige Lama mit seiner Mutter und vier Katzen. Das Häuschen, das wir betreten, ist ärmlich. Es gibt einen zugigen Bretterverschlag, der als Küche dient. Ein Durchgangszimmerchen für Ofen und Kühlschrank. Und einen Wohnraum mit abgeschabten Holzdielen. Hier stehen Dschingis´ Schreibtisch und ein kleiner Altar – und hier schläft der junge Mann mit seiner Mutter im Ehebett. Fließendes Wasser gibt es nicht, wie meist in burjatischen Dörfern. Glücklicherweise liegt das Dorf an einem kleinen Flüsschen, aus dem Dschingis Wasser schöpft. Die vollen Eimer schleppt er in den Garten. Hier befindet sich eine Art Wasserhahn: Eine durchgeschnittene Flasche, die mit der Öffnung nach unten an ein Holzbrett gehängt ist. Dreht man den Verschluss auf, tröpfelt Wasser heraus. „Ich bin nicht für Luxus zu haben“, sagt Dschingis. „Das einzige, was man braucht, ist ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen“. Immerhin: Ivolga hat elektrisches Licht. Manch anderes Dorf in Burjatien ist schon seit 10 Jahren vom Stromnetz abgeschnitten. Mit dem Ende der Sowjetunion gehörte die staatlich garantierte Stromversorgung der Vergangenheit an. Zuhause angekommen, wirft Dschingis seine Kutte ab und streift sich einen Wollpullover über. „Unser Gewand tragen wir nur auf dem Gelände“, erzählt der 24-jährige. Wir setzen uns in die Küche und trinken Tee. „Ein burjatischer Lama kann ein ganz normales Leben führen“, sagt Dschingis. „Er darf eine Familie haben und in seinem eigenen Haus wohnen. Wenn er möchte, kann er sich fürs Zölibat entscheiden. Unsere Religion ist eben tolerant“. Kurz darauf wird auch meine Toleranz auf die Probe gestellt. Dschingis schlägt mir vor, mich zum Schlafen neben seine kranke Mutter ins Ehebett zu legen. Ich lehne dankend ab. Nach langem Hin und Her kann ihn davon überzeugen, dass es für alle besser ist, wenn ich mich ins Durchgangszimmer auf den Boden lege. Nicht zum ersten Mal stelle ich fest: Privatsphäre ist in Burjatien ein echtes Privileg. 102 Burjatien Birte Detjen 9.3 Buddhistische Zeremonien Am nächsten Morgen wache ich ziemlich gerädert auf. Ich habe mir vorgenommen, einen buddhistischen „Gottesdienst“ zu besuchen. Um kurz vor neun mache ich mich auf den Weg. Auf dem Gelände ist es still, zwischen den Tempeln grasen Kühe, ein Lama dreht Gebetstrommeln, ein paar Hunde streunen durch die Gegend. Es sind nur wenige Lamas, die sich auf den bunten Kissen im Haupttempel dem Lotussitz widmen. Ich lasse mich auf einer Bank nieder und lausche ihren Chorälen, einem vielstimmigen Sprechgesang in Alttibetisch und mongolisch. Nach und nach treffen die Gläubigen ein. Es sind Männer und Frauen, junge und alte Menschen. Andächtig lauschen sie den Lamas, die sich im Takt der Musik wiegen. Eine Familie kommt herein und stellt Kekse, Bonbons und Getränke ab – Opfergaben, die sie später segnen lässt. Die Lamas singen etwa anderthalb Stunden – und führen Rituale durch, die mir völlig unverständlich sind. Sie zünden Papier an, schwenken Pfauenfedern, streuen Salz, lassen die Gläubigen vor sich auf dem Boden knien. Zwischendurch stärken sie sich mit Tee und Gebäck. Als alles vorbei ist, verlasse ich das Gelände – erstaunt über die vielen Zeremonien und die devote Haltung der Gläubigen. „Die Lamas in Ivolginsk vollziehen Rituale, die viele nicht verstehen“, kritisiert meine Gastgeberin Larissa. Sie selbst ist Mitglied einer buddhistischen Gruppe in Ulan-Ude. „Unsere Rituale sind die gleichen wie in Ivolginsk. Aber wir lernen wenigstens, was sie bedeuten – und das kann Jahre dauern“. 10. Die Altgläubigen So komplex wie im Buddhismus geht es bei den Altgläubigen nicht zu. Die selbsternannten „wahren Christen“ spalteten sich im 17. Jahrhundert von der russisch-orthodoxen Kirche ab. Sie verweigerten sich den Reformen von Patriarch Nikon, der die Liturgie veränderte und Kirchenbücher umschreiben ließ. In den folgenden Jahren gründeten die Altgläubigen eigene Siedlungen. Sie mieden Kontakte zu Andersgläubigen, folgten einem strengen Moralkodex und verzichteten auf Alkohol, Tabak und Kaffee. Weil die „Semeiski“ (Semja = Familie) in Russland verfolgt wurden, flüchteten sie nach Polen. Hier blieben sie etwa 100 Jahre. Als Teile Polens im 18. Jahrhundert dem Russischen Reich zugesprochen wurden, verbannte man die Altgläubigen nach Sibirien. 103 Birte Detjen Burjatien Heute gibt es noch etwa 200.000 „wahre Christen“. Die meisten leben in Burjatien und im benachbarten Gebiet Tschita. Die UNESCO nahm die Altgläubigen als einzige russische Volksgruppe in die Liste der „Masterpieces of the oral and intangible heritage“ auf – ihrer einzigartigen Gesangskunst sei Dank. 10.1 Tourismus pur Ich bin mit einer Reisegruppe der Organisation FIRN unterwegs. Wir fahren von Ulan-Ude nach Tarbagatai, einem der bekanntesten Dörfer der Altgläubigen. Mitten in der Walachei halten wir an. Am Fuße eines Berges begrüßen uns vier Russen. Sie tragen festliche Kostüme und laden uns ein, die Anhöhe zu erklimmen. Die Mühe lohnt. Unser Blick schweift über gewaltige Bergmassive und den breiten Fluss Selenga, der sich seinen Weg durch die Täler bahnt. Eine der Frauen gesellt sich zu uns und erzählt von den Altgläubigen. Wir erfahren, dass Mitte des 18. Jahrhunderts etwa 450 Familien in das Gebiet von Tarbagatai kamen. Hier leben bis heute vorwiegend Altgläubige. Doch auch christlich-orthodoxe Russen und Burjaten gesellten sich zu ihnen. Sie kamen, als das Stalinregime alle altgläubigen Kirchen zerstörte und führende Priester in den Gulag verbannte. Das war in den 30er Jahren. Seitdem haben sich Sitten und Bräuche vermischt. Noch während wir auf der Anhöhe sind, geben uns die Altgläubigen eine Kostprobe ihrer Gesänge. Die Lieder sind wunderschön – vielschichtig, rhythmisch verschachtelt und sehr melancholisch. Nach dem kleinen Konzert steigen wir den Berg hinab und steuern auf Tarbagatai zu. Hier stehen viele bunt bemalte Häuser – typisches Indiz für ein altgläubiges Dorf. Vor einem Museum steigen wir aus. Wieder dürfen wir uns ein Konzert anhören. Dann erzählt Galina uns von den farbenprächtigen Kostümen, die heute nur noch zu besonderen Festen und für Touristen getragen werden. Sie schnappt sich eine Frau aus unserer Gruppe und kleidet sie in eine altgläubige Tracht. Nebenbei klärt sie uns auf: „Die Altgläubigen sind fleißiger und sauberer als andere Menschen in Burjatien. Sie sind begabte Sänger, ziemlich heiter - ja, und vielleicht ein bisschen arrogant“. Nach der Show entledigt sich Galina ihrer Tracht und begleitet uns in ein Privathaus. Hier sollen wir zu Abend essen. Die Besitzerin bedient uns wie in einem Restaurant, Raum für Gespräche lässt sie nicht. Mit 1.000 Fragen verlassen wir Tarbagatai. Einen Eindruck vom Leben der Menschen haben wir nicht bekommen. 104 Burjatien Birte Detjen 10.2 Der ganz normale Alltag Was ist nun dran an dem Mythos, dass viele Altgläubige noch immer so leben wie vor 300 Jahren? Um das herauszufinden, mache ich mich auf den Weg nach Sagan. Das altgläubige Dorf liegt etwa 100 Kilometer südlich von Ulan-Ude. Von hier ist es nicht mehr weit bis in die Mongolei. Sagan war bis vor wenigen Jahrzehnten ein geteiltes Dorf. Im alten Teil lebten Russen und Burjaten, im neuen Sagan siedelten Altgläubige. Erst 1960 begannen die Menschen, überkonfessionelle Ehen zu schließen. Der erste Schritt zu einem vereinten Dorf war getan. Ich komme bei Ludmilla Radinowi und ihrem Mann Nikolai unter. Sie ist Direktorin der einzigen Schule, er freiberuflicher Tierarzt. Die beiden sind freundliche, aufgeschlossene Leute, die von morgens bis abends arbeiten. Von ihren Berufen allein können sie nicht leben, die Löhne sind schlecht. Und so haben sie sich eine beachtliche Landwirtschaft aufgebaut. Sie züchten Schweine, Kühe, Gänse und Hühner, haben ein riesiges Kartoffelfeld und einen Garten mit Gemüse für den täglichen Bedarf. Für die meisten Dorfbewohner in Burjatien ist ein solches „Doppelleben“ völlig normal. Zwar kann ich mich auch in Sagan vor offiziellen Veranstaltungen nicht retten – angeblich bin ich die erste Ausländerin, die jemals hierher gekommen ist, und so bescheren mir die beiden Dorfchöre ein wunderschönes Konzert. Dennoch lerne ich ein bisschen mehr über den altgläubigen Alltag als in Tarbagatai – und stelle fest, dass die Semeiski mittlerweile genauso leben wie Russen, Burjaten und Ewenken. Sie rauchen, trinken Alkohol, leben friedlich mit Menschen anderen Glaubens zusammen und besuchen sogar die gleiche Kirche. Für viele Menschen hat ihre Abstammung kaum mehr Bedeutung. Sie müssen erst überlegen, was eigentlich typisch altgläubig ist an ihrem Leben. Dann fällt ihnen ein, dass sie hart arbeiten und eigensinnig sind. Dennoch: Es gibt sie noch, die altgläubige Identität, in erster Linie geprägt durch die gemeinsame Geschichte, das Schicksal als Vertriebene und die Musik. Besonders seit Anfang der 90er Jahre bekennen sich die Menschen wieder zu ihrer Herkunft – auch in Sagan. Ich sitze mit Ludmilla am Küchentisch, über uns ein kleiner Altar mit Ikonenbildern. Der Alltag lässt ihr und Nicolai wenig Zeit, über ihr Selbstverständnis als Altgläubige nachzudenken. Trotzdem freut sie sich, dass ihre Kultur im Aufwind ist. Dass es in ihrer Schule Kinderchöre gibt, die in altgläubigen Kostümen auftreten. Und dass in Sagan endlich wieder eine altgläubige Kirche gebaut wird. Immerhin: Solche Entwicklungen lassen hoffen, dass die Altgläubigen sich nicht eines Tages nur noch als „Paradiesvögel“ vermarkten. 105 Birte Detjen Burjatien 11. Nichtregierungsorganisationen Schon zu Beginn meiner Reise stelle ich fest: Es gibt in Burjatien unzählige Initiativen, die sich für den Erhalt des Baikalsees, für nachhaltiges Wirtschaften, umweltgerechten Tourismus und die Weiterbildung von Jugendlichen engagieren. Da ist der Amerikaner Bill Müller mit seiner Organisation Reap International, der jedes Jahr den sogenannten Green Walk durchführt – eine Wanderung, bei der Teilnehmer aus aller Welt Menschen und Umwelt in Burjatien näher kommen. Da ist die Nichtregie rungsorganisation „Together with Baikal“, die ökologische Sommercamps für Jugendliche organisiert. Da ist Sergej Schebaew mit seiner „Regionalen Burjatischen Abteilung für den Baikalsee“, die Umweltgesetze mitentwickelt und sich gegen den Bau von Ölpipelines in der Baikalregion stark macht. Und natürlich sind da FIRN und GRAN, die sich im Ökotourismus, in der Umweltbildung und im Naturschutz engagieren – und dabei eng mit deutschen Partnern zusammenarbeiten. 11.1 Firn Das Büro von Firn liegt in der Nähe des Zentralen Marktes von Ulan-Ude. In einem ca. 30 Quadratmeter großen Raum stehen auf kleinen Tischen 10 Computer. Die Atmosphäre ist geschäftig, es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Ein paar Frauen diskutieren am Besprechungstisch, mehrere Leute telefonieren, ein junger Mann begrüßt Gäste, jemand versucht, einen Text zu schreiben. Zu Stoßzeiten arbeiten im Büro von Firn bis zu 15 Leute. Es sind gleich zwei Institutionen, die sich hinter Firn verbergen: die Ni chtregierungsorganisation Club Firn, die sich weltweit für den Erhalt des Baikalsees engagiert und Umweltprojekte in ganz Burjatien unterstützt. Und der Reiseveranstalter Firn Travel, der nachhaltigen Tourismus organisiert und damit auch die wirtschaftliche Entwicklung fördern will. „Wenn du die Welt entdeckst, entdeckst du dein Herz“, heißt es bei Firn. Das Programm: in Naturschutzgebiete reisen, Heilquellen besuchen, Berge besteigen, im Eis angeln. Die Philosophie: Einheimische einbeziehen, Umweltprobleme thematisieren, Kultur und Mentalität vermitteln, die ökonomische Situation erklären. Dieses Anliegen teilt Firn mit seinem deutschen Partner, dem Reiseveranstalter Baikalexpress. Der Sibirienspezialist aus Vogtsburg hat in einer Nachhaltigkeitserklärung versprochen, Natur und Kultur im Reiseland zu schützen. Er hat sich verpflichtet, die wirtschaftliche Entwicklung seiner Geschäftspartner zu fördern, lokale Projekte zu unterstützen und private 106 Burjatien Birte Detjen Unterkünfte zu nutzen. Wer an seinen Reisen teilnimmt, soll nicht Tourist sein, sondern Gast. Das „Rendezvous mit dem Baikalsee“ ist eine von mehreren Reisen, die der Baikalexpress gemeinsam mit Firn organisiert. Von Moskau aus fahren deutsche Urlauber mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Irkutsk. Hier beginnt ihre Entdeckungsfahrt durch die Baikalregion. 12. Rendezvous mit dem Baikalsee Ich treffe die Gruppe auf Olchon: Fünf deutsche Urlauber und zwei Reiseleiter von Firn. Die Stimmung ist locker, freundlich und entspannt. Wir verbringen einen Tag auf der Insel und fahren am nächsten Morgen mit dem Schiff zum Zabaikalsk-Nationalpark, einem burjatischen Naturschutzgebiet. Unser Ziel: das schwimmende Hotel „Garmonia“ (Harmonie). Dichter Nebel begleitet uns während der 10-stündigen Fahrt auf dem Baikalsee. Erst als wir am frühen Abend in eine Meerenge einfahren, klart es auf. Unser Kapitän steuert auf eine einsame Bucht zu. Hier liegt ein Schiff, das zu einem schwimmenden Hotel umgebaut wurde. Die „Garmonia“ ist fast autark: Ein eigener Generator erzeugt elektrisches Licht, und das (fließende!) Wasser kommt aus dem Baikal. Damit nicht zu viel Energie verschwendet wird, gibt es vor allem abends Strom. Und auch das Wasser fließt nur dann, wenn wir es brauchen: nach dem Aufstehen und vor dem Schlafengehen. Obendrein achten Hotelmanager Vladimir und seine Mitarbeiter darauf, dass nicht zu viel Müll am Strand liegt. Aller Abfall wird später von einem Schiff abgeholt und in die nächst größere Stadt gefahren. Was dann passiert, weiß niemand so genau. Die meisten Dörfer und Städte in Burjatien haben am Ortsrand eine Müllkippe, frei nach dem Motto: Die Zeit wird´s richten. Zwei Tage verbringen wir auf der Garmonia. Strandspaziergänge, heiße Quellen und ein deutsch-russischer Abend am Lagerfeuer stehen auf dem Programm. Dann machen wir uns auf den Weg nach Ust-Bargusin. Die 10.000-Einwohner-Stadt ist Hauptverwaltungssitz des ZabaikalskNationalpark. Wir kommen privat unter – bei Nationalparkinspektor Sascha und seiner Frau Galia. Ihr Haus ist groß und komfortabel eingerichtet. Uns ist schnell klar: Die Familie profitiert von den vielen Übernachtungsgästen. Doch obwohl jedes Jahr über 100 Touristen die Füße unter ihren Küchentisch stecken, belässt die Hausherrin es nicht dabei, uns köstliches Essen aufzutischen. Sie setzt sich zu uns, erzählt von ihrem Leben, zeigt uns ihre Stadt. Wir erfahren, dass die Arbeitslosigkeit in Ust-Bargusin sehr hoch ist. Alle Fabriken sind seit der Wende geschlossen, die zerfallenden Gebäude 107 Birte Detjen Burjatien verbreiten Endzeitstimmung. Galia ist froh, dass sie als Lehrerin arbeiten kann – und dass auch Sascha eine Anstellung hat. “Das Leben im Ort ist härter geworden“, erzählt die Mittdreißigerin. „Zu Sowjetzeiten gab es in der Stadt eine zentrale Wasserversorgung. Jetzt muss jeder selbst sehen, wie er fündig wird. Glücklicherweise haben wir eine Pumpe im Garten.“ Wir haben nicht das Gefühl, für Galia nur „Kunden“ zu sein. Trotz der vielen Arbeit scheint sie die sommerliche Abwechslung zu genießen. Und auch die Gruppe freut sich, einen kleinen Einblick in den burjatischen Alltag zu bekommen. Am Morgen des nächsten Tages brechen wir auf. Mit einer Wodkazeremonie verabschieden wir uns vom Baikalsee. Unser nächstes Ziel ist Ulan-Ude. In der Hauptstadt und ihrer Umgebung ist ein buntes Programm geplant: Wir besuchen mehrere Museen und ein kleines burjatisches Dorf. Hier empfängt uns Gelya, eine freundliche Burjatin in traditioneller Tracht. Sie führt uns auf eine Anhöhe mit steinernem Monument – die heilige Stelle des Dorfes. Mit einem Glas Wasser in der Hand umrunden wir das Heiligtum. Die Verbindung zur Götterwelt soll uns Schutz gewähren. Nach der Zeremonie lädt Gelya uns auf ihr Grundstück ein. Hier steht ein Holzhaus mitsamt Jurte. Vor der Jurte wartet ein burjatisch gekleideter Musiker. Nicht nur seine Tracht erinnert an die Nachfahren Dschingis Khans – auch die Klänge, die er Flöte und Pferdegeige entlockt, muten mongolisch an. Das kleine Konzert ist Auftakt für unser Abendmahl in der Jurte. Der Tradition entsprechend lassen wir Frauen uns auf der rechten Seite nieder. Hier stehen Geschirr und Haushaltsaccessoires. Unser einziger Mann gesellt sich zu den Jagdutensilien links vom Eingang. In den nächsten anderthalb Stunden beglückt Gelya uns mit köstlichem Essen. Wir lernen traditionelle Speisen wie die Sauermilch Arca kennen – ein Produkt, das Dschingis Khan in Burjatien eingeführt haben soll. Wir probieren Salamat, eine Mischung aus Butter, saurer Sahne und Mehl. Und wir versuchen, die beliebten Posy herzustellen. Die Fleischbällchen in Teig sind noch heute Nationalspeise. Während wir essen, erzählt Gelya von burjatischen Speisen, Traditionen und Festen – zum Beispiel vom Monat Februar, der auf das burjatische Neujahrsfest folgt und als „Weißer Mond“ bezeichnet wird. Während dieser Tage steht „weißes Essen“ auf dem Speiseplan. Es gibt vorwiegend Milchprodukte. In vorsowjetischer Zeit waren auch Yaks und Kamele für die weißen Köstlichkeiten zuständig. Heute züchten die Burjaten meist Kühe. Nach dem Festmahl erwartet uns ein letztes Highlight. Wir dürfen uns in einer traditionellen burjatischen Sportart erproben: dem Bogenschießen. Mit vielen neuen Eindrücken machen wir uns auf den Rückweg nach Ulan-Ude, jeder von uns in Begleitung eines schalen Beigeschmacks. Zwar 108 Burjatien Birte Detjen war Gelya eine liebevolle Gastgeberin, die begeistert von ihrem Volk und seinen Traditionen erzählt hat. Dennoch haben wir das Gefühl, einen Zoo zu verlassen – zumal Gelya uns zum Abschied erzählt, dass sie eigentlich in Ulan-Ude lebt. Ich spreche später mit mehreren Burjaten über dieses Erlebnis. Alle meinen, dass solche Begegnungen wichtig sind – damit Touristen die burjatische Kultur kennen lernen. Doch unsere Gruppe ist sich einig: Angenehmer, authentischer und aufschlussreicher als ein solcher Folkloreabend ist der Alltag einer ganz normalen Familie. 13. Das Workcamp von Daimler Chrysler Nicht das tägliche Leben, sondern der hautnahe Kontakt zur Natur: das war Ziel eines Experiments der besonderen Art. Im Sommer 2003 organisierte Firn Travel zum ersten Mal ein Sommerworkcamp für junge Daimler Chrysler-Mitarbeiter. Das Projekt entstand in Zusammenarbeit mit dem deutschen Global Natur Fund (GNF) und der russischen Vereinigung Gran. Der Hintergrund: Sowohl Gran als auch Firn vertreten den Baikal im internationalen Seennetzwerk „Living Lakes“. Träger dieser Vereinigung ist der GNF. Die Umweltorganisation unterstützt Programme zum Schutz der Seen und fördert den weltweiten Austausch von Initiativen, die sich vor Ort engagieren. Daimler Chrysler sponsert die Arbeit des GNF. Und so konnte der Konzern sich für die Idee erwärmen, seinen Angestellten einen Arbeitsurlaub anzubieten. Etwa 60 junge Leute beschlossen, sich an einem von vier Seen für den Umweltschutz ins Zeug zu legen. Zwölf von ihnen gingen an den Baikal. 14. Jahresurlaub für den Umweltschutz Ein Morgen Ende Juli in einer verschlafenen kleinen Baikalbucht. Ich schäle mich aus meinem Schlafsack und wage einen Blick aus dem Zelt. Keine Menschenseele ist zu sehen. Plötzlich ertönt der Klang eines Gongs, dazu der Ruf: „Aufstehen, Kinder“. Das ist Axel, der heute Lagerdienst hat. Nur langsam kriechen ein paar verschlafene Gestalten aus den Zelten – die Nacht am Feuer war lang. Katzenwäsche am See, ein warmes Frühstück, und schon geht es los. Mit Äxten und Sägen machen sich die jungen Leute auf den Weg. Es ist ihr erster Arbeitstag auf der Halbinsel Heilige Nase. Die Swatoj Nos, so der russische Name, gehört zum Zabaikalsk Nationalpark. 109 Birte Detjen Burjatien Hier gibt es über 600 Pflanzen- und fast 300 Tierarten. Ein Großteil der Fläche besteht aus Taiga. Ich begleite die Gruppe zu einem Wanderweg in der Nähe des Baikalufers. Eine Strecke von sechs Kilometern sollen sie begehbar machen. Sie befreien den Pfad von Gestrüpp, räumen Bäume zur Seite, beschneiden Büsche, sammeln Steine auf, erweitern den Pfad, wo er zu eng ist. Doch: Die größte Herausforderung liegt ganz woanders. „Für mich ist das Holzhacken die Hauptaufgabe“, sagt Kai aus Durmersheim. „Nur so können wir überhaupt kochen und abends lange am Feuer sitzen“. Zurück auf dem Zeltplatz, geht es denn auch gleich weiter: Holz sammeln, zerhacken und stapeln, Sitzbänke bauen, Wasser holen, Essen machen. Hier ist echtes Survivaltraining angesagt – und das bei strömendem Regen. „Das hat mir überhaupt nicht ins Konzept gepasst. Aber es war eine wichtige Erfahrung, auch im Regen zu bestehen“, meint der 19-jährige Dominik. Als er mir das erzählt, sitzt Dominik bereits in einer trockenen Jurte im kleinen Dorf Istomino. Hier befindet sich ein internationales Umweltbildungszentrum. Nach zwei Wochen Survivalcamp und einer Stippvisite in Ulan Ude quartiert sich die Gruppe hier ein - gemeinsam mit Larissas Kolleginnen von Gran, die für diesen Teil der Reise verantwortlich sind. Gemütliche warme Holzhütten, fließendes Wasser, drei Mahlzeiten am Tag: Das ist Luxus pur. Aber Müßiggang steht nicht auf der Wunschliste der jungen Leute. Sie wollen arbeiten, auch wenn es weiter regnet. An Rastplätzen stellen sie Abfalleimer auf, sie streichen Bänke an und sammeln Müll ein. In Schulen bauen sie Nistkästen und richten Ökoecken ein. Dabei entstehen neue Spiele – wie das Umweltmemory, das je eine umweltfreundliche und eine umweltfeindliche Aktion zum Paar macht. Nach vier Wochen am Baikalsee sind sich die jungen Leute einig: Es gibt noch jede Menge zu tun. Zwar empfanden die meisten ihre Arbeit als sinnvoll. Aber viel wichtiger wäre es, die Menschen in Burjatien für den Naturschutz zu begeistern. Denn hier liegt noch so einiges im argen. 14.1 Gran Das meinen auch die Mitarbeiter der Organisation Gran. Sie wollen ihre Landsleute für die Umweltprobleme in Burjatien sensibilisieren. Deshalb sammeln sie Informationen zu ökologischen Themen. Sie erarbeiten Material zur Umweltbildung und veranstalten Workshops. Ihr besonderes Steckenpferd: Die Arbeit mit Jugendlichen. Kein Wunder, denn viele Mitarbeiter von Gran sind Schul- oder Hochschullehrer. Sie nutzen ihre Freizeit, um sich für Burjatien zu engagieren. 110 Burjatien Birte Detjen „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben viele Menschen die Orientierung verloren. Wir wollen ihnen einen neuen Sinn geben und sie zum Handeln motivieren“, sagt Erdem Dagbaew. Der Mittvierziger ist Journalist und Lehrstuhlleiter für Politologie und Soziologie an der Universität in Ulan-Ude. 14.2 Junge Ökojournalisten Einen Teil seines Sommerurlaubs verbringt Erdem mit seiner Frau Nina und dem fünfjährigen Sohn im ökologischen Umweltbildungszentrum von Istomino. Nina Dagbaewa ist Direktorin von Gran und Leiterin des Lehrstuhls für Pädagogik an der Uni in Ulan-Ude. Die beiden sind gekommen, um einen Workshop für junge Ökojournalisten zu leiten. 15 Jugendliche aus verschiedenen Provinzen Burjatiens sind mit ihnen hier. Sie wollen eine Internetzeitung zum Thema Umwelt gestalten. Die Arbeitswoche gehört zu den vielen sommerlichen Aktivitäten, mit denen Schulkinder ihre langen Ferien überbrücken. Zu Sowjetzeiten kamen Staat oder Gewerkschaften für die zusätzlichen Bildungsangebote auf. Heute werden sie von Schulen, privaten Sponsoren oder gesellschaftlichen Organisationen wie Gran finanziert. Im großen Konferenzsaal des Umweltzentrums begrüßt Journalist Erdem jeden seiner Schüler mit Handschlag und überreicht ihm ein Heft samt Namensschild. Dann führt er die jungen Leute in den Journalismus ein: Was ist eine Reportage, wie gestaltet man ein Interview, was sind die Merkmale des Feuilletons? Der Hochschullehrer unterrichtet mit ansteckender Hingabe. Wenige Stunden später überlässt er die Jugendlichen ihrem Schicksal. Mit dem neugewonnenen Wissen sollen sie eine Wandzeitung gestalten. Sie interviewen Gäste des Bildungszentrums, schreiben Legenden über den Baikalsee auf, besprechen die Umweltprobleme in Burjatien und malen viele schöne Bilder. Am nächsten Morgen überprüft Gran-Mitarbeiterin Elena ihre Ergebnisse auf journalistische Qualität. Welche Zeitung ist zu schriftlastig, wo fehlen Informationen, welchem Beitrag mangelt es an Spannung? Voller Begeisterung verrät die Journalistin ihren Schülern die Tricks und Kniffe der Zeitungsreportage. Kurze Zeit später versuchen die jungen Leute, die Tipps der Lehrerin in die Praxis umzusetzen. Doch die Jugendlichen sollen nicht nur schreiben lernen. Sie vertiefen auch ihr ökologisches Wissen. GranMitglied Angelika ist Biologielehrerin. Sie klärt über Umweltprobleme auf und zeigt den Kindern Bäume, Büsche und Pilze im Wald. 111 Birte Detjen Burjatien Zwischen all diesen Aktivitäten erarbeiten die Schüler ein Konzept für ihren Internetauftritt. Am Mittag des letzten Tages präsentieren sie ihre Ergebnisse. Ihre Zeitung soll aus vielen verschiedenen Rubriken bestehen. Sie werden über ökologische Probleme in der Baikalregion berichten und über internationale Erfolge im Umweltschutz. Sie wollen Geschichten erzählen, Tipps für ein gesundes Leben geben, Naturkosmetik vorstellen und Gedichte zur Natur schreiben. Und sie möchten Witze erzählen und Kreuzworträtsel erfinden. Das Symbol ihrer Zeitung: eine Baikalrobbe in nationaler Tracht. Die Lehrer sind begeistert vom vielseitigen Konzept - und beglücken jeden Schüler mit einer Urkunde. Für heute ist die Arbeit getan. Nach den Ferien werden sich die jungen Redakteure bei Gran treffen und ihr Konzept mit Leben füllen. Im Februar soll die erste Ausgabe online gehen. 15. Wasser für das Leben Schüler für die Natur gewinnen und sie zugleich mit dem Internet vertraut machen: Das ist auch das Anliegen des Projektes „Wasser für das Leben“. Gran hat es in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit ausgetüftelt. Gemeinsam mit 15 Schülern nimmt auch Angelika Kuschnarewa am Internetprojekt teil. Sie ist Biologielehrerin am musikalisch-humanistischen Gymnasium in Ulan Ude. „Wir arbeiten absolut praxisorientiert“, erzählt sie mir. „Das wirkliche Leben steht an erster Stelle“. Und so erkundeten ihre Schüler zunächst die eigene Umgebung. Sie sammelten Legenden rund um ihren Fluss, schrieben sie auf und schickten sie zu Gran. Die Organisation veröffentlichte ihre Geschichten auf einer Website. Anschließend begannen die jungen Leute, ihren Fluss und sein Umfeld zu beobachten. Sie notieren, wann das Eis schmilzt, wie sich die Pflanzen verändern und wann der Sommer beginnt. Und damit sie den Wechsel der Jahreszeiten nicht verpassen, sind die Schüler jeden Tag im Einsatz - ein ganzes Jahr lang: „Wenn sie von der Schule nach Hause gehen, beobachten sie die Natur. Sie wissen genau, worauf sie achten müssen und was das bedeutet“, sagt Angelika. Für Gran ist das Projekt ein echter Erfolg. „Die Schüler gehen mittlerweile von selbst in den Wald, um die Veränderung der Bäume zu beobachten. Sie warten nicht mehr darauf, dass Erwachsene die Initiative ergreifen“, freut sich Nina Dagbaewa. 112 Burjatien Birte Detjen Und da ist noch etwas, auf das Gran Wert legt: die internationale Kommunikation. „Wasser für das Leben“ vereinigt Schulen aus Japan, Usbekistan, Kasachstan, Deutschland und Russland. Für die meisten Schulen in Burjatien ist globaler Austausch bis heute ein Traum. Das Internet ist in der Republik eine Rarität. Immerhin 15 Schulen konnte Gran dank des Umweltprojektes mit einem Modem ausstatten. Ein echtes Highlight für die Schüler sind die Chats mit Jugendlichen aus anderen Ländern. Ihre Themen: Waldbrände, Müllprobleme, Hobbys und Musik. Die meisten Kinder in Burjatien waren noch nicht im Ausland. Das Internet bringt ihnen die Welt ein kleines Stück näher. Doch nur bis Mitte 2004 – dann läuft die Finanzierung aus. Und Gran muss sich neue Partner für neue Projekte suchen. 16. Resumee Das ist sicherlich ein Hauptproblem vieler Nichtregierungsorganisationen in Burjatien: Sie sind auf ausländische Sponsoren angewiesen und von zeitlich begrenzten Projektgeldern abhängig. Die burjatische Regierung und einheimische Geschäftsleute tun sich immer noch schwer, sie finanziell zu unterstützen. Allerdings gewinnen Nichtregierungsorganisationen peu à peu an Einfluss im öffentlichen Leben – und werden als Gesprächspartner auch auf politischer Ebene mehr und mehr akzeptiert. Dass ihre Arbeit in einer Republik wie Burjatien Gold wert ist, steht außer Frage. Angesichts des harten Lebens auf dem Land, der hohen Arbeitslosigkeit, des erschreckenden Alkoholmissbrauchs und einer weit verbreiteten Perspektivlosigkeit bedarf es vieler Initiativen, die sich für ihre Gesellschaft und für eine lebenswerte Zukunft einsetzen. Die Nichtregierungsorganisationen in Burjatien zeigen, wie vielen Menschen Kultur, Umwelt, Bildung und wirtschaftliche Entwicklung am Herzen liegen. Natürlich ist ihre Arbeit nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Natürlich wäre es an der burjatischen Regierung, ökonomische Alternativen für die Menschen in den Dörfern zu entwickeln. Und natürlich müsste mehr staatliches Geld in den Umweltschutz und die Ausstattung der Schulen fließen. Aber: Burjatien ist ein armes Land. Es hängt am Tropf einer weit entfernten Föderationsregierung, für die Ostsibirien nicht viel mehr ist als ein Lieferant von Erdöl, Holz und anderen Rohstoffen. Und: Burjatien ist noch immer im Wandel. Seit dem Ende des Sozialismus sind die Menschen auf der Suche nach Perspektiven – in Wirtschaft und 113 Birte Detjen Burjatien Gesellschaft. Dass sie sich dabei einerseits auf Traditionen zurückbesinnen und andererseits nach den Werten des Westens streben, macht die Sache nicht leichter. Organisationen wie Gran und Firn können dazu beitragen, dem Wandel eine Richtung zu geben. Zum Beispiel durch Ökotourismus. Das „nachhaltige“ Reisen stärkt die Entwicklung auf dem Land, es unterstützt Familien und fördert internationalen Austausch – und es bemüht sich, Ressourcen zu schonen. Umweltschutz und Umweltbildung in den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel einbeziehen - auch das ist eine Chance, die Burjatien nutzen könnte. Allerdings: Wer voll und ganz mit der Bewältigung des Alltags beschäftigt ist, denkt nicht zuerst an Ökologie. Initiativen wie Firn und Gran sind deshalb wichtige Motoren. Sie können immer wieder darauf hinweisen, dass wirtschaftliches Wachstum nicht von den Bedürfnissen der Umwelt abgekoppelt werden darf. Sie engagieren sich für den Schutz der Natur. Und sie vermitteln jungen Leuten Umweltbewusstsein und eigenständiges Denken – in der Hoffnung, dass Burjatiens Zukunft voller Perspektiven ist. 17. Danke Ich danke der Heinz-Kühn-Stiftung, die mir eine hochinteressante Reise, viele neue Erkenntnisse und den Kontakt zu wunderbaren Menschen ermöglichte. Ich danke Frau Kilian, die mich ermutigte, mich für ein ungewöhnliches Reiseziel zu bewerben, die mein Anliegen innerhalb der Stiftung unterstützte und die geduldig wartete, bis dieser Bericht endlich auf ihrem Schreibtisch lag. Ich danke Larissa und Sorik, die drei Monate lang immer wieder ihre Wohnung mit mir teilten, die mir freundschaftlich zur Seite standen und mich mit Rat und Tat unterstützten. Ich danke ihrer kleinen Tochter Isabella, die immer wieder ihr Zimmer für mich räumte. Ich danke Julia, die mir eine treue Dolmetscherin und gute Freundin war. Ich danke allen Mitarbeitern von Firn, die mir ihr Büro zur Verfügung stellten und mich bei der Organisation und Durchführung meiner Reise unterstützten. Ich danke Elvira, Nina, Lena und Elena von Gran für ihre Hilfsbereitschaft und ihr Wissen. 114 Burjatien Birte Detjen Ich danke Andreas Kiefer, der mir ein Rendezvous mit dem Baikalsee ermöglichte. Ich danke Pawel und Michel für einen wunderschönen Tag in der Taiga. Ich danke den Menschen aus Sagan für ihre Herzlichkeit. Ich danke Nikita und Natascha für eine schöne Zeit auf Olchon. Ich danke allen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern für ihre Geschichten, Erzählungen, Kommentare und Gedanken. Ich danke meiner Familie, die mich immer wieder bestärkte. Und ich danke Jochen, der mich drei Monate lang aus der Ferne begleitet hat. 115 Maricel Drazer aus Argentinien Stipendien-Aufenthalt in Nordrhein-Westfalen 01. Mai bis 30. August 2003 117 Nordrhein-Westfalen Maricel Drazer Das Leben kann so schön sein... Von Maricel Drazer Nordrhein-Westfalen vom 01.05. bis 30.08.2003 119 Nordrhein-Westfalen Maricel Drazer Inhalt 1. Zur Person 124 2. Das Leben kann so schön sein 124 3. Warum habe ich mich beworben? 125 4. Warum Deutschland? 125 5. Wie habe ich von dem Stipendium der Heinz-Kühn-Stiftung erfahren? 125 6. Die Antwort, Teil I 126 7. Die Antwort, Teil II 126 8. Terminfragen 127 9. Die Ankunft 127 10. Das Goethe-Institut 128 11. Praktikum beim ZDF 128 12. Willkommen! 129 13. Ideale Ergänzung 129 14. SPAM 130 15. Der neue Golf 131 16. Das Deutsche Fernsehen. Eine argentinische Sicht 131 17. Goethe’s Sprache 134 18. Neue Emotionen 136 19. Weltanschauung 136 121 Nordrhein-Westfalen Maricel Drazer 20. Intensität 137 21. Danksagung 137 123 Maricel Drazer Nordrhein-Westfalen 1. Zur Person Maricel Drazer hat an der Universität von Buenos Aires Sozialwissenschaften studiert. Erste journalistische Erfahrungen in Europa sammelte sie während eines dreimonatigen Auslandsstipendiums des Staatlichen Spanischen Fernsehens. Im Rahmen eines Auslandsstipendiums des Internationalen Journalistenprogramms (IJP) war sie von Februar bis Mai 2001 an einer journalistischen Produktion für das ZDF in Berlin tätig. Auf Einladung der Bundesregierung berichtete sie über die Bundestagswahlen 2002 in Bonn und Berlin. Das viermonatige Stipendium der Heinz-Kühn-Stiftung von Mai bis August 2003 ermöglichte ihr, ihre Kenntnisse und Erfahrungen im Journalismus noch weiter zu vertiefen und einen intensiveren Einblick in den deutschen Lebensalltag zu bekommen. Seit ihrer Rückkehr nach Argentinien arbeitet Maricel Drazer als freie Fernsehjournalistin in Buenos Aires. 2. Das Leben kann so schön sein Mit Ihnen, verehrte Leser, möchte ich hiermit meine Erfahrungen teilen, die ich erlebt habe im Rahmen eines von der Heinz-Kühn-Stiftung gewährten Stipendiums für junge Journalisten. Ich möchte Sie warnen: Diese Aufgabe wird nicht leicht für mich. Warum, wenn ich doch Journalistin bin und mir das Schreiben eigentlich nicht zu fremd sein dürfte?! Nun ja, ich befürchte, dass die geschriebene Sprache einfach nicht ausreicht für eine solche Beschreibung... Ich werde es dennoch versuchen, wobei meine Worte nicht den Anspruch erheben, das schwer Fassbare zu fassen. So wie ein Kind, das sein ganzes Leben im Gebirge verbracht hat, zum ersten Mal das Meer sieht... Was könnte es sagen oder erzählen? Was könnten die Zeugen dieses Moments erzählen? Wörter werden kaum ausreichen, um die Intensität des Moments auch nur annähernd zu beschreiben. Durch sie kann man die vielfältigen Emotionen vielleicht erahnen, aber nicht greifen... Ich bin zwar kein Kind mehr und habe auch nicht in den Bergen gelebt, aber der Vergleich trifft es dennoch ganz gut. Ich muss gestehen, dass ich daran dachte, mit dem Verfassen dieses Berichts schon lange vor dem Ende des Stipendiums zu beginnen. Dabei habe ich mich selbst mit einer sehr deutschen Art überrascht. Sollte ich plötzlich deutsch geworden sein, zumindest in der Weise, mich zu organisieren? Ich versuchte, mit dem Bericht schon weit vor Ablauf der Frist zu beginnen. Was war los mit mir? Hat die „deutsche Erfahrung“ so intensiv gewirkt? 124 Nordrhein-Westfalen Maricel Drazer Erst vergingen die Tage, dann die Monate, und nun beginne ich tatsächlich mit dem Verfassen dieser Schlussbilanz. Ganz argentinisch, gefährlich nahe am Abgabetermin... Ich könnte meine Erzählung beginnen im Monat Mai des Jahres 2003, in dem ich das Stipendium begann; aber auch einige vorhergehende Ereignisse verdienen Erwähnung. 3. Warum habe ich mich beworben? Schon immer hat mich das Reisen in andere Länder interessiert, aber nicht als Tourist, dazu verurteilt, lediglich einen oberflächlichen Eindruck der besuchten Realität wahrzunehmen, sondern um irgendeiner Tätigkeit nachzugehen, die es mir erlaubte, in den Alltag der Menschen einzutauchen und ihre Gewohnheiten zu entdecken, ihre Sorgen, ihre Anlässe für Freude und Traurigkeit, ihre Art zu fühlen und zu handeln. Auf der anderen Seite war die Möglichkeit eines etwas längeren Auslandsaufenthalts für mich (und wie für fast alle Argentinier) mit dem Erhalt der nötigen Finanzierung verbunden. Ein Stipendium sollte also der Weg sein, der meine Träume wahr werden ließ! 4. Warum Deutschland? Weil es die Heimat meiner Vorfahren ist und mich daher ein besonderes Interesse mit diesem Land verbindet. Nähe – gefühlsmässig, subjektiv – und Ferne – geographisch, objektiv – gleichzeitig. Daher ursprünglich mein Verhältnis zu Deutschland. Heute unterhalte ich enge berufliche Beziehungen mit diesem Land. Im Jahr 2001 hatte ich durch den Erhalt eines Stipendiums die Möglichkeit, ein Praktikum beim ZDF in Berlin zu machen. 2002 hatte ich auf Einladung des Bundespresseamts die Gelegenheit, über die Bundestagswahlen zu berichten. 5. Wie habe ich von dem Stipendium der Heinz-Kühn-Stiftung erfahren? Wie bereits ausgeführt, war es mein Bestreben, nach Deutschland zu reisen, um einer Tätigkeit als Journalistin nachzugehen. Und dazu war 125 Maricel Drazer Nordrhein-Westfalen ein Stipendium die Grundvoraussetzung. Die Schlüsselwörter waren also: “Journalist, Deutschland, Stipendium“. Mein moderner Spürsinn gebot mir die Nutzung des Werkzeugs dieser vernetzten Welt: Ich schrieb die Schlüsselwörter in die Internetsuchmaschine Google und schon erschien das so ersehnte Resultat. In der Tat, es existierte eine Stiftung, die Stipendien an Nachwuchsjournalisten vergab, um ihnen eine Berufserfahrung in Deutschland zu ermöglichen. Zu meiner Zufriedenheit las ich Punkt für Punkt die Bewerbungsvoraussetzungen durch und vergewisserte mich, dass ich sie erfüllte. Geduldig und hoffnungsfroh machte ich mich nun an den Bewerbungsgprozess: Das Verfassen des Projektes, seine Begründung, das Zusammenstellen des Lebenslaufs und der entsprechenden Nachweise. 6. Die Antwort, Teil I Fast drei Monate später erreichte mich der so erwartete Anruf. Aus Deutschland sprach Frau Kilian. Die offiziellen Ergebnisse waren zwar noch nicht da, aber es schien so, als ob die Dinge gut laufen würden für mich. Die Wahrscheinlichkeit, ein Stipendium zu erhalten, waren groß. Klasse! Die Nachricht erreichte mich nicht an irgendeinem Tag, nein! Der Anruf kam an meinem Geburtstag und war ein unvergessliches Geschenk. Ich dachte erst, es handelte sich um einen glücklichen Zufall. Erst später habe ich erfahren, dass dies von Frau Kilian beabsichtigt war und sie mir damit sozusagen ihre menschliche Wärme bewies. Und noch aus einem zweiten Grund kam der Anruf in einem besonderen Moment: Am Nachmittag zuvor war mir während der Pressekonferenz des kolumbianischen Sängers Juanes meine Handtasche gestohlen worden, die alle meine Ausweise, Schlüssel, Geld, Handy und persönliche Gegenstände enthielt. Der Lohn als freie Journalistin für diesen Bericht würde nicht ausreichen, um die Kosten des Diebstahls zu decken. Daher war meine Laune am nächsten Morgen nicht gerade die beste... Daher kamen der Anruf und die guten Nachrichten aus Düsseldorf gerade zum rechten Zeitpunkt. 7. Die Antwort, Teil II Anfang April erhielt ich die Bestätigung: Ich habe das Stipendium bekommen! Und damit einher gingen die immense Freude und Zufriedenheit über das Erreichte, sowie die Erkenntnis der Herausforderung, die vor mir lag. 126 Nordrhein-Westfalen Maricel Drazer Es folgte, natürlich, der Papierkram: Ganz besonders die Ausstellung des Visums, die genauso viele Tage benötigte, wie zur Abreise fehlten. Erst wenige Stunden vor Reiseantritt hielt ich meinen Pass mitsamt dem Visum in Händen. 8. Terminfragen Ich muss gestehen, dass mein Reisedatum, das nach einer Verschiebung fast ein Monat vor dem ursprünglich vorgesehenen Datum lag, eigentlich nicht mit meinen Plänen und Verpflichtungen übereinstimmte. Schließlich wurde mir durch die Terminänderung verwehrt, zum Zeitpunkt der zweiten Runde zur Wahl des argentinischen Präsidenten in Buenos Aires meiner Tätigkeit als Journalistin nachzugehen. Da es unmöglich war, den Beginn des Stipendiums zu verschieben, reiste ich dennoch – und verfolgte tausende Kilometer entfernt gespannt den Ausgang: Während eines Abendessens in Düsseldorf mit Frau Kilian und Ex-Stipendiaten der Stiftung erreichte mich ein Anruf auf meinem Mobiltelefon, und informierte mich über die Absage der Stichwahl und die daraus folgende automatische Ernennung des Kandidaten, der in der ersten Runde die meisten Stimmen erhalten hatte: Néstor Kirchner, der aktuelle Präsident. Wahrscheinlich war ich zu diesem Zeitpunkt die erste Journalistin in Deutschland, die davon erfuhr. 9. Die Ankunft Mit großen Erwartungen und relativ kleinem Gepäck kam ich in Düsseldorf an, einer Stadt, in der ich nie zuvor gewesen war. Ziemlich müde war ich auch, da ich die letzten zwei Nächte nicht geschlafen hatte. In diesem Zustand und ohne Pause fuhren wir, Frau Kilian und Herr Lindemann, der Fahrer, direkt zum Goethe-Institut, wo ich den Einstufungstest für den Deutschkurs absolvieren sollte. Ich erinnere mich daran, dass ich kaum in der Lage war, ein Wort zu artikulieren, nicht nur auf Deutsch, sondern nicht mal auf Spanisch, meiner Muttersprache! Das ist keine Übertreibung: Ich weiß noch haargenau, dass die Lehrerin, da ihr bekannt war, dass ich aus Argentinien kam, den Namen der „Club del Trueque“ (Tauschclubs, die im Zuge der Wirtschaftskrise entstanden sind) wissen wollte. Nun ja, in diesem Moment konnte ich mich nicht einmal an den spanischen Ausdruck erinnern. Tatsächlich funktionierte nur ein kleiner Teil meines Gehirns, und der beschäftigte sich gerade hauptsächlich mit der größtmöglichen Erinnerung an den deutschen Wortschatz. 127 Maricel Drazer Nordrhein-Westfalen Letztlich waren die Ergebnisse der Prüfung trotz allem anständig, ich kam in die Mittelstufe 3. 10. Das Goethe-Institut... ...war einfach ein Traum. Vor mehr als einem Jahrzehnt hatte ich im Goethe-Institut von Buenos Aires angefangen, Deutsch zu lernen und habe immer den Wunsch gehabt, einmal einen Kurs in einem Goethe-Institut in Deutschland zu belegen und bis zu jenem Moment hatte ich ihn mir nicht erfüllen können. Dabei muss ich auch erwähnen, dass diese Möglichkeit für mich eine ganz besondere Bedeutung hatte. Vor Jahren blieb mir nach einem zumindest zweifelhaften und fragwürdigen Auswahlprozess seitens des Goethe-Instituts in Buenos Aires ein Stipendium für einen Deutschkurs an einem Goethe-Institut in Deutschland verwehrt. Nun denn, im Laufe der nächsten zwei Monate besuchte ich von Montag bis Freitag den Unterricht am Goethe-Institut Düsseldorf, wo ich an den letzten Mittelstufen-Kursen teilnahm. Das war eine ganz besondere Phase, in der meine Hauptbeschäftigung, ja eigentlich meine einzige Aufgabe, darin bestand, deutsch zu lernen. Alles weitere hatte die Stiftung schon für mich erledigt. Angefangen von der Unterkunft bis zur Lösung aller praktischen Fragen meines Aufenthalts. Es war wie eine Rückkehr in meine Studentenzeit, die ich als sehr nützlich empfand. Im Institut stand mir alles, was zur Perfektionierung der Sprache nötig war, zur Verfügung: Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Kassetten, Videos, Computer und dazu bestens ausgebildete Lehrkörper. Dies alles in einem für mich sehr idyllischen Ambiente. Ich erinnere mich zum Beispiel an meine Überraschung, als unsere Lehrerin uns fragte, ob uns nicht der Lärm störe, der von außen durch die Fenster drang. Stimmt, das Institut liegt direkt am Düsseldorfer Hauptbahnhof. Doch für mich, gewohnt an die in Buenos Aires herrschende „auditive Umweltverschmutzung“, war dies eine überraschende Frage. In diesem Moment wurde mir einmal mehr die entschieden höhere Lebensqualität Düsseldorfs im Vergleich zu meiner Heimatstadt bewusst. 11. Praktikum beim ZDF Und bald begann das mit Spannung erwartete Praktikum. Mit Sicherheit die intensivste Zeit während des Aufenthalts. Die Chronologie: Da ich meine Tätigkeit als Journalistin im Fernsehen ausübe, wurde mir von der Stiftung vorgeschlagen, ein Praktikum beim ZDF zu machen – ein Angebot, das ich 128 Nordrhein-Westfalen Maricel Drazer gerne annahm. Das Zweite Deutsche Fernsehen ist ein öffentlich-rechtlicher Sender mit nationaler Reichweite und einer der zwei großen öffentlichen Sender in Deutschland. Mein Arbeitsplatz war das ZDF-Landesstudio Düsseldorf. Es ist zuständig für die Berichterstattung aus dem nordrhein-westfälischen Raum. Mit Reportagen, Hintergrundberichten und Analysen zu allen Themen dieser Region liefert das Studio Beiträge für das ZDF. In einem anderen Stockwerk des gleichen Gebäudes wird das Magazin „Volle Kanne“ produziert, das im ganzen Land gesendet wird und dessen Arbeitsweise ich ebenfalls kennen lernen und erfahren durfte. Im Verlauf der ersten Wochen war es mir vergönnt, den Alltag der journalistischen Arbeit im Landesstudio aus nächster Nähe zu beobachten und kennen zu lernen. 12. Willkommen! Am ersten Tag war ich unterwegs mit einem Studio-Team, bestehend aus Redakteur, Kameramann und Assistent. Das Thema des Berichts war das Dosenpfand bei Bierdosen. Daher wandten wir uns an die Brauerei Brinkhoff in Dortmund, wo ich Zeugin der Abfüllung und des Abtransportes des Bieres wurde: Typisch deutsch, oder?! Die Außendrehtermine finden meist in einem freundschaftlichen Ambiente statt. Aber ich erinnere mich auch an eine nicht so freundschaftliche Situation, die schon vorher stattgefunden hatte: An diesem, meinem ersten Praktikumstag, machten sich zwei Teams auf, um auswärts zu drehen. Zusammen mit Kerstin Edinger, meiner immer freundlichen „Gastgeberin“ beim ZDF, wandte ich mich an eine der Redakteurinnen, die heute auswärts drehen würden, um sie zu fragen, ob ich zu dem Team dazustoßen könne. Die Antwort lautete „nein“, ohne größere Erklärungen. Erster Tag, erstes Nein, ein richtiger Kulturschock. Ich behaupte nicht, dass wir in Argentinien unbedingt viel freundlicher seien, aber ein „Nein“ wird für gewöhnlich ausgeschmückt mit Erklärungen, es wird mehr „verkleidet“, mit Entschuldigungen versehen... 13. Ideale Ergänzung Tage später wurde mir aufgetragen, einen Bericht in Teamarbeit zu erstellen. Ich sollte die journalistische Tätigkeit gemeinsam mit einer deutschen 129 Maricel Drazer Nordrhein-Westfalen Journalistin, Nicola Kuhrt, übernehmen, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls ein Praktikum im Landesstudio absolvierte. Nicola Kuhrt hatte als Journalistin bis dato hauptsächlich in graphischen Medien gearbeitet, hatte aber keine größere Erfahrung im Bereich des Fernsehens. Meine Erfahrung dagegen im Fernsehen und im Bereich der Nachrichten waren recht groß, nur musste ich diese Tätigkeit jetzt in einer Fremdsprache ausüben, in Deutsch. Die Intention der Produktion war, dass wir uns beide möglichst ergänzen sollten – und so war es! Wir sind nach Aachen gefahren, um für die Kulturzeit über den Streit zwischen den drei Kuratoren der großen «Ex-Oriente»-Ausstellung zu berichten. Ein Kurator, Professor Wolfgang Dreßen, hatte in der Ausstellung ein Video installiert, gegen das die beiden anderen waren und es einfach abgeschaltet haben. Wir haben einen von ihnen interviewt und den leeren Bildschirm gefilmt. Für mich, und auch für Nicola, wie sie mir später bestätigte, war dies eine erfreuliche und bereichernde Erfahrung. 14. SPAM Während mir zusehends immer mehr Verantwortung übertragen wurde und ich somit die Gelegenheit erhielt, mich im Redaktionsalltag einzubringen, wurde ich bereits kurze Zeit später mit einer neuen Aufgabe betraut: ich sollte ein Interview machen. Ich, die aus dem fernen Argentinien kam, für die die deutsche Sprache, so sehr ich sie auch zu studieren vermochte und mich mit ihr auseinandersetze, eine Fremdsprache war und blieb. Mir trauten sie in Deutschland diese Aufgabe zu, genauer gesagt, das ZDF traute mir diese zu. Ein öffentlichrechtlicher Sender, einer der größten Sender Deutschlands, bat mich für die Nachrichtensendung ein Interview zu machen. Das war klasse! Welch eine Herausforderung! Und welch einen Respekt ich vor dieser Aufgabe hatte! Ich sollte den Rechtsanwalt Sven Karge vom Verband der Internetwissenschaften in Köln interviewen. Das Thema: Spam mails. Ausgestrahlt werden sollte das Interview in der Nachrichtensendung „Heute Journal“. Nachdem schließlich alle notwendigen Formulare ausgefüllt waren, damit nun auch der offiziellen Realisierung nichts mehr im Weg stand, konnte es los gehen. Und das Interview verlief ohne bedeutende Zwischenfälle. Die einzi130 Nordrhein-Westfalen Maricel Drazer ge Person, die in Wirklichkeit aufgeregt war, war mein Interviewpartner. Wir mußten sogar dreimal die Dreharbeiten unterbrechen, damit er seine schweißgebadete Stirn abwischen konnte. Mein erstes Interview auf deutsch für das ZDF war nun eine Tatsache und ich hatte alle journalistischen Erwartungen, die an mich gestellt wurden, erfüllt. Für mich hatten sich damit auf einmal alle Erwartungen und Hoffnungen, die ich mit diesem Stipendium verband, mehr als erfüllt. 15. Der neue Golf VW stellt den neuen Golf vor: die fünfte Generation des Modells. Das nordrhein-westfälische Landesstudio sollte dazu Professor Dr. Ferdinand Dudenhöffer – den deutschen „Auto-Papst“ – befragen. Und ich hatte das große Los gezogen und sollte das Interview machen. Für mich eine Ehre, aber gleichzeitig auch eine unglaubliche Verantwortung. Ich machte mich dann so gut ich konnte ans Werk und bereitete das Interview vor: «Was bedeutet der neue Golf für VW?» «Wie kann der neue Golf dazu beitragen, VW aus der Krise zu holen?» «Der Autobauer setzt Hoffnungen auf den neuen Golf: Sind diese Hoffnungen berechtigt?» «Kann ein bestimmter Autotyp einen ganzen Konzern wieder nach vorne bringen?» «Warum sollten die Leute ausgerechnet den neuen Golf kaufen, wenn doch in dieser Klasse der Konkurrenzdruck sehr hoch ist?» ... usw.... Ich hatte alle Fragen fast auswendig gelernt. Das Interview fand in der Fachhochschule Gelsenkirchen statt. Dann mußte das Interview zum ZDF Studio-Hannover überspielt werden. Es war eine Zulieferung für Rainer Hirsch, den Leiter des Landesstudios Niedersachsen, für die 19 Uhr Heute-Sendung und für das Wirtschaftsmagazin WISO. Das Interview wurde gesendet und die Redaktion war mit meiner Arbeit zufrieden. Für mich war das eine tolle Erfahrung. 16. Das Deutsche Fernsehen. Eine argentinische Sicht Ein analytischer Vergleich: Der erste und größte Unterschied zwischen Argentinien und Deutschland, den ich bezüglich der Arbeitsbedingungen im aktuellen Nachrichtenbereich beobachten konnte, war mit Sicherheit der unterschiedliche Standard der Ausrüstung des Arbeitsmaterials. Das bedeutet 131 Maricel Drazer Nordrhein-Westfalen sowohl im technischen, als auch im organisatorischen oder im strukturellen Bereich. So stellt sich zum Beispiel in Argentinien für einen Journalisten erst einmal die Frage, ob er für den entsprechenden Arbeitstag eine Kamera zur Verfügung haben wird, um sein Interview oder seine Schnittbilder überhaupt drehen zu können. In Düsseldorf jedoch stellt sich diese Frage erst gar nicht: denn es ist ganz klar, das Kamerateam wird dann bestellt, wenn der Redakteur auf Dreh gehen möchte. Während wir in Buenos Aires mit Mühe und Not in der Redaktion einen mit Computer ausgestatteten Arbeitsplatz versuchen zu ergattern, steht dieser dem Redakteur in Düsseldorf jederzeit zur Verfügung, wann immer er ihn benötigt. Während der Journalist in Buenos Aires versuchen wird, um seine gedrehten Bilder die Nachricht zu stricken, kann der Kollege in Düsseldorf sich die Bilder zu seiner Nachricht meistens passend aussuchen. Entweder indem er ins Archiv geht und sich die Bilder dort besorgt oder in dem er sie eben noch schnell drehen geht. Ebenso wird er sich noch die entsprechende Musik zu seinem Beitrag aus dem Computer aussuchen können, der natürlich auch selbstverständlich einen Internetanschluß hat. Auch wenn es aus europäischer Sicht vielleicht lächerlich erscheinen mag, möchte ich doch noch einmal erwähnen, dass jeder Redakteur seinen eigenen Arbeitsplatz hat, sprich seinen eigenen Schreibtisch, Bürostuhl und Telefonanschluß – und der Drucker hat selbstverständlich Papier! Und um dieses Bild, zum Erstaunen der Argentinier noch zu vervollständigen – oberhalb jeder Tür steht auf einem Schild die Namen und die Funktionen der jeweiligen Redakteure, die in diesem Büro sitzen. Dies wäre auf argentinischem Boden unvorstellbar; in einem Land, in dem der einzelne Mitarbeiter nie wirklich weiß, wie lange er in seiner Funktion noch tätig sein wird und ihm sein Posten sicher ist. Noch nicht einmal sein Arbeitsplatz oder seine Arbeitszeiten sind gewährleistet, geschweige denn, daß man die Gelegenheit hätte, die stets im Wechsel arbeitenden Kollegen überhaupt einmal alle kennenzulernen. Daher ist bei uns die Chance auch um so geringer, dass es einem Mitarbeiter gelingt, seinen Namen auf ein Namensschild drucken zu lassen. Doch es gibt noch mehr Unterschiede zu verzeichnen. So ist beim ZDF die Arbeit gut organisiert, ordnungsgemäß durchgeplant und systematisiert. Das bedeutet, die Aufgaben und Funktionen jedes Mitarbeiters sind grundsätzlich nach bestimmten hierarchischen Kriterien und nach Kompetenz aufgeteilt. (Und wer sich über seine Kompetenzen und seine hierarchische Position nicht sicher sein sollte, der kann alles auf einem Plan nachlesen, der stets im Produktionsbüro aushängt.) Es ist womöglich überflüssig zu 132 Nordrhein-Westfalen Maricel Drazer erwähnen, dass dies in Argentinien nicht die übliche Situation wäre, die man vorfinden würde. Anders gesagt: Sicherlich ist in Deutschland alles durchorganisiert und – geplant, so dass wenig Spielraum für Improvisation bleibt. Die Moderatoren lesen zum Beispiel alle ihre Moderationen von einem Teleprompter ab (ein Bildschirm, auf dem die geschriebenen Moderationen erscheinen und ablaufen, so dass der Moderator diese nur noch während der Sendung in der richtigen Geschwindigkeit ablesen muß und all dies natürlich, ohne dass es sich abgelesen anhört.) In Argentinien pflegen die Moderatoren ohne einen solchen Prompter zu arbeiten. Das heißt, daß wir bereits in unserer Ausbildung lernen müssen, frei vor der Kamera zu sprechen, jederzeit bereit zu improvisieren. Und es passiert nicht selten, dass der Moderator während einer Sendung eine andere Nachricht vortragen muß, als im Ablaufplan vorgesehen war. In letzter Sekunde bekommt er die Nachricht ins Studio gereicht, die aktuellen Ereignisse sind eben nicht immer planbar. So gesehen, auch wenn der journalistische Alltag oftmals hektisch ist und schnelles Handeln erfordert, gibt es beim ZDF doch immer wieder die Möglichkeit, dieser Hektik zu entkommen, indem man oftmals dann doch einfach mehr Zeit hat für seine Beiträge. Denn es ist in der Tat weder notwendig zu hektisch herum zu rennen, noch zu schreien oder permanent mehrere Dinge gleichzeitig zu machen. Und außerdem hat man auch durchaus die Zeit zu essen. Während in Argentinien ein Nachrichten-Journalist drei bis vier verschiedene Beiträge am Tag produziert, so wird der deutsche Kollege nur zwei bis drei Beiträge pro Woche machen. Somit hat er die Möglichkeit, jedes einzelne Thema gut zu recherchieren, und dies mit der nötigen Ruhe und Konzentration. Was die Unterschiede des journalistischen Alltags in Argentinien und Deutschland anbelangt, so führt der offizielle Weg in Deutschland oft zum gewünschten Erfolg. Das heißt, wenn man in Deutschland mit einer bestimmten Person aus dem öffentlichen Leben, sei dies ein Minister, ein Abgeordneter, die Polizei, ein Universitäts-Professor oder ein Arzt sprechen möchte, so findet man sich nicht bei der Suche dieser Person dem endlosen Blättern in Telefonbüchern ausgesetzt oder versackt in irgendwelchen Vorzimmern. Denn die Nummern, die im Telefonbuch oder im Internet angegeben sind, sind nicht nur stets aktualisiert, sondern führen auch noch zu der gewünschten Person. In Deutschland bedarf es nicht unbedingt im beruflichen Alltag eines Journalisten der Fähigkeit, stets alternative Methoden anzuwenden, um sich in einem Vorgespräch ein Bild des Interviewpartners zu machen, genauso wenig muß man herausragende Eigenschaften mitbringen, um in der Lage zu sein, mit der gewünschten Person Kontakt aufzunehmen. 133 Maricel Drazer Nordrhein-Westfalen Gut. Aber um ehrlich zu sein, möchte ich ebenso wenig behaupten, dass diese von mir gerade beschriebene Situation die Ideale ist, oder ausschließlich Vorteile zur Arbeitsweise in Argentinien birgt. So konnte ich zum Beispiel beim ZDF feststellen, dass diese Form der Organisation oftmals mit sehr viel Bürokratie einhergeht, die nicht immer nur produktiv ist. So würde ich zum Beispiel behaupten, dass die argentinischen Arbeitnehmer im allgemeinen und womöglich gerade wegen ihrer Arbeitsumstände, besser in der Lage sind, unverhoffte Situationen zu meistern. Sprich, mit einer größeren Spontaneität und einer gewissen Fähigkeit auch zur Kreativität, mit der sie die schwierigen Situationen dann erfolgreich meistern. 17. Goethe’s Sprache Vor einigen Jahren fing ich aus eigener Motivation heraus an Deutsch zu lernen. Ich hatte das Bedürfnis, die Sprache meiner Vorfahren zu lernen und mich zugleich damit auf ein für lateinamerikanische Verhältnisse ungewohntes Terrain zu begeben. Deutsch zu lernen ist nicht gerade sehr verbreitet in Lateinamerika. Einige Jahre später, 2001, hatte ich dann zum ersten Mal die Chance, das, was ich gelernt hatte, in Deutschland endlich anzuwenden. Und letztes Jahr, 2003, hatte ich erneut diese Chance – worüber ich mich sehr gefreut hatte. Doch dieses Mal ging es nicht darum, Deutschland als „Sprachlabor“ zu verstehen, dieses Mal sollte ich den deutschen Alltag mit Haut und Haaren kennen lernen. Im Anschluß einige heitere Situationen, die ich erlebt habe. Ihnen zum Ursprung lag oftmals ein sprachliches Mißverständnis. „Sauerbier“ Wie jeden Morgen, war auch an diesem Morgen um Punkt 10 Uhr im ZDFLandesstudio in Düsseldorf unsere Redaktionssitzung, in der der Ablauf des Nachrichtentages besprochen und festgelegt wurde. Dieser Morgen war einer meiner ersten Tage beim ZDF. Aufmerksam hörte ich den Kollegen zu, um die Arbeitsabläufe der Redaktion kennenzulernen. Herr Schmuck, der Leiter des Landesstudios, der die Sitzung meistens leitete, verteilte die aktuellen Themen des Tages an die einzelnen anwesenden Redakteure. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hieß es dann, dass noch ein bestimmtes Thema zu vergeben sei, Pamela Seidel erklärte sich bereit, dieses zu übernehmen. Soweit ich das Thema des Beitrages verstanden hatte, handelte es sich um eine bestimmte Biersorte, was mich – da ich ja in Deutschland war – nicht 134 Nordrhein-Westfalen Maricel Drazer besonders überraschte. Um so weniger, nachdem ich in dieser Woche bereits mit einem Team auf Dreharbeiten in einer Brauerei war, bei dem es um Dosenpfand ging. Nachdem die Sitzung also vorbei war und in Anbetracht der Tatsache, dass ich das Thema äußerst spannend fand (typisch Deutsch, oder?) ging ich zur Redakteurin, um sie zu fragen, ob ich sie auf ihrem Dreh begleiten dürfe. Zu meinem Erstaunen handelte es sich nicht um eine mir unbekannte Biersorte, es drehte sich sogar überhaupt nicht um Bier. Es ging vielmehr um ein ganz anderes Thema, das allerdings bei den Kollegen so unbeliebt zu sein schien, dass keiner es übernehmen wollte, bis sich schließlich Pamela mutig bereit erklärte das Thema umzusetzen… „Selbstfahrerstudio“ Bei einer anderen Gelegenheit, in der Hörfunkakademie von Dortmund, erhielt ich, gemeinsam mit meinen europäischen Kollegen, einige Informationen zum Thema „Selbstfahrerstudio“. Für mich war das ein ganz neues Konzept, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte. So versuchte ich jedes einzelne Wort genau zu verstehen, Worte die allerdings für mich keinen Sinn ergaben. So dachte ich, dass es sich um ein Studio handelt, das ich selber fahren müßte, eine Art Fahrzeug, dass der Journalist von außen irgendwie lenken mußte. Dann fiel mir auf einmal ein, dass ich ja gar keinen Führerschein habe.... Schließlich war mir klar, was ein „Selbtsfahrerstudio“ in Wirklichkeit bedeutete: es ging nicht um eine Art Fahrzeug, dass man von außen lenken mußte, sondern vielmehr um ein technisch komplett ausgestattetes Aufnahmestudio, das vom Redakteur selber bedient wird – ohne die Anwesenheit eines Tontechnikers.... Jetzt, da ich meine Stipendiums-Zeit beendet habe, kann ich sagen, dass ich „mit der deutschen Sprache klar gekommen bin“. Ich kann sagen, dass es Tag für Tag und Satz für Satz eine Herausforderung, aber auch immer wieder ein kleiner Kampf war. Dennoch ist die deutsche Sprache mittlerweile für mich keine Barriere mehr in der Kommunikation. Ich habe, wenn auch vielleicht oftmals mit Fehlern und durchaus immer wieder mit sprachlichen Hürden, jede Gelegenheit, die mir der deutsche Alltag bot, voll und ganz und ohne Einschränkungen genutzt. Und natürlich habe ich das alles auf deutsch gelebt! 135 Maricel Drazer Nordrhein-Westfalen 18. Neue Emotionen Das Stipendium hat mir die Gelegenheit gegeben, eine neue Kultur, neue Sitten und Bräuche kennenzulernen, und dies erschöpft sich natürlich nicht, indem man die Abläufe einer Nachrichtenredaktion kennenlernt. Und um darüber hinaus weitere Erfahrungen mit der deutschen Kultur machen zu können, habe ich auf den wertvollen Rat von Frau Kilian gehört. So schickte sie mir eines Tages freundlicherweise einen Prospekt zu, indem Orte in Nordrhein-Westfalen aufgelistet waren, die als sehenswert bezeichnet wurden. Einer dieser Orte war ein „Spa“ - ein Wellness-Center, wo man die Seele baumeln lassen kann und dabei der Gesundheit noch einen Gefallen tut. „Leben wie im Süden. Die neue Dimension, für Sauna, Wellness und Fitness vor den Toren Kölns“ – so der Werbespruch des Ortes. Da die Deutschen gerne reisen, vor allem in den sonnigen Süden, versprach dieser Ort den Süden und dies mitten im Herzen Deutschlands. Es hörte sich interessant an und versprach viel, also nichts wie hin. Wir fuhren also gemeinsam dorthin. Und es sollte wieder eine Erfahrung voller Überraschungen sein. Es drehte sich hier nämlich um einen FKK-Ort, wo man der sogenannten Freien Körper Kultur nachgeht. „FKK – wie Gott sie erschuf. FKK ist für viele Aktive die Verbundenheit mit der Natur ohne Kleiderzwang.“ Auf dem Schild stand so viel wie, dass es wünschenswert sei, dass sich die Besucher in diesem Teil des Wellness-Centers bitte ohne Kleider aufzuhalten haben. Hier ging es also keineswegs um einen Euphemismus. Für mich, aus einer lateinamerikanischen Kultur kommend, die in vielen Punkten konservativer ist, war dies eine ganz neue Erfahrung und eine Herausforderung. Ich erinnere mich noch heute daran, welch eine wirklich neue Erfahrung das für mich war. Und dies, obwohl ich bedingt durch meinen Beruf im Laufe der Jahre doch schon einiges gesehen hatte und viel gereist war. So wurde ich immer mit außergewöhnlichen Situationen konfrontiert und habe mit außergewöhnlichen und zum Teil eigenartigen Menschen Interviews geführt. Aber eine solche Erfahrung, wie in diesem Wellness-Center hatte ich bis dato noch nie erlebt. 19. Weltanschauung Eines habe ich während meines Aufenthaltes in Deutschland vermißt, und ich denke jetzt nicht an das argentinische Fleisch! Mir fehlte vielmehr die argentinische Sicht der Dinge manchmal – die argentinische Weltanschauung sozusagen. Ich habe Gesprächspartner vermißt, die dieselbe Weltanschauung 136 Nordrhein-Westfalen Maricel Drazer wie ich haben, mit denen ich gemeinsam Deutschland kennen- und verstehen lernen konnte. In Argentinien blicken wir von einem anderen Blickwinkel auf die Dinge, und dies nicht nur aus geographischen Gründen. Wir haben andere Bedürfnisse und Prioritäten. So zum Beispiel, wenn es um das Thema Arbeitslosigkeit oder Armut geht. Es erfordert sehr viel, um diese in beiden Ländern vergleichen zu können. Denn wie kann man zum Beispiel die Zahlen der Arbeitslosen in Deutschland mit denen in Argentinien vergleichen, wenn ein Arbeitsloser in Deutschland Arbeitslosenhilfe erhält, während ein Argentinier praktisch dazu verurteilt ist, zu hungern? Wie kann man den deutschen Arbeitslosen mit einem argentinischen Arbeitslosen vergleichen, wenn man in Argentinien zwar durchaus einen Job haben kann und dennoch arm ist und noch nicht einmal für das Nötigste zum überleben aufkommen kann? 20. Intensität Aus allen diesen Gründen und trotz aller dieser Gründe, war meine Zeit in Deutschland eine sehr wertvolle Zeit. Ich habe mich in das deutsche Leben integriert, habe herzliche Menschen kennengelernt, konnte mit alten Freunden wieder gemeinsam neue Momente erleben, ich habe beobachtet und alles, was ich konnte, aufgenommen, ich habe gelernt, an Vorträgen teilgenommen, Bier getrunken. Ich habe gearbeitet und war im Kino. Ich habe aktiv für ein deutsches Fernsehprogramm gearbeitet. Ich habe diskutiert und vor Emotionen geweint. Und all dies habe ich versucht in diesem Bericht zum Ausdruck zu bringen. Wer diese Zeilen lesen wird, auch wenn dies erst Monate oder Jahre später sein wird, und wer noch mehr erfahren möchte, oder mit mir persönlich sprechen möchte, kann mir schreiben (e-mail: [email protected]) oder mich anrufen (00 54 11 48 06 68 20). Und wenn Sie eines Tages in Buenos Aires sein sollten, sind Sie herzlich eingeladen, einige „Mates“ zu trinken. 21. Danksagung Ute Maria Kilian (sie ist mittlerweile eine gute Freundin geworden) – Für ihre wertvolle und große Unterstützung, für ihre Zuneigung und menschliche Wärme. 137 Maricel Drazer Nordrhein-Westfalen – Stipendiaten der Heinz Kühn Stiftung: Hyacinthe aus Benin, Phuong und Huong aus Vietnam, Angelica und Alexandre aus Brasilien – Für den gemeinsam gegangenen Weg. ZDF-Martin Schmuck, Leiter des Landesstudios Nordrhein-Westfalen – Für seine stets freundliche und herzliche Art. Er hat immer versucht, mir das Gefühl zu vermitteln „zuhause“ zu sein. Und wann immer sich die Gelegenheit bot, hat er sich mit mir auf Spanisch unterhalten. – Kerstin Edinger – Sie war stets da, wenn ich sie brauchte. – Pamela Seidel, Heiko Rahms, Andrea Budke – Für ihre Großzügigkeit und ihren Respekt. – Sabine Witt – Für ihr Vertrauen und Freundlichkeit – Birgit Steimann – Für ihre Zusammenarbeit – Bianca Berens, Claudia Kynast, Nicola Kuhrt – Für ihre Unterstützung „Volle Kanne“-Birgit Franke, Arlette Geburtig, Ebba Petzsche, Alexander Block – Sie haben mich stets in die Arbeit integriert. – Nina Betzler – Für die gemeinsam verbrachte Zeit. – Susanne Birnmeyer (ZDF-Studio Hannover) – Für ihre Unterstützung – Margarete Schleicher – Für ihre liebenswerte Aufrichtigkeit – Heinz und Marianne Kilian – Für ihre Gastfreundschaft und Freude – Michael Flucht – Für seinen Respekt mir gegenüber und den, dem ich ihm entgegenbrachte. – Andreas Schmidt – Für seine Zusammenarbeit – Kathrin Schroeter – Für ihre Unterstützung – Esther Marie Merz – Für ihre Freundschaft – Joern Fischer – Weil er immer da war. 138 Angelica Aires de Freitas aus Brasilien Stipendien-Aufenthalt in Nordrhein-Westfalen 01. September bis 30. Dezember 2003 139 Nordrhein-Westfalen Angelica Aires de Freitas Eindrücke aus dem Ruhrgebiet Von Angelica Aires de Freitas Nordrhein-Westfalen vom 01.09. – 30.12.2003 141 Nordrhein-Westfalen Angelica Aires de Freitas Inhalt 1. Zur Person 144 2. Wichtige Wörter 144 3. Der kurze Weg hinauf 145 4. Wie die Oberfläche des Mondes 147 5. Halden, ein Überblick 148 6. Einige Zahlen 150 7. Freiwillig wächst nichts 150 8. Links 151 9. Danksagung 151 143 Angelica Aires de Freitas Nordrhein-Westfalen 1. Zur Person Angélica Aires de Freitas, geboren am 08.04.1973 in Pelotas, Rio Grande do Sul, hat Journalistik in Porto Alegre studiert (1995-2000). Im Januar 2001 begann sie als Reporterin bei „O Estado de S.Paulo“ zu arbeiten, eine der größten Zeitungen Brasiliens. Nach Erfahrungen als Politikredakteurin schreibt sie jetzt Nachrichten und Reportagen für die Lokalteile „Cidades“ und „Geral“. 2. Wichtige Wörter Bergbau, Zeche und „Glück auf“: Die ersten Wörter und Ausdrücke, die ich in Bochum, bei meinem Praktikum bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) lernte. Alle Wörter haben mit Kohleabbau zu tun. Bergbau bedeutet die Förderung der Bodenschätze wie Kohle; eine Zeche ist der Ort, wo die Kohle gefördert wird; und „Glück auf“ ist, was die Bergleute sagen, bevor sie runter in die Zeche fahren: Das bedeutet nämlich „Viel Glück auf der Zeche“ oder „Viel Glück bei der Arbeit“. Ungefähr 6 Millionen Leute wohnen im Ruhrgebiet, und ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist von Industrie geprägt. Es ist nicht möglich, Zeit im Ruhrgebiet zu verbringen, ohne an Kohle oder Stahl zu denken. Konkret: In der Nähe meiner Wohnung gibt es eine „Gußstahlstraße“. Und eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt ist das Bergbau-Museum, wo man einige Exponate aus der Bergbau-Geschichte besichtigen kann. Von seinem Förderturm kann man das „Revier“ (ein anderes Wort für Ruhrgebiet) beobachten. Um alles, was das Museum bietet, zu sehen, braucht man zumindest einen ganzen Tag. Die andere berühmte Bochumer Sehenswürdigkeit ist „Starlight Express“, das am längsten laufende Musical der Welt: In 10 Jahren kamen über 10 Millionen Zuschauer. Die Geschichte der Züge ist das Thema, dargestellt von Schauspielern auf Rollschuhen. Das hat auch mit Industrie zu tun, natürlich. Man kommt nicht am Bergbau vorbei, aber seit den 70er Jahren ist die Kohle nicht mehr der wichtigste Arbeitgeber im Revier. Man spricht vom „Strukturwandel“, ein anderes Wort, welches ich viel gehört habe. Bergbau-Jobs gibt es kaum mehr; jetzt stehen beispielsweise Berufe im Dienstleistungssektor und High-Tech im Mittelpunkt. Und man hört ebenfalls oft über Spitzentechnologie-Projekte, entwickelt von den Universitäten in Essen und in Bochum. Fast am Ende meines Aufenthalts in Bochum habe ich das Wort „Halde“ gelernt. Und als ich einige dieser großen Berge sah – es sind fast 90 - dann 144 Nordrhein-Westfalen Angelica Aires de Freitas wusste ich, dass diese ein guter Ausdruck für die Änderungen im Ruhrgebiet waren – wo der Bergbau nicht nur die ökonomische Struktur bestimmte, sondern auch die Landschaft. 3. Der kurze Weg hinauf Es war Nikolaus-Nachmittag in Bottrop, sonnig, aber kalt. Nach 50 Kilometern auf seinem Mountainbike machte der Sozialarbeiter Frank Domeyer eine kleine Pause. Er hatte es sich verdient: Das war eine mindestens 90 Meter hohe Fahrt bis zu dieser Bank. Domeyer saß und erholte sich. Er konnte die Dächer von Oberhausen, Duisburg und Essen sehen. Die ganze Industriekulisse. Einmal in der Woche kommt der 41-Jährige von Dinslaken, und genießt diesen herrlichen Blick vom Ruhrgebiet. An diesem Nikolaustag wurde seine Ruhe von einer vor Kälte zitternden HeinzKühn-Stipendiatin unterbrochen. Sie wollte wissen, was er über die Halde Prosper-Haniel denkt. Die Heinz-Kühn-Stipendiatin war ich. Ich fror und hatte schmutzige, schwarze Hände – musste an Wurzeln und Bäumchen greifen, um hoch zu klettern, manchmal in wahrscheinlich 70 Grad Steigung. Die Halde war der Ort, wo wir derzeit waren: Ein Berg, entstanden aus den nicht genutzten Kohleabbau-Materialien von den Schachtanlagen Prosper, Jacobi und Franz Haniel. Grund für ihre Existenz: Irgendwo musste der „Müll“ vom Bergbau – der dort in den 20er Jahre begann - deponiert werden. Diese Berge haben tatsächlich die Landschaft des Ruhrgebiets verändert. Wenn es keine Halden gäbe, wäre es eigentlich ganz flach zwischen den Flüssen Lippe und Ruhr. Das bedeutet nicht, dass die Einwohner zufrieden mit diesen LandschaftsÄnderungen waren. Halden waren hässlich. Manchmal brannten sie sogar. Aber das war früher. Domeyer guckte mich an und fragte freundlich, ob das Gespräch kurz sein könnte. Ich stimmte zu. Es ist sehr windig auf der Halde; und es ist gar nicht einfach, dort ein Interview zu führen. Meine Finger waren so kalt, dass ich den Kugelschreiber nicht gut greifen konnte. „Ich finde, es ist ein positiver Aspekt des Industrie-Recycling“, sagte der Sozialarbeiter. „Dass der Industrieabfall kulturell genutzt werden kann.“ Er sprach über den früheren Schmutz, den er in seiner Kindheit erlebt hatte, und das jetzige Grün. Und wie die Industrie das ganze Ruhrgebiet geprägt hat. Endlich hat er einen Satz gesagt, den ich in fast zwei Monaten im Revier kaum gehört hatte: „Es ist ganz schön hier.“ Ja, viele Leute im Ruhrgebiet betrachten ihre Heimat nicht als Schönheit. Aber den Blick von den Halden lieben sie: Laut Kommunalverband 145 Angelica Aires de Freitas Nordrhein-Westfalen Ruhrgebiet (KVR), der verantwortlich für die Kultur- und Freizeit-Aspekte der Halden ist, ist die reizvolle Aussicht der erste Grund für eine Haldenbesichtigung: 62 Prozent der Leute haben das beantwortet, gemäß einer 2001 geführten Umfrage. Klettern ist nicht mein Bereich. Wenn die Möglichkeit besteht, dass ich fallen kann, dann falle ich. Aber der kürzere Weg hinauf, sagt mein Kollege Bert Giesche von der WAZ, wäre ein Pfad, der ganz nass und deswegen rutschig sei. Bert hat mich zu den Halden geführt, und weil er schon Erfahrung hat, ging er vor. Ich griff an die dünnen Bäumchen und hoffte, nicht zu fallen. So konzentriert war ich, dass ich kaum dachte, dass jene Bäumchen in einem früher „toten“ Boden geboren waren. Hier wurden Erlen, Robinien und Roteichen, unter anderen, in der 50er-60er Jahren gepflanzt. Ein Wunder, wenn man so will. Ein Wunder ebenfalls, dass ein früherer Schutt-Berg heute eine Sehenswürdigkeit ist. Berühmten Besuch hatte die Halde Prosper-Haniel auch: der Papst selbst. (Ich schätze, er hat den langen Weg gewählt). Am 2. Mai 1987 las Johannes Paul II eine Messe auf der Halde. Anlässlich des Besuches wurde ein Kreuz von der Künstlerin und Ordensfrau Tisa von Schulenburg und Bergleuten von Prosper-Haniel errichtet. Auf dem Altar sind Worte des Papstes zu lesen: „Die Arbeit gehört zum Menschen. Sie ist Ausdruck seiner Ebenbildlichkeit mit Gott.“ Der lange Weg hoch ist eigentlich ein Kreuzweg, 1995 eingeweiht, den viele Gläubige am Karfreitag gehen. Frank Domeyer über die Revitalisierung der Halde: „Die Kombination mit der Begrünung der Halde und dem Kreuzweg ist das Beste, was sie machen konnten.“ Vom Fuß bis zum Gipfel sind es 15 Stationen. Es gibt keine Bilder der Leiden Christi zu sehen, sondern Objekte, die mit Bergbau zu tun haben. Maschinenteile, zum Beispiel. Der Geschmack mag umstritten sein, aber er zeigt, wie wichtig der Kohleabbau war und ist. Übrigens, in Bottrop ist der größte Arbeitgeber immer noch der Bergbau, mit 4.500 Mitarbeitern. 94 Prozent der Bevölkerung der Stadt Bottrop sollen eine Halde schon besichtigt haben. Laut Kommunalverband Ruhrgebiet liegt das Potential der Halden in der Kombination der Freizeitaktivitäten. Das Kunst- und Kulturerlebnis sei verantwortlich für 17 Prozent der Besucher. Zum Beispiel: Auf der Halde Prosper-Haniel gibt es ein rundes Amphitheater oder Freilicht-Theater (1997), wo Stücke etwa „Jedermann“, von Hugo von Hoffmannsthal schon inszeniert wurden. Und Kunstobjekte: Eine Reihe bunter Eisenbahnschwellen, jede ungefähr 2 Meter groß, wurde aus Spanien mitgebracht. Der Künstler, Agustin Ibarrola, hat die Schwellen in seinem Atelier in Bilbao bearbeitet, und später (2002) ist er ins Ruhrgebiet gekommen, um das Kunstwerk aufbauen zu lassen. 146 Nordrhein-Westfalen Angelica Aires de Freitas Ich verabschiedete mich von Frank Domeyer, und kurz danach war er wieder unterwegs. Wir mussten auch gehen, Richtung „Halde des Tetraeders“. Trotz der Kälte kamen uns auf dem Rückweg andere Fahrradfahrer entgegen. 4. Wie die Oberfläche des Mondes Die „Halde des Tetraeders“ wird auch genannt Halde Beckstrasse oder „Haldenereignis Emscherblick“ – aber der erste Begriff ist am häufigsten. Das ist auch die bekannteste Halde im Ruhrgebiet. Wie ein gigantisches, außerirdisches Gebäude liegt ein Tetraeder auf dem schwarzen, kahlen Gipfel der 90-Meter-Halde. Der Tetraeder ist 50 Meter hoch, es sind 200 Stufen bis nach oben. Dort gibt es drei Aussichtsplattformen. (Auch um den Kontakt mit dem All zu probieren?) Durch kleine Löcher in der Stahltreppe, pfeift der Wind. Kombiniert mit dem Geräusch der eigenen Schritte, klingt es wie industrielle Musik - und das ist ein geeigneter Soundtrack. Auf der Halde gingen Leute mit ihren Hunden spazieren. Eine Gruppe, drei Frauen und ein Mann, machten Photos. Hinter ihnen war das AlpinCenter, auch auf einer Halde gebaut, zu der Touristen aus ganz Deutschland und sogar Holland kommen. Denn eine Attraktion ist eine Skihalle mitten im Ruhrgebiet, wo es selten schneit, sicher für viele Sportfans. Noch dahinter war ein Schornstein, der große Rauchwolken in den blauen Himmel blies. Ich bin zu der Gruppe gegangen, um ihre Meinung über das „Haldenereignis“ herauszufinden. Der Mann hieß Sascha Wittbeck und kam aus Dorsten. Das war seine dritte Besichtigung. Ich fragte ihn über den Tetraeder, 1995 eingeweiht, ein Projekt des Darmstädter Architekten Prof. Wolfgang Christ, und über den Blick. Der 24-jährige dachte darüber nach, und sagte dann schließlich: „Bei klarem Wetter kann man ein bisschen von der Industrie sehen. Aber die Landschaft ist nicht so attraktiv.“ Die Sozialpädagogin Maria Pflug (52), aus Neumarkt, Bayern, die mit Sascha Wittbeck unterwegs war, meinte: „Die Halde hat mir sehr gut gefallen. Es ist schon was besonderes, mit dem Tetraeder. Alles aus Stahl.“ Aus Stahl sind auch die Bänke auf der Halde. Sie scheinen DesignerBänke zu sein. Aber bei kaltem Wetter ist Sitzen undenkbar. Ob die Kälte wirklich eine Rolle spielt? Silvester, wenn es viel kälter ist, kommen hunderte Bottroper hierher, um ihre Knaller und Raketen anzuzünden. Von der Halde ist es möglich, die Feuerwerke im ganzen Ruhrgebiet zu sehen. Der Blick soll herrlich sein. Man vergisst einfach, dass man auf den nicht benutzten Materialien der „Musterzeche“ Arenberg (1912-1930) steht. 147 Angelica Aires de Freitas Nordrhein-Westfalen Heute noch sollen 37 Prozent der Ruhrgebietsbevölkerung an Kohle und Zechen denken, wenn sie das Wort Halde hören, laut Umfrage des Kommunalverbands Ruhrgebiet. Dagegen denken 30 Prozent an Grün und Freizeit. Als ich die Halde des Tetraeders verließ, habe ich einen Dialog zwischen einem Paar gehört. Er fragte sie: „Wie sieht das aus?“. Und sie sagte: „Wie die Oberfläche des Mondes.“ Außerirdisch, also. 5. Halden, ein Überblick Die ersten Halden wurden so gebaut: die Bergbaumaterialien, für die es keine Verwendung mehr gab, wurden von einem Förderband oder einem Lastwagen einfach nur an einem Ort abgekippt. So entstanden sogenannte „Spitzkegel“ Halden – und das passierte bis ungefähr 1967, als die ersten „Richtlinien für die Zulassung von Berghalden im Bereich der Bergaufsicht“ erschienen. Dann wurden sie als Landschaftsbauwerke gebaut. Man kann schon verstehen, was für ein Problem die Halden waren, wenn man erfährt, dass bis zu Beginn der 80er Jahre diese nicht benutzten Materialien 43 Millionen Tonnen im Jahr ausmachten. Mit weniger Kohleförderung war die Erwartung für 1995 immerhin noch bei 16 Millionen Tonnen pro Jahr. Das führte natürlich zu Problemen. Dietmar Schulz schrieb in seinem Artikel „Begrünung von Steinkohlebergehalden“ (im Buch „Bergehalden des Steinkohlenbergbaus, Vieweg, 1991) dass diese neuen Berge die Umgebung – Siedlungsgebiete, das heißt, dort, wo die Bergleute und ihre Familie wohnten - durch Rauchentwicklung belästigten; und dass die Begrünung auch schwierig war. Seit die ersten Richtlinien für die Zulassung von Berghalden erschienen, gibt es Maßstäbe dafür, wie ein solcher Berg gebaut werden muss: etwa wie ein terrassierter Tafelberg. „Mit strengen Linien und harten Konturen“, beschreibt Schulz. Das würde auch „Bergrutsche“ vermeiden. Aber die Halden waren immer noch ein Problem. Ihr Material bestand aus Tonschiefer und Sandstein, und natürlich auch aus einem Anteil an Steinkohle. Es war nicht möglich, alle Kohle von den anderen Materialien zu trennen. Und je mehr Steinkohle und Sauerstoff, desto größer war die Möglichkeit der „Ausbrennung“. „Weil der Kohle-Anteil so hoch war – etwa 30 oder 35 Prozent - haben die Halden sich selbst entzündet. Die fingen an zu qualmen“, sagt der Garten- und Landschafts-Architekt Wolfgang Buron. Heute besteht diese Gefahr nicht mehr, weil der Anteil der Kohle auf fast 2 Prozent verringert wurde. „Aber es gibt Halden, die heißer als ihre Umgebung sind. Durch Infrarot-Photos kann man sehen, dass es Punkte 148 Nordrhein-Westfalen Angelica Aires de Freitas gibt, wo es heiß ist“, so Buron. Der Architekt kann sich gut an ausgebrannte Halden erinnern, die er in seiner Kindheit in den 50er Jahren gesehen hat. Und früher war es ganz normal für Kinder, in der Nähe von Halden zu spielen, erzählte er. „Die Halden gehören zu meiner Heimat wie die Zeche, wie die Schwerindustrie.“ Wann eigentlich hat diese neue Ausrichtung auf Freizeit und Kultur für diese Halden begonnen? Buron: „Das war eigentlich ein Zufallsprodukt. Die Leute haben gemerkt, so schön sind die nicht.“ Und die Ausbrennung war auch ein Grund. So haben die Behörden und die Bevölkerung im Ruhrgebiet entschieden, die Halden zu begrünen – und Kunst-Objekte aufzustellen. Buron bezeichnet sich selber nicht als Haldenexperten, sagte aber, das er sich ganz intensiv mit Halden beschäftigt hat. „Ich verstehe ein wenig mehr“, betonte er, in unserem Telefongespräch, aus seinem Essener Büro. Als ich ihn fragte, ob er im Ruhrgebiet geboren ist, antwortete er stolz: „Ja, und ich habe es nie verlassen.“ Er erzählte mir, wie schmutzig die Luft früher war: es gab immer mindestens einen halben Millimeter schwarzen Staub auf den Fenstern. Um Umweltprobleme zu umgehen, hat die Landesregierung NordrheinWestfalen schon 1957 eine „Begrünungsaktion Ruhrkohlenbezirk“ vorgenommen. Begrünung war leider gar nicht billig. Die Oberfläche musste überprüft werden auf Verwitterungszustand, ph-Werte und auch Erosionsrisiken – das bedeutete viele Kosten. Und auf Halden, wo die Temperatur zwischen 80 und 90 Grad lag, war es ebenfalls schwierig, Pflanzen zu finden, die dieses „Klima“ ertragen konnten. Am Anfang der 70er Jahre gab es Proteste gegen die „störenden Elemente“ in der Landschaft. Eigentlich sind die ersten Beschwerden wegen der Halden bereits 1900 erschienen. Die Berg- und Hüttenmannischen Zeitung Nr. 52 berichtete: (...) die großen Bergwerksgesellschaften, die früher ganz besonders zur Vernichtung unserer Wälder beigetragen haben, sind jetzt auch bemüht, ihrerseits nach Möglichkeit dadurch zur Pflege und Vermehrung von Busch und Wald beizutragen, dass sie alte Berghalden mit Bäumen und Sträuchern bepflanzen lassen.“ Auf der Halde Zollverein, in Essen, zum Beispiel, wurden schon 1895 Robinien gepflanzt. Auf anderen Halden wurden Birken, Akazien und Haselnusssträucher gesetzt. Aber nicht alle Bäume können auf solchen Böden wachsen. Immer noch nicht. 149 Angelica Aires de Freitas Nordrhein-Westfalen 6. Einige Zahlen Am Ende des Sommers 2001 hat der Kommunalverband Ruhrgebiet eine Telefonumfrage durchgeführt, um zu erfahren, was die Leute im Revier über die Halden denken. 918 Personen nahmen teil und nannten 79 Halden. Die bekanntesten: Das Emscherblick Haldenereignis mit dem Tetraeder und dem Alpin-Center, und die Halde Haniel mit ihrem Kreuzweg. Die Halde des Tetraeders sollen 83 Prozent der Einwohner Bottrops schon besichtigt haben. Die Bevölkerung der Nachbarstädte kommt auch oft: 38 Prozent der Gelsenkirchener und 32 Prozent der Oberhausener waren schon da. Für 83 Prozent der Befragten seien die Halden ein gutes Beispiel der Änderung in der Region hin zu einem Strukturwandel. Sind Halden ein gutes Aushängeschild für die Region? 81 Prozent haben mit „Ja“ geantwortet. Mehr als 40 Prozent der Einwohner sollen eine Halde schon besichtigt haben. Regelmäßig besuchen sie 21 Prozent, davon 6 Prozent einmal in der Woche. Und für die sind Spazieren (78%), Radfahren (64%) und Naturbeobachtungen am wichtigsten. Andere Beispiele von FreizeitVeranstaltungen sind das Drachenfest auf der Halde Pattberg in Moers und Mountainbike Events auf der Halde Hoppenbruch. Für 55% der Besucher lohnte es sich, die Halden zu sehen, um ihre positive Entwicklung zu beobachten. 7. Freiwillig wächst nichts Drei Tage nach Nikolaus habe ich die Straßenbahn 308 genommen, Richtung Gerthe, ein Viertel im Norden Bochums. Es ist wie ein kleines Dorf, mit einer Fußgängerzone, alten Gebäuden und Geschäften. Ich bin dahin gefahren, um die neu eingeweihte Halde Lothringen zu sehen. Sie ist viel kleiner als die Halden, die ich vorher besucht habe. So klein, dass nicht viele Leute mir sagen konnten, wo sie liegt. Auf der Halde steht ein großes, gelbes Kunstobjekt aus metallischen Rohren: die „über(n)ort“ Skulptur der Münsteraner Künstlerin Kirsten Kaiser. Sie sieht aus wie ein großer Zaun oder eine Brücke, oder sogar ein Kai. „Sehr industriell“, habe ich sofort gedacht. (Später, in meinem Gespräch mit dem Architekten Wolfgang Buron habe ich ihm gesagt, dass ich nicht viel davon verstehen konnte. Er lachte und antwortete: „Das ist Kunst, ja. Sie brauchen es nicht zu verstehen“.) Die Umgebung riecht nach Industrie: eine Mischung von Kohle, Benzin und verbrannten Reifen. Der Boden ist schwarz – von der Kohle - und es gibt kaum eine Pflanze zu sehen. Ein Schild der Route-Industriekultur in150 Nordrhein-Westfalen Angelica Aires de Freitas formiert, dass da nichts freiwillig wächst. Die Erklärung ist, dass diese steile Oberfläche keinem Samenkorn Halt bietet. Wind und Regen erlauben es nicht. Der Boden muss bearbeitet werden, so dass er flach genug wird. Ich war nur kurz auf der Halde Lothringen: Es gibt einen ungefähr 300 Meter Spaziergang, nicht mehr. Viel zu sehen gibt es nicht, aber es kann ein guter Zielort sein, für einen sonnigen Samstag, und um mit dem Hund spazieren zu gehen. Dass die Halde so klein war, aber jetzt auch gepflegt wird, hat mir einen positiven Eindruck gegeben. Die Arbeit ist nicht umsonst. Es soll schon die ersten Lebenszeichen geben: Vögel wie Bussarde, die Mäuse jagen; sind von Mai bis in den Herbst am Himmel zu sehen; Schmetterlinge, z. B. die Admirale, haben sich hier niedergelassen, und das schmalblättrige Greiskraut, aus dem fernen Südafrika stämmig – soll ganz gut den Schwierigkeiten widerstehen. 8. Links Diese Internetseiten bieten Auskunft über das Ruhrgebiet. Kommunalverband Ruhrgebiet (http://www.ruhrgebiet.de) Route der Industrie-Kultur (http://www.route-industriekultur.de) 7. Danke schön Ich danke der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) Redaktion in Bochum, für ihre Hilfe und Geduld während meines Praktikums. Ich habe viel über Journalismus und die Deutsche Sprache bei der WAZ in zwei Monaten gelernt. Besonders möchte ich Bert Giesche von der StadtteilRedaktion danken: ohne ihn wäre dieser Bericht nicht möglich gewesen. Schließlich danke ich der Heinz-Kühn-Stiftung, für die Möglichkeit, ein Praktikum in Deutschland zu machen. Das war eine Erfahrung, die ich für immer schätzen werde. 151 Arlette Geburtig aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Südafrika 30. Oktober 2003 bis 14. Februar 2004 153 Südafrika Arlette Geburtig Südafrika am Scheideweg Menschenbilder und Momentaufnahmen Von Arlette Geburtig Südafrika vom 30.10. 2003 – 14.02.2004 155 Südafrika Arlette Geburtig Inhalt 1. Zur Person 160 2. Transformationsgedanken 160 3. Lost in Translation – die ersten Verwirrungen 160 4. Praktikum bei SABC 4.1. Special Assignment – die weiße Sicht auf Südafrika 161 162 5. Soweto 5.1. Bei Familie Rapotho 5.2. Ubuntu gibt’s nicht mehr 5.3. Kein Geld für Bildung – Tshebedisanong Primary School 5.4. Aidsforschung im Baragwanath Hospital 163 165 166 167 170 6. NISSA hilft misshandelten Frauen 7. HIV ist überall – Hintergründe und Gespräche zur Aidspandemie 7.1. Community Aids Center Hillbrow 7.2. Geduld ist eine Tugend - das Treffen mit Angie Diale 7.3. HIV – vor allem ein Problem der Armen 7.4. Aids ist auch ein kulturell bedingtes Problem 172 174 174 175 176 178 8. Themba Labantu – Ein Pfarrer im wilden Westen 8.1. Die Suppenküche von Philippi 8.2. Wie Weihnachtssterne HIV-Infizierten helfen 8.4. Township-Schicksale 180 182 183 184 9. Radio Zibonele 9.1. Der Gesundheitssender für das Volk 9.2. Alles im Kopf 9.3. Ein DJ mit Deutschlanderfahrung 185 186 187 188 10. Die Frauengewerkschaft SEWU und der informelle Sektor 189 11. Black Empowerment und die ANC Women’s League 191 157 Südafrika Arlette Geburtig 12. Zukunftsgedanken über Südafrika 192 13. Danke 195 159 Arlette Geburtig Südafrika 1. Zur Person Arlette Geburtig, geboren am 29.10.1970 im Taunus. Studium der Neueren Deutschen Literatur und Medienwissenschaften, Italienisch und Französisch an der Philipps-Universität Marburg; daneben Studienaufenthalte in Frankreich und Italien. Mitarbeit bei der DeutschItalienischen Kulturzeitschrift Onde, Praktika bei n-tv, RTL, sowie freie Mitarbeit beim Hessischen Rundfunk, SAT 1 und dem WDR. Volontariat bei Radio K.W. in Moers und Rheinberg. Seit 2000 Redakteurin beim ZDFVerbrauchermagazin „Volle Kanne - Service täglich“ in Düsseldorf. 2. Transformationsgedanken Südafrika ist an einem Scheideweg. Was wird aus dem Schwellenland, das als Vorbild für den ganzen Kontinent angesehen wird? In den nächsten Jahren wird es sich entscheiden. Ist es dem Untergang geweiht oder wird es den Übergang in die erste Welt schaffen? Diese Fragen stellen sich überall während meines Aufenthaltes, denn es ist kurz vor den dritten demokratischen Wahlen des Landes (14. April 2004). Darüber spreche ich mit Intellektuellen, Politikern und Journalisten, aber auch mit weniger gebildeten Menschen und sogar mit Township-Bewohnern. Am kritischsten sind weiße Südafrikaner, aber auch viele Schwarze haben Angst und sind unsicher, was ihre Zukunft anbelangt, obwohl in den vergangenen zehn Jahren nach dem Ende der Apartheid schon so viele positive und viel versprechende Entwicklungen in diesem Land stattgefunden haben. Doch zwei Probleme werden immer übermächtiger: zum einen die stetig wachsende Zahl der Aidskranken und zum anderen die hohe Arbeitslosigkeit. Beide Probleme wirken sich auf die wirtschaftliche Lage und die private Situation jedes Einzelnen im Lande aus. Hier muss dringend etwas geschehen, wenn das Land nicht zugrunde gehen soll. 3. Lost in Translation – die ersten Verwirrungen Das erste Abenteuer ist die Orientierung in der 3,5-Millionen-Stadt Johannesburg. Sie ist nicht einfach, bei mehreren Dutzend Bezirken und den immer gleichen Straßennamen. Egal in welchem Stadtteil man sich gerade befindet, es gibt immer eine 5th Avenue, eine 3rd Road oder eine 7th Street, die aber nicht zu verwechseln ist mit der 7th Road, oder manchmal 160 Südafrika Arlette Geburtig doch? Viele Straßen werden von den jeweiligen Regierungsbeamten auch einfach umbenannt, darum sollte man immer die neueste Karte haben. Das zweite Abenteuer ist die Autovermietung: „Rent a Wreck“. Für umgerechnet 8 Euro am Tag, inklusive Versicherung und Freikilometer, bekomme ich in Downtown Johannesburg tatsächlich ein Wrack. Es fährt, aber niemand weiß wie lange. Meines bleibt ca. einmal pro Woche liegen, aber die Mechaniker von der Autovermietung bekommen es immer wieder flott. Auch die Sprachen haben es in sich. Zwar wird in Südafrika fast überall Englisch gesprochen (d.h. neben den anderen zehn Landesprachen), allerdings muss man sich an dieses Englisch erst einmal gewöhnen, denn zunächst klingt es wie eine afrikanische Stammessprache mit Klicklauten und rollenden Rrrs. Die Grammatik scheint der Kreativität des Einzelnen zu entspringen. Aber der gute Wille zählt und hilft letztendlich Sprachbarrieren zu überwinden. In meinem Fall dauert es ca. drei bis vier Wochen, dann verstehe ich fast jeden. Am Schluss kann ich sogar am Telefon die Hautfarbe des anderen „hören“, so wie das für Südafrikaner ganz selbstverständlich ist. 4. Praktikum bei SABC SABC – South African Broadcasting Corporation – das ist wie ARD und ZDF zusammen, nämlich die öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehanstalt in Südafrika. Sie ist riesengroß und besitzt drei verschiedene Fernsehkanäle: SABC 1, 2 und 3. Die ersten beiden Kanäle decken alle elf Landessprachen ab, der dritte sendet nur in Englisch. Desweiteren unterhält SABC 18 Radiosender. Der Hauptsitz befindet sich in mehreren großen Gebäuden in der Artillery Road im Stadtteil Auckland Park von Johannesburg. Nationaler Rundfunk- und Fernsehsender – das klingt nach Bürokratie und mit ihr werde ich auch gleich am ersten Tag bekannt gemacht. Die Pförtner lassen mich zwei Stunden am Eingang warten, bis mich jemand von der Redaktion abholt. Ohne Hausausweis darf ich nicht alleine durch die bewachte Absperrung vor dem Bürotrakt. Das gleiche Spiel wiederholt sich noch zweimal, bis ich einen eigenen Hausausweis mit Foto erhalte, der mir von da an Zutritt gewährt. Meine Tasche wird trotzdem jeden Tag am Ein- und Ausgang gescannt, wie von jedem anderen Mitarbeiter auch. Wenn ich mein Aufnahmegerät mitbringe oder einen Fotoapparat, bekomme ich ein umfangreiches Formular, aus dem hervorgeht, dass es sich um mein Eigentum handelt und nicht um Diebesgut. Pech für denjenigen, der ein solches Formular verliert! Das ist einer Moderatorin mit ihrem Laptop passiert, vermutlich darf sie ihn bis heute nicht mit nach Hause nehmen. 161 Arlette Geburtig Südafrika Ich bin stolz, dass ich mich nach ca. einer Woche in dem gewaltigen Gebäude auskenne. Alle drei Kanäle befinden sich hier unter einem Dach. Zusammen ergeben sie bereits über die Hälfte der empfangbaren Programme im Lande – und da wird andernorts von Monopolismus gesprochen. Die Radiokanäle von SABC sind gleich nebenan in einem anderen Gebäudekomplex. Sie haben zwar den besten Empfang im ganzen Land, müssen aber mit zahllosen Privatsendern und Community-Radios konkurrieren, womit der freie Wettbewerb wieder hergestellt wäre. Auf dem Weg zur Arbeit sehe ich fast jeden Tag einen schweren Autounfall und mit der Zeit wird mir klar, warum Johannesburg als so gefährlich gilt. Vor den meisten Ampeln stehen schwarze Obst- oder Zeitungsverkäufer und klopfen an die Autofenster. Manchmal sind es auch Kinder, die kleine Kunststücke aufführen oder einem nur die Hände entgegen strecken. Ich bin gebeten worden, ihnen niemals Geld zu geben, da sie sich Klebstoff davon kaufen würden – zum Schnüffeln. Auch „Dacha“, also Marihuana, kostet umgerechnet nur ein paar Cent und wird von vielen konsumiert. Mich erstaunt, dass mir des Öfteren weiße Bettler auf der Straße begegnen, vor allem Männer. Unter ihnen sind auch viele junge Leute – ob das bereits eine Folge des „Black Empowerment“1 ist? 4.1. Special Assignment – die weiße Sicht auf Südafrika Special Assignment heißt die Sendung, bei der ich mein Praktikum machen darf. Ein investigatives Programm, das einmal wöchentlich auf die Missstände des Landes aufmerksam macht und mit seinen 20-minütigen Reportagen versucht, „für diejenigen zu sprechen, die nicht für sich selbst sprechen können“, erklärt mir die Moderatorin Anneliese Burgess. Sie ist eine von sechs Redakteurinnen, neben nur zwei männlichen Kollegen in der Redaktion, die die Sendung gestalten. Fast alle sind weiß, bis auf eine Muslimin. Sie sprechen entweder Afrikaans oder Englisch. Die Themen während meines Praktikums sind Drogensüchtige auf Entziehungskur, die Katholische Kirche, die trotz Aids gegen Kondome protestiert, ein Nahrungsmittelskandal, die mutmaßliche Spionageaffäre eines Polizeichefs und zu hohe Telefonrechnungen. Meine Aufgabe ist es, den Redakteuren Interviews zu besorgen, zu recherchieren und ab und zu als Ton-Assistent bei Dreharbeiten auszuhelfen, da die Redaktion ähnlich wenig Geld für ihre Produktionen zur Verfügung hat wie wir in Deutschland. Aber mir macht 1 Als „Black Empowerment“ wird die Transformation der Wirtschaft in Südafrika bezeichnet. Das Regierungsprogramm „Black Economic Empowerment“ kurz: BEE steht für die Förderung der Teilhabe schwarzer Bürger an der Wirtschaft. 162 Südafrika Arlette Geburtig es Spaß, denn auf diese Weise bekomme ich gute Einblicke in die Arbeit der südafrikanischen Journalisten-Kollegen. Ob Special Assignment mit ihren Berichten aber wirklich die Mehrheit der Bevölkerung vertritt, ist die Frage und ob diese Berichte den Menschen helfen, ebenso. Soviel ich erfahre, ist es eher die Oberschicht, die diese Sendung schaut. Ohne Zweifel ist Special Assignment anspruchsvoll. Die Reportagen konzentrieren sich jedoch überwiegend auf die Aufdeckung der Missstände und die kritische Bewertung, nicht auf Informationen, wie und wo Betroffene Hilfe bekommen. Tatsächlich herrscht in Südafrika auch ein Mangel an Einrichtungen, die Bürgern bei ihren Problemen helfen. Für meinen Vorschlag, so etwas wie Verbraucherzentralen in Südafrika einzurichten, ernte ich daher großen Beifall. Die einzige schwarze Mitarbeiterin bei Special Assignment ist die Sekretärin Dimmakazu. Sie ist 24 Jahre alt und hofft seit Jahren, als Redakteurin bei SABC arbeiten zu dürfen. Die Überzahl an weißen Redakteuren in dieser Redaktion ist untypisch für SABC. Denn als staatliches Unternehmen sollte der Sender im Sinne der „Affirmative Action“2 80 Prozent schwarze Mitarbeiter einstellen. In den anderen Abteilungen wird diese Quote erfüllt. Feindschaft aufgrund der Hautfarbe kann ich nirgendwo im Hause feststellen. 5. Soweto Morgens um halb acht ist es in Soweto am schönsten. Dann geht die Sonne über den bunt zusammen gewürfelten Häuschen und Baracken auf und die Kinder laufen in ihren schwarz-weißen Schuluniformen über die Felder, auf denen schon lange nichts mehr angebaut wird, um zur nächstgelegen Schule zu gelangen. In den engen staubigen Gassen zwischen den „Shacks“, den Bretterbuden oder „Streichholzschachteln“, wie sie genannt werden, weil sie nicht viel größer sind als solche und mehrköpfige Familien beherbergen, ertönen Musikfetzen und Nachrichten aus klapprigen Radios. Dazwischen ist Stimmengewirr von Familienmitgliedern zu hören, die sich zanken, unterhalten oder sich zum Ausgehen fertig machen. Draußen auf den staubigen Wegen tragen Frauen in bunten afrikanischen Gewändern Gefäße oder Plastiksäcke auf ihren Köpfen. Später werden sie versuchen, diese mit etwas zu füllen, das sie für die meist wenigen Rand in der Tasche bekommen. Die Frauen haben es oft am schwersten in so einem 2 Quotenregelung für benachteiligte Schwarze am Arbeitsplatz. Die Regelung ist umstritten, weil die Hautfarbe zwar offiziell bei gleicher Qualifikation über die Jobvergabe entscheidet, aber inoffiziell spielt die Qualifikation kaum eine Rolle. 163 Arlette Geburtig Südafrika Township. Sie müssen für ihre Familien sorgen, während ihre Männer, falls sie Arbeit haben, oft weit weg sind oder, wenn sie keine haben, dem Alkohol verfallen sind. Häufig kommt es zu häuslicher Gewalt. Nicht zuletzt, weil die Männer in diesem Land nach wie vor das Sagen haben und Frauen, vor allem in den Townships und den ländlichen Gegenden, immer noch als Menschen zweiter Klasse angesehen werden. In der neuen demokratischen Verfassung von 1996, die als fortschrittlichste der ganzen Welt gilt, ist die Gleichberechtigung aller Bürger Südafrikas oberstes Gebot. Doch was nützt das den Frauen aus den ländlichen Gebieten fernab jeglicher Informationsquellen oder den immerhin 16 Prozent Analphabeten. Viele Frauen wissen nichts von ihren neuen Rechten oder würden es niemals wagen, diese einzufordern und sich womöglich gegen den eigenen Mann zur Wehr zu setzen. Obwohl sie für die Kinder verantwortlich sind und häufig auch Geld ranschaffen, in dem sie z. B. bei Weißen in der Stadt putzen gehen und dafür stundenlange Fahrten mit den Minibussen hinnehmen, werden sie dafür von ihren Männern auch nicht mehr respektiert, als wenn sie es nicht täten. Im täglichen Überlebenskampf versuchen viele Frauen Konflikten aus dem Weg zu gehen und unterwerfen sich sogar dafür – wenn es sein muss. SoWeTo, das South-Western Township, liegt etwa 15 Kilometer vom Zentrum Johannesburgs entfernt. Keiner weiß genau, wie viele Menschen auf den 120 km² leben. Die Schätzungen gehen bis hin zu fünf Millionen. Ursprünglich war es entstanden, um zeitlich begrenzte Wohnquartiere für die Minenarbeiter zu schaffen. Später wurde Soweto durch den „Urban Areas Act“3 von 1923 dann zum Ghetto der schwarzen Bevölkerung von Johannesburg. Obwohl ein staatliches Wohnungsbauprogramm hier hunderttausende von einfachen Zwei-Zimmer-Häusern schuf, die aufgrund ihrer Größe von der Bevölkerung als Streichholzschachteln bezeichnet werden, dehnen sich die illegalen Squatterquartiere immer weiter aus. So fröhlich und freundlich es in Soweto während der Woche zugeht – freitags bleiben viele Bewohner lieber in ihren Häusern und Baracken. Dann bekommen die wenigen Männer, die Arbeit haben, ihren Wochenlohn ausgezahlt und nicht selten wird er direkt in Alkohol umgesetzt. Dafür gibt es eine Vielzahl von Shebeens, private „Wohnzimmerkneipen“, die in Zeiten der Apartheid illegal entstanden sind, da damals der Alkohol-Ausschank an Schwarze verboten war. Schon am späten Nachmittag torkeln betrunkene, gewaltbereite Männer durch die Straßen Sowetos und lassen schon mal ihren Frust an Kindern und Frauen aus. 3 Der „Black Urban Areas Act“ legte 1923 das Fundament für die räumliche Trennung der Rassen. Mit diesem Gesetz installierte man landesweit Passzwang und Zuzugskontrolle als Hauptelemente einer räumlich getrennten Entwicklung und rechtlichen Diskriminierung. 164 Südafrika Arlette Geburtig 5.1. Bei Familie Rapotho Ich habe das Glück, für zwei Wochen bei einer Familie in Soweto wohnen zu dürfen. Die 24-jährige Dimmakazu kenne ich von SABC. Ihre Familie lerne ich erst in Soweto kennen, wo sie aufgewachsen ist. So viel Herzlichkeit habe ich bisher selten erfahren. Die ganze Familie ist stolz, dass ich bei ihnen wohnen möchte. Dimmakazus Mutter arbeitet für die örtliche Heilsarmee und kommt abends spät nach Hause, weil sie große Strecken mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen muss. Ihr Vater ist im Alter von 35 Jahren gestorben. Er war Hobby-Marathonläufer. Jeden Morgen joggte er vor der Arbeit durch die Strassen Sowetos, machte sich aber nichts aus Vitaminen und Flüssigkeitszufuhr. So fiel er eines morgens bei einem seiner Läufe einfach um und war tot. Dimmakazus Bruder ist 34 Jahre alt und war früher einmal ein richtiger „Gangster“. Er habe sogar im Gefängnis gesessen, erzählt Dimmakazu mir irgendwann. Gearbeitet habe er noch nie richtig, nur als Parkplatzeinweiser, aber das sei wenig lukrativ gewesen. Jetzt verbringt er den ganzen Tag vor dem Fernseher. Dimmakazu bringt ihm immer genügend Kondome mit, damit er bloß keine Kinder in die Welt setzt. Auch Dimmakazus große Schwester wohnt noch bei der Familie. Sie ist 32, arbeitet als Einkäuferin einer Modefirma und spart jeden Cent für ihre 14-jährige Tochter. Gemeinsam leben sie alle in einem kleinen Steinhäuschen in Marokville in Soweto. Es gibt kein Badezimmer und keine Dusche. Stattdessen steht ein kleiner Bretterverschlag auf dem Hof mit einer Toilette darin. Dimmakazus Bruder räumt seine Zimmerecke, so dass wir in seinem Bett schlafen können. Das Räumchen ist nur durch eine wackelige Falttür vom Wohnzimmer getrennt. Er selbst schläft auf dem roten StoffSofa, an dem noch die Plastikfolie klebt. Mutter, Schwester und Nichte schlafen in dem anderen Bett im angrenzenden winzigen Schlafzimmer. Während meines Aufenthaltes in Soweto kommen manchmal Verwandte vorbei, die dann auch noch in einem der beiden Betten untergebracht werden. Wer nachts mal austreten muss, weckt die ganze Familie, denn um über den Hof gehen zu können, muss erst jemand die Tür aufschließen. Zum Waschen bekomme ich jeden Morgen eine rote Plastikschüssel mit warmem Wasser auf das Bett gestellt. „Egal“, denke ich, doch als ich mitbekomme, wie Dimmakazus Bruder die gleiche rote Schlüssel benutzt, um mein Auto zu waschen, werde ich etwas zurückhaltender mit der morgendlichen Hygiene. 165 Arlette Geburtig Südafrika Ich gewöhne mich schnell dran, dass Dimmakazus Mutter jeden Tag um fünf Uhr früh an unseren Füßen rüttelt, um uns mitzuteilen, dass sie jetzt arbeiten geht. Wie ich erfahre, ist das ihre Art von Rücksichtnahme, damit wir uns keine Sorgen machen. Die ganze Wohnung ist ein einziges Durcheinander. Ungebügelte oder ungewaschene Kleiderberge stapeln sich, in der schmutzigen kleinen Küche gibt es kein Geschirr und meist auch nichts zu Essen, dafür umso mehr Ungeziefer. Wenn wir gegrillte Hähnchen mit Maisbrei, „Papp“ genannt, mitbringen, wird mir die einzige Gabel im Haushalt angeboten, die völlig verbogen ist. Alle anderen essen mit den Händen. Bald komme ich mir vor wie im Zoo, denn die Nachbarn kommen ständig gucken und wollen mir die Hand schütteln. Noch nie hat ein Weißer in diesem Viertel gewohnt. Manche Kinder haben Angst vor mir. Sie haben noch nie eine Weiße gesehen und fangen bei meinem Anblick an zu weinen. Andere schauen neugierig um die Ecke, wenn ich mir im Hof unter dem einzigen Wasserhahn die Zähne putze. Als die Nachbarn die Familie fragen: „Wer ist die weiße Frau auf eurem Hof?“, antwortet Dimmakazu lässig: „Das ist unser Hausmädchen.“ Humor hat sie. 5.2. Ubuntu gibt’s nicht mehr „Früher haben hier alle zusammengehalten“, sagt Dimmakazu. „Jeder ist für den anderen eingetreten und alle haben einander geholfen. Es gab so etwas wie Gemeinschaftssinn.“ Das Zusammengehörigkeitsgefühl und der Respekt untereinander habe mit UBUNTU zu tun, fährt sie fort, „das ist der Begriff für ‚Mensch-Sein’ und zwar durch andere. Jeder Mensch ist damit dem anderen gleichgestellt. Dieses Mensch-Sein bzw. Ubuntu hat bei allen Menschen die gleiche Qualität. Es verbindet die Menschen miteinander und mit Gott.“ Die afrikanische Grundlage für die Wiederherstellung des Friedens nach einem Konflikt ist die Überzeugung, dass kein Mensch von Ubuntu ausgeschlossen ist. „Durch Ubuntu sind wir alle miteinander verbunden, selbst mit unserem größten Feind. Wenn wir dies wissen und anerkennen, können wir gar nicht anders, als in allen Menschen unsere Brüder und Schwestern zu sehen“, erklärt Dimmakazu. „Viele glauben, dass Ubuntu geholfen hat, nach dem Ende der Apartheid ein friedliches Miteinander wiederherzustellen.“ Doch heute würde das den Jugendlichen nicht mehr beigebracht und so ginge Ubuntu allmählich verloren, glaubt Dimmakazu. 166 Südafrika Arlette Geburtig Die Zeit in Soweto nutze ich, um verschiedene Interviews zu führen, die ich vorher vereinbart habe. Natürlich wäre es lebensmüde, sich alleine auf den Weg zu machen, also nehme ich immer zumindest Dimmakazus Bruder Modisse als Beschützer mit. Meist kommen noch ein paar Kinder aus der Nachbarschaft dazu – alle lieben es, in einem Auto herumgefahren zu werden und kurbeln die Fenster weit herunter, um allen Freunden und Bekannten zuzuwinken. Seit meiner Ankunft wäscht Modisse jeden Morgen ungefragt mein Auto und bekommt dafür umgerechnet zwei Euro von mir. Als ich ihm sage, es sei nicht jeden Tag nötig, schaut er mich empört an und erklärt, dass es unbedingt notwendig sei. „Wenn man ein Auto hat, muss es immer blitzblank sein. Man muss doch schließlich den Nachbarn imponieren!“ Während der Interviews wartet er mit den anderen in meinem Auto auf mich und singt zu einer selbst aufgenommenen Musikkassette, die im Autoradio steckt. Ich mache mir Sorgen um die Autobatterie, aber ein Verbot nützt nichts. Zum Glück kann Modisse nicht Auto fahren. 5.3. Kein Geld für Bildung – Tshebedisanong Primary School Tshebedisanong ist Sotho und heißt auf Deutsch übersetzt „Zusammenarbeit“. So heißt die Grundschule in Central White City Jabavu, irgendwo im Norden Sowetos. Sie ist eine von vielen hundert Township-Schulen. Seit fünf Jahren ist George Pitsoe Leiter der Grundschule, nachdem seine Vorgängerin in den Ruhestand getreten ist. Als ich ihn in der Schule treffe, ist sie gerade auf Besuch da, denn heute ist ein ‚Memorial’, eine Gedenkfeier zu Ehren eines verstorbenen ehemaligen Lehrers. Niemand wird hier vergessen. George Pitsoe war früher selbst Lehrer für Geschichte und Afrikaans. Studiert hat er auf dem Lehrer-College in Soweto, wie die meisten seiner Kollegen. „Zusammenarbeiten“, das ist Georges Leitprinzip, denn ohne Zusammenarbeit funktioniert nichts in Südafrika. Mit den Nachbarschulen finden gemeinsame Veranstaltungen statt und es werden Wettbewerbe ausgetragen, denn Konkurrenz belebt die Gemeinschaft, sagt George Pitsoe. 167 Arlette Geburtig Südafrika Die Tshebedisanong Schule gibt es seit 1956. Überbleibsel aus der „Bantu-Erziehung“4 sind überall sichtbar. Die Einrichtung ist bescheiden. Es gibt keine Sportanlagen, keine Turnhalle, keine Mensa, keine Labors und auch keinen Computer sowie vieles andere. Denn die in der Apartheid für die Schwarzen vorgeschriebene Bantu-Erziehung benötigte das alles nicht. Damals wurden die schwarzen Kinder in den Townships lediglich in Gartenarbeit, Haushaltsführung, Kindererziehung und Reinlichkeit erzogen. Mehr brauchten sie ja nicht, um den Haushalt für weiße Herrschaften zu führen. Auch heute noch sieht es an den Schulen in Soweto äußerlich nicht viel anders aus als vor 50 Jahren: bescheidene Räume, kahle Wände, Kinder in Schuluniformen. Nur der Unterricht hat sich geändert: heute lässt sich George nicht mehr vorschreiben, wie und was er und seine Lehrkräfte zu unterrichten haben. Heute bestimmen sie selbst, welche Schulbücher angeschafft oder beim Erziehungsministerium bestellt werden und welche Lehrmethoden geeignet sind. Auch die Bestrafung wurde abgeschafft. Körperliche Züchtigung, die früher in diesen Schulen an der Tagesordnung war, ist mittlerweile per Gesetz verboten. Erwachsene, die an ihre Schulzeit zurückdenken, zucken bei der Frage nach Bestrafung zusammen und erinnern sich, dass sie Schläge und Peinigungen für die kleinsten Kleinigkeiten erdulden mussten. So z. B. wenn sie bei der Haarkontrolle ungekämmt waren, bei der Händekontrolle schmutzige Fingernägel hatten oder die einzige Uniform zu Hause gewaschen werden musste und sie sie nicht anziehen konnten. Auf die 350 Schüler in der Tshebedisanong Grundschule kommen neun Lehrer. Unterrichtet wird in Klassen mit ca.50 Schülern, was nicht ungewöhnlich in Südafrika ist. Doch es gibt andere Probleme. Fast immer haben sie mit Geld zu tun. 4 Das „Bantu-Erziehungs-Gesetz“ von 1953 regelte die Schuldbildung für Schwarze im Sinne der Apartheid. Verbunden mit diesem Gesetz war unter anderem die Bestimmung, dass in den Stammesgebieten in der jeweiligen Bantu-Sprache unterrichtet werden sollte. Im Rahmen des Gesetzes wurden auch die grotesk ungleichen Bildungsaufwendungen für Schwarze und Weiße festgelegt. Die Argumentation des damaligen Ministers für Eingeborenenfragen, Henry F. war folgende: Erziehung und Ausbildung sollten bei den Eingeborenen keine falschen Erwartungen wecken, sondern sie lediglich auf ihre Funktion in der Gesellschaft vorbereiten. „Der Schwarze muss dazu angeleitet werden, seiner eigenen Gemeinschaft in jeder Hinsicht zu dienen. Oberhalb des Niveaus bestimmter Arten von Arbeiten ist für ihn in der weißen Gemeinschaft kein Platz. Innerhalb seiner eigenen Gemeinschaft aber stehen ihm alle Türen offen. Deshalb bringt es ihm nichts, eine Ausbildung zu erhalten, welche die Aufnahme in die weiße Gemeinschaft zum Ziel hat...“ 168 Südafrika Arlette Geburtig Viele Eltern können die jährlichen Schulgebühren von umgerechnet vier Euro nicht bezahlen. Auch die Schuluniformen für 120 Rand, also 13 Euro, sind für viele Familien unerschwinglich. So versucht die Gemeinde zu helfen. Jeder, der ein bisschen Geld übrig hat, stiftet dies für gute Zwecke und für die Menschen, die noch weniger haben. Diese Einstellung, die man tatsächlich in Townships antrifft, hat aber auch etwas mit Aberglauben zu tun. Denn wer einen Job hat, muss sich dankbar zeigen und Opfer bringen, damit er den Job nicht wieder verliert. Von den 350 Kindern, die in die Tshebedisanong Grundschule gehen, sind über die Hälfte als bedürftig eingestuft. Sie erhalten jeden Morgen, wenn sie das Gebäude betreten, das sog. „Mandela Sandwich“, ein Weißbrot mit Erdnussbutter, das die Regierung spendet und in den notwendigen Mengen an die Schulen sendet. Für einige der Kinder ist es die einzige Mahlzeit am Tag. Weil sie nach einem langen Schulweg und den plötzlich gefüllten Mägen müde sind, schlafen sie oft in der ersten Schulstunde ein. Kinder zwischen sechs und vierzehn gehen auf die Tshebedisanong Schule. Die meisten sind fleißig, weil sie wissen, dass es die einzige Möglichkeit ist, der Armut zu entfliehen. Viele Eltern sind arbeitslos und wissen nicht, ob es am Abend genug zu essen gibt. Manche Eltern bangen, ob sie ihre Kinder weiterhin auf die Schule schicken können. Neben den finanziellen Problemen hofft George, dass sich mehr Eltern für die Schule ihrer Kinder interessieren. Er lädt sie regelmäßig zu Elternabenden ein, aber nur wenige kommen. „Viele Eltern würden es lieber sehen, wenn ihre Kinder möglichst schnell anfingen zu arbeiten“, erzählt er „und nicht ihre Zeit in der Schule vertrödelten.“ Doch die Arbeitslosigkeit in Südafrika ist so groß, dass nur der, der Bildung besitzt, eine Zukunft hat. Viele Schwarze haben es immer noch schwer, eine gute Bildung zu erhalten. Auch wenn die Regierung möchte, dass langfristig 80 Prozent aller Arbeitsplätze an Schwarze vergeben werden (Black Economic Empowerment), nützt es dennoch nicht viel, wenn diese schwarze Mehrheit oft schlecht ausgebildet oder unmotiviert ist. Das wirft andere Probleme auf, die die wirtschaftliche Entwicklung Südafrikas auf eine harte Probe stellen, bis irgendwann vielleicht wirklich gleiche Bildungschancen geschaffen werden. Mittlerweile gibt es überall im Lande gemischte Schulen. Die Zeiten der Rassentrennung sind seit dem Ende der Apartheid vor zehn Jahren offiziell vorbei. Das gilt aber hauptsächlich für die großen Städte wie Johannesburg und Kapstadt und für die Kinder der privilegierten schwarzen Mittelschicht, die es immerhin bis in die Großstadt geschafft haben. In den Townships sieht es anders aus, da hat sich in den letzten zehn Jahren, zumindest oberfläch169 Arlette Geburtig Südafrika lich betrachtet, nicht viel verändert. Hier sind nach wie vor die Schwarzen und Farbigen unter sich. Kaum ein weißer Lehrer möchte an einer Township-Schule unterrichten. Die Kinder in der Tshebedisanong Schule haben trotzdem keine Angst vor mir, denn der Direktor hat mich vorgestellt. Als ich Fotos mache, versucht jeder so weit wie möglich vorne und in der Mitte zu stehen, um nur ja mit aufs Bild zu kommen. Nachdem George einem kleinen Mädchen freundlich den Kaugummi aus dem Mund nimmt, erzählt sie mir, dass sie Sheila heißt und sechs Jahre alt ist. Ihre Schwester Happy ist neun Jahre alt. Happy will Soldatin werden „und kämpfen“, sagt sie. Der sechsjährige Thato und sein neunjähriger Freund Kagiso wären lieber Polizisten – „wegen der Action.“ Vermutlich haben sie einen Fernseher zu Hause. Die sechsjährige Sheila geht gerne zu Schule, sie will Ärztin werden. Als ich die Kinder frage, welche Berufe ihre Eltern haben, weiß es keiner von ihnen. Einige sagen, dass ein Elternteil arbeite, aber was der genau mache, dass wüssten sie nicht. Das ist nicht ungewöhnlich. Der elfjährige Tshepo mag in der Schule am liebsten Trampolinturnen und Sotho. Er will Sozialarbeiter oder Arzt werden. Doch um alle diese Berufsziele zu erreichen, muss man viel lernen, und dafür braucht man Bücher. George schreibt ständig Briefe an Wohltätigkeitsorganisationen und Regierungsbehörden, in der Hoffnung, dass irgendjemand eine kleine Spende für die Schule übrig hat. Einmal habe ein reicher amerikanischer Professor 6.000 Dollar gespendet, die größte Summe, die die Schule je erhalten hat, erzählt George. Von dem Geld habe er eine kleine Bibliothek gebaut und eingerichtet. In vielen Regalen fehlen zwar noch Bücher, aber George ist zuversichtlich, dass er auch dieses Hindernis überwindet und Bücherspenden auftreiben wird. Einen engagierten Menschen wie ihn gibt es wohl selten an so einem Ort. Einen, der auf Karriere in der Stadt verzichtet und dort bleibt, wo er am nötigsten gebraucht wird. 5.4. Aidsforschung im Baragwanath Hospital Wer ein bisschen Geld hat und nicht sterbenskrank ist, der setzt in Soweto keinen Fuß in dieses Krankenhaus. Das „Bara“, wie das Chris Hani Baragwanath Hospital überall genannt wird, ist mit seinen 3.200 Betten das 170 Südafrika Arlette Geburtig größte des Landes und wurde 1941 erbaut. 520 Ärzte bringen hier jedes Jahr fast 16.000 Babys zur Welt und behandeln alljährlich über 100.000 Notfälle. Die Zustände in diesem Krankenhaus sind zum Großteil katastrophal. Das meiste, was nicht niet- und nagelfest ist, wurde von Patienten und Personal gestohlen. Bei der Ein- und Ausfahrt überprüfen Sicherheitsbeamte daher den Inhalt meines Kofferraums. Da kein Geld für Neuanschaffungen vorhanden ist, bekommen Kranke auf den Stationen nicht einmal Decken oder Kissen. Dennoch ist das Baragwanath Krankenhaus für die meisten Armen die erste Anlaufstation bei Krankheiten, Verletzungen oder Schwangerschaften. Lorraine, die Pressesprecherin, führt mich durch die vorzeigbaren Räume des Krankenhauses. Ich bin erstaunt, dass sie schwarz ist, denn bei ihrem akzentfreien Englisch hatte ich am Telefon eine weiße Frau vermutet. Die riesige Notaufnahme gleicht mehr einer Bahnhofshalle. Auf Holzbänken harren über 100 Patienten und Angehörige stundenlang aus, Kinder wimmern oder schreien. In kleinen, durch Vorhänge abgetrennten Kabinen, sitzen Ärzte, oft auch noch Medizin-Studenten, die die Patienten behandeln. „Besonders stolz sind wir auf unsere Aidsforschung“, erklärt Lorraine und führt mich zu den Laboratorien des Krankenhauses. Dr. Eftyhia Vardas ist die Leiterin eines neuen Forschungsprojektes, das einen Impfstoff aus mehreren Komponenten entwickelt hat, der gegen den in Südafrika am häufigsten auftretenden HIV-Subtyp „Clade C“ immun machen soll. Die Langzeitstudien an Freiwilligen haben gerade erst begonnen, dennoch ist Dr. Vardas optimistisch: „Die Nebenwirkungen sind sehr gering.“ Einen Zusatzstoff bekämen sie sogar aus Deutschland, sagt sie. Das Problem sei nur, dass alles sehr teuer wäre und selbst wenn der Impfstoff die Menschen gegen HIV immunisieren könnte, würde er wohl nie allen Betroffenen zugänglich sein. Antiretrovirale Therapien sind daher auch im Baragwanath Krankenhaus nicht möglich. In einem Bereich hat das Krankenhaus allerdings die Möglichkeit, zumindest die Übertragung des HI-Virus zu minimieren. Schwangere Frauen, die HIV-positiv sind, bekommen vor der Geburt das Medikament Nevirapin verabreicht. Damit wird das Übertragungsrisiko von der Mutter auf den Fötus um ca. 80 Prozent gemindert. Obwohl das Mittel, das auch unter dem Namen Viramune bekannt ist, seit 2001 vom Hersteller Boehringer in Ingelheim kostenlos zur Verfügung gestellt wird, weigerte sich die südafrikanische Regierung bis zu einer gerichtlichen Verurteilung in diesem Jahr, diese antiretroviralen Medikamente schwangeren Müttern flächendeckend zur Verfügung zu stellen. 171 Arlette Geburtig Südafrika Im Baragwanath Krankenhaus können die HIV-infizierten Mütter nach der Geburt ein halbes Jahr lang kostenlos Milchpulver vom Krankenhaus bekommen, denn Stillen wäre aufgrund des Übertragungsrisikos zu gefährlich, erläutert Lorraine. Trotzdem gibt es Mütter, die an dem alten Slogan „Feeding by brest is the best“ festhalten. Manche stillen ihre Kinder auch aus Angst davor, was die Nachbarn ansonsten denken könnten. Sie gehen lieber das Risiko ein, ihr Kind mit HIV zu infizieren. „Trotz der Aufklärungsprogramme können wir das nicht verhindern“, sagt Lorraine, während wir wieder zur großen Halle laufen. Jeder kann sich hier im Baragwanath Krankenhaus kostenlos auf HIV testen lassen, doch viele wollen ihren Status gar nicht kennen. Der Test ist sehr fortschrittlich, das Ergebnis liegt bereits nach einer Stunde vor. 6. NISSA hilft misshandelten Frauen Pontscho K. Segwai ist die Pressesprecherin von NISSA in Lenasia bei Johannesburg. NISSA steht für „Institut for Women’s Development in South Africa“. Die Organisation will die Autonomie von Frauen fördern und ihnen Kontrolle über ihr Leben ermöglichen, dazu gehört auch die Hilfe bei häuslicher Gewalt. Pontscho erzählt, dass ca. 200 Frauen im Monat NISSA um Hilfe bitten. „Und das sind nur diejenigen, die in der Nähe wohnen. Für all die anderen gibt es andere Hilfsorganisationen“, sagt sie. Die Frauen bekommen, wenn nötig, auch eine vorübergehende Unterkunft und dürfen ihre Kinder (Jungs nur bis zwölf Jahre) ebenfalls mitbringen. Frauenmissbrauch ist zurzeit ein sehr großes Problem in Südafrika. Viele Frauen und Mädchen werden misshandelt und sexuell missbraucht, weil die alten Traditionen des Patriarchats noch herrschen und sie weiterhin als Menschen zweiter Klasse angesehen werden. Die Frauen, die finanziell von ihren Männern abhängig sind, wagen erst recht nicht, sich gegen ihre Partner aufzulehnen. Sie riskieren Verletzungen und Krankheiten, selbst HIV, um weiterhin finanziell versorgt zu werden. Bei den 30- bis 40-Jährigen, die in den 70er Jahren während der Apartheid zur Schule gingen, ist die Gewaltbereitschaft besonders hoch. Es scheint eine Verbindung zu geben zwischen den Gräueltaten des Apartheidregimes, die viele bis heute nicht verarbeitet haben, und den unkontrollierten Gewaltausbrüchen. Häufig ist Alkohol im Spiel. Viele Männer sind arbeitslos und blicken in eine hoffnungslose Zukunft. Die Gewalt kommt auch in 172 Südafrika Arlette Geburtig den besseren Gesellschaftsschichten vor und übertrifft bei weitem das, was wir aus den westlichen Ländern kennen. Eine weitere Ursache ist wohl in der Entwurzelung vieler schwarzer Südafrikaner zu finden, die in den 60ern und 70ern von der weißen Regierung in so genannte „Homelands“, weit von ihrer ursprünglichen Heimat entfernt, umgesiedelt wurden. Jetzt wollen viele dort wieder weg. Die Menschenströme aus den kargen Gebieten der Transkei und Ciskei in Richtung Westkap oder nach Johannesburg reißen nicht ab. Der Motor ist die Hoffnung auf ein menschenwürdigeres Dasein. Täglich kommen 10.000 Menschen viele von ihren Familien getrennt, an, um erst einmal Arbeit und eine Unterkunft zu finden. Damit sind sie zunächst wieder entwurzelt. Das führt bei vielen Männern zu Verzweiflung, Enttäuschung, Wut oder Aggression. NISSA hat überall Plakate aufgehängt, auf denen steht: „Real men don’t abuse women“ oder „You are only half a man if you rape a woman“. Bei NISSA werden die Frauen beraten, sie bekommen psychologische Hilfe angeboten und im besten Fall kommt es nach häuslicher Gewalt sogar zu einer Paartherapie, erfahre ich von Pontscho: „Wenn alles nicht hilft und die Frauen nicht mehr nach Hause zurückkehren wollen, haben sie bei NISSA die Möglichkeit, auf einer Farm zu leben und Gemüse anzubauen, wovon sie sich und ihre Kinder ernähren können. Das, was übrig bleibt, dürfen sie verkaufen.“ Die Organisation kämpft für die Rechte und für die Gleichberechtigung von Frauen und will ihnen allen beibringen, sich selbst wertzuschätzen und als gleichberechtigte Individuen zu sehen. Dazu ist gerade in den unterentwickelten ländlichen Regionen noch viel Arbeit nötig. Pontscho ist 25 und sagt, sie sei aus Überzeugung immer noch Jungfrau, da sie sich auf keinen Fall einem Mann unterwerfen wolle. In ihrer TownshipKindheit musste sie für ihre vier Brüder kochen, waschen und putzen, weil sie das einzige Mädchen in der Familie war. Gegen diese Ungerechtigkeit, die mit dem tradierten Rollenverständnis einhergeht, lehnt sie sich noch heute auf. Außerdem könne sie keinem Mann vertrauen, denn die Männer seien alle gleich und benähmen sich wie Tiere. Vergangene Woche sei ihre Freundin vergewaltigt worden. Gemeinsam hätten sie den vermeintlich harmlosen jungen Mann kennen gelernt und weil Pontscho glaubte, ihm vertrauen zu können, habe sie die Freundin mit ihm alleine gelassen. Ein Fehler, den sie zutiefst bereue. Sie habe die Freundin aber später dazu bringen können, zur Polizei zu gehen und den Täter anzuzeigen. Jetzt hoffen beide darauf, dass er bestraft wird. 173 Arlette Geburtig Südafrika 7. HIV ist überall – Hintergründe und Gespräche zur Aidspandemie Fünf Millionen Menschen in Südafrika sind HIV-positiv. Darunter sind 1,8 Millionen Kinder. Etwa 1.600 Menschen stecken sich in Südafrika jeden Tag mit dem Virus an. Im Jahr 2005 werden nach Schätzungen sechs Millionen SüdafrikanerInnen HIV-positiv sein. Nach Angaben der UNO wird die durchschnittliche Lebenserwartung in den nächsten Jahren aufgrund der Krankheit von heute 57 Jahren auf 48 Jahre sinken. 7.1. Community Aids Center Hillbrow Viele Interviews führen mich nach Hillbrow, einem berüchtigten Schwarzen-Viertel in Johannesburg, in dem besonders viel Kriminalität herrscht. Hillbrow ist die erste Anlaufstation von Arbeitsuchenden aus dem ganzen südlichen Afrika, die die Townships schon hinter sich gelassen haben. Diesmal bin ich mit meinem Autowrack an misstrauischen Gesichtern vorbei in die Esselin Street zum Community Aids Center gefahren. Maria Sbanyoni, die Pressesprecherin, begrüßt mich und erklärt, dass das Zentrum 1984 als Aidsinformations- und Trainingsort eingerichtet wurde. Es ist das Erste in der ganzen Provinz Gauteng. „Mit Hilfe von Spenden haben wir das Zentrum ausgebaut, so dass wir neben Patienten mit HIV auch solche mit sexuell-übertragbaren Infektionen oder mit Tuberkulose beraten können. Außerdem unterstützen wir hier Frauen bei der Familienplanung. Zu unserem Angebot gehört auch der freiwillige HIV-Test und die Therapie in Gruppen“, erklärt Maria. Weil sich HIV immer mehr ausbreitet, gibt es mittlerweile unzählige solcher Zentren, die im ganzen Land verteilt sind. Etwa 4.000 Patienten kommen monatlich alleine ins Aids Center Hillbrow. „Das Hauptproblem hier ist die Migration. Dieses Viertel ist die erste Station für Ausländer und Menschen aus anderen Provinzen, die Arbeit suchen“, erzählt Maria in sehr einfachen englischen Sätzen, deren schwarzafrikanische Herkunft man tatsächlich hören kann. Hillbrow ist eine Durchgangsstation, kaum einer bleibt für immer. Fernab ihrer Familien hätten viele Männer sexuelle Kontakte und auch die Vergewaltigungsrate sei hier besonders hoch. Kostenlos bekommt jeder Kondome, die vom Gesundheitsministerium gespendet werden. Manchmal hat Maria schon gesehen, wie Patienten die Kondome abends auf der Straße weiter verkaufen. „Es ist noch viel Aufklärung nötig. Viele Männer wissen nicht einmal, wie ein Kondom verwendet wird. Andere wollen es nicht benutzen, denn 174 Südafrika Arlette Geburtig da seien Würmer drin. Wieder andere behaupten, die Kondome seien mit HIV infiziert oder Männer, die Kondome gebrauchten, seien keine richtigen Männer. Diese Vorstellungen und Vorurteile gibt es überall“, erzählt Maria lachend. Eine gut aufgeklärte Gruppe dagegen seien die „Sexworkerinnen“, die auf den Straßen arbeiteten, erzählt Maria weiter. Sie könnten in dem Aidszentrum kostenlos Frauenkondome bekommen, die in die Vagina eingeführt werden und das Infektionsrisiko um 90% mindern. „Jeden Monat verteilen wir 2.500 Frauenkondome und über 700.000 Männerkondome.“ Die Männerkondome seien allerdings benutzerfreundlicher und darum auch sicherer, meint Maria. „Werden die Infizierten hier auch medizinisch versorgt?“, möchte ich wissen. „Nein, für so etwas müssen wir die Leute zu einer anderen Einrichtung schicken. Dazu reicht unsere Kapazität nicht aus. Bei den Gesundheitsämtern bekommen sie Vitamine und Prophylaxen gegen die Infektionen“ erklärt Maria. „Der Fokus liegt bei uns auf der Prävention, darum beraten wir Betroffene und organisieren Selbsthilfegruppen.“ „Aufklärung ist alles“, davon ist Maria überzeugt. „Wir reden mit den Leuten über Verhütung und sogar Abstinenz. Es muss eine Veränderung in den Köpfen der Menschen stattfinden, sonst kann HIV/Aids nicht gestoppt werden.“ Ob sie diesbezüglich optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft blicke, möchte ich von Maria wissen. „Sehr optimistisch“ antwortet sie, “irgendwann werden wir ein Heilmittel finden!“ 7.2. Geduld ist eine Tugend - das Treffen mit Angie Diale In Südafrika muss ich oft auf Gesprächspartner warten. Bisher hat mich aber noch nie jemand geschlagene vier Stunden warten lassen und das auch noch bei einem Treffpunkt auf offener Strasse. Ich habe mich mit der Managerin einer Aidshilfeorganisation in Soweto verabredet. Sie ruft mich innerhalb der vier Stunden mehrfach auf meinem Handy an, um mir mitzuteilen, sie sei unterwegs oder gleich da, sie habe sich verfahren, es würde nicht mehr lange dauern und sie habe eine Freundin vorgeschickt. Nach drei Stunden glaube ich ihr nichts mehr, aber die pure Neugier, was sie für eine unglaublich unverschämte Person sein muss, lässt mich ausharren. Und dann kommt sie tatsächlich noch, Angie Diale, eine knapp 40-Jährige, gut aussehende Frau in einem bunten traditionellen Xhosa-Gewand. Sie hat tatsächlich eine Freundin mitgebracht, ebenfalls traditionell gekleidet. 175 Arlette Geburtig Südafrika Meine anfängliche Reserviertheit und Skepsis weicht bald purem Erstaunen, denn Angie Diale ist eine ungewöhnlich aktive Person. Sie entschuldigt sich mehrfach für die Verspätung, das sei auch ihr noch nie passiert. Nach der ersten Tasse Tee in einem Restaurant bricht allmählich das Eis. 7.3. HIV – vor allem ein Problem der Armen „Ich bin HIV-positiv und mein jüngster Sohn ebenfalls“, erzählt Angie Diale, die Koordinatorin des HIV-/Aidsprogramms von World Vision in der Soweto Region Orlando East. Sie ist eine der immer noch wenigen Menschen, die sich öffentlich zu ihrem Status bekennen. Die 39-jährige XhosaFrau hat sich vor etwa acht Jahren bei ihrem Ehemann infiziert, als beide nach einer Ehekrise wieder zusammen kamen. „Ich hatte nie einen anderen Mann außer ihn“, versichert sie. Als er die Vaterschaft ihres dritten Kindes plötzlich leugnete, wusste sie, dass etwas nicht stimmen konnte. Doch erst als ihr 18 Monate altes Baby krank wurde und in die Klinik musste, erfuhr sie, was los war. „Er muss sich nicht bei mir entschuldigen“, sagt sie über ihren Ex-Mann. „Denn ich war ja seine Frau und musste wie alle anderen Frauen die Infektionen und Krankheiten hinnehmen. Aber unserem Kind hätte er das nicht antun dürfen. Wenn er mir gesagt hätte, dass er HIV-positiv ist, hätte ich unserem Kind nicht die Brust gegeben. Dann wäre das Virus vielleicht nicht übertragen worden.“ Nach der Trennung lebt Angie Diale jetzt mit den drei Kindern bei ihrer Mutter. Sie setzt sich für HIV-infizierte Menschen ein und arbeitet an zahlreichen Hilfsprogrammen mit. Die ehemalige Krankenschwester ist eine von ca. fünf Millionen Menschen in Südafrika, die mit dem HI-Virus infiziert sind. Das sind mehr Menschen als in der übrigen Welt. Zwei Drittel aller infizierten Südafrikaner sind Frauen und Mädchen. Die Verbreitung des Virus in Südafrika ist regional unterschiedlich. Die meisten HIV-/Aidskranken gibt es in den Provinzen KwaZulu-Natal und Mpumalanga. In ländlichen Gebieten, wo die wirtschaftliche Not und die Arbeitslosigkeit am größten sind, gibt es teilweise HIV-/Aidsraten von bis zu 80 Prozent. Die wirtschaftlichen Folgen von HIV/Aids sind absehbar. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft ohnehin schon weit auseinander. Derzeit liegt die Arbeitslosenquote bei ca. 35 Prozent. Die Erwerbsbevölkerung wird durch HIV weiter abnehmen. Bei unqualifizierten Arbeitskräften sind die Infektionsraten am höchsten, aber auch gut ausgebildete Kräfte sind betroffen, so dass das wirtschaftliche Wachstum zurückgehen wird, was dem Land großen Schaden zufügt. Einige 176 Südafrika Arlette Geburtig Unternehmen wie Daimler-Chrysler reagieren zwar auf die Pandemie und haben Aidsprogramme für die Mitarbeiter gestartet: kostenlose Tests, Aufklärung, medizinische Versorgung und Risikomanagement durch optimierte Sozialleistungen. Doch das ist momentan nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Am meisten beunruhigt Angie Diale der Anstieg der Neuinfektionen bei Jugendlichen: “Sie praktizieren ungeschützten Geschlechtsverkehr, probieren herum und haben häufig mehrere Partner gleichzeitig. Viele junge Mädchen werden schwanger und tragen bereits HIV-infizierte Babys aus.“ Als Grund hierfür nennt sie die mangelnde Wirkung von Aufklärungskampagnen. Obwohl das Virus hauptsächlich durch Geschlechtsverkehr übertragen wird, weigern sich viele Männer, Kondome zu benutzen. Die in Südafrika immer noch vorherrschenden patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen spielen zweifelsohne eine große Rolle bei der Verbreitung von HIV/Aids. Finanzielle Abhängigkeit vom Partner erhöht bei Frauen das Risiko der Virusinfektion, denn unter Umständen haben sie überhaupt keine Handlungsmöglichkeiten, wenn es um Sex geht. Selbst wenn sie über Verhütung Bescheid wissen, trauen sich viele Frauen nicht, mit ihren Männern darüber zu reden, aus Angst sie würden dann der Untreue bezichtigt und geschlagen werden. Außerdem muss eine gute Frau fruchtbar sein, was die Verhütung und den Gebrauch von Kondomen schwierig macht. Je ärmer eine Frau ist, desto höher ist das Aidsrisiko. Gerade in den Townships werden Frauen besonders häufig Opfer sexueller Übergriffe. Auf der anderen Seite ist in den letzten Jahren eine Art Frauenbewegung in Südafrika entstanden, die viele junge Frauen selbstbewusster gemacht hat. Nicht zuletzt durch das staatliche „Affirmative-Action-Programm“ sind heute mehr schwarze Frauen berufstätig und damit finanziell unabhängig. Unter ihnen findet man immer mehr, die sich in sexueller Hinsicht sehr aufgeklärt verhalten und über ihre Rechte als Frau (die auch in der neuen Verfassung stehen) Bescheid wissen. Diese Frauen leben vor allem in größeren Städten und weniger in den ländlichen Gebieten. Das Virus unterscheidet nicht nach Arm und Reich. Allerdings sorgt ein höherer Bildungsstand, insbesondere bei Frauen, für eine bessere Gesundheitsaufklärung und damit könnte die Zahl der Neuinfektionen langfristig auch wieder sinken, wie Beispiele aus anderen afrikanischen Ländern, etwa Uganda, zeigen. Ein zentrales Problem bei der Bekämpfung von HIV/Aids ist in Südafrika das Tabu-Thema Sex. Für viele Männer und Frauen ist es schwer, offen über Sex zu sprechen und erst recht, ihren HIV-Status offen zu legen. Die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung ist nach wie vor groß. Viele befürchten, von der Familie 177 Arlette Geburtig Südafrika und ihren Freunden verstoßen zu werden oder ihre Arbeit zu verlieren, so wie es Angie Diale passiert ist, deren Kolleginnen sie beim Vorgesetzten anschwärzten. Sie hat vier Jahre gebraucht, um ihrer Mutter zu erzählen, dass sie HIVpositiv ist. „Die Diskriminierung und Stigmatisierung von HIV muss gebrochen werden“, fordert Angie Diale. „Die Leute müssen öffentlich bekennen können, dass sie HIV haben und Familien müssen lernen, das zu akzeptieren. Wenn wir lernen, HIV zu akzeptieren, dann wird es unser Leben verändern und verbessern, vor allem, wenn allen Betroffenen die Medikamente zugänglich gemacht werden“ meint sie und spielt damit auf das neue Aidsprogramm der Regierung an, das antiretrovirale Medikamente in einigen Jahren flächendeckend zur Verfügung stellen will. Bisher konnten sich nur wohlhabende und privat versicherte Südafrikaner Medikamente leisten, die den Krankheitsprozess verzögern. Zwar legt die Verfassung fest, dass alle schwangeren Frauen Zugang zu antiretroviralen Arzneimitteln haben sollen, doch aus Mangel an finanziellen Ressourcen und Einrichtungen, vor allem in den Townships und den ländlichen Gebieten, ist dies nicht gewährleistet. Längst haben nicht alle Menschen mit HIV/Aids in Südafrika die gleichen Möglichkeiten. Angie Diale will dafür kämpfen, dass auch die Armen besser versorgt werden. Der Kampf für alle Betroffen hat Angie Diale noch stärker gemacht. „Eigentlich bin ich sogar dankbar für das HIV-Virus“, sagt Angie Diale, denn das Virus hat mein Leben von Grund auf verändert. Ich arbeite jetzt in dem Umfeld, das ich liebe und in dem ich mich weiter entwickeln kann. Es klingt ironisch, aber das HIV-Virus hat mir ein besseres Leben gegeben und ich hoffe, noch lange genug zu leben, um viele Menschen aufklären zu können.“ 7.4. Aids ist auch ein kulturell bedingtes Problem „Bisher hat man kulturelle Gründe viel zu wenig in der Aidsdebatte beachtet“, sagt der Südafrika-Korrespondent Wolfgang Drechsler, der seit 20 Jahren in Südafrika lebt: „Nicht nur weil man in Afrika nur schwer über Sexualität spricht, sondern auch, weil man auf weißer Seite ein großes Problem hat, kulturelle Praktiken anderer Kontinente und Länder zu analysieren, hat man sich jahrelang darum gedrückt und viele Mythen in die Welt gesetzt. Das hat Afrika nicht gut getan und vermutlich dazu beigetragen, dass diese Aidsepidemie so weit fortgeschritten ist.“ HIV wird in Südafrika hauptsächlich sexuell übertragen. Es ist hinläng178 Südafrika Arlette Geburtig lich bekannt, dass viele Schwarze an Geschlechtskrankheiten leiden, was auch durch die fehlende Hygiene, die Übertragung erleichtert. Verschiedene Sexualpraktiken, die u.a. kulturell begründet sind, fördern die Verbreitung des Virus. So zum Beispiel die Witwenerbschaft: stirbt der Ehemann, heiratet einer der Brüder oder Cousins die Witwe, um diese und ihre Kinder zu versorgen. Der neue Ehemann muss die Witwe dann praktisch „reinschlafen“. Das bedeutet, wenn die Frau Aids hat, wird es auf diese Weise weitergegeben. Des Weiteren verlangen viele Männer von ihren Frauen „dry sex“: Die Frauen trocknen ihre Vagina mit verschiedenen Mitteln (z. B. Putzmittel, Salz, Baumwolle) aus. Das führt zu Risswunden in der Vagina und zerstört den Bakterienhaushalt der Scheidenflora; beides erhöht natürlich die Gefahr der Krankheitsübertragung. Weit verbreitet ist in Südafrika die Polygamie. Besonders gefährlich sind gleichzeitig geführte sexuelle Partnerschaften dann, wenn jemand eine frische HIV-Infektion hat. Denn diese ist besonders ansteckend und der Betroffene wird mit höherer Wahrscheinlichkeit andere Partner anstecken. Außerdem ist gerade bei traditionellen Südafrikanern die Jungfräulichkeit sehr hoch angesehen, weshalb manche Mädchen nur Analverkehr praktizieren, was durch die Verletzungsgefahr das Infektionsrisiko deutlich erhöht. Besorgniserregend sind auch die hohen Vergewaltigungsraten. Selbst Babys und Kleinstkinder werden sexuell missbraucht. Es wird vermutet, dass dies häufig geschieht, weil die Täter glauben, Aids könne durch Sex mit einer Jungfrau geheilt werden (dieser Glaube wird häufig von traditionellen Heilern, „Sangomas“, verbreitet). Eine steigende Zahl junger Mädchen ist infolge dessen HIV–positiv. Auch soziale Faktoren spielen bei der Verbreitung von Aids eine Rolle, wie die Arbeitsmigration: viele Männer arbeiten entfernt von ihren Familien in Minen oder sind als Wanderarbeiter unterwegs und haben außereheliche Kontakte, z. T. mit Prostituierten. Allein in die Westkap-Region kommen jede Woche 10.000 Menschen in der Hoffnung auf eine Arbeit und bessere Lebensbedingungen. „Die Gesellschaft wurde in ihren Grundfesten während der Apartheid zerstört“, erklärt Wolfgang Drechsler. „Teilweise hat es durch Apartheidspraktiken, teilweise durch die Wanderung vom Land in die Stadt, enorm viele soziale Verschiebungen gegeben, die in Kombination mit kulturellen Faktoren wie Polygamie etc. die Ausbreitung von Aids erklären können.“ Diese kulturellen und sozialen Aspekte müssten viel stärker in die Aidsdebatte miteinbezogen werden, glaubt Wolfgang Drechsler. Nur so könne man neue, wirksamere Methoden zur Prävention finden. Das ist keine leichte Aufgabe, wenn selbst die Regierung nicht offen Stellung bezieht. Lange Zeit hat Präsident Thabo Mbeki öffentlich die 179 Arlette Geburtig Südafrika Meinung vertreten, dass HIV mit Aids nichts zu tun habe und Aids im Wesentlichen ein Armutsproblem der schwarzen Bevölkerung sei. „Der Grund liegt bei der damit verbundenen Stigmatisierung“, vermutet Wolfgang Drechsler: „Mbeki wehrt sich dagegen, dass Schwarze von Weißen als ausschweifende, lüsterne, promiskuitive Wesen gesehen werden. Dieses Stereotyp versucht er zu brechen, indem er dementiert, dass der eigentliche Grund ein Virus ist, der sexuell übertragen wird.“ Dabei sind selbst Regierungskreise nicht von der tödlichen Immunschwächekrankheit verschont geblieben. So ist z.B. der Sprecher von Thabo Mbeki sehr jung an einer plötzlichen Krankheit verstorben. Auch der ehemalige Chef der Jugendliga des ANC, Peter Mokaba, ist vor zwei Jahren an Aids gestorben, ohne es öffentlich einzugestehen. „Es wurde dann allgemein gesagt‚ er sei plötzlich erkrankt“, erzählt Wolfgang Drechsler. „Skandalös ist, dass Mokaba zum Ende seines Lebens im Parlament noch die MbekiPolitik vertreten hat und behauptete, dass nicht das HI-Virus der eigentliche Verursacher von Aids sei. Um sein eigenes Schicksal zu vertuschen, hat er lieber neue Mythen in die Welt gesetzt.“ Was Südafrika dringend brauche, seien Vorbilder, fährt Wolfgang Drechsler fort. Das seien Leute, wie der weiße Richter am Verfassungsgericht, Edwin Cameron, der öffentlich eingestanden hat, homosexuell und HIV-positiv zu sein. „Edwin Cameron ist meines Wissens jetzt schon seit 20 Jahren HIVinfiziert und lebt.“ Eine Verhaltensänderung kann nur erfolgen, wenn es eine gesellschaftsfähige Debatte gibt, wenn sich keiner mehr zu schämen braucht. Die Einbindung von Prävention und Betreuung Aidskranker innerhalb der ganzen Gemeinde ist wichtig. „Das ganze Land muss hier an einem Strang ziehen, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.“ 8. Themba Labantu – Ein Pfarrer im wilden Westen Nyanga ist ein Township bei Kapstadt. Nyanga ist das Xhosa-Wort für „Mond“, aber die Menschen in diesem Township erleben eines noch häufiger als den Mond, nämlich Mord. „In Nyanga gibt es die höchste Mordrate am ganzen Westkap“, erzählt mir Otto Kohlstock, während wir in seinem alten BMW durch das Township fahren. Vorsichtshalber macht selbst er die Knöpfchen runter –„man weiß ja nie.“ Überall stehen Baracken aus Wellblech und Pappe, bunt zusammengewürfelt, manchmal nur mit losen Brettern oder etwas Stacheldraht voneinander getrennt. Die Straßen sind staubig, Kinder spielen mit alten Autoreifen am Wegesrand. Schilder mit Straßennamen gibt es selten. 180 Südafrika Arlette Geburtig Wer hier unbeschadet herauskommen will, muss seinen Weg sehr genau kennen. Anhalten kann tödlich sein. „Nicht aus Hass der Schwarzen gegenüber den Weißen, sondern schlicht aus bitterer Armut oder aus Langeweile überfallen Jugendliche Autos, denn die meisten hier haben keine Arbeit und lungern herum“ sagt Otto. Wir kommen in Philippi, einem anderen, jungen Township an, das erst in den 80er Jahren als Squattercamp entstanden ist, also einer informellen Siedlung aus einem Meer von einfachsten Blech-Baracken. Damals sind viele Menschen vor der Gewalt in einem benachbarten Township hierher geflohen. Wir halten an einem kleinen weißen Kirchengebäude, das einst von weißen Missionaren errichtet wurde und jetzt der schwarzen Lutherischen Gemeinde hier gehört. Otto ist seit einem Jahr der weiße Pfarrer dieser schwarzen Gemeinde. Das ist ungewöhnlich. Wir befinden uns in der „Eisleben Road“, die nach dem Geburtsort Martin Luthers benannt ist und vor dem “Group Areas Act“5 in den 50er Jahren sogar von Obst- und Gemüsebauern aus der Lüneburger Heide über ein Jahrhundert lang bewohnt worden war, bis die Weißen umgesiedelt und entschädigt werden mussten. Für Otto ist es genau der richtige Ort für soziale Arbeit. Stolz erzählt er, dass er der letzte Missionar des Berliner Missionswerkes sei. Vor einem Vierteljahrhundert kam er aus der damaligen DDR hierher, um den Menschen in Südafrika zu helfen. Seitdem hat er nie an Rückkehr gedacht. „Themba Lambantu“ heißt das Community Centre (Gemeindezentrum), das Otto Kohlstock seit einem Jahr leitet. Es bedeutet: „Hoffnung für die Menschen“. Wir werden von Madiba, seinem Hausmeister, begrüßt, mit dem Otto ein paar Worte auf Xhosa spricht. Die Sprache, die am Westkap am meisten gesprochen wird, hat er jahrelang an der Kapstädter Uni gelernt. Auch ich werde gleich freudig mit dem typischen Händedruck begrüßt, bei dem man erst die gekrümmten Finger ineinander hakt und dann die Daumen als Zeichen der Sympathie mehrfach gegeneinander presst. Zahnlücken blitzen aus dem dunklen Gesicht auf, als ich Madiba mit meinen paar Brocken Zulu begrüße: „Sawubona! Unjani.“ Er bricht in schal- 5 Der „Group Areas Act“ von 1950 war eine Steigerung des „Black Urban Areas Act, der die räumliche Trennung von Schwarzen und Weißen im Sinne der Apartheid vorantrieb. Den ethnischen Gruppen wurden unterschiedliche Wohngebiete in den Städten zugewiesen und jedem Bürger Südafrikas untersagt, in dem Wohngebiet einer anderen Rasse zu wohnen oder Eigentum zu haben. 181 Arlette Geburtig Südafrika lendes Gelächter aus. Nachdem er sich wieder beruhigt hat, antwortet er auf Xhosa, doch ich verstehe kein Wort. Ich gebe ihm alte Kleidungsstücke und Süßigkeiten für die Kinder als Gastgeschenke. Madiba Madikizela gehört zur Familie des ersten demokratischen Präsidenten und Volkshelden Nelson Mandela, worauf er sehr stolz ist. Er passt auf, dass auf dem Gelände alles seine Ordnung hat. Zuerst zeigt Otto mir sein Büro, das sich im zweiten Stock des kleinen Kirchengebäudes befindet. Dort herrscht ein großes Durcheinander. Seine Spezialität sei es, alles zu verlieren, sagt Otto lachend und wirkt dabei wesentlich jünger als seine tatsächlichen 49 Jahre. Von seinem winzigen Fenster aus kann man den Tafelberg sehen, obwohl wir etwa 20 km von Kapstadt entfernt sind. Otto, der schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt trägt, sowie, passend zu seinen deutschen Wurzeln, dunkelblaue Socken in offenen Sandalen, hat schon einiges erreicht. Bei seinem Organisationstalent und Engagement hat er alte Projekte wieder zum Leben erweckt und neue geschaffen. 8.1. Die Suppenküche von Philippi „Das Wichtigste ist die Suppenküche“ erzählt Otto. Die habe er eingerichtet, nachdem er sehr zu seinem Erschrecken festgestellt hatte, dass in Nyanga Hunger das allergrößte Problem sei. „Die Menschen auf der Straße haben mich immer nach etwas zu essen gefragt und die Kinder haben richtig elend ausgesehen. Wenn ich Menschen in ihren Shacks besucht habe, konnte ich die Not kaum fassen“, sagt er. „Wenn ich sie fragte, was sie am Morgen gegessen hätten, bekam ich meist die Antwort: ‚Nichts!’ Und auf die Frage: ‚Was wirst du heute Abend essen?’, hieß es: ‚Ich weiß noch nicht. Vielleicht haben die Nachbarn etwas und geben uns davon ab.’“ Mittlerweile kochen drei Frauen täglich in einem kleinen Container, auf dem in großen Buchstaben „Suppenküche“ steht, warmes Essen. Eine Köchin ist Mutter von zehn Kindern und sehr glücklich, dass diese jetzt immer etwas zu essen haben und sie sogar noch ein paar Rand dazu verdienen kann. Kinder bekommen die Mahlzeit umsonst und es kommen über hundert hungrige Kinder täglich nach der Schule zur Suppenküche. „Eigentlich sollte es von der Regierung Schulspeisung geben, doch irgendwie scheint das nicht richtig zu funktionieren“, murmelt Otto. Erwachsene müssen das Essen bezahlen. 40 südafrikanische Cent für einen Teller Suppe und 60 Cent für Gemüse und Maisbrei (Papp), umgerechnet nicht einmal sechs deutsche 182 Südafrika Arlette Geburtig Cent. Es sei wichtig, dass Erwachsene etwas bezahlen müssten, denn „erstens ist es eine Frage des Stolzes und zweitens wüssten sie es nicht zu schätzen, wenn es umsonst wäre“ glaubt Otto. Außerdem gibt es noch einen speziell mit Mineralien und Vitaminen angereicherten “E-Papp“, den vor allem Kranke bekommen, die sonst ihre Medikamente bei Tuberkulose und Aids auf nüchternen Magen nehmen würden. „Von den Einnahmen werden die Angestellten bezahlt“ erklärt Otto, während wir zu dem grünen Küchen-Container laufen, vor dem schon eine Hand voll Kinder auf ihr Essen wartet. Sie trinken Milch, von der Otto eine ganze Ladung von einem Supermarkt geschickt bekommen hat, weil das Verfallsdatum abgelaufen ist. Sie sei aber noch eine Weile haltbar, sagt er. Hinter der Kirche am Rande des Grundstückes hat Otto Kohlstock mit Hilfe von Spendengeldern einen Gemüsegarten angelegt, den jetzt zehn Familien bewirtschaften. Sie ernähren sich von dem geernteten Salat, den Rüben und was sonst noch dort wächst. Was übrig bleibt, verkaufen sie. Außerdem gibt es noch einen Kindergarten für behinderte Kinder auf dem Gelände, doch der war schon vorher da und wird von NGOs (NonGovernmental Organisations) geleitet, erzählt Otto. Mit den angrenzenden Räumen hat Otto aber noch einiges vor. Für die Aidskranken, die niemanden haben, der sich um sie kümmert, möchte er ein Hospiz gründen. Zunächst sollen nur acht Betten belegt werden. Diejenigen, denen es besser geht, sollen sich um die Kranken im Endstadium kümmern und in den Tod begleiten. 8.2. Wie Weihnachtssterne HIV-Infizierten helfen Neben dem Kirchengebäude hat Otto Kohlstock eine Art Bastelstube eingerichtet, in der 18 Frauen und Männer unterschiedlichen Alters an einem langen Tisch sitzen und aus Draht, Schnur und winzigen Perlen Weihnachtssterne und Kugeln basteln (für freundliche Menschen in Deutschland, die das Projekt unterstützen und den recht teuren Weihnachtsschmuck für fünf bis sieben Euro an Freunde und Bekannte verkaufen). Zuerst biegen sie den Draht in die richtige Form und fädeln dann winzige Perlen mit einer Nadel auf einen Faden, den sie um die jeweilige noch freie Stelle des Drahtgestelles wickeln. Ein etwa handtellergroßer Stern besteht aus mehreren hundert Perlen, so dass es bei sorgfältiger Arbeit mehrere Stunden dauert, bis er fertig ist. 183 Arlette Geburtig Südafrika Alle haben eines gemeinsam: sie sind HIV-positiv. Von dem Weihnachtsgeschäft im letzten Jahr konnte Otto sie sozusagen fest anstellen und pro Stern oder Kugel bekommen sie nun immerhin 20 Rand (ca. 2,50 Euro). Zwei bis drei Sterne schaffen sie am Tag und damit erhalten sie mehr als sie anderswo verdienen würden. Um dieses Handwerk zu erlernen, sind die Bastler geschult worden. Die Frauengruppe SEWU aus dem Nachbartownship Guguletu hat sie dabei unterstützt. Eine der Frauen, die besonders gesprächig ist, vor allem als Otto den Raum verlassen hat, um seine Arbeit zu erledigen, erzählt, dass ihre Familie nichts von ihrer Krankheit wisse und alle denken, sie hätte einen „normalen“ Job hier. Die beiden jüngsten Mädchen in der Gruppe sind 20 und 22 Jahre alt. Sie seien die einzigen Jungfrauen, scherzt die Ältere und lacht. Eine von ihnen würde heimlich sogar am Wochenende arbeiten und Sterne basteln, um mehr Geld zu bekommen, sagt eine andere Frau mit einem neidischen Blick auf ihre Nachbarin, die unbeeindruckt weiterarbeitet. Die Idee des Projektes ist, HIV-infizierten Menschen die Möglichkeit zu geben, sich mit etwas Sinnvollem zu beschäftigen und außerdem ihr Schicksal und ihre Sorgen mit Leidensgenossen zu teilen, klärt mich der Pfarrer später auf. Ich erzähle ihm, dass eine der Frauen sich bei mir beschwert hätte, sie würden zu wenig Geld verdienen. Otto antwortet, dass die HIV-Kranken sich allmählich als etwas ganz Besonderes vorkämen, weil sie überall Unterstützung bekämen. Besucher aus anderen Ländern kämen hauptsächlich ihretwegen vorbei, brächten Geschenke mit, so dass sie langsam etwas übermütig würden. Andere Notleidende hätten dagegen gar keine Chance, an Jobs, Kleidung oder Lebensmittel zu kommen. 8.4. Township-Schicksale Später zeigt mir Otto eine Mitarbeiterin auf dem Gelände, die vor anderthalb Jahren von mehreren Männern in ihrem Shack vergewaltigt wurde und sich dadurch mit HIV infiziert hat. So etwas passiere in einem Township tagtäglich, sagt Otto, aber das ließe sich in absehbarer Zeit auch nicht ändern. Im gleichen Monat seien ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ein 16-jähriges Mädchen, das aufgrund seiner Unterernährung aussieht wie 14, sei vor einer Woche in einem elenden Zustand hier angekommen. Es sei obdachlos und wäre zusammengeschlagen worden. Dieses Mädchen darf jetzt mit in dem kleinen Gemeindehaus von Madiba wohnen und Otto will sich darum kümmern, dass es zur Schule gehen kann. Leider gibt es ein Problem: die Schule in der Nähe hat schon 70 Schüler zuviel auf der 184 Südafrika Arlette Geburtig Liste, die auf einen Platz warten. Aber da Otto weiß ist und überdies Xhosa spricht, öffnen sich ihm viele Türen, meint er zuversichtlich als er das Zeugnis des Mädchens der Sekretärin des Schuldirektors überreicht, der in einer Besprechung ist. „Viele Probleme hier resultieren auch aus einer schlechten Angewohnheit der Schwarzen“, glaubt Otto. Eine Folge der Apartheid sei die Unmündigkeit vieler Schwarzer. Sie habe vor allem bei den ärmeren Schichten zu einer Haltung des „Handaufhaltens“ geführt, die bis heute weit verbreitet sei. „Andere sind verantwortlich und schuld an meiner Situation“, sei eine gängige Überzeugung. Sogar Sprachstudien belegen das. Wenn ein Xhosa oder Zulu den Bus verpasst, so wird er immer sagen: „Der Bus ist mir davon gefahren“ oder „er hat mich nicht mitgenommen“, die meisten Schwarzen, vor allem in den Townships, verwenden für Aktionen gerne die Passivform. Statt selbst in Aktion zu treten, überlassen es viele lieber den anderen. Ehrgeiz ist selten, dafür ist Neid umso größer. Aus Neid auf den Besitz des Nachbarn werden tagtäglich zig Shacks in den Townships in Brand gesetzt. 9. Radio Zibonele In Khayelitscha, dem zweitältesten Township in Südafrika, 30 km vom Zentrum Kapstadts entfernt, befindet sich das „Community Radio“6 Zibonele, das vor zwölf Jahren als Piratensender ein Gesundheits- und Aufklärungsprogramm für die Townships ins Leben gerufen hat. Mittlerweile besitzt es eine offizielle Lizenz. Eva Bendix, auch eine Heinz-Kühn-Stipendiatin, hat 1997 über dieses Township-Radio berichtet. Ich möchte wissen, was aus dem Projekt geworden ist und verabrede mich mit Epaph Mbasi, dem Geschäftsführer von Radio Zibonele in Khayelitscha. Statt verwahrloster Shacks, wie in den anderen Townships, gibt es hier kleine Steinhäuschen. Nur wenige sind noch aus Wellblechpappe. Sie alle stehen ordentlich nebeneinander und bilden eine kleine Siedlung. Town two ist einer der älteren Stadtteile Khayelitschas. Wer hier wohnt, hat es schon geschafft, dem allergrößten Elend zu entkommen. Die Menschen schauen offen und neugierig in mein Auto, nicht misstrau6 Community Radios sind keine kommerziellen Sender. Sie wollen Konsens erzeugen, die Demokratie stärken und vor allem Community schaffen – daher der Name Community Radio. Sie werden z.T. durch staatliche Förderprogramme unterstützt. Sie senden in Dörfern oder Stadtteilen, in denen auch ihre Moderatoren leben, daher sind sie am täglichen Geschehen sehr nah dran. 185 Arlette Geburtig Südafrika isch wie sonst. Doch Straßen abzuzählen gilt es auch hier, denn Schilder gibt es keine. Noch immer befindet sich Radio Zibonele in dem blau gestrichenen Container, den auch Eva schon besucht hat. “Molo, kunjani?“ (wie geht’s?), begrüßt mich lässig ein junger Mann mit Dreadlocks auf Xhosa und außer “ngikhona“ (danke gut), weiß ich keine Antwort, und das ist auch noch Zulu. Zum Glück kann Lennox, so stellt sich der Mann mit den Dreadlocks vor, Englisch. Er sei hier DJ und wir könnten ihn gerne interviewen. Um die hierarchische Reihenfolge einzuhalten, was in Südafrika sehr wichtig ist, spreche ich aber erst mit Epaph Mbasi, dem Manager. Er ist etwa 30 Jahre alt und damit viel jünger als ich vermutet habe. In seinem frisch gebügelten Hemd steht er vor dem Radio-Container und wirkt fast etwas deplaziert, so “aus dem Ei gepellt“, während ich ihn interviewe. 9.1. Der Gesundheitssender für das Volk Radio Zibonele gibt es schon seit 1992 und war zunächst ein Piratensender, der von einigen Healthworkerinnen (ungelernten Krankenschwestern) und Freiwilligen betrieben wurde, die sich zum Ziel gesetzt hatten, Gesund-heitsaufklärung mehr Menschen zugänglich zu machen. „Zibonele“ heißt soviel wie “stay for yourself“. „Da viele TownshipBewohner Analphabeten sind und kein Englisch beherrschen, sind ein paar Leute damals auf die Idee mit dem Radio gekommen“, erinnert sich Epaph. „So konnten sie schnell und effizient ihre Ratschläge auf Xhosa übermitteln.“ Auch Kindererziehungsprobleme und Hygienefragen sollten mit Hilfe des Senders geklärt werden, da es den Krankenschwestern zu mühselig geworden war, von Haus zu Haus zu marschieren und jeden Einzelnen zu beraten. Das alles war zunächst illegal, da Schwarze in Townships nach dem alten Gesetz keine Erlaubnis bekamen, Radiosender zu betreiben. Doch während der beginnenden Demokra tisierungsprozesse, nach den ersten freien Wahlen 1994, war es möglich, legale, öffentliche Gemeinde-Radios zu gründen. So bekam Zibonele von der Regierung seine erste offizielle Lizenz, die seitdem jedes Jahr erneuert wird. Der Sender arbeitet mit völlig veraltetem Equipment, „aber wir schaffen es, jeden Tag von fünf Uhr morgens bis Mitternacht zu senden, also fast rund um die Uhr“, sagt Epaph stolz. Es gibt nur neun Festangestellte, die die organisatorische Arbeit erledigen. Etwa 35 Freiwillige unterstützen Zibonele als Moderatoren. Sie erhalten lediglich eine kleine Unkostenpauschale für ihre Fahrtkosten und das Material, das sie verbrauchen. Das Geld stammt aus Fördertöpfen der Regierung. 186 Südafrika Arlette Geburtig Insgesamt erreichen sie 15.000 Menschen und längst dreht sich das Programm nicht mehr ausschließlich um Gesundheitsaufklärung. Täglich kommen hunderte von Zuhörern persönlich zum Sender oder rufen an, um ihre Probleme zu schildern. Diese sind vielschichtig. Es werden z.B. vermisste Kinder oder verloren gegangene Kleidungsstücke gesucht, die dann über den Sender ausgerufen werden. Manchmal haben die Leute Glück und finden wieder, was sie gesucht haben. Auf jeden Fall ist Radio Zibonele die erste Anlaufstelle, an die sie sich wenden, noch bevor sie evtl. die Polizei einschalten. Als ich da bin, kommt ein Mann in einem viel zu großen, billigen Anzug herein, der alle seine Kleider während seiner Reise nach Khayelitscha verloren hat. Aber die Township-Bewohner und Radiohörer wenden sich auch mit anderen Problemen an den Sender. Zum Beispiel kommen einige mit Eheproblemen oder rufen an, wenn sie geschlagen wurden. Manchmal versucht der Moderator ihnen direkt “On Air“ zu helfen. 9.2. Alles im Kopf Nyani Mhsi Maponya (mit einem Schnalzlaut in der Mitte) ist eine der freiwilligen Radio-Moderatorinnen. Ich höre fasziniert bei ihrer Sendung zu, die natürlich auf Xhosa ist und verstehe kein Wort. Ich bin vor allem deshalb fasziniert, weil ständig Leute in das winzige, provisorisch wirkende Studio einfallen und ihr irgendetwas sagen, ihr Zeichen geben oder in den CDs und MDs kramen, die vor ihr liegen. Sie hat kein einziges Blatt Papier vor sich liegen und immer wenn sie “On Air“ geht, redet sie einfach drauf los. „Ich habe alles im Kopf“, erklärt sie mir später: „Ich recherchiere vorher zu Hause und merke mir dann alles, was ich sagen will.“ Sie brauche nichts aufzuschreiben, sagt sie und das ist ein Phänomen bei vielen Schwarzen, wie ich später noch feststellen werde. Aus Mangel an Ressourcen waren sie einst gezwungen, sich alles zu merken. Diese Gabe hätten sich viele bewahrt, erfahre ich. Nyani ist 35 Jahre alt und weil sie schon seit zehn Jahren dabei ist, wird sie von ihren Zuhörern liebevoll “Mama Omncane“ genannt. So heißt auch ihre Radiosendung, in der es um Frauenprobleme geht. Jede Woche hat sie ein anderes Thema, zu dem die Zuhörer dann anrufen können. Außerdem moderiert Mama Omncane am Wochenende noch eine Kindersendung. Sie hat selbst einen kleinen Sohn, den sie oft mitnimmt und auch jetzt ist er dabei und stopft sich während unseres Interviews mit den Bonbons voll, die ich immer für alle Fälle dabei habe. Mama Omncane 187 Arlette Geburtig Südafrika will helfen, dass Frauen mehr Selbstbewusstsein bekommen und über ihre Rechte als Frauen Bescheid wissen. „Ich habe Glück“, meint sie lachend, „mein Mann ist völlig auf Gleichberechtigung getrimmt.“ Sie will, dass mehr Frauen so etwas finden oder daran arbeiten. Nyani hat aber auch eigene Wünsche. Sie träumt davon, richtig als Journalistin ausgebildet zu werden und vielleicht sogar einmal als Fernsehmoderatorin zu arbeiten. Aber sie sei schon so alt, sagt sie und kichert dabei. Dann steht sie auf, nimmt ihren Sohn auf die Arme und bindet ihn, nach afrikanischer Sitte, mit einem Handtuch auf ihrem Rücken fest, um nach Hause zu gehen. 9.3. Ein DJ mit Deutschlanderfahrung Als Nächstes folgt die Musikshow von Lennox, dem Mann mit den Dreadlocks. In seiner Sendung geht es nicht um Probleme; er macht eine reine Musiksendung, in der sich die Hörer etwas wünschen dürfen und er sucht dann, während er mit dem jeweiligen Zuhörer plaudert, die entsprechenden Musiktitel auf CD heraus und spielt sie dann ab. Wie er bloß alles so schnell finden könne, frage ich ihn, als ich mit ihm im Studio sitze. Er sagt, es seien meist moderne Titel und er hätte von jedem Genre etwas dabei. Falls er den gewünschten Titel mal nicht habe, könne er sofort etwas anderes anbieten und die Hörer ließen sich leicht überzeugen. Immer wieder unterbricht er unser Interview, weil er “mal eben ‚On Air’ gehen muss“ und schwups ist auch schon das Rotlicht an und er plaudert drauf los. Nervosität oder Angst davor, etwas Falsches zu sagen, kennt er nicht. Das kennt eigentlich keiner hier. Lennox ist 34 Jahre alt und schon seit Anfang an bei Radio Zibonele ebenfalls freiwillig, ohne Gehalt zu bekommen. Es mache ihm Spaß und außerdem sei er ja eigentlich Musiker und verdiene mit seiner Musikband „Lennox T“ ein wenig Geld, erzählt er. Es reiche zum Leben. Lennox war schon drei Mal in Deutschland, u.a. in Köln, wie letztes Jahr auf dem Südafrika Festival. Jetzt sei er schon wieder eingeladen. Deutschland ist das einzige Land, das er “overseas“ kennt und damit gehört er schon zu den Privilegierten. Er lebt gerne hier in Khayelitscha, aber es geht ihm auch verhältnismäßig gut. Seine Frau arbeitet als Putzfrau, damit das Familieneinkommen stimmt. Um seine drei Kinder macht er sich keine Sorgen. „Ich denke fortschrittlich“, sagt Lennox. „Von mir aus kann das Patriarchat abgeschafft werden. Meine Frau und ich sind absolut gleichberechtigt. Wenn 188 Südafrika Arlette Geburtig es sein müsste, würde ich auch putzen gehen.“ Viel lieber macht er natürlich seine Musik und hofft, eines Tages vielleicht doch noch damit berühmt zu werden. 10. Die Frauengewerkschaft SEWU und der informelle Sektor In Guguletu, einem Township etwa 20 km außerhalb von Kapstadt, ist eines der Büros der Frauengewerkschaft SEWU, was für „Self Employed Women’s Union“ steht, also Gemeinschaft selbständiger Frauen. Etwa ein Dutzend Frauen wartet bereits auf meine Ankunft, alle haben bunte Kleider an. Als ich das Häuschen betrete, sitzen sie erwartungsvoll auf ihren Stühlen und fächeln sich mit Faltblättern der Organisation Luft zu. Die Schuhe haben sie bereits ausgezogen, weil es so heiß ist. Die meisten Anwesenden sind über 50, einige sogar über 60 Jahre alt. Auf meine Frage, was sie arbeiten würden, antworten sie zunächst: “I’m not working!“ – Pause - “I’m self-employed!“ Sie gehören zu den 50 Prozent aller afrikanischen Frauen, die sich informell als Straßenhändlerinnen, Gemüse- und Imbissverkäuferinnen oder als Altpapiersammlerinnen durchschlagen müssen. Darum werden sie auch als „survivalists“, Überlebenskämpferinnen bezeichnet. Gemeinsam ist den Frauen in der Schattenwirtschaft, dass sie nie die Gelegenheit hatten, etwas zu lernen, das eine Arbeit im formellen Sektor ermöglicht hätte. Es gibt zwar auch Männer, die sich z.B. als Lastenträger, Autowäscher oder Schuster anbieten, dennoch machen Frauen den größten Anteil auf dem ungesicherten Arbeitsmarkt aus. Um sich und ihre Familien durchzubringen, fertigen sie auch Handarbeiten an oder bieten selbst genähte Kleidung oder Getränke am Straßenrand an. Gegenseitige Hilfe gehört zu den Überlebensstrategien im informellen Sektor. „Hier bei SEWU halten wir alle zusammen“, sagt Rosei Makosa, die Vorsitzende der Westkap-Region mit Stolz: „Wir sorgen dafür, dass alle Frauen, die zu uns kommen, lernen, wie man bestimmte Sachen herstellt, und wir bringen ihnen Verkaufsstrategien bei.“ Außerdem fördert SEWU die Ausbildung von Grundfähigkeiten, wie Geschäftsführung und Konfliktbewältigung sowie andere spezielle Fähigkeiten, wie Hausbau, Tischlern und Elektroinstallation. Dies sind keine traditionellen Tätigkeiten für Frauen, aber ein Bereich, in dem sie gut Geld verdienen und ihre eigenen kleinen Betriebe aufmachen können. Die Frauen müssen einen geringen Teil dieser Fortbildungen selbst finanzieren, wäh189 Arlette Geburtig Südafrika rend SEWU 80 Prozent der Kosten übernimmt. Teilweise bringen sich die Frauen aber auch untereinander handwerkliche Fertigkeiten bei. Die meisten produzieren traditionelle Perlenarbeiten oder Kleidung. Die Organisation wurde 1994 nach indischem Vorbild in Durban gegründet. Allein in der Region Western Cape hat SEWU inzwischen 300 Mitglieder, im ganzen Land sind es ca. 4.000. Jedes Mitglied muss acht Rand im Monat zahlen (90 Cent). Viele Frauen würden aber wieder aussteigen, sobald sie ihre eigene Existenz aufgebaut hätten, weil ihnen das zu viel Geld wäre. Das sei schade, sagen die Anwesenden einstimmig, sie würden sich freuen, wenn einige der ExMitglieder zurückkämen. Sylvia Pongoma macht Schmuck und Figuren aus Perlen (beads), wie die meisten Frauen, die heute gekommen sind. Vor fünf Jahren hat die 52-jährige durch SEWU gelernt wie es geht, „dann habe ich mich damit selbständig gemacht“, erklärt sie. „Bei uns zu Hause sind wir sieben Personen. Mein Mann ist Rentner. Er bekommt kaum Geld. Außerdem habe ich fünf Kinder, eines ist HIV-positiv; sie alle muss ich versorgen.“ Silvia hat einen Stand auf dem Markt in Kapstadt. Wenn das Geschäft gut läuft, verkauft sie ein oder zwei Stücke am Wochenende. Doch manchmal, wenn es schlecht läuft, hat sie nicht einmal genügend Geld für die Busfahrt nach Hause oder einen Laib Brot. Dann muss sie sich Geld leihen und später mit Zinsen zurückzahlen. Es ist ein hartes Leben, doch durch SEWU ist sie nicht mehr allein. Auch Charmain Govindarajod ist über 50 Jahre alt. Neben Basteln und Nähen stellt sie noch afrikanische Heilmittel her. Ihr Traum ist es, ihre Tochter zum Studieren nach Amerika zu schicken. „Manchmal, wenn ich denke, ich schaffe es nicht, gehe ich zu unseren SEWU-Treffen und rede mit den anderen und schon geht es mir wieder besser. Wir unterstützen uns gegenseitig bei allem. Oft singen und tanzen wir und machen uns gegenseitig Mut. Das ist einfach toll!“ „Ich backe für Trauerfeiern und andere Gelegenheiten“, erzählt Priscilla Mbdaga: „Ich laufe überall herum und erzähle was ich mache, und manchmal bestellt jemand dann etwas bei mir.“ Die Mutter von drei Kindern ist seit fünf Jahren bei SEWU. Vorher war sie krank und arbeitslos, jetzt hat sie neuen Lebensmut und träumt von einer Backstube mit anderen Frauen zusammen. Als ich sie nach ihren Zukunftsplänen frage, antworten die meisten, dass sie ihre Geschäfte vergrößern möchten. Aber vor allem wollen sie auch anderen Frauen helfen! Als Konkurrentinnen sehen sie sich nicht, sondern als Freundinnen und Unterstützerinnen. Xouswa Nyarashe ist mit ihren 28 Jahren eines der jüngsten SEWUMitglieder. Sie lebt mit ihrem Bruder zusammen beim Vater und verkauft 190 Südafrika Arlette Geburtig Cola und Süßigkeiten an die Nachbarn. Das Geschäft hätte ihre Mutter aufgebaut, aber die sei weggelaufen und jetzt führe sie es fort. Da der Vater mit seiner Rente die Familie seines verstorbenen Bruders unterstützen müsse, sei ihr finanzieller Beistand sehr wichtig. Xouswa erzählt, dass das Beste an den SEWU-Kursen für sie gewesen sei, zu lernen, wie man mit dem Geld haushält, also wie man seine geringen Einnahmen vermehrt, statt alles direkt wieder auszugeben und am Ende nichts mehr für den Neueinkauf der Waren übrig zu haben. Außerdem habe sie gelernt, wie man mit wenig Geld auskommen kann. „Ich kann mit all meinen Problemen hierher kommen“, sagt Xouswa. „Es ist für mich wie ein zweites Zuhause und die anderen sind meine Mamas!“ Neben der Organisation der kleingewerbetreibenden Frauen in Südafrika, hat sich SEWU auch das „Women Empowerment“, also die Stärkung der Frauen, auf die Fahnen geschrieben. Die Organisation hat schon einige Erfolge im Kampf für die Rechte der Straßenverkäuferinnen verzeichnet. Lange Zeit wurde den Frauen auf dem ungesicherten Arbeitsmarkt keine Beachtung geschenkt. Ihre Bedeutung im Wirtschaftsgefüge war unklar. Nur wenn Weltwirtschafts- und Handelsstrukturen zugunsten der Marginalisierten verändert werden, lassen sich laut SEWU die Lebensverhältnisse dieser Frauen im informellen Sektor wirksam und dauerhaft verbessern. Darum trägt SEWU auch auf internationaler Ebene dazu bei, die Lebensbedingungen bekannter zu machen und Schritte in die richtige Richtung zu unternehmen. So hat die Gewerkschaft an der ILO-Konvention für HeimarbeiterInnen mitgewirkt und beteiligt sich an Forschungsarbeiten zum informellen Sektor. Überdies ist sie Teil des WIEGO-Frauennetzes (Women in Informal Employment: Globalizing and Organizing), das Straßenhändlerinnen weltweit vernetzt. Am Ende meines Gespräches stehen alle Frauen wie auf Kommando auf und beginnen zu tanzen und zu singen. Dabei klatschen sie in die Hände und wiegen ihre Hüften im Rhythmus. Es sei das SEWU-Lied, erklären sie mir nachher. Am Ende des Liedes strecken sie ihre Fäuste in die Luft und rufen den SEWU-Kampfspruch: „Gemeinsam schaffen wir es!“ 11. Black Empowerment und die ANC Women’s League Eine Vorzeige-Frau unter den Schwarzen ist Charlotte Lobe, die Sprecherin der ANC Women’s League. Ich treffe sie in ihrem Büro im Parlament von Kapstadt. Mit Mitte 30 hat sie es geschafft. Sie ist in zahlreichen Frauenorganisationen im Land aktiv und hat eine steile Karriere beim ANC hingelegt, in dem sie nach alter Familientradition seit ihrem 18. Lebensjahr 191 Arlette Geburtig Südafrika Mitglied ist. Sie ist ein gutes Beispiel der neuen selbstbewussten schwarzen Frauen, die Job und Familie unter einen Hut bringen und von „Black Empowerment“, also der Ermächtigung der Schwarzen, tatsächlich profitiert haben. Das Regierungsprogramm will durch „Affirmative Action“ (Fördermaßnahmen zugunsten von Schwarzen), dass bei der Jobvergabe in öffentlichen Einrichtungen und bei Privatisierungen die ehemals Benachteiligten begünstigt werden. Bei gleicher Qualifikation soll zuerst eine schwarze Frau vor einem schwarzen Mann, und wenn dies nicht möglich ist, eine weiße Frau und dann erst ein weißer Mann eingestellt werden, bis die südafrikanische Gesellschaft sich tatsächlich auch in der Arbeitswelt widerspiegelt und zwei Drittel aller Angestellten Schwarze sind. Die ehemals Benachteiligten sollen jetzt bevorzugt werden. Die staatlichen Einrichtungen müssen sich daran halten, alle anderen Unternehmen sollten es freiwillig tun. Am interessantesten finde ich bei unserem Interview ihre Antwort auf meine Frage, wie sie auf die Kritik reagiere, dass jetzt viele Schwarze nur aufgrund der Hautfarbe und nicht aufgrund ihrer Qualifikation Jobs bekämen. Sie antwortet, das fände sie sehr richtig, denn die Schwarzen seien so lange unterdrückt worden, dass es an der Zeit sei, ihnen Verantwortung zu übertragen, auch wenn sie vielleicht noch viel lernen müssten. Aber man wachse mit den Aufgaben, und oft sei es keine mangelnde Qualifikation, sondern nur ein Mangel an Erfahrung gegenüber den alten weißen Managern, Geschäftsführern und Chefs aus der Apartheidzeit. Jetzt müssten die Schwarzen unbedingt lernen, selbst Verantwortung zu tragen. Sie müssten lernen, wie es ist, selbst Vorgesetzter zu sein oder im Management zu arbeiten und endlich auch einmal etwas zu sagen zu haben. Auch wenn noch Fehler passierten, sei es sehr wichtig für die Zukunft, dass Schwarze mehr Macht bekämen. Sie würden schon alles lernen, was sie bräuchten. Ich bin überrascht, da ich die Problematik bisher immer aus der anderen Perspektive betrachtet hatte. Dann brachte Charlotte ein Gleichnis, um mir zu erläutern, was Südafrika tun müsse, um die Vergangenheit zu bewältigen und Gleichberechtigung zu schaffen: Ich solle mir drei Marathonläufer vorstellen: „Der Erste hat Nike-Schuhe und den besten Trainingsanzug, der Zweite hat ein zerfetztes, gebrauchtes, altes Trikot und der Dritte nicht einmal Schuhe und muss barfuss laufen. Was Südafrika jetzt versucht, ist allen Dreien Nike-Schuhe und gute Trikots zu geben, damit alle die gleiche Ausgangsbasis haben. Doch ist das wirklich gerecht?“ Der erste hätte nie gelitten, fährt sie fort, im Gegensatz zu den beiden anderen. Man müsse ihnen also eigentlich zusätzlich dabei helfen, die 192 Südafrika Arlette Geburtig Vergangenheit zu verarbeiten. Das wäre Gerechtigkeit. Ich vermute, dass sie mit dieser Äußerung impliziert, dass Weiße jetzt erst einmal trotz besserer Qualifikationen benachteiligt werden sollten, denn bislang haben sie es besser gehabt. Warum sollten sie nicht auch einmal um Jobs kämpfen müssen? 12. Zukunftsgedanken über Südafrika Die meisten Menschen in Südafrika haben eine gespaltene Meinung über die Zukunft ihres Landes. Häufig ist von einer unblutigen Transformation (von weiß zu schwarz) die Rede, doch Otto Kohlstock, der Township-Pfarrer ist überzeugt, dass sie mehr als blutig ist. Ein regelrechter Bürgerkrieg herrsche seiner Meinung nach. „Die Schere zwischen Arm und Reich klafft seit dem Ende der Apartheid immer mehr auseinander und es ist kein Ende der Entwicklung in Sicht. Nur einige Wenige, die vorher schon reich waren, sind jetzt noch reicher“, sagt er. Unter ihnen befinden sich die ehemaligen weißen Staatspräsidenten Pieter Willem Botha (1984-1989) und Frederik de Klerk (1989-1994). „Den großen Weißen des Apartheidregimes geht es heute besser denn je“, glaubt auch der Südafrika-Korrespondent Wolfgang Drechsler. „Der Grund dafür ist der historische Kompromiss, mit dem der Neuanfang nach der Apartheid geschaffen wurde: Aufklärung von Mensch enrechtsverletzungen gegen Amnestie - das war der Deal, den die damalige Regierungspartei NP unter Präsident de Klerk in der Übergangsregierung bis 1994 gefordert hatte“. Der historische Kompromiss diente vor allem dazu, die eigene Haut zu retten. Keine Strafverfolgung wegen der Apartheid als solcher und damit verbundenen politisch motivierten Straftaten. Der historische Kompromiss war schmerzhaft. So durften beispielsweise die wirtschaftlichen Besitzverhältnisse – laut der Vereinbarung mit De Klerk – nicht angetastet werden. Das war der Preis dafür, dass das Apartheidregime abdankte und das erste Mal freie Wahlen ausrief, an denen sich auch Schwarze und Farbige beteiligen durften. Auch zehn Jahre nach den ersten freien Wahlen, und dem ersten schwarzen Präsidenten Nelson Mandela, hat sich wenig an den Besitzverhältnissen geändert. Noch immer liegt der größte Teil des fruchtbaren Landes in der Hand der weißen Minderheit, genauso wie Industrie, Banken, Bergwerke und ein großer Teil der privaten Medien. „Die Schwarzen haben nie ein Ventil für Vergeltung gehabt“, sagt Otto Kohlstock, „jetzt bringen sich die Menschen gegenseitig um, weil in ihnen eine blinde Aggressivität schlummert, die immer wieder ausbricht.“ „Südafrika ist aber auch in vielen Bereichen ein besseres Land geworden“, glaubt Wolfgang Drechsler. „Ein Land, in dem Weiße wie Schwarze 193 Arlette Geburtig Südafrika nicht mehr mit einer großen Unsicherheit leben müssen, sondern wirklich in die Zukunft planen können. Wer die politische und wirtschaftliche Lage Südafrikas mit der vor zehn Jahren vergleicht, wird bemerken, dass sie stabiler geworden ist.“ Der Machtwechsel von Nelson Mandela zu Thabo Mbeki 1999 steht politisch für den Übergang von der Versöhnung zur Versorgung als zentralem Ziel der Politik. Bereits 1996 hat die Regierung einen neoliberalen Wirtschaftskurs eingeschlagen und setzt auf Weltmarktintegration, was der Wirtschaft zu einem verhaltenen, aber stetigen Wachstum verholfen hat. „Außerdem hat Südafrika den Übergang zu einer demokratischen Ordnung und einer rechtsstaatlichen Verfassung geschafft“, erklärt Wolfgang Drechsler. „Nach der Übergangsverfassung von 1994 trat am 4. Februar 1997 die neue Verfassung in Kraft. Sie wird weltweit als vorbildlich anerkannt und legt besonderes Gewicht auf den Schutz und die Förderung der Menschenrechte. Dazu gehören auch soziale und wirtschaftliche Rechte, die allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft zustehen und einklagbar sind, sowie Obdach, Zugang zu grundlegender Schulausbildung und Gesundheitsführsorge.“ Otto Kohlstock befürwortet das „Affirmative Action Programm“. Damit will die Regierung jetzt auch Gerechtigkeit in der Arbeitswelt schaffen und ehemals benachteiligte Bevölkerungsgruppen bei der Einstellung bevorzugen. Vor allem in öffentlichen Einrichtungen wird das Programm bereits umgesetzt. Dort kann man beobachten, dass weiße und schwarze Südafrikaner mit einer Selbstverständlichkeit zusammenarbeiten, die früher undenkbar gewesen wäre. Doch es muss noch viel getan werden im neuen Südafrika. Das Versprechen der neu gewählten Regierung von 1994, allen Bürgern Arbeit und ein menschenwürdiges Auskommen zu sichern, konnte der ANC bis jetzt nicht einlösen. „Die Arbeitslosigkeit hat sich seit dem Ende der Apartheid drastisch verschlimmert“, weiß Otto Kohlstock. Eine Million Arbeitsplätze sind im Zuge des Neoliberalismus während der schwarzen Regierungszeit wegrationalisiert worden, fast alles Arbeitsplätze von Schwarzen. Die mehr als sechs Millionen Arbeitslosen stehen einer kleinen schwarzen Mittelschicht gegenüber. Nach wie vor lebt die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung in Townships unter menschenunwürdigen Bedingungen. In den Straßen der großen Städte leben unzählige obdachlose Kinder und betteln um Geld. Viele kaufen sich davon Benzin und Lösungsmittel zum Schnüffeln. 194 Südafrika Arlette Geburtig Die Säuglings- und Kindersterblichkeit ist in den letzten zehn Jahren um über 30 Prozent gestiegen. Schuld sind die hygienischen Verhältnisse und die mangelnde medizinische Versorgung. Auch das Aidsproblem hat sich verschlimmert: Die HIV-/Aidsrate ist in den letzten zehn Jahren dramatisch angestiegen. Inzwischen sind fünf Millionen Menschen in Südafrika HIV-infiziert oder bereits an Aids erkrankt. Neben den sozioökonomischen Problemen, die die Regierung in den Griff bekommen muss, vollzieht sich dennoch eine gesellschaftliche Transformation. Sie betrifft vor allem die schwarze Mittelschicht, die immer noch in der Minderheit ist, aber allmählich wächst. Besonders in öffentlichen Ämtern gibt es immer mehr schwarze Mitarbeiter. Die Hoffnung ist groß, dass der „Black Economic Empowerment“-Prozess die gesamte Unternehmenslandschaft umstrukturieren wird. Es wird sogar von einer „Afrikanischen Renaissance“ gesprochen, denn ein neues schwarzes Selbstbewusstsein ist erwacht, das nun zur Neugestaltung mitmenschlicher Beziehungen beitragen muss. Südafrika blickt in eine unsichere Zukunft. Die menschenrechtswidrigen Gesetze der Rassentrennung sind zwar abgeschafft, und die Regierung will ein neues Südafrika mit einer selbstbewussten schwarzen Mehrheit aufbauen, doch um die Lebensbedingungen zu verbessern, müssten die Ressourcen gleichmäßiger verteilt werden. Die Zukunft des Landes wird wesentlich davon abhängen, ob dieses Problem bewältigt wird. 13. Danke Für die tollen Erfahrungen und Begegnungen danke ich allen, die sich Zeit genommen haben, mir etwas über Land und Leute zu vermitteln. Ein Dankeschön gilt dem Südafrika-Korrespondenten Wolfgang Drechsler, der mir immer wieder Kontakte zu interessanten Gesprächspartnern verschafft hat und auch selbst geduldig Rede und Antwort stand. Vielen Dank auch an Anneliese Burgess für das Praktikum bei Special Assignment und Dimmakazu Rapotho, die mich durch die Townships begleitete und bei ihrer Familie in Soweto wohnen ließ. Ich danke dem Township-Pfarrer Otto Kohlstock für seine Bemühungen und die interessanten Einblicke, die er mir gegeben hat. Aber vor allem möchte ich mich bei der Heinz-Kühn-Stiftung und Ute Maria Kilian bedanken, dass sie diese Horizonterweiterung ermöglicht haben. Ich habe viel gelernt und Unvergessliches erlebt. 195 Nguyen Thi Thu Huong aus Vietnam Stipendien-Aufenthalt in Deutschland 01. Juli bis 31. Dezember 2003 197 Deutschland Nguyen Thi Thu Huong Ein Traum vom Paradies? Von Nguyen Thi Thu Huong Deutschland vom 01.07. – 31.12.2003 199 Deutschland Nguyen Thi Thu Huong Inhalt 1. Zur Person 202 2. Vorwort 202 3. Politische Beziehungen 204 4. Entwicklungspolitische Zusammenarbeit 204 5. Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen 205 6. Bilaterale Kulturbeziehungen 206 7. Deutschland – das Paradies? 207 8. Eindruck über Deutschland heute 211 9. Was Vietnamesen sich nicht von Deutschland vorgestellt hätten 9.1. Kulturelle Unterschiede 9.2. Lebensartunterschied 211 212 212 10. Familienbeziehungen 213 11. Ausländer in Deutschland 213 12. Praktikum beim ZDF 214 13. Mein Gesamteindruck und Dank 215 201 Nguyen Thi Thu Huong Deutschland 1. Zur Person Mein Name ist Nguyen Thi Thu Huong. Ich wurde am 25. November 1973 in Hanoi, der Hauptstadt Vietnams, geboren. Von 1990 bis 1994 studierte ich in der Hanoi Hochschule für fremde Sprachen und ausländische Kultur. Meine Bereiche waren Englisch und Japanisch, ihre Sprache und Literatur. Während des Studiums arbeitete ich zuerst als Englischlehrerin, als Fremdenführerin und dann als Angestellte einer Japanischen Firma, sowie bei einer Amerikanischen Rechtanwaltsfirma. Meine Arbeit gab mir viele positive Möglichkeiten, um viele Leute kennenzulernen, viele Kenntnisse zu bekommen, und viele Erfahrungen zu machen. Für insgesamt 6 Monate arbeitete ich 1994 als Nachrichtenreporterin für Vietnam Economic Times Magazine (Vietnamesisches Wirtschaftsmagazin) in der Abteilung der englischen Sprache. Diese 6 Monate waren sehr wertvoll für mich. Ich lernte zum ersten Mal etwa über Journalismus. Von August 1994 bis 30. November 2002 war ich Journalistin in Vietnam National Television, Kunst und Kultur Redaktion, wo ich Nachrichten und Dokumentarfilme machte. Je mehr ich arbeitete, desto besser und größer wurde mein Wissen und desto mehr liebe ich meine Arbeit. 2. Vorwort Meine ersten Gedanken und Eindrücke über Deutschland bekam ich in meiner Schulzeit vermittelt. Deutschland war in meinen frühen Gedanken ein Land, das eine komplizierte Geschichte hat. Deutschland durchlebte eine dunkle Zeit in seiner Geschichte. Die Deutschen haben das nicht vergessen. Sie lernten aus ihren Fehler der Vergangenheit und versuchen, eine neue heile Zukunft zu bauen. Nach dem 2. Weltkrieg arbeiteten sie sehr hart, um ihr Land wiederaufzubauen. Aus den Ruinen entstand 30, 40 Jahre später, die Bundesrepublik Deutschland, eines der wirtschaftlich stärksten Länder der Welt. Ich bewundere die Deutschen wegen ihres starken Willens, ihrer Disziplin und ihrem Fleiß. Deshalb wollte ich Deutschland kennenlernen. Seitdem ich in der Schule war, sind mir deutsche Gedichte vertraut. Damals übersetzten die Vietnamesen, die in der früheren DDR studiert hatten, viele deutsche Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Friedrich Schiller... Ich las diese Gedichte und ich stellte mir die Deutschen, ihre Kultur und Lebensart vor. Deutschland im Kopf eines 17 jährigen Mädchens war sehr schön und romantisch. Dadurch wurden meine Kenntnisse über Deutschland größer. Ich entdeckte, dass die Deutschen nicht nur fleißig waren, pünktlich und sehr anspruchsvoll, sondern auch 202 Deutschland Nguyen Thi Thu Huong gefühlsbetont und romantisch. Sie waren nicht – wie man ihnen nachsagt – immer kühl, trocken, steif, sachlich oder gar humorlos. Als Journalistin beim Internationalen Kunst- und Kulturprogramm beim Vietnamesischen Fernsehen, interessierte ich mich für die Länder, die mit der Vietnamesischen Regierung diplomatische Beziehungen unterhielten oder deren Botschaften in Vietnam präsent waren. Inmitten dieser Länder interessierte mich besonders die Deutsche Botschaft. Für die Dauer von zwei Jahren (1996 – 1997), arbeitete ich mit Frau Daniela Dampf zusammen, die mir viele VHS Bände und Bücher (auf Englisch) über Deutschland, seine Menschen, seine Geschichte, seine Kultur, etc. gab. Ich übersetzte sie und dann wurden sie im Vietnamesischen Fernsehen gesendet. Meine Beziehungen zur deutschen Kultur wurden enger, als das Goethe-Institut in Hanoi Ende 1997 eröffnet wurde. Für 5 Jahre machte ich Nachrichten oder Dokumentarfilme über fast alle Kunst- und Kulturaktivitäten, die vom Goethe-Institut organisiert wurden. Ich freute mich darüber, weil ich auf der einen Seite meine Kenntnisse über Deutschland vergrößern konnte, auf der anderen Seite den Vietnamesen helfen konnte, Deutschland besser kennen zu lernen. Meine guten Beziehungen mit Botschaften in Vietnam boten mir viele Möglichkeiten, mit internationalen Journalisten und Filmemachen zusammen zu arbeiten. Im Jahr 2001 half ich Herrn Dietmar Ratsch, Indi Film, einen Dokumentarfilm über einen deutschen Fotografen, der im Vietnamesischen Krieg gegen die Amerikaner in Vietnam in den 60er Jahren war, zu drehen. Und am Anfang des Jahres 2002, kooperierte ich mit Herrn Manfred Eichel, Chefkorrespondent Kultur, ZDF Hauptstadtstudio Berlin, um einen Dokumentarfilm über vietnamesische Kunst und Kultur zu machen. Hauptsächlich war ich beeindruckt von der Arbeitsart der Deutschen Filmemacher, als ich mit Frau Dorothee Wenner, einer Dokumentarfilmemacherin, arbeitete. Ich interessierte mich sehr für Deutsche Dokumentarfilme, die Art und Weise der Gedanken und die Art der Dreharbeiten. Während der Vietnamesischen Filmwoche in Berlin im Januar 2003, und während der Berlinale im Februar 2003, beteiligte ich mich an einer Diskussion über Deutschland und Vietnam, und ich schrieb auch eine Filmkritik für das Internationale Forum des Jungen Films. Ich freute mich sehr, beruflichen Erfahrungen in Berlin machen zu können. Diese ganz besonderen Beziehungen zwischen mir und der deutschen Kunst, Kultur und den Filmen ermunterten mich, mehr über die Beziehungen zwischen Deutschland und Vietnam herauszufinden. 203 Nguyen Thi Thu Huong Deutschland 3. Politische Beziehungen Die politischen Beziehungen entwickelten sich nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Vietnam 1975 zunächst nur langsam, da Vietnam in Deutschland – und – europapolitischen Fragen der Linie der früheren Sowjetunion folgte. Seit Einsetzen der Reformpolitik (Doi Moi) in Vietnam verbesserten sich die Beziehungen kontinuierlich und gewannen mit dem Vollzug der deutschen Einheit eine neue Qualität. Die vietnamesische Seite war bereit, mit dem wiedervereinten Deutschland ähnlich eng zusammenzuarbeiten wie vorher mit der DDR. Höhepunkte des hochrangigen Besucheraustausches waren der Besuch des vietnamesischer Premierminister Vo Van Kiet in 1993 in Deutschland und der von Bundeskanzler Helmut Kohl 1995 in Vietnam, sowie von Premierminister Phan Van Khai im Oktober 2001 in Deutschland. Zwischen dem Deutschen Bundestag und der vietnamesischen Nationalversammlung bestehen seit vielen Jahren intensive Kontakte. Der VietnamBesuch von Bundestagspräsident Thierse im Dezember 2001 hat der Zusammenarbeit beider Parlamente neue Impulse gegeben. 4. Entwicklungspolitische Zusammenarbeit Vietnam gehört zu den Schwerpunktländern der deutschen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit (EZ). Insgesamt hat die Bundesregierung für Vietnam seit Wiederaufnahme der EZ im Jahre 1990 bisher rund 500 Mio. Euro zugesagt. Schwerpunkte sind: Unterstützung der Wirtschaftsreform und Aufbau der Marktwirtschaft, Berufsbildung, Schutz und nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen einschl. Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheit, Familienplanung, HIV/AIDS-Prävention. Im Rahmen eines Reintegrationsabkommens wird aus Deutschland zurückkehrenden Vietnamesen die Wiedereingliederung durch Existenzgründungsund Gehaltszuschüsse sowie Fortbildungsmaßnahmen erleichtert. Mit sehr großem Abstand nach Japan und Frankreich ist Deutschland bisher der drittgrößte bilaterale Geber Vietnams. Im Jahr 2002 hat Deutschland ODAMittel (Official Development Assistance) in Höhe von 40 Mio. Euro für Vietnam neu zugesagt. 204 Deutschland Nguyen Thi Thu Huong 5. Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen Mit einem Anteil von 28% am EU-Vietnam-Handel ist Deutschland innerhalb der EU der größte Handelspartner Vietnams. Die deutschen Exporte im Jahr 2001 betrugen 428,3 Mio. Euro, während sich die Einfuhren aus Vietnam auf 1.209,1 Mio. Euro beliefen. Damit hat sich das Handelsvolumen seit 1996 mehr als verdoppelt. Die wichtigsten vietnamesischen Exportgüter nach Deutschland sind neben Textilien und Schuhen, Kaffee, Fischereiprodukte sowie Keramikwaren. Hauptimportgüter aus Deutschland nach Vietnam sind Kraftfahrzeuge, Maschinen, optische Geräte, Messgeräte, Chemikalien, pharmazeutische Produkte sowie Spezialgarne und Textilien. Im ersten Halbjahr 2002 haben die Ein- und Ausfuhren wieder um 7,2 % zugelegt, wobei der bisherige hohe Handelsüberschuss Vietnams leicht zurückging. Zur guten Ausgangsposition der deutschen Wirtschaft tragen nicht zuletzt die zahlreichen Fachkräfte, die in der früheren DDR studiert bzw. gearbeitet haben und die langjährigen Kontakte zu DDR-Unternehmen bei. Von den zurzeit ca. 240 ständigen Repräsentanzen deutscher Unternehmen und Organisationen in Vietnam wird eine Reihe von Büros von Firmen aus den neuen Bundesländern unterhalten. Unter den ausländischen Investoren liegt Deutschland auf dem 18. Platz, unter den EU-Mitgliedstaaten auf Platz 5. Wichtige deutsche Investitionen werden aufgrund internationaler Konzernverflechtungen jedoch nicht immer Deutschland zugeschrieben. Von vietnamesischer Seite ist ein stärkeres deutsches wirtschaftliches Engagement erwünscht. Aus Sicht der deutschen Wirtschaft ist eine weitere Verbesserung der Rahmenbedingungen notwendig. Dem Anliegen, dass deutsche Unternehmensinteressen bei Großprojekten („Leuchtturmprojekte“) stärker berücksichtigt werden, wurde mit der Vergabe des Zementwerks Song Giang an eine deutsche Firma im August 2002 entsprochen. 1995 wurde für Vietnam ein erster (150 Mio. DM) und im Oktober 2000 ein zweiter Hermes-Länderplafonds in Höhe von 100 Mio. Euro aufgelegt. Einzelgeschäfte können bis zu einer Höhe von 10 Mio. Euro abgesichert werden. Die OECD hat im Frühjahr 2002 die Ländereinstufung für Vietnam von Stufe sechs auf Stufe fünf (von insgesamt sieben Risikokategorien) angehoben. Der DIHK/AHK (Direktion für Industrie- und Auslandshandelskomitee) und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) sind mit einem Büro in Hanoi vertreten. Seit 1997 findet jährlich wechselnd in Deutschland und Vietnam das Deutsch-Vietnamesische wirtschaftspolitische Dialogforum statt, zuletzt im Februar 2002 in Hanoi. Der BfAI (Bund für Auslandsinformationen) betreut seit Ende 2001 Vietnam von Thailand aus. 205 Nguyen Thi Thu Huong Deutschland 6. Bilaterale Kulturbeziehungen Nach Abschluss des Kulturabkommens 1990 konnten beide Seiten bei den Kulturkonsultationen (1994 und 1999) eine positive Bilanz ziehen. Mindestens 70.000 Vietnamesen, die in der ehemaligen DDR ausgebildet wurden oder dort gearbeitet haben, darunter 5.000 Akademiker, bilden eine - in Asien so einzigartige - Brücke zwischen Deutschland und Vietnam. Die Kulturabteilung der Botschaft koordiniert die Deutsche Auswärtige Kulturpolitik in Vietnam. Dabei arbeitet sie eng mit vietnamesischen Partnerinstitutionen und den vor Ort vertretenen deutschen Mittlerorganisationen zusammen und stellt den Kontakt zu solchen Mittlerorganisationen her, die nicht mit einem eigenen Büro in Vietnam vertreten sind. Deutschland ist an einem intensiven Wissenschaftler- und Studentenaustausch zwischen Deutschland und Vietnam interessiert. Mit dieser Zielsetzung unterstützt die Botschaft die Arbeit des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Vietnam, um neue Kontakte zwischen Universitäten in Deutschland und Vietnam herzustellen und bereits bestehende auszubauen. Gemeinsam mit dem Goethe-Institut in Hanoi führt die Botschaft kulturelle Veranstaltungen durch, die dazu beitragen sollen, deutsche Kultur in Vietnam vorzustellen und bekannt zu machen. Wesentliches Ziel deutscher Kulturveranstaltungen aber ist die Initiierung eines interkulturellen Dialogs zwischen den Kulturschaffenden in Deutschland und Europa auf der einen und Vietnam auf der anderen Seite. Insbesondere der wissenschaftliche Austausch entwickelt sich positiv. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), die Alexander von Humboldt-Stiftung und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördern eine wachsende Zahl wissenschaftlicher Kontakte und Kooperatio nsvereinbarungen. Im Februar 2001 konnte ein von der DFG finanzierter Sonderforschungsbereich der Universität Hohenheim, der Kooperationen mit mehreren vietnamesischen und thailändischen Universitäten einschließt, eröffnet werden. Zudem bieten mehrere deutsche Universitäten Lehrveranstaltungen und Abschlüsse in Hanoi an. Auch das BMBF intensivierte seine Kontakte zu vietnamesischen Partnerorganisationen. Seit Dezember 1999 hat das Vietnamesisch-Deutsche Zentrum (VDZ) an der Technischen Universität Hanoi seine Arbeit aufgenommen. Es steht allen Projekten im Wissenschaftsbereich offen und profitiert vom guten Stand der Beziehungen. Projektträger auf deutscher Seite ist der DAAD. Mehrjährige Verhandlungen über die gegenseitige Errichtung von Kulturinstituten wurden im Januar 1997 mit der Unterzeichnung eines Abkommens abgeschlossen. Am 22.12.1997 wurde das Goethe-Institut 206 Deutschland Nguyen Thi Thu Huong Hanoi (GI) eröffnet, das mittlerweile eine rege Programm- und Spracharbeit entfaltet hat und aus dem kulturellen Leben Hanois nicht mehr wegzudenken ist. Für viele zukünftige Studenten sind die Sprachkurse des GI Sprungbrett für den angestrebten Studienaufenthalt in Deutschland. Die deutsch-vietnamesische Kooperation wirkt sich auch positiv auf die sich öffnende vietnamesische Kulturszene aus. So geht das seit 1994 jährlich stattfindende „Internationale Filmfestival Hanoi“ auf die erfolgreiche deutsch-vietnamesische Zusammenarbeit im Filmbereich zurück. Ein EUFilmfestival fand 1999 und 2001 statt. Die Friedrich-Ebert-Stiftung konnte als erste politische Stiftung im November 1990 ein Büro in Hanoi eröffnen, 1993 folgte die KonradAdenauer-Stiftung. Ein von beiden Regierungen gewünschtes Abkommen über die geordnete Rückführung von Vietnamesen ohne Aufenthaltstitel in Deutschland kam 1995 zustande. Bis Ende 2001 kehrten ca. 9.000 Vietnamesen im Rahmen des Rückübernahmeabkommens in ihr Heimatland zurück. Der gegenseitige Besucheraustausch nimmt langsam zu. 2001 kamen 39.000 deutsche Touristen nach Vietnam, rd. 9.000 Vietnamesen erhielten ein Visum für einen Aufenthalt in Deutschland (davon ca. 500 für Studium und Wissenschaftsaufenthalte). 7. Deutschland – das Paradies? Ja! Das denken viele Vietnamesen über Deutschland! Aber nicht nur über Deutschland, sondern auch über andere europäische und nordamerikanische Länder. Diese Meinung bildete sich bereits in den 60er Jahren, als die ersten Vietnamesen nach Europa gingen, um zu studieren oder zu arbeiten. Damals war Vietnam sehr arm, weil Vietnam alle Nahrungsmittel und Gelder für den Krieg gegen die Amerikaner ausgegeben hatte. Durch die Photos, die Geschenke und einige Haushaltsgeräte, die von Studenten oder Arbeitern aus Deutschland in ihre Häuser nach Vietnam gesendet wurden, erschienen Länder, wie beispielsweise die frühe DDR, die USSR, Polen, Ungarn oder die Tschechoslowakei für damalige Vietnamesen wie wirkliche Paradiese. Jetzt, wo sich die vietnamesische Wirtschaft allmählich entwickelt und die Vietnamesen zum ersten Mal nach dem hundertjährigen Krieg gegen die Franzosen und die Amerikaner ein gutes Leben haben, denken sie immer noch, Deutschland sei ein Paradies. Vietnamesen, die gute Kenntnisse über deutsche Politik und Gesellschaft haben, denken Deutschland sei ein Paradies, wegen der schnellen Entwicklung der deutschen Wirtschaft und des guten Sozialversicherungssystems. Andere Leute denken es einfach 207 Nguyen Thi Thu Huong Deutschland wegen des materiellen Wohlstands, den die Deutschen haben, z.B. wegen ihrer großen und reich eingerichteten Häuser, oder wegen teurer MercedesAutos. Für mich ist Deutschland im Allgemeinen auch ein Paradies, aber aus anderen Gründen. 8. Eindrücke über Deutschland heute Das Land Für annähernd neun Monate war ich in Deutschland und hatte die Chance, in viele Gegenden in Deutschland zu reisen und viele schöne Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Alle Orte, in denen ich gewesen bin und alle Besichtigungen, die ich gemacht habe, haben mich sehr beeindruckt. Eine Fahrt entlang der „Romantischen Straße“, die von Würzburg nach Freiburg führt, brachte mich zu den Höhepunkten deutschen und europäischen Kunstschaffens. Bereits am Anfang der Route wartete die „Romantische Straße“ mit einem Highlight auf mich – der Würzburger Residenz, einem gelungenen Zusammenspiel zweier genialer Künstler, Giovanni Battista Tiepolo und Balthasar Neumann. Der lange Treppenaufgang und die gewaltigen Fresken der Residenz beeindruckten mich. Sie versetzten mich in die Zeit des Barock zurück. Ich nahm mir Zeit und hielt an der ersten Treppenstufe inne. Von hier ergibt sich ein erster Ausblick auf das Deckenfresko, wo man ein wunderschönes Bild der ganzen Welt bewundern kann. Dann ging ich durch den „Weißen Saal“, die barocke Kirche und viele andere Räume, wo die Bischöfe lebten und arbeiteten. Fast drei Stunden war ich in der Residenz und ich sah viele überraschend schöne Dinge. Ich verstand, wie mächtig und luxuriös diese Prinz-Bischöfe lebten, wie kompliziert die damalige Geschichte war und wie hart die normalen Leute für den Reichtum der Bischöfe arbeiten mussten. Für eine Sekunde war ich traurig, weil ich erkannte, dass die Bischöfe zwei verschiedene Gesichter hatten. Auf der einen Seite sagten sie, die Leute sollen arm bleiben und hart arbeiten, auf der anderen Seite lebten sie wie Könige in großem Reichtum und ohne selbst zu arbeiten. In Würzburg, als ich über die Brücke der Heiligen ging, den Dom Sankt Kilian besuchte oder einfach durch die Straßen ging, da bewunderte ich die Deutschen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass am 16. März 1945 fast achtzig Prozent der Stadt von der Royal Air Force zerstört worden war. Die Deutschen haben großen Respekt vor der Geschichte und der Kultur. Sie lieben die Kultur und arbeiten hart um sie zu schützen, um sie für die Welt und auch für ihre nächsten Generationen zu erhalten. 208 Deutschland Nguyen Thi Thu Huong Danach besuchte ich Bamberg, Rothenburg und Aachen, alte Städte mit sehr interessanten Museen und wunderschönen alten Häusern. Durch die Architektur dieser Städte habe ich viel über deren Geschichte und Kunst kennen gelernt. Meine tiefsten Eindrücke sammelte ich bei meinem Ausflug nach Weimar mit Frau Kilian und anderen Journalisten von der Heinz-Kühn-Stiftung. Zum ersten Mal konnte ich mit meinen eigenen Augen die Stadt der großen deutschen Dichter und Philosophen sehen und bewundern. Ich ging durch die Räume in den Häusern Goethes und Schillers und sah ihre Möbel, besonders ihre Schreibtische und gleichzeitig hatte ich ein fremdes und mysteriöses Gefühl, das ich nicht erklären konnte. Vor meinem geistigen Auge sah ich Goethe und Schiller noch an ihren Schreibtischen sitzen und ihre großen Werke schreiben. Plötzlich fühlte ich mich sehr glücklich. Deutschland war nach dem 2.Weltkrieg stark zerstört geworden. Während der 40-jährigen Trennung entwickelten sich die frühe DDR und die BRD ganz unterschiedlich in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und natürlich auch in ihrer Kultur. Die BRD folgte mehr dem westeuropäischen und nordamerikanischen Stil. Aber die frühe DDR blieb konservativ und geprägt von der sozialistischen Ideologie. Aber trotzdem war es unvermeidlich, dass beide Länder einem langen traditionellen Weg der gemeinsamen deutschen Kultur folgten. Die „Klassische Straße“, einschließlich des Goethe Hauses und des Museums in Weimar wurde sehr gewissenhaft restauriert und akribisch bewahrt. Der Thomas-Chor in der Thomas Kirche in Leipzig, die in der Zeit von Johann Sebastian Bach berühmt wurde durch die Sängerknaben, ist jetzt noch berühmt. In der BRD wurden die Restaurierungsarbeiten am Kulturerbe noch gründlicher realisiert. Wohin es mich auch immer führte, von Ostdeutschland über Berlin und Leipzig nach Westen, zum Beispiel Düsseldorf, Köln oder Bonn, zum Norden nach Hamburg und hinunter in den Schwarzwald, nach München usw., überall sah ich das gut ausgebaute Autobahnsystem, die Bauernhöfe mit modernen Maschinen, die Weinberge mit den reifen schönen Weintrauben, die grünen Wiesen wie aus einem Gemälde und viele andere Dinge. Manchmal, wenn ich mit dem Zug fuhr, sah ich auch die Türme, die Burgen und die Schlösser auf den Bergen oder an den Flüssen - traumhafte Landschaften, die ich früher nur aus Märchen kannte. Die Menschen Die Deutschen lieben Bücher. Buchgeschäfte kann man überall, selbst in kleinen Dörfern finden. Sie lesen überall, im Flugzeug, im Zug, an der Bushaltestelle, im Park, am See, usw. Buchgeschäfte in Deutschland sind wirklich Paradiese für Bücherwürmer. Ich war in großen Buchhandlungen 209 Nguyen Thi Thu Huong Deutschland in Berlin, München, Leipzig, Weimar und Düsseldorf und fand es dort unvorstellbar gut. Hier kann man alle Bücher über fast alle Themen finden. Irgendwelche Kenntnisse der Menschheit, aus sämtlichen Zeiten der Weltgeschichte, aus allen Teilen der Welt oder über irgendwelche Themen, wurden ins deutsche übersetzt und in fast jedem Buchgeschäft in Deutschland verkauft. Ich finde es toll, dass die Deutschen sich für so viele Fragen interessieren. Wenn ein Ausländer ein Buchgeschäft am Wochenende besucht, wird man bestimmt, wie ich, überrascht und begeistert sein. Viele Leute sämtlicher Altersgruppen, gesellschaftlicher Klassen und Berufe kann man hier treffen. Neben den Millionen von Büchern in den Buchhandlungen gibt es auch Plätze, um Kaffe oder Tee zu trinken während man ein Buch liest. Oder Spielplätze und Videoshows für kleine Kinder. Ein Wochenende für eine Familie in einem Buchgeschäft zu verbringen finde ich sehr interessant und nützlich. Buchhandlungen sind wie ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft. Ich glaube, wenn man über ein Land etwas lernen möchte, geht man einfach in ein Buchgeschäft. Hier kann man viele interessante Dinge finden; über das Land, wie intellektuell die Menschen sind und wie entwickelt das Land ist. Viele Menschen denken, dass die Deutschen reserviert und fast unfreundlich sind. Es scheint, dass sie immer distanziert bleiben möchten von anderen Menschen, die sie nicht kennen. Es dauert Zeit, bis sich die Deutschen näher kommen. Wenn man allerdings einen echten Freund findet, hat man eine gute und feste Freundschaft. Anders als in anderen Ländern, sprechen die Deutschen direkt ihre Meinung aus und geben keine falschen Versprechungen, die sie nicht einhalten können. Viele Ausländer geben schnell auf, die Deutschen kennen zu lernen, da es schwierig ist. Es bleiben dann nur förmliche Beziehungen. Man sollte geduldig sein, die Deutschen kennen zu lernen, da man am Ende meistens eine sehr gute Freundschaft erwarten kann. Deutsche sind meist pünktlich und ordentlich. Dies kann man vor allem in den Häusern und in den Büros, aber auch auf den Straßen und öffentlichen Plätzen sehen. Sie möchten sich diese Eigenschaften bewahren, allerdings finde ich, dass die Deutschen manchmal zu korrekt sind. Man kann nicht alles organisieren und man sollte flexibler bleiben und Entscheidungen in bestimmten Situationen treffen. 210 Deutschland Nguyen Thi Thu Huong 9. Was Vietnamesen sich nicht von Deutschland vorgestellt hätten 9.1 Kulturelle Unterschiede Es gibt sehr viele Unterschiede zwischen vietnamesischer und deutscher Kultur. Trotzdem ist der größte Unterschied nach der Meinung von vielen Vietnamesen das Fehlen eines Gemeinschaftslebens. Die Deutschen schätzen die individuelle Freiheit zu sehr. Das führt dazu, dass es an gegenseitiger Fürsorge fehlt und falls einige Leute das tun wollen, würden sie sich auch scheuen, weil man nicht weiß, ob es den anderen willkommen ist oder nicht. Auf den deutschen, sauberen und ordentlichen Strassen ist eine sich freundlich unterhaltende Gruppe von Leuten selten zu sehen. Stattdessen sieht man stille, gefühlsarme oder auf Arbeit konzentrierende Gesichter. Noch deutlicher kommt es in den öffentlichen Verkehrsmitteln vor. Einmal bin ich in die U-Bahn eingestiegen, gerade noch geschafft, bevor die Tür zuschließt. Aber auf meinen fröhlichen Ausdruck, mit dem ich mein Glück mit den anderen teilen wollte, gab es nur gleichgültige Gesten. Ein anderes Mal wollte ich einem Mann auf der Strasse helfen, der seine Sachen in seine Tasche zurückpacken musste, nach dem sie ihm wegen seines Ungeschickes auf die Strasse gefallen waren. Aber der Mann sagte: “Danke, ich kann es auch selbst tun“. Plötzlich kam ich mir sehr blöd vor. In Vietnam haben wir die Gewohnheit, uns um die Nachbarn zu kümmern, sowie sie zu begrüßen. “Waren Sie gerade auf dem Markt? Sie haben so frisches Gemüse gekauft“. Das sind die Fragen als Ersatz für eine Begrüßung. Und es bedeutet gar nicht, dass man über das private Leben der Anderen neugierig ist. “Sie kommen heute so spät! Sie sehen aber nicht gut aus“. Wenn der Nachbar seine Gefühle mitteilen möchte, kann er darauf hoffen, dass ihm jemand zuhört. Fürsorge, Zuhören und Empfehlungen finden sich nicht nur unter vietnamesischen Freunden und Familien, sondern auch innerhalb der vietnamesischen Nachbarschaft. Viele Vietnamesen, die in Deutschland und Westeuropa leben, fühlen sich vereinsamt und vermissen die Fürsorglichkeit von den Nächsten. Ich konnte das verstehen. In den 6 Monaten, die ich in der Luisestraße Nr.7 in Düsseldorf wohnte, habe ich nur einen Nachbarn im Erdgeschoss getroffen. Und bei jedem Treffen begrüßte ich ihn zuerst und jedes Mal war er so verlegen, dass er mich komisch anschaute und eine Weile zum “Hallo, Guten Tag“ sagen brauchte und gleich wegging. Die Lebensweise, dass jede Familie nur sich kennt und immer mit geschossener Tür ohne Unterhaltung mit dem Nachbar bleibt, ist sehr schwermütig. Manchmal war ich allein zu Hause und dachte “Wenn jemand allein zu Hause bleibt und lebensgefähr211 Nguyen Thi Thu Huong Deutschland lich krank wird, dann weiß dann auch keiner“. Dieser Gedanke trieb mich dazu, gleich auf die Straße zu gehen, trotz des nassen kalten Wetters. Da ich keine Nachbarn zum Plaudern fand, wollte ich meine Freunde im Haus zu mir einladen, damit wir die Gelegenheit haben, uns über das Leben, den Beruf, die Liebe usw. zu unterhalten oder mit ihnen zu verabreden, dass wir zusammen zum Museum oder anderen interessanten Plätzen gehen. Aber es ist mir nicht immer gelungen. Der Kulturunterschied führt ja zum Unterschied der Lebensweise. 9.2 Lebensartunterschiede Deutsche schätzen individuelle Freiheit von anderen hoch und erwarten das gleiche Benehmen zurück. Dies könnte ab und zu als guter Vorteil betrachtet werden, falls es nicht übertrieben wird. Vietnamesen wären schon sehr schockiert von dem Lesben- und Schwulenstraßenmarsch mit komischen Kostüme und unvorstellbaren Gesten. Obwohl diese Lebensart vor kurzem von der Gesellschaft anerkannt wurde, sind noch weiteren Forderungen auf Gleichberechtigung, Menschenrechte vorgelegt. Ich fragte mich, ob diese jedoch unverschämt sind..... Es gibt noch mehrere Lebensunterschiede, was viele Vietnamesen, die in der Kultur des Ostens erzogen wurden und aufgewachsen sind, sich niemals vorstellen und keine Vorstellung davon haben, was sie in diesem so genannten „Paradies“ erleben können. 10. Familienbeziehung Ich habe beobachtet, wie die europäischen Eltern sich ihren Kindern gegenüber benehmen. Sie hören den Wunschvorstellungen über zahlreiche Themen von ihren Kindern ganz offen zu, geben aber nur Argumente dafür und belasten keinen Zwang für die Kinder. Manchmal bemerkte ich, dass die europäischen Eltern ihre Kinder wie Freunde behandeln. Das schätze ich sehr positiv und fast jeder vietnamesische Jugendliche würde sich etwas davon wünschen. Nicht nur die alten, sondern auch die jungen Vietnamesen glauben noch an die Konfuziusprinzipien in der Familie und der Gesellschaft. Das führt dazu, dass die Alten oder Ältere hoch geachtet werden sollen. In Deutschland sind alle Familiemitglieder gleich geachtet. Die Eltern lassen die Kinder frei ihre Lebensentscheidung treffen, wie z. B die Wahl 212 Deutschland Nguyen Thi Thu Huong für das Studium. Aber einige Dinge könnte die vietnamesische Mehrheit nicht akzeptieren. Ich nahm an einigen Besprechungen, besonders über das Thema „Familienbeziehung“ im Goethe-Institut in Düsseldorf teil und stellte meine eigenen Aspekte über die Frage des Verhaltens der Kinder zu ihren alten Eltern und das Aussehen dieser Frage in der deutschen Gesellschaft dar. Beispielsweise werden die Eltern oft in Altenheime gebracht, wenn ihre Kinder erwachsen und völlig beschäftigt mit ihrem Leben sind. Das könnten die Vietnamesen sich niemals vorstellen. Das ist sehr fremd in der vietnamesischen Gesellschaft. Aus Gründen des Egoismus möchten sie keine Zeit verbringen, sich um ihre Eltern zu kümmern und sie zu pflegen. Solche Menschentypen werden in der vietnamesischen Gesellschaft nicht geschätzt und unmoralisch genannt. Nach dem Buddhismus ist das wirklich die größte Schuld eines Menschen. Können Sie sich bitte vorstellen, ein alt gewordener Mensch, lebt im Altenheim, hat nur ein paar alten Freunde zum reden, Einsamkeit und Traurigkeit bestimmen den Tag, und man wartet nur noch auf den Tod. Man kann schon verstehen, dass nicht jeder einen kranken Menschen pflegen kann, aber es ist schwer zu akzeptieren. Ich teilte meine Meinung einem deutschen Freundeskreis mit und erfuhr, dass diese Lebensart als normales Sozialphänomen in Europa betrachtet wird. Ich meine, kein Vietnamese würde seinen Kindern dieses Lebenskonzept beibringen, welches seine Eltern später in ein Altenheim brächte, wenn die Eltern alt geworden sind und nicht mehr arbeiten können. 11. Ausländer in Deutschland Die Ausländer, die ich in Deutschland traf, kamen meisten aus Italien, Russland, Asien und Afrika. Sie betreiben Geschäfte, die in der deutschen Gesellschaft kein so hohes Ansehen haben. Sie beschäftigen sich mit einfachen und minderwertigen Jobs, die die Deutschen nicht übernehmen wollen. Meistens besitzen sie kleine Gaststätten oder kleine Imbissbuden, Blumen-, Obst- oder Kleiderläden. Andere sind als Reinigungskräfte tätig. Kein Deutscher interessiert sich für den Beitrag dieser ausländischen Arbeitskräfte. Manchmal werden sie von den Deutschen sehr unfreundlich behandelt, ihnen sogar unsympathische Blicke zugeworfen. Eines Tages auf dem Weg zum ZDF saß ich im letzten S-Bahn Wagen, zusammen mit fünf Mitfahrerinnen: eine Mutter und ihre etwa 10-jährige Tochter und zwei Studenten (Ich vermute, dass es Studenten waren, da sich eine Hochschule in der Nähe vom ZDF befindet). Die Tochter schaute mich ganz groß an und fragte: „Mutti, warum gehen Chinesen nicht in ihr Heimatland? Warum bleiben Sie hier? “. Erstaunlicherweise hoffte ich auf 213 Nguyen Thi Thu Huong Deutschland die positive Antwort von der Mutter, aber leider ignorierte sie die Frage und zuckte nur mit den Schultern. Enttäuscht blickte ich die anderen zwei Studenten an, in der Hoffnung, dass sie eine kleine Antwort geben würden. Leider schauten sie woanders hin. 12. Praktikum bei der ZDF Nach 4 Monaten Sprachkurs beim Goethe-Institut Düsseldorf kam ich aufgeregt zum ZDF, Landesstudio Düsseldorf. Ich habe mir viele Sorgen gemacht, über die Arbeitsumwelt, das Benehmen der Kolleginnen, welche Herausforderung es ist, ein gelungenes Praktikum durchzuführen. Frau Kilian führte mich zum Herrn Direktor ZDF Düsseldorf. Sein freundlicher Empfang befreite mich von meinen ganzen Sorgen. In den folgenden Tagen befreundete ich mich mit Kerstin Edinger, die mir später unheimlich viel geholfen hat. Sie wies mich darauf hin, welche Regeln man beim ZDF beachten musste und wie man sich bei der regelmäßigen Redaktionssitzung verhalten sollte. Wegen meiner beschränkten Deutschkenntnisse konnte ich nicht alle offenen Fragen und Themen verstehen. Daher beobachtete ich die ganze Zeit die Produktion kurzer Nachrichten, die von 1 Minute 30 bis 2 Minuten 30 hergestellt wurden. Ich habe es nach und nach unter fachlichen Aspekten mit Vietnam verglichen. Die Arbeitsmethode war überhaupt nicht neu für mich, aber die Gespräche mit den anderen Journalisten interessierten mich am meisten. Die Wochen darauf studierte ich selbst meine Lieblingsthemen, nämlich Kulturprogramme. Kerstin Edinger und ich hatten gleiche Interessen bei der Herstellung der Kulturprogramme, trotzdem war es für mich eine große Enttäuschung, als ich erfuhr, dass Kulturnachrichten nur gesendet werden, wenn es aus dem ZDF Zentrum in Mainz keine anderen aktuellen Nachrichten gibt. Da ich von meiner Berufserfahrung her sehr viele Kultur-, Kunst- und Dokumentarfilme herstellte, war ich selbstverständlich sehr enttäuscht, besonders wenn meine ausgedachten Themen nicht akzeptiert wurden. Das sind einige Meinungen über Arbeitsinhalte. Meine vietnamesischen Kolleginnen und ich müssen von der Technik und den Maschinen hier sehr begeistert sein, sogar davon träumen. Die Arbeitsbelastung vietnamesischer Fernsehjournalisten ist nicht so groß wie die in Deutschland. Vietnamesische Journalisten konzentrieren sich auf die fachliche Fassung der ausgewählten Nachrichten, während sich deutsche Journalisten immer auch Gedanken machen müssen, wie sie die Nachrichten an andere Fernsehfirmen oder Kanäle 214 Deutschland Nguyen Thi Thu Huong verbreiten bzw. verkaufen können, damit die Produktionskosten wieder hereinkommen. Früher dachte ich, dass Presse in Deutschland ziemlich fortgeschritten, offen und frei ist. Das hat sich durch die Zeit viel geändert. In bestimmtem Umfang kann der Journalist eine Nachricht frei berichten, aber sie muss sorgfältig recherchiert sein. Nichtsdestotrotz wünschen sich vietnamesische Journalisten das gleiche. 13. Mein Gesamteindruck und Dank Das Stipendium der Heinz-Kühn-Stiftung hat mir die beste Gelegenheit geschaffen, nicht nur schöne Sehenswürdigkeiten in Deutschland zu besichtigen sondern auch beruflichen Erfahrungen zu sammeln. Die sechs Monate, in der ich in Düsseldorf lebte, studierte und mein Praktikum absolvierte, waren mir wirklich sehr schön und unvergesslich. Die Kenntnisse über das Land, die Menschen und die Entwicklung Deutschlands können mir in Zukunft für mein privates Leben sowie meinen Beruf eine große Bedeutung bringen. Ich werde mir weiterhin Mühe geben, so dass ich einen kleinen Beitrag zur Vertiefung und Verbesserung der Freundschaft zwischen beiden Völkern leisten kann. Zuletzt möchte ich mich ganz herzlich bei der Heinz-Kühn-Stiftung und bei Frau Kilian sowie bei vielen Freunden in Deutschland bedanken. Besonderer Dank an Kerstin Edinger von ZDF Düsseldorf. Deutschland ist noch wirklich ein Paradies für mich und viele andere Leute. Aber ein reales Paradies ist was man fühlt im Herzen. 215 Daniele Jörg aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Ecuador 25. März bis 06. Mai 2004 217 Ecuador Daniele Jörg „Ecuador – Armes reiches Land“ Von Daniele Jörg Ecuador vom 25.03. – 06.05.2004 219 Ecuador Daniele Jörg Inhalt 1. Zur Person 224 2. Ein paar Daten und Fakten zu Ecuador 224 3. Mein Vorhaben 225 4. „Vergiss alles, was du in Deutschland gelernt hast.“ 226 5. Die Vermessung der Erde 228 6. Humboldts Erben 229 7. Ein ungewöhnlicher Spaziergang 231 8. Das Urwaldexperiment 232 9. Humboldts Erbin für einen Vormittag 234 10. Carlos und die Männer und Frauen der Defensa 234 11. Agua es vida 236 12. Ein „Lichtblick“? 238 13. Ökologie vs. Ökonomie 239 14. Eine Shuar zwischen Tradition und Moderne 240 15. Man kann nur schützen, was man kennt 241 16. David gegen Goliath 243 17. Waterloo im Urwald 245 18. Die Rückseite der Story 246 19. Das Gewissen von Galapagos 248 221 Ecuador Daniele Jörg 20. Schaufenster der Evolution 250 21. Feuer im Schlaraffenland 252 22. Galapagos darf nicht sterben! 254 23. Der Herr der Ziegen 256 24. Widmung 258 223 Daniele Jörg Ecuador „Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung der Leute, die die Welt nie angeschaut haben.“ (Alexander von Humboldt) 1. Zur Person Daniele Jörg, geboren am 1. April 1967, in Völklingen und Poughkeepsie/ New York State/USA zur Schule gegangen, in Mainz, am Oberlin College/ Ohio/USA und am Woods Hole Oceanographic Institution Biologie studiert und so Wissenschaft „hautnah“ erlebt. Seit 1991 freie Wissenschaftsjournalistin für den WDR, das ZDF und den Deutschlandfunk. Ab 1995 Redakteurin im WDR-Fernsehen u.a. für die Sendereihe „Quarks&Co“ und seit Oktober 2004 redaktionell verantwortlich für Dokumentationen und Mehrteiler über Naturwissenschaften und Technik. Fasziniert von der Aufgabe, komplexe wissenschaftliche Inhalte in verständliche und unterhaltende Sendungen umzusetzen – ob es um die Physik eines Luftballons, die Chemie des Kaffeeduftes oder die Biologie des Tintenfisches geht; aber auch immer wieder die Chance des Berufes genutzt, um die Zuschauer in einer immer komplizierter werdenden Welt kompetent zu machen und anzuregen, kritischer Beobachter des Fortschritts und der Globalisierung zu sein. 2. Ein paar Daten und Fakten zu Ecuador Die Republik Ecuador liegt im Nordwesten Südamerikas und grenzt im Norden an Kolumbien, im Süden und Osten an Peru und im Westen an den Pazifischen Ozean. Ecuador ist ein reiches Land. Wen diese Aussage überrascht, interessiert sich vielleicht mehr für Wirtschaft als für Biologie: In zahlreichen Biodiversitätsstudien wird Ecuador zu einem der artenreichsten Länder der Erde gekürt. Mehr als 1.500 Vogelarten finden sich hier, doppelt so viele wie in ganz Europa. In den tropischen Anden lebt ein Viertel aller weltweit bekannten Tier- und Pflanzenarten. Wissenschaftler identifizierten dort u.a. sensationelle 20.000 Gewächse, die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt. „Hot Spots“ nennen Artenforscher solche Gebiete von extrem hoher Vielfalt des Lebens. Und noch längst sind nicht alle Tiere und Pflanzen Ecuadors bekannt. Ecuador ist aber auch ein armes Land. Auf der Fläche Westdeutschlands leben etwas mehr als 12 Millionen Menschen: Indigene (40%), Mestizen (40%), Weiße (10%), Afro-Ecuadorianer (10%). Sie verdienen im Jahr durchschnittlich 1.080 US-Dollar (ein Deutscher 23.560$). Haupteinnahmequellen 224 Ecuador Daniele Jörg sind der Tourismus und die Landwirtschaft. Erdöl, Bananen, Kaffee und Garnelen werden exportiert. Seit dem Verfall der Erdölpreise kriselt es in der Wirtschaft, das Land ist hoch verschuldet (die Tilgung der Schulden verschlingt etwa die Hälfte des Staatshaushaltes), die Regierung korrupt. Die eigene Währung, der ecuadorianische Sucre, wurde im Jahre 2000 durch den US-Dollar ersetzt, was die Lebenshaltungskosten zum Teil verfünffacht hat. Der Reichtum ist extrem ungleich verteilt und diese Tatsache verschärft sich durch die neoliberale Politik der letzten Jahre: Nur 3 Prozent der Bevölkerung besitzen die Hälfte des Volkseinkommens, 70 Prozent der Bevölkerung leben in Armut und haben weniger als 2 US-Dollar am Tag zum Überleben. Schätzungsweise 30.000 Ecuadorianer verlassen pro Monat ihre Heimat - mit Ziel USA und Europa. Ecuador ist voller Extreme. Die Anden teilen das Land in drei komplett unterschiedliche Regionen: die Küstenebene (Costa), die Hochgebirgskette der Anden (Sierra) und das Amazonasgebiet (Oriente). Jedes dieser Gebiete hat sein eigenes Klima, wird anders bewirtschaftet und besiedelt, hat eine andere Geschichte. Höchste Erhebung des Landes ist der 6.310 Meter hohe Chimborazo. Zu Ecuador gehören aber auch die paradiesischen Galapagos-Inseln auf Meeresniveau, etwa 1.000 Kilometer vom Festland entfernt. Auf dem Chimborazo liegt Schnee, auf der Halbinsel Santa Elena herrscht Wüstenklima. Ein Drittel der Bevölkerung lebt in zwei Städten dem traditionsreichen Quito in den Bergen und der berüchtigten Hafenstadt Guayaquil. 3. Mein Vorhaben Ecuador ist ein einzigartiges Land. Es besitzt einen unglaublichen Reichtum an Natur. Ecuador ist aber auch ein armes Land und steht unter einem großen wirtschaftlichen Druck. Wie wirkt sich dieser Widerspruch auf ein so wichtiges globales Anliegen wie den Schutz der biologischen Vielfalt aus? Lassen sich Armut und das Bemühen um den Erhalt der Natur überhaupt vereinbaren? Was bedeutet Artenvielfalt für die Menschen in Ecuador? Wie können Zivilgesellschaften dabei unterstützen? Das waren die Fragen, mit denen ich aufgebrochen bin am 26. März in einen für mich neuen Kontinent – Südamerika – mit neuen Geräuschen, Gerüchen und Ansichten. Und ich hatte drei berühmte Reisebegleiter im Gepäck: Charles Marie de La Condamine, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert in Ecuador den Äquator „entdeckte“, Alexander von Humboldt, der den Rest seines Lebens von seinen Entdeckungen und Erlebnissen in Südamerika (1799-1804) zehrte, und Charles Darwin, der wie kein anderer durch seine Reise im 225 Daniele Jörg Ecuador Galapagos Archipel (1835) das Weltbild der Biologen prägte. Ich wollte ein wenig auf den Spuren dieser großen Wissenschaftler wandeln, sehen, was aus dem Ecuador geworden ist, das sie gesehen hatten. Wollte etwas von den Empfindungen nacherleben, die „das erste Betreten der Tropen in der Seele erregt“, und die sie in ihren Werken verewigt hatten. Cher Monsieur de La Condamine, ich bedauere es zutiefst nicht zu ihrer Zeit gelebt zu haben. Die Erde war noch unbekannt. Man war oft der erste Mensch, der einen Flecken Erde oder eine Insel betrat. Viele wissenschaftliche Rätsel konnten noch durch schiere Betrachtung gelöst werden – ohne große Maschinen und schnelle Computer, wie sie die Forschung dieser Tage nutzt. Heute sind Entdeckungen auf der Erde nicht mehr möglich; den Fuß an Land zu setzen, verkümmert für den modernen Reisenden zu einem kläglichen „ICH war noch nie hier“. Dennoch erfüllt das Reisen einen Sinn: Es befriedigt weiterhin die Neugier des Individuums, verknüpft Welten und Weltanschauungen und schafft neue Geschichten zum Erzählen und Teilen. Wenn ich Ecuador auch nicht mit Ihren Augen sehen kann, so kann ich ihnen dennoch berichten, was daraus geworden ist und mit welchen Zeitgenossen, sie es heute zu tun gehabt hätten. Herzlichst, Daniele 4. „Vergiss alles, was du in Deutschland gelernt hast.“ Um Punkt 16 Uhr Ortszeit landet der Airbus 373 der Iberia in der Hauptstadt Quito, und damit berühre ich zum ersten Mal in meinem Leben südamerikanischen Boden. Ich war sehr nervös. Doch der Respekt vor dem Unbekannten und Fremden, der mich immer befällt, wenn ich alleine verreise, wurde mir schnell genommen. Bereits unter der dichten Wolkendecke tauchte ein vertrautes Bild auf: Ein Häusermeer mit voll gestopften Straßenzügen, bunten Autos und Bussen und riesigen Leuchtreklamen auf den Häuserdächern. Quito schmiegt sich wie ein gemusterter Teppich an die grünen und steilen Vulkane rundherum. Die Einreise ist kein Problem, mein Gepäck ist vollständig und ich steige in ein Taxi, das mich zum Hotel bringt, so als hätte ich dies schon tausendmal gemacht. Quito macht auf den ersten Blick keinen gefährlichen Eindruck, auch kann ich in meinem Badezimmer keine Kakerlaken aufspüren und schlafe ohne Abendessen erschöpft ein. Bis mich zwei Schüsse vor meinem Hotelzimmer wecken und ich dann zum 226 Ecuador Daniele Jörg ersten Mal den Lärm der Strasse wahrnehme - den der Amazonas Avenue, der geschäftigsten Strasse in Quito. Hier ist wohl doch irgendetwas anders als in Köln. Was in der Nacht passiert war, konnte ich nicht in Erfahrung bringen, und es blieben glücklicherweise die einzigen Schüsse, die ich in den nächsten sechs Wochen hören sollte. Was für ein Empfang! Am ersten Morgen bin ich verabredet – zum Frühstück mit der Mutter eines Freundes, die jahrelang in Ecuador gelebt hat und gerade wieder auf Besuch ist. Sie wohnt nicht weit von meinem Hotel und dennoch werden diese ersten Minuten zu Fuß durch Quito zu einer kleinen Reise in die Neue Welt: Wie telefoniert man in Ecuador? Was sind das für Früchte, die am Straßenrand feilgeboten werden? Wer waren all diese Menschen, nach denen die Straßen benannt sind (Lizardo Garcia, Joaquin Pinto, Mariscal Foch), und was ist am 12. Oktober (Avenida 12 de Octubre 1820 – Befreiung durch Simon Bolivar) oder am 6. Dezember (Avenida 6 de Diciembre 1534 – Gründung Quitos) passiert? Ich treffe Christiane Janzen im „Centro de desarrollo integral“, einer psychotherapeutischen Beratungsstelle für EcuadorianerInnen, die von einem Förderverein in Deutschland getragen wird. Geleitet wird das Zentrum von Vera Kohn, einer eindrucksvollen älteren Dame, die sich mit an den Frühstückstisch setzt. „Vergiss alles, was du in Deutschland gelernt hast“. Das sind die Worte, die sich nach der Begegnung mit ihr im Gedächtnis eingebrannt haben. Vera Kohn ist 93 Jahre alt, geboren in Prag, Ende der 30er Jahren nach Ecuador ausgewandert, sie und ihr Mann sind Juden, er Architekt, sie Schülerin von Graf Karlfried Dürckheim und der Initiatischen Therapie. Sie und ihr Zentrum sind eine lokale Berühmtheit. Auch wegen einer Besonderheit: Wer ihre Hilfe braucht, aber nicht dafür zahlen kann, dem hilft der Förderverein. An diesem Tag schaut auch das ecuadorianische Fernsehen vorbei, möchte ihre Meinung zum Kinofilm „La Pasión de Jesús“ von Mel Gibson hören, der im katholischen Ecuador gerade mit viel Pressebegleitung und gemischten Kritiken gestartet ist. Vera Kohn mag den Film nicht. Während unseres Gespräches verspüre ich Lust, Ecuadors Geschichte anhand ihrer Lebensgeschichte zu erzählen. Sie hat alles, was ich in Büchern und Reiseführern lesen kann, miterlebt und sicherlich eine ungewöhnliche Sichtweise. „Ich kam in ein Dorf mit 300.000 Einwohnern und habe damals am Stadtrand von Quito gewohnt.“ Doch die imposante Grande Dame bereitete sich gerade auf eine lange Vortragsreise vor, nach Brasilien und natürlich hatte sie dafür noch Portugiesisch gelernt. Ich ging also in mein Hotel zurück und versuchte alles zu vergessen, was ich in Deutschland gelernt hatte, um für die nächsten sechs Wochen offen zu sein. 227 Daniele Jörg Ecuador 5. Die Vermessung der Erde Zur „La Mitad del mundo“ nimmt man entweder ein Taxi oder einen Bus. Ich entschied mich für den Bus. Sonntags, könnte man meinen, reist ganz Quito zur Mitte der Welt. Stolz berichtet die Broschüre der Touristeninformation: Der Name Quito sei abgeleitet von „quitsato“, das sei tsafiqui (eine indigene Sprache) und bedeute Mitte der Erde! Und damit lässt sich auch gut Geschäfte machen: Die Mitte der Welt bietet Souvenirs, Empanadas, Folklore mit Tanz und ein paar kleinere Museen mit Jahrmarktscharakter, Eintritt „un dólar“. Nun war also der große Moment gekommen, auf den ich mich so lange gefreut habe - meine erste Begegnung mit dem Äquator. Wie würde er aussehen? „Eine orangene Linie, etwa 20 cm breit“, notiere ich in mein Buch. Hier also war der Äquator, der dem Land den Namen gegeben hat, und noch im 18. Jahrhundert ein zentrales Problem der Wissenschaft war. Sir Isaac Newton hatte eine Theorie aufgestellt, nach der unser Planet am Nordpol und am Südpol leicht abgeflacht und am Äquator ausgebuchtet sei. Der französische Astronom Jean Jacques Cassini widersprach. Die Erde, so behauptet Cassini, sei ein längliches Sphäroid, das sich zu den Polen hin etwas in die Länge zieht und am Äquator leicht nach innen gewölbt sei – wie ein Mann mit einem dicken Bauch, der seinen Gürtel um die Taille zu eng zusammengezogen hat. Die Französische Akademie der Wissenschaften beschloss dieses Problem ein für alle Mal zu lösen. 1734 rüstete sie zwei große Expeditionen aus: Eine sollte nach Lappland ziehen, zu dem dem nördlichen Polarkreis am nächsten liegenden Punkt, den man erreichen konnte. Die andere sollte nach Neuspanien gehen: nach Ecuador. Das Land schien geeignet, da es voller natürlicher Landmarken – Vulkane, Schluchten, hohe Berge – für die Vermessung war. Ein neugieriger Franzose namens Charles Marie de La Condamine steuerte einen nicht unerheblichen Betrag aus eigener Tasche bei, um an dieser Expedition teilzunehmen. Die Expedition stand zunächst unter keinem guten Stern, man hatte vergessen, dass Ecuador unter einer ständigen Nebeldecke lag, deshalb wollten sie möglichst hoch hinaus und gelangten nach Quito (2.850m). Hier misstraute man den Vermessern der Erde, die mit ihren neumodischen Instrumenten freiwillig eisige Felsen erklommen und über entlegene Hochebenen wanderten. Man glaubte, sie seien in Wahrheit auf der Suche nach dem Schatz der Inkas. Die Vermessungen (wissenschaftlich Triangulation) dauerten fast vier Jahre bis 1739. Am Ende hatte La Condamine ein dichtes Netz von Linien auf einer Karte eingetragen und festgestellt, dass die Erde tatsächlich am Äquator den größten Umfang hatte. Der neugierige junge Forscher blieb noch einige Zeit in Südamerika, schrieb in seinem „Diario de un viaje“ über 228 Ecuador Daniele Jörg die Fauna und Flora, über den Rio Amazonas, die Indios und die Siedler am riesigen Fluss. Je früher man sich in der Mitte der Welt einfindet, umso ruhiger kann man den Test machen: Fühle ich mich auf der Nord- oder der Südhalbkugel wohler? Ich war erst ein paar Tage in Südamerika, postiere mich für ein paar Sekunden südlich der Linie und dann nördlich. Noch schlägt mein Herz für den Norden, wie wird es in ein paar Wochen sein? Noch viele Male habe ich auf meiner Reise den Äquator überschritten oder überfahren und immer war es ein besonderes Erlebnis. Auch Charles Marie de La Condamine sollte mir unterwegs noch mehrfach begegnen. Fast in jeder größeren Stadt ist eine Strasse nach ihm benannt oder kennzeichnen Tafeln Gebäude, die in seine Messungen eingeflossen sind, wie die hübsche Kirche „El Sagrario“ in Cuenca. 6. Humboldts Erben Lieber Professor von Humboldt, wenn Sie wüssten, wie viel von Ihrem Garten Eden, wie Sie den Süden Ecuadors benannt haben, übrig geblieben ist. Wenn man als Mitteleuropäer durch die Lande reist, scheint es im Vergleich zu Zuhause dicht bewaldet, doch nirgendwo in Südamerika wird so schnell abgeholzt wie in Ecuador. Dieses Vergehen an der Natur beschrieben Sie damals als „unvorsichtige Hast“ und hatten es nur vereinzelt beobachtet, heute sind es 2% des Waldes, die jährlich für immer verschwinden. Nur wenige haben die Notwendigkeit einer Veränderung erkannt und kämpfen um den Erhalt der Arche Noah. Und von denen will ich Ihnen berichten. Sie bewundernd, Daniele „Funktionalität in einem tropischen Bergregenwald Südecuadors“ heißt das Projekt, das ein Dutzend deutscher Doktoranden und Diplomanden in einem Haus am Rande des Nationalparks Podocarpus zusammenbringt, dort wo auch Alexander von Humboldt fleißig Exemplare aus Flora und Fauna gesammelt hat. Die Fahrt zur Estación Cientifica San Francisco (ECSF) ist heute sicherlich nicht mehr so beschwerlich wie damals zu Fuß oder auf dem Rücken eines Esels. Aber ungefährlich auch nicht, wenn man sich den typischen ecuadorianischen Reiseuntersätzen – Bussen - anvertraut. Auch nach sechs Wochen intensiver Studien bleibt es mir ein Rätsel, wann gebremst, geschaltet oder beschleunigt wird. Auch die Theorie, dass dies im Rhythmus 229 Daniele Jörg Ecuador der Musik, die die Reisenden dauerbeschallt, stattfindet, konnte ich nicht endgültig bestätigen. Von Quito nach Loja dauert die Busreise ca. 15 Stunden und größtenteils führt die Strasse – schnell oder schottrig – durch sanfte grüne Hügel, die an die Schweiz erinnern. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die überall weidenden schwarz weiß gefleckten Kühe. Zwischendurch geht es immer wieder hinauf auf über 3.000 m durch nebeliges Hochland, die „paramo“. Von Loja nimmt man ein Taxi, übt sich in ausweichenden Antworten auf die typischen Fragen, ob man verheiratet sei (am besten immer mit „Ja“ beantworten) und was der Mann denn so mache etc. und dann ist man plötzlich da. Die Straße geht weiter, ein kleiner Weg führt nach unten, ein Schild weist auf die Forschungskooperation hin, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und die amerikanische Stiftung „Nature and Culture International“(NCI, dahinter steckt der betuchte amerikanische Geschäftsmann Ivan Gayler) vereinen. Doktor Felix Matt, der Koordinator der Station, begrüßt mich, gibt mir einen Rundgang, erzählt, dass eigentlich seit Februar Regenzeit sei. Es ist später Nachmittag und noch immer knallt die Sonne unerbittlich vom Himmel. Während unserer Unterhaltung kommen die ersten Nachwuchsforscher aus dem Wald zurück, mit verdreckten Stiefeln und Tüten voller Dreck – Bodenproben, wie ich später lernen werde. Beim Abendessen spricht man von T1 und Q5, und welchen Weg man morgen am besten mit mir abgehe, damit ich sehe, wie und was hier gearbeitet wird. Für einen Moment fühle ich mich zurückversetzt in meine Studentenzeit. Später inspiziere ich die Station auf eigene Faust und entdecke im und um das Haus herum die ersten Merkwürdigkeiten: Kameras, scheinbar ins Nichts gerichtet, Metallschleifen, die Bäume wie Vogelringe umgreifen, und junge Menschen, die bis tief in die Nacht getrocknete Pflanzen sortieren und beschriften, fotografieren, mikroskopieren, zählen. Das sind also die Erben Humboldts 2004. Humboldt war mit dem gleichen Problem beschäftigt: Die Biodiversität um die Station herum ist phantastisch. In jeder Ecke sitzen andere Arten, man kann die neuen Arten gar nicht so schnell beschreiben, wie man sie findet. Humboldt veröffentlichte über seine Amerikaexpedition den größten privaten Reisebericht der Geschichte, das 34bändige Werk „Voyage aux régions équinoxiales du nouveau Continent“. Gleich zu Anfang des Projektes wartete das Untersuchungsgebiet rund um die ECSF mit einer Sensation auf: Ein Doktorand hat dort 1.000 verschiedene Arten von Nachtschmetterlingen gesammelt, das sind um ein Zehntel mehr Arten als bislang in Europa gefunden wurden. Eine solche Artenvielfalt ist weltrekordverdächtig und macht den Wald zum hottest hotspot zumindest für Nachtschmetterlinge. Über Referenz-Kollektionen in der ganzen Welt konnte er die meisten wissenschaftlich zuordnen, trotzdem bleiben zirka 300 neue Spanner-Arten auf kleinstem Raum. Für einen Grundlagenforscher 230 Ecuador Daniele Jörg stellt sich die Frage, warum dieses Gebiet so vielfältig ist und wie all diese Arten nebeneinander vorkommen können. Schafft die außergewöhnliche Topografie des Nationalparks – ein Gebirge von bis zu 3.600 m Höhe trennt die feucht-warme Luft des Amazonas auf der Ostseite von der kühlen Luft auf der Westseite – so genannte Mikroklimate? Begünstigen diese vielen verschiedenen Lebensräume die Entstehung endemischer – nur hier vorkommender – Arten? Mittlerweile konnten die Forscher den Artenreichtum nicht nur bei Nachtschmetterlingen feststellen, sondern auch bei anderen Insekten, Vögeln und Bäumen. 7. Ein ungewöhnlicher Spaziergang Am Tag zwei meines Besuches geht es dann los auf den Q2 (Quebrada = Schlucht) und schnell wird mir die Bedeutung des Wege-Codes klar: Wie Adern durchziehen die Wege den Wald und die Forscher fluten genau auf diesen Pfaden den Wald. Der Weg ist steil und rutschig, teilweise mit einer kleinen Holztreppe ausgerüstet, denn die Forscher müssen hier jeden Tag hinauf. Überall entdecke ich Messgeräte, Absperrungen, Behälter. Kein Baum, kein Stückchen Boden, das nicht markiert und studiert wird. Densiometer umarmen Bäume, um so das Dickenwachstum zu messen. Netze in Serie gespannt sammeln den Kot der Fledermäuse, wenn er von den Bäumen fällt. In Folien eingeschweißte, meist zweisprachige Computerausdrucke weisen darauf hin, dass auf dem Plot 21 die AG Liede eine „Toma de muestras“, also Proben entnimmt, oder in Plot 17 auf jeden Fall „Unbefugtes Betreten verboten sei“, um die Versuchsergebnisse nicht zu verderben. Mein Begleiter Ulf Soltau von der Universität Bayreuth interessiert sich für den Unterwuchs und wird insgesamt ein Jahr auf der Station verbringen. Er hat so genannte Transsekte von 100 m Länge und 2 m Breite abgesteckt, die er in regelmäßigen Abständen untersucht, und führt genau Buch über das, was dort wächst und gedeiht. Er kennt sich sehr gut aus im Wald und weiß, was die anderen hier so erforschen. Ich lerne viel über Orchideen, winzige und prächtige, und wie sie sich fortpflanzen. Damenstrümpfe kommen zum Einsatz: Über die Blüten gestreift, helfen sie die Frage zu beantworten, ob diese sich selbst befruchten können oder nicht. Als nächstes betreten wir einen Abenteuerspielplatz mit Kletteranlagen und Bretterverschlägen, die wertvolles Gerät vor dem Regen schützen. Ulf erklärt, dass hier der Wasserkreislauf von Bäumen untersucht wird. Die Bäume sehen aus wie Patienten, denen ein EEG angelegt wird: Unzählige Kabel sind am Stamm angebracht. Die Forscher wollen so herausfinden, wie schnell das Wasser im Baum aufsteigt. Nebenan im „Rutschenpark“ wird Regenwasser gesammelt, um zu sehen, 231 Daniele Jörg Ecuador was über den Regen alles an Nährstoffen in den Wald eingetragen wird. Wir kommen an einer Wetterstation vorbei, die u.a. die Menge an Nebel und damit Feuchtigkeit pro Tag misst. Eine handbetriebene Seilbahn über den Fluss San Francisco bringt uns aus dem Untersuchungsgebiet zurück an die Station. Die Arbeit der Forscher an der ECSF ist ein Pilotprojekt, wohin man auch schaut. Die Wissenschaftler betreten mit der Ökosystemanalyse eines abgesteckten Stückes Primärwald Neuland. Hier arbeiten Bodenkundler neben Botanikern, Pilzkenner mit Tierökologen und Forstwissenschaftler mit Klimatologen zusammen und das ganze auch noch zweisprachig: Deutsche mit Ecuadorianern und Ecuadorianer mit Deutschen. Der Vorteil: Somit ist es erstmals möglich, die Ergebnisse direkt aufeinander zu beziehen. Vielleicht können die Wetterkundler mit dazu beitragen, zu klären, warum man in einem Jahr fruchtbare Samen findet und im nächsten Jahr nicht. Die Fledermausexperten jedenfalls haben herausgefunden, dass bestimmte Baumsamen erst den Magen-Darm-Trakt einer Fledermaus passieren müssen, um auszukeimen. Keine unerhebliche Einsicht, wenn man eine Baumschule anlegen will, um die abgeholzten Flächen wieder aufzuforsten. Und damit sind wir mittendrin, denn nicht alles ist so rosig und harmonisch, wie es auf den ersten Blick scheint. 8. Das Urwaldexperiment „Wenn man in Ecuador was Besseres ist, streift man nicht durch den Wald“, damit skizziert Dr. Luis Romero, Direktor der Universidad Técnica Particular de Loja, wie schwierig es ist, seinen Studenten die Kooperation zwischen der Estación und seiner Universität zu vermitteln. „Universitäten in Ecuador sind eher auf Lehre als auf Forschung ausgerichtet“, sagt er. Alle hier wissen um das Grundproblem ihrer Zusammenarbeit: den unterschiedlichen Ansichten über die Natur. Verallgemeinert liest sich das so: Für einen Ecuadorianer ist jedes Stück Nationalpark und auch die Forschungsstation verlorenes Land, da er das Gebiet nicht mehr nutzen kann und damit ein Stück Einkommen verloren geht. Die Bauern gewinnen neue Felder üblicherweise durch Brandrodung. Zwischen den verkohlten Baumstämmen ziehen sie Mais oder Bohnen zum Überleben. Immer wieder flammen sie ab, nach wenigen Ernten werfen die Felder kaum noch Ertrag ab und werden zu Weiden umfunktioniert. Eine Art Hirse dient den Haustieren als Futter. Auch hier beschleunigen die Bauern das Wachstum durch regelmäßiges Abflammen. Dadurch gewinnt aber auch ein aggressives Unkraut immer mehr an Boden: der Adlerfarn. Er verbreitet sich mit unterirdischen Ausläufern und schießt schließlich schneller als das Weidegras in die Höhe. 232 Ecuador Daniele Jörg Der Adlerfarn überwuchert die Weiden, ist auch durch Abflammen nicht mehr kleinzukriegen, da seine Wurzeln sehr tief reichen. Dazu kommt: Fressen die Kühe zuviel Adlerfarn, wird die Milch ungenießbar. Die Bauern geben die Weiden auf und das nächste Stück Wald wird in Brand gesetzt. Ein Teufelskreis. Ein wichtiger Forschungsschwerpunkt der ECSF ist deshalb „Nachhaltiges Agrar- und Forstökosystemmanagement in Südecuador“, initiiert vom Forstwissenschaftlichen Institut der TU München. Vor allem „Das Urwaldexperiment“ hält die Gemüter auf Trab. Wie wächst ein Baum im Primärwald und was kann man daraus für nachhaltiges Wirtschaften lernen? Der Versuch findet auf drei Flächen statt. Zunächst werden Bäume – vor allem wertvolle Hölzer – ausgesucht, aufwändig vermessen und markiert. Eine Fläche soll unberührt bleiben, auf den beiden anderen werden so genannte Bedränger abgeholzt – einmal 18 und einmal 36 Bäume. Ziel ist es, zu beobachten welchen Einfluss die Bedränger auf die Wachstumsgeschwindigkeit haben und wenn ja, wie sich diese beschleunigen lässt. Wenn man über all diese Daten verfügt, kann man den Wald nutzen und gleichzeitig erhalten, erhoffen sich die Forscher. Die wertvollen Hölzer verkaufen sich gut, die Bedränger lassen sich in Holzkohle umwandeln und der Wald sorgt dauerhaft für Nachschub an beidem. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Die Vermessungsarbeiten laufen schleppend: Auf der einen Seite ist es trotz moderner Technik wie GPS und Laser nicht ganz einfach, die Höhe eines Baumes im dichten Wald zu bestimmen, auf der anderen Seite finden die Professoren keinen, der diese mühsame Arbeit unentgeltlich übernimmt. Und die Zeit drängt, denn im Sommer 2004 läuft die Erlaubnis des ecuadorianischen Umweltministeriums zum Abholzen aus. Unaufgefordert hat mir jeder an der Station seine Meinung zum Urwaldexperiment kundgetan, sei es der Missmut über den x-ten Praktikanten, der angeheuert wurde, um das Projekt durchzuführen und frustriert wieder abgefahren ist, seien es die Spuren, die das Experiment im Wald hinterlassen wird. Ulf, der Botaniker, ist dagegen, weil seine Transsekte davon betroffen sind und dadurch möglicherweise seine Ergebnisse beeinflusst werden. Rütger, der Klimatologe, und Felix, der Fledermausexperte, sind dafür, weil sie keine andere Chance sehen, den Wald zu erhalten, als ihn nachhaltig und zusammen mit der lokalen Bevölkerung zu bewirtschaften. Sonst ist er in 10-20 Jahren weg. Die Kunde vom Urwaldexperiment ist bis nach Quito gedrungen. Die führende Dame des Ökotourismus (Jean Brown von „Safari Tours“) gab mir zu verstehen, dass sie von diesem Projekt gar nichts halte. Warum müsse man Wald abholzen, um zu sehen wie er nachwachse. Für sie ist jeder abgeholzte Baum ein verlorener Baum für Ecuadors Zukunft. 233 Daniele Jörg Ecuador 9. Humboldts Erbin für einen Vormittag Mein dritter Tag auf der Station wird zur Reise in meine Vergangenheit als Biologie-Studentin. Ulf hat mir angeboten, in ein anderes Untersuchungsgebiet mitzukommen, eine Autostunde entfernt, 1.000 m niedriger gelegen, am Fluss Bombuscaro. Die Vegetation würde eine andere sein und auch das Klima. Dafür könne ich auch bei einem Forschungsprojekt behilflich sein: Ich sollte Pflanzen der Art Caladium bicolor markieren, ein unauffälliges Gewächs am Wegesrand mit handtellergroßen grünen Blättern. Ihm sei bei seinen Streifzügen durch den Urwald aufgefallen, dass manche Individuen dieser Art panaschierte (also grün-weiß gemusterte) Blätter hatten, Bei genauerer Betrachtung fand er aber auch Blätter, die von einer Insektenart befallen waren und deren Freßgänge oberflächlich gesehen in den Blättern ein ähnliches Muster hinterließen. Ist die Panaschierung also eine Art Schutz der Pflanze, die dem Insekt signalisiert, dass sie schon befallen sei? Ulf will dieser Frage einfach so, aus Spaß an der Forschung, auf den Grund gehen. Wir haben also einen Vormittag damit verbracht, 300 Caladium bicolor zu markieren: 100 Schildchen an grüne, 100 Schildchen an panaschierte und 100 Schildchen an grüne Blätter, auf denen wir mit Tipp-Ex ein fleckiges Muster vortäuschen. Es hat Spaß gemacht und Ulf wird mir dann später hoffentlich berichten, was aus seiner Theorie geworden ist. 10. Carlos und die Männer und Frauen der Defensa Wald sollte zu DEM Thema meiner Recherchen in Ecuador werden. Auf meiner nächsten Station war ich nicht mehr alleine. Ich hatte die einmalige Gelegenheit, meine Kollegin Annette Hasselmann von GEO zu begleiten. Sie arbeitet für den Verein „GEO schützt den Regenwald e.V.“, der durch Spendengelder weltweit Projekte zum Erhalt der Artenvielfalt unterstützt. Annette hatte ich während der Vorbereitungen zu meiner Reise gefragt, ob sie noch einen Tipp für mich bereithalte, da ich ihr unglaubliches Netzwerk schon einmal schätzen gelernt hatte. Und da sagte sie mir, dass sie im April auch in Ecuador sein werde, um u.a. ein neues Projekt im Bergregenwald anzuschieben. Die Hamburger Firma „Lichtblick“ war mit dem Verein in Kontakt getreten, sie suchten nach einer guten Sache, die sie fördern können und die kundenwirksam ist. Lichtblick vertreibt seit der Liberalisierung des Strommarktes 1998 „grüne“ Energie, und das nach einem schwierigen Start heute mit enormen Zuwächsen. Wenn Lichtblick für jeden der momentan 100.000 Kunden einen bestimmten Betrag für einen guten Zweck abgibt, dann kommt eine Menge Geld zusammen – und je mehr Kunden 234 Ecuador Daniele Jörg sich dadurch angesprochen fühlen, umso mehr Geld steht zur Verfügung. Annette hat auch gleich einen guten Zweck identifiziert. Vor einem Jahr hatte sie auf einer anderen Ecuador-Reise von Carlos Zorrilla gehört, ihn besucht und versprochen, dass sie wiederkommen würde – mit Geld in der Tasche. Carlos strahlt eine ganz besondere Faszination auf Menschen aus – Landsleute wie Besucher, Politiker wie Idealisten. Carlos steht für die Veränderung von unten, für den Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit. Carlos Zorrilla lebt in Intag, einem bergigen Landstrich im Cotacachi County unweit von Otavalo im Norden Ecuadors und hat die „Defensa y Conservación Ecológica de Intag (DECOIN)“ gegründet – eine Nichtregie rungsorganisation mit wachsendem Zuspruch in der Region. Carlos wohnt mit seiner Familie auf „La Florida“; das ist kein Zynismus und kein AntiBushismus: Carlos ist US-Amerikaner, geboren in Kuba, dann nach USA ausgewandert und von dort nach Ecuador eingewandert – auf der Suche nach etwas Sinnvollem in Leben. Den Sinn hat er auf La Florida gefunden, einer blühenden Landschaft aus 500 Hektar unberührtem Bergregenwald mit eigener Quelle, bestechender Artenvielfalt, einer Kolonie des seltenen Roten Felsenhahns (Rupicola peruviana) und einem Garten, der die vierköpfige Familie fast selbst versorgt. Auf La Florida ist ständig was los: Armando berichtet Carlos von den neusten Waldgrundstücken, die zum Verkauf angeboten werden. Mary Ellen Fieweger, ebenfalls aus USA, vermittelt uns für ein Interview an einen Journalisten ihrer Zeitung „El Periódico INTAG“. Roberto von nebenan, der mit im Garten arbeitet und der Chef der lokalen Kleinbauerninitiative ist, berät sich mit Carlos über die am Wochenende anstehende Minga, seine Frau Norma schaut kurz mit den Kindern vorbei. Norma ist Mitglied in der „Grupo de mujeres“ und zeigt Carlos die neuen Muster der Kaffeesäckchen. Ihre Frauengruppe ist sehr aktiv und fertigt neben den Säckchen allerlei Kunstvolles aus Cabuya: Taschen, Tischsets, Rucksäcke, Hüte. Verkauft wird u.a. im „Toisán“, einer Art Eine-Welt-Laden direkt neben dem Mercado de Ponchos in Otavalo. Das Projekt, Touristen Alternativen zu dem bunten Warenangebot, für das Otavalo berühmt ist, zu bieten, an dem aber auch das Stigma Ausbeutung und Kinderarbeit haftet, wurde bereits von „GEO schützt den Regenwald“ unterstützt. Carlos zeigt Annette die Bilder von der Eröffnungsfeier, die einen Tag vor unserer Ankunft stattgefunden hatte. Cabuya – Sisal, ist ein wichtiges Wort in Intag und Fluch und Segen zugleich. Sisal sind die Fasern der Agave, die gewaschen, aufwändig zu einem Faden gewoben, gefärbt und dann verarbeitet werden. Ein Fluch, da beim Auswaschen natürliche Substanzen in hohen Dosen ausgeschwemmt werden, die für Fische Gift sind und das Wasser als Trinkwasser ungenießbar machen. Segen, da die Cabuya Arbeit und Einkommen für die Frauen be235 Daniele Jörg Ecuador schert und sie damit unabhängiger von ihren Männern macht. DECOIN engagiert sich deshalb mit einer Info-Kampagne: Rät die Fasern statt im Fluss in geschlossenen Wasserbecken zu waschen, die man dann entsprechend klären kann, hilft bei der Auswahl von möglichst natürlichen Farben und unterstützt beim Verkauf. 11. Agua es vida Wasser und Wald gehören zusammen. Wer einmal eine Nacht im Bergnebelwald verbracht hat, weiß das. Alles ist klamm und feucht und morgens mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen kann man zuschauen, wie sich aus der Feuchtigkeit Nebel und aus dem Nebel Wolken formen, die dann langsam den blauen Himmel verschleiern, bis sie so schwer werden, dass Regen hinausfällt. Der Kreislauf des Wassers beginnt wieder von vorn. Überall auf der Welt haben Wissenschaftler diesen kleinen Kreislauf des Wassers untersucht und nichts ist dabei so wichtig wie die Bäume, die das Wasser im Boden und den Nebel mit ihren Blättern einfangen. In Ecuador jedoch ist der Wald auch eine wichtige Einnahmequelle: Er ist eine Quelle für edles Holz, das sich zu stolzen Preisen verkaufen lässt, aber auch für wertloses Holz, aus dem sich in der Masse noch Geld machen lässt oder das als Brennstoff zum Heizen und Kochen dient. In Ecuador gibt es noch weite Landstriche ohne Elektrizität! Ist der Wald abgeholzt, eignet sich das Land zumindest noch eine Zeit lang als Acker oder Weide. Ist der Wald weg, ist auch der Wasserkreislauf unterbrochen, und noch viel schlimmer, der Boden verliert an Halt. Es klingt vielleicht überraschend, aber Regenwaldboden ist nicht besonders fruchtbar. Die Humusschicht ist nur wenige Zentimeter dick, locker und liegt meist auf festem steinigem Grund. Und die rutscht schnell ab – ein natürliches Phänomen, beschleunigt durch menschlichen Einfluss. Überall sieht man die Spuren der unzähligen Erdrutsche an den schroffen Berghängen der Sierra. Und noch eines kommt hinzu: Die Kühe, die die gerodeten Hänge beweiden, lockern die Erde immer weiter auf und machen zudem eine Menge Mist. Der wird durch den Regen (z.B. aus dem großen Wasserkreislauf der Wettermaschine Amazonas) mitgerissen, die ganze „Sch...“ fließt den Hang hinab in die Flüsse, aus denen die Leute ihr Wasser schöpfen. Trinkwasseraufbereitung ist nicht sehr verbreitet auf dem Lande. Die weitere Dramaturgie sei der Phantasie überlassen. Wasser ist Leben – „Agua es vida“ – prangert dann auch an gigantischen Reklametafeln überall im Land, eine Werbekampagne des Umweltministeriums. Über Wasser ködert auch Don Carlito – wie die Einheimischen den großen Bärtigen Carlos Zorrilla ehrfurchtvoll nennen – die Bewohner von 236 Ecuador Daniele Jörg Intag. Ihr ganzes Leben dreht sich ums Wasser – um die Menge und die Qualität. Und in den letzten Jahren haben sie gemerkt, dass Wasser keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Es wird knapper und es macht krank. Komitees innerhalb der Juntas parroquiales – der Gemeindevorstände – wurden berufen, die sich um die gerechte Verteilung und Sauberkeit des Wassers kümmern, und immer häufiger nehmen sie Kontakt zu DECOIN auf. Denn DECOIN hat sich zur Aufgabe gemacht, Wasserscheiden für die Gemeinden zu kaufen. Und das funktioniert so: Die rechte Hand Don Carlitos, Armando Almeida, kennt die Gegend wie kein anderer und verfügt über ein gutes Netzwerk. Auf den ersten Blick scheint der 36jährige nicht gerade kommunikativ, aber er weiß Bescheid, wann und zu welchem Preis Primärwald in Privatbesitz verkauft werden soll. Und er ist ein guter Verhandler – „der Beste“, lobt Carlos. Wenn Armando von einem Angebot hört, fährt er mit seinem Motorrad hin, begeht das Grundstück mit dem Besitzer und vermisst es. Denn oft existieren keine oder nur sehr ungenaue Besitzurkunden. Jeder Quadratmeter zu viel bezahlt, ist ein Verlust für die Gemeinschaft, da dieser Prozess mit den knappen Mitteln von DECOIN – also vor allem Spendengeldern - bestritten wird. Passt das Stück Wald zu einer Gemeinde, die sich den Zielen von DECOIN verpflichtet hat, beginnt der offizielle Teil der Verhandlungen und des Erwerbs. Nicht die Defensa sondern die Gemeinde selbst wird Grundbesitzer. DECOIN legt nur Wert darauf, dass im neuen Vertrag einige wichtige Klauseln eingefügt werden: Auf dem Gebiet darf nicht abgeholzt und nicht gejagt werden, es darf nicht landwirtschaftlich genutzt oder Viehzucht betrieben werden. Kurz, alle Aktivitäten, die die Vielfalt der Tiere und Pflanzen und somit auch die Menge und Qualität des Wassers bedrohen, sind verboten. Steht für eine Gemeinde nur Land zur Verfügung, das teilweise oder komplett gerodet ist, steht DECOIN ebenfalls zur Seite. Sie haben Baumschulen eingerichtet – viveros. Die spanische Bezeichnung gefällt mir viel besser, da sie von „vivir“ gleich „leben“ abgeleitet ist und damit viel treffender beschreibt, um was es hier geht. Baumschulen sind an sich nichts Besonderes in Ecuador, es gibt viele davon – aber sie bieten vor allem Eukalyptus und Kiefern an: Bäume die schnell wachsen, aber nicht in Ecuador heimisch sind und den Boden zunehmend auslaugen. Nur wenige Pflanzen können neben Eukalyptus bestehen, die Tiere finden wenig Nahrung, die Artenvielfalt schwindet. „Grüne Wüsten“ nennen Experten deshalb mit diesen Arten wieder aufgeforstete Gebiete. Carlos und Armando bringen uns im Landrover, neben dem Motorrad übrigens die beste Methode sich auf den staubigen bzw. schlammigen Wegen in Intag fortzubewegen, zur Baumschule von Milton. Milton und eine Reihe Freiwilliger sammeln in den Wäldern Setzlinge, also junge Bäumchen, die dann in der Schule zu kleinen Bäumen heranwachsen, bis sie bereit 237 Daniele Jörg Ecuador sind, umgepflanzt zu werden. DECOIN kauft sie Milton ab, gibt sie an die Gemeinde weiter, die dann in einer großen gemeinsamen Pflanzaktion die Wiederaufforstung beginnt. Ich lerne an diesem Tag, wie eng hier alles miteinander verzahnt ist, wie viel Engagement auf allen Seiten nötig ist, um ein für uns so selbstverständliches Gut – Wasser – auch für die zukünftigen Generationen zu sichern. Carlos fasst unser Erstaunen in druckreife Worte: „Nachhaltigkeit ist möglich, nicht vom Staat verordnet und von Gesetzen vorgegeben, sondern als lokale Aktion. Veränderung von unten, jedenfalls in Entwicklungsländern, geht es nur so.“ Das Beispiel Wasser gibt ihm Recht. 12. Ein „Lichtblick“? „Von innen“ lerne ich in diesen Tagen auf „La Florida“ Ecuador kennen. Am nächsten Tag bringt uns Carlos zum Bürgermeister von Cuellaje. Auf dem Weg passieren wir mehrere kleine Gemeinden, es ist Samstag, und das heißt Versammlungstag – die Frauengruppe, die Dorfverwaltung, das Wasserkomitee etc. – überall in Intag blüht das zarte Pflänzchen der Basisdemokratie. Und immer wieder hält Carlos an, um uns der Schatzmeisterin von DECOIN, dem Präsidenten der Gemeinde, dem Vorsitzenden der Junta oder aber einem guten Freund vorzustellen. Zwischendurch wird das Auto auch mal zum Taxi, Don Carlito ist beliebt und bekannt für seine Freundlichkeit. Cuellaje liegt am Rande des Naturschutzgebietes Cotacachi-Cayapas, auf zirka 2.000 m Höhe. Ein richtig totes Nest, kein Mensch auf der Straße. Mais wird gegen alle Hygieneregeln auf der Straße getrocknet, ein Schweinskopf baumelt im Türbogen, ein Schild nebenan weist darauf hin, dass es hier Käse zu kaufen gibt. Armando erkennt das Motorrad des Bürgermeisters und wir werden in einen Hinterhof mit Billardtischen geführt (Ich schwöre, genau so war es, kein Zugeständnis an die Dramaturgie;-). Jose Garzon, ein Mann um die 40 mit kunstvoll rasiertem Bart und gepflegtem Äußeren hat wenig Zeit, aber bei ein paar Flaschen Bier (Mittagszeit am Äquator!) kommen wir doch ins Gespräch. Carlos hatte Cuellaje als möglichen Partner für Annettes Projekt ins Auge gefasst. Er hatte von der guten Arbeit Joses gehört und außerdem stehen große Stücke Wald oberhalb der Gemeinde zum Verkauf. Das sind nicht nur wichtige Wasserscheiden, sondern sie könnten auch attraktiv sein für einen sanften Gemeinde- und Naturtourismus, den DECOIN den Bauern als alternative Einkommensquelle schmackhaft machen will. Man unterhält sich ganz allgemein über die Pläne der Gemeinde Cuellaje, die Ziele, die sie sich gesetzt haben für die nächsten Jahre. Carlos hat uns darauf hingewiesen, keine Erwartungen zu wecken, erst abzuchecken. Garzon ist ebenso vorsichtig und erzählt von den schlechten Erfahrungen, die man in Ecuador 238 Ecuador Daniele Jörg mit Organisationen und vor allem mit Politikern gemacht hat. Man vereinbart, dass eine Abordnung von DECOIN demnächst vorbeischauen wird. Zumindest ein Teil des Misstrauens scheint ausgeräumt. Auf der wöchentlichen Versammlung von DECOIN in Apuela, an der wir am Tag darauf teilnehmen, hat es sich herumgesprochen. Irgendeine deutsche Organisation will eine Kooperation eingehen: die Frauengruppe, der Gemeindevorstand, die Jugendgruppe sprechen vor. Annette ist sich sicher, dass sie mit ihrem Gefühl richtig lag. Carlos und die Männer und Frauen der Defensa sind die richtigen Partner für Lichtblick. Jetzt braucht es nur noch Zeit und Diplomatie, um die geeigneten Gemeinden zu identifizieren, um zu planen, wie man das Geld aufteilt. Kauft man nur Wald oder investiert man einen Teil in Umweltbildung, unterstützt eine Frauengruppe und baut eine weitere Baumschule auf? Den Feinschliff will Annette Carlos und DECOIN überlassen, sie kennen sich am besten aus und verfügen über das unentbehrliche Wissen, wie man in Ecuador erfolgreich für die Zukunft und gegen Korruption kämpft. 13. Ökologie vs. Ökonomie Cantón Cotacachi in der Provinz Imbabura ist aber nicht nur wegen DECOIN und Carlos Zorrilla die Reise wert. Der Landkreis umfasst 1.800 km² (fast so groß wie das Saarland) vor allem bergiges Gebiet in den Anden mit dem Cotacachi Vulkan (4.900 m) als höchster Erhebung, seine Ausläufer reichen fast bis an den Pazifik auf 300 m. Die Reserva Ecológica CotacachiCayapas zählt zu den artenreichsten Gebieten Ecuadors und damit der Welt! 36.000 Menschen leben im Cantón: Indigene, Afro-Ecuadorianer, Mestizen. Die Hauptstadt Cotacachi wird von einem jungen indigenen Bürgermeister regiert: Auki Tituana, einmalig in Ecuador. Seit September 2000 hat Cotacachi eine „Öko-Verordnung“, die besagt, dass wirtschaftliche Aktivitäten einzuschränken oder zu verhindern sind, die natürliche Ressourcen nicht nachhaltig nutzen und die die Gefahr bergen, die Umwelt zu verseuchen oder zu zerstören oder sonst wie die Gesundheit der Bürger von Cotacachi zu gefährden. Die Gemeinden werden in alle Entscheidungsprozesse mit eingebunden und können sich so auch gegen neue Industrieansiedlungen wehren. Jährlich finden öffentliche Versammlungen statt, in denen jeder Stimmrecht hat. Dass die Verordnung befolgt wird, dafür sorgen Zivilgesellschaften wie DECOIN, die im Cantón aktiv sind. Noch viele Geschichten mehr, gäbe es also von meinem Besuch in Intag zu berichten: wie Carlos Zorrilla zum Berater in einem Weltbank-Projekt über „Extractive Industries“ wurde, wie sein Sohn Martin mit 13 Jahren detail239 Daniele Jörg Ecuador lierte Beobachtungen über Wasserinsekten veröffentlicht und wie die kleine Gemeinde Junin es geschafft hat, den japanischen Megakonzern Mitsubishi zu vertreiben, der im Schutzgebiet Kupfer abbauen wollte. Und wie – kurz nach meiner Abreise aus Ecuador, erneut ein ausländisches Unternehmen gestützt von der korrupten Regierung in Quito in die Wälder rund um Intag einzudringen versucht, um nach Gold und anderen Bodenschätzen zu schürfen. Noch haben die Männer und Frauen der Defensa keine Ruhe. Ein französischer, ein spanischer, ein amerikanischer und ein ecuadorianischer Koch sollen Krebse zubereiten. Der Ecuadorianer verschließt den Topf nicht mit einem Deckel, so wie es die anderen tun. Die wundern sich warum. Er entgegnet: “Das sind ecuadorianische Krebse, so bald einer rauskrabbeln will, werden die anderen ihn schon wieder mit reinziehen“. (anonym) 14. Eine Shuar zwischen Tradition und Moderne Der Oriente liegt uns zu Füßen, der Blick in den Westen Ecuadors, auf das Amazonasbecken, ist überwältigend und entschädigt dafür, dass wir hier seit einer Stunde in der schwülen Hitze warten. Der Grund für diese Geduldsprobe ist paradox: Die Strasse nach Tena wird gerade ausgebaut. Da der Baggerfahrer irgendwann mal mit seiner Arbeit anfangen musste und jetzt nicht ständig unterbrechen will, staut sich eben alles auf dem noch schmalen und schlammigen Pfad nach Tena. Eine ältere Dame ist gut vorbereitet und macht das Geschäft des Tages, sie verkauft Maiskolben mit Käse – und fast alle im Bus greifen zu. Ich hatte auf dem Weg durch die Reserva Ecológica Antisana kein Haus gesehen und doch waren hier plötzlich überall Menschen, die Wasser, Obst und Süßes anbieten – Ecuador funktioniert irgendwie anders. Irgendwann und ohne Vorankündigung ging die Fahrt weiter, aus dem Anblick des Amazonasbeckens wurde mit jedem Meter Abstieg eine Busfahrt in die grüne Hölle. Unser Ziel war Puyo im Südoriente, eine Stadt am Rande des Tieflandurwalds, für viele Touristen das Tor zum organisierten „Urwald-Abenteuer“. Es war mein erster Ausflug in den Urwald nach vier Wochen in Ecuador, ich hatte den Reiseführer studiert und die Geschichten gehört. „Schlangen sind ein Thema“, „Hast du ein Moskitonetz?“, „Kennst du die Geschichte von der Frau, aus deren Haut beim ersten Vollbad zu Hause die Würmer krabbelten?“ Warum berichten die meisten Reisenden immer nur von den Horrorbegegnungen mit der Natur? Jedenfalls sah ich bei der weiteren Fahrt in die Nacht Moskitoschwärme über mich herfallen und aus den Glühwürmchen am Wegesrand wurden Schlangenaugen, die in den Büschen auf mich warteten (ich nenne diese 240 Ecuador Daniele Jörg Irrfahrten der Phantasie „das weiße Hai Syndrom“, das schon so manchem den Badespaß verdorben hat). Im Hotel in Puyo wurde ich nicht enttäuscht: Eine mittelgroße Vogelspinne lief mir über den Weg und Riesenkakerlaken stoben durchs Bad. Aber glücklicherweise war ich irgendwann zu müde, um mir weiterhin darüber Gedanken zu machen, was gerade auf unserem Dach rumturnte und dass die quakenden Frösche vor der Tür meist als Beute von Schlangen enden ;-) Auch bei Anbruch des Tages war klar: Ich war mittendrin in der Vielfalt !!!! – und es war endlich Regenzeit, so pralle Regentropfen hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Eimer voll Wasser fielen vom Himmel. „Agua es vida“, hier war der Beweis. Im Ethnobotanischen Garten der Stiftung Omaere (Wald in der Sprache der Huaorani) trafen wir Teresa Shiki. Teresa ist eine Shuar, eine Indigene aus dem Südoriente, und sie hat ein Ziel: den Erhalt und die Verbreitung traditionellen Wissens über den Urwald. Der Park ist das erste Projekt, das „GEO schützt den Regenwald“ in Ecuador gefördert hat. Annette Hasselmann kommt zum ersten Mal hierher. Sie hatte in Deutschland üble Geschichten über das Management gehört, über Geldunterschlagungen und den schlechten Zustand des Gartens. Teresa ist ebenfalls darüber besorgt, denn auch sie ist erst seit ein paar Monaten wieder in Puyo zurück. Der Garten wurde ihr Mitte der 90er von OPIP (Organización de Pueblos Indígenas de Pastaza) „entrissen“, die hatten ihn heruntergewirtschaftet und kürzlich aufgegeben. Teresa ist guten Mutes und gibt uns eine Spezialtour durch das, was von ihrem Park übrig geblieben ist bzw. was sie mit ein paar unermüdlichen Helfern in den letzten drei Monaten wieder aufbauen konnte. 15. Man kann nur schützen, was man kennt Pfade führen durch dichten und hohen Wald – in den Tropen wächst und gedeiht alles sehr schnell. Was für mich völlig wild und nach der Handschrift der Natur ausschaut, entwickelt sich nach Plan. Von Hand hat Teresa medizinisch wertvolle Pflanzen eingesetzt und gibt uns Kostproben. Etwas was ich zuletzt in der Obhut meiner Mutter getan hatte, wartete auf mich: vollkommenes Vertrauen in einen Menschen, der mir die verschiedensten Dinge aus dem Wald zum Riechen, Schmecken und Essen anbot. Ich biss kräftig in ein Blatt und es schmeckte nach Zimt, ich aß süß und bitter Schmeckendes, das angeblich gut für die Verdauung sein soll – konnte ja nur helfen. Ich probierte Früchte, Blüten und Wurzeln, die einfach nur nahrhaft sein sollen und aus Erfahrung ungiftig. Wir zerrieben Blätter, die ein starkes Aroma entwickelten, die Shuar nutzen sie für eine Art Sauna-Aufguss bei Erkältungen. Teresa 241 Daniele Jörg Ecuador behandelte eine Wunde an Annettes Bein mit dem „Blut“ des Drachenbaumes – der rote Saft wurde durch das Verreiben weiß und bedeckte die Wund mit einer dünnen Schicht wie ein Pflaster. Die Wunde, die mehrere Tage nicht verheilt war, wie das in den Tropen so üblich ist, hatte am nächsten Tag eine Kruste! Wir lernten die „grüne Pille“ kennen, ein Strauch, der je nachdem wie lange und in welcher Dosierung man davon kostet, unfruchtbar macht. Teresa zeigte uns eine Pflanze, die Schlangenbisse heilt – ihre Mutter war schon siebenmal gebissen worden und ein Tee, ein Sud aus dieser Pflanze, hatte ihr jedes Mal das Leben gerettet. Es ging einen ganzen Vormittag so. Ich konnte mir die Namen der Pflanzen gar nicht alle merken, sollte und wollte auch nicht – das ist das Wissen der Indigenen, sie haben es sich durch jahrhunderte langes Versuchen und Irren im Urwald geschaffen. Und damit sind wir mittendrin in der Debatte. Gedanken, die sich ein Humboldt vor zweihundert Jahren noch nicht machen musste, als er Tausende von Pflanzen auf seiner amerikanischen Reise sammelte und mit nach Europa brachte – wissenschaftlicher Kolonialismus sozusagen. Wem gehört eigentlich dieses Wissen? Der Menschheit oder denen, die es zuerst entdecken, denen, die es zuerst zur Marktreife bringen, oder denen, die nichts anderes haben? Das Thema wird auch von Teresa und ihrem Mann und Mitstreiter Chris Canaday, einem US-Amerikaner, heiß diskutiert. In unserem Hotel hatten Annette und ich am Morgen eine Gruppe älterer Herrschaften kennen gelernt (er Deutscher, sie Bolivianerin, dazu ein ecuadorianisches Paar). Sie wollen ein Buch über medizinische Heilpflanzen schreiben, hatten vom Hotelbesitzer gehört, dass wir die Leute vom Park kennen, wir haben bereitwillig noch ein paar Tipps zu Datenbanken im Internet notiert. Schließlich sind wir daran interessiert, dass möglichst viele Leute zum Omaere Park kommen. Im Park treffen wir die kleine Gruppe wieder, Teresa und ihr Mann tuscheln, kurz danach pfeift Teresa ihre Mitarbeiter zurecht. Sie sollen nicht zuviel erzählen, sie sei misstrauisch über die Absichten dieser Besucher. Misstrauen – da war das Wort, von dem uns auch Carlos erzählt hatte, und das so viele Chancen im Keim erstickt. Vielleicht arbeiteten sie ja im Auftrag einer Pharmafirma, jedenfalls sollten Freddy und Co sie daran hindern, allzu viel zu notieren, und auf gar keinen Fall sollten sie ihnen Proben mitgeben. Mich irritierte diese plötzliche Unfreundlichkeit. Wenn die Damen ein schönes Buch über Medizinpflanzen veröffentlichen wollen, dann werden doch noch mehr Menschen davon erfahren, welcher Reichtum in den Urwäldern Ecuadors liegt und sind mitunter bereit, für dessen Erhalt zu spenden. Teresa erzählt uns später vom jüngsten Gerücht: Omaere sei in den Verdacht geraten, ethnobotanisches Wissen an Pharmafirmen zu verkaufen, um sich daran zu bereichern. Und wenn sich ein solches böses Gerücht verbreitet und festigt, ist es mit dem ohnehin spärlichen Vertrauen unter den indige242 Ecuador Daniele Jörg nen Stämmen aus. Schon jetzt spürten Teresa und Chris, dass es schwerer wurde, die Huaorani, die anderen Shuar, die Zapara für die Aufbauarbeiten im Park zu gewinnen. Teresa ist davon überzeugt, dass sich OPIP so rächen wollte, die seien korrupt und einflussreich genug. Dieser Frau und ihrem kleinen Team spürt man aus jeder Pore das unglaubliche Engagement für eine gute Sache an. Ich wurde wütend über diese Ungerechtigkeit: Was sollten die Beschuldigungen, wem nützen sie? Ich nahm mir vor, nach meiner Rückkehr zumindest eine Kleinigkeit zurecht zu rücken. Aus dem deutschen Reiseführer eines Bekannten hatte ich über den Omaere Park notiert: „Der 15 Hektar große Park wurde 1997 mit der Unterstützung der gleichnamigen Fundación, der europäischen Union, der UNESCO und Petroecuador eröffnet. Die heutige indianische Administration ist jedoch eine mittlere Katastrophe! Die 3 US$ Eintritt sind es keinesfalls wert.“ Ich wollte dem Verfasser schreiben, dass Omaere auf dem besten Weg ist, seinen Eintritt mehr als wert zu sein!!! Annette hatte nach diesem Tag auch genug erfahren und gesehen, um zu dem Schluss zu kommen, dass „GEO schützt den Regenwald“ Omaere wieder unter die Arme greifen sollte. So verbrachten wir den nächsten Tag damit, zu planen, wie viele Führer nötig sind, was der Direktor verdienen soll, ob man eine Baumschule für Nutzpflanzen braucht. Investiert man in Workshops für die Mitarbeiter oder bezahlt man lieber den Wiederaufbau der traditionellen Stammeshütten und der Bibliothek, druckt man einen Katalog mit Infos für die Besucher oder soll es eine kleine Aula für Schulklassen geben? Die neue Förderphase wird zwölf Monate dauern und dann wird sich Annette erneut vom Zustand des Parks überzeugen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! Im Vertrag soll festgehalten werden, dass sich Omaere um andere Geldquellen bemüht, so lange der Touristenstrom den Park noch nicht selbst finanziert. Es ist ein gutes Ergebnis für beide Seiten und ein schnelles – immerhin sind wir in Südamerika. 16. David gegen Goliath Yana curi steht für das Leid der Indigenen und den Reichtum einiger weniger in Ecuador. Schwarzes Gold, darüber ist schon viel geschrieben und gesagt worden. Gerade Nordrhein-Westfalen macht keine gute Figur in dieser Geschichte: Das Land ist zu 43% Anteilseigner an der Westdeutschen Landesbank kurz West LB und die finanzierte mit einem Kredit von 900 Millionen Dollar den Bau einer neuen Pipeline – der Oleoducto de Crudos Pesados (OCP) – von Lago Agrio im Oriente quer über die Anden bis in den Hafen von Esmeraldas an der Costa. „Mit deutschem Geld werden unsere 243 Daniele Jörg Ecuador Wälder zerstört“ prangert es von einem der meist zitierten Ortsschilder entlang der OCP; „... wurden unsere Wälder zerstört...“, muss man sagen, denn trotz aller Widerstände und Spendengelder auch aus Deutschland rauscht das Öl seit Ende 2003 durch die Rohre. Noch gab es offiziell keinen größeren Unfall, aber der Anblick der dicken grauen Rohre, die sich wie unendlich lange, gut genährte Schlangen über die Bergkämme quälen, ist kein schöner. Bei Papallacta – auf der Reise ins Amazonasgebiet – sehe ich sie zum ersten Mal, „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt./Dem will er seine Wunder weisen, in Berg und Wald und Strom und Feld.“ spottet der „Taugenichts“ in meinen Gedanken. Papallacta liegt an der Straße der Vulkane – ist bekannt für seine Thermalbäder und ist das Trinkwasserreservoir von Quito. 2002 brach der Vulkan El Reventador aus und schleuderte frisch verlegte Rohre der OCP wie Streichhölzer durch die Gegend. Im April 2003 wird die alte SOTE-Pipeline durch die Bauarbeiten an der OCP-Pipeline bei Papallacta beschädigt, in 48 Stunden laufen 1,6 Millionen Liter Rohöl aus, ein großer Teil der Bewohner von Quito wird mit Trinkwasser notversorgt. Ich mache hastig ein einziges Foto, die Mitreisenden im Bus sind wie immer ambivalent, wenn es ums Erdöl geht – Yana curi ist eben Reichtum und Leid. Ich hatte keine Gelegenheit, die Erdölstory so aufzurollen, wie sie es verdient hätte. Sechs Wochen sind immer noch zu kurz und ich musste mich für einen Schwerpunkt meiner Recherchen entscheiden. Auch erreichte mich eine Schlüsselemail zu spät: Ich hatte Kontakt zu Friedemann Köster vom Deutschen Entwicklungsdienst (DED) aufgenommen. Er ist Zoologe an der Katholischen Universität Ecuadors in Quito (PUCE) und leitet die Forschungsstation im Yasuni Nationalpark im äußersten Westen, einem einzigartigen Reservat, das trotz Nationalparkstatus nicht gefeit ist vor den Zugriffen der Ölkonzerne. „Sie können mitkommen, kein Problem. Aber machen Sie sich auf zwei Tage Papierkrieg mit den Sicherheitsorganen der Erdölgesellschaft Repsol-YPF gefasst“. Unser Weg hätte über die Straße der Petroleros geführt, Köster hat eine Sondergenehmigung, eine Journalistin im Schlepptau hätten die Ölgiganten sicherlich nicht so gerne gesehen. Ich hätte diesen Kampf gerne ausgetragen, leider hatte ich schon alle Resttage verplant. Ich versprach Köster und mir, wieder zu kommen. Die Erdölgeschichte hat alles, was eine gute TV-Story braucht: Helden, Unterdrückte, Bösewichte, David gegen Goliath – und sie ist extrem visuell. Wer die Zeitungen nur oberflächlich versteht, kommt an dem derzeit alles beherrschenden Konflikt nicht vorbei: Sarayaku versus OCP. Die Sarayakus sind zu den Stars unter den Indigenen geworden und ihre Geschichte, zumindest wie sie in den meisten Medien verbreitet wird, liest sich ein wenig wie der Kampf des kleinen gallischen Dorfes gegen die Römer. Zunächst eine 244 Ecuador Daniele Jörg kurze Skizze des Konfliktes: Am Ufer des Flusses Bobonaza in der Provinz Pastaza im Oriente leben die Sarayakus, zirka 2.000 Tiefland-Quichuas. Seit 1989 widersetzen sie sich der Erdölförderung und Exploration auf ihrem Territorium – um jeden Preis. Seit November 2003 spitzt sich der Konflikt rasant zu. Nachdem der Ölkonzern Arco unverrichteter Dinge Anfang der 90er das Weite suchte, vergab die ecuadorianische Regierung 1996 die Konzession für Block 23 (der Oriente ist derzeit in insgesamt 31 Blöcke aufgeteilt) an die argentinische Compania General de Combustibles (CGC), ohne das Eigentum der Sarayakus zu respektieren. Zwar haben die Sarayakus und zahlreiche andere indigene Gemeinden im Amazonasgebiet mit großer Mühe die Landtitel an den Wäldern erworben, die sie seit Generationen bewohnen, aber die Urkunden haben einen Haken. Die Selbstverwaltung erstreckt sich vertikal über Tausende von Hektar, endet aber bereits 30 Zentimeter unter der Oberfläche. Diese Klausel ermöglicht es der Regierung, Konzessionen für die Erdölförderung zu vergeben. Aussichtslos für die Indigenen könnte man meinen. Allerdings ist die Regierung auch an eine Auflage gebunden: Bevor sie Konzessionen vergibt, muss sie das Einverständnis der Eigentümer einstimmig einziehen (Free Prior Informed Consent). Hier trifft David auf Goliath. Die Vertreter der Regierung behaupten, sie hätten dies getan. Die Sarayaku, deren Lebensraum zu 60 Prozent in Block 23 liegt, halten dagegen: Einige Anführer wären bestochen worden, aber die genössen längst nicht mehr das Vertrauen der Gemeinden und könnten deshalb auch nicht für diese sprechen. 17. Waterloo im Urwald „Block 23 könnte so etwas wie das Waterloo für die Ölindustrie im Amazonasbecken werden“, prognostiziert ein Vertreter von Earthrights International, einer US-amerikanischen NGO, die Kampagnen in Ecuador unterstützt. Ecuador verfügt etwa über 4,6 Milliarden Barrels an Ölreserven, Öl macht mittlerweile über die Hälfte der Exporte aus. Durch die neue OCPPipeline können bis zu 850.000 Barrels am Tag fließen. Und genau das ist das Dilemma: Ecuador hat hohe Auslandsschulden. Um die Zinsen abbezahlen zu können, hat der Internationale Währungsfond (IMF) Ecuador verpflichtet, so viel Erdöl wie möglich zu exportieren. Nach dem Aussaugen des nördlichen Amazonasbeckens ist jetzt das südliche dran, damit die Pipeline ausgelastet ist. „Das Erdöl gehört nicht den Sarayakus, das Öl gehört dem Staat“, so verteidigt die Regierung ein eventuelles gewaltsames Eindringen in Block 23, um den Ölfirmen die vorgeschriebenen seismischen Studien zu ermöglichen. Und die Sarayakus wiederum wehren sich: Sie ha245 Daniele Jörg Ecuador ben im Januar 2004 den Ausnahmezustand erklärt. In Friedenscamps üben sie den zivilen Ungehorsam, der Unterricht in den Schulen ruht teilweise und man ist gegebenenfalls auf eine Auseinandersetzung mit dem Militär vorbereitet. Neben diesen pressewirksamen Aktionen haben Abgeordnete der Gemeinde ihren Fall vor die Inter-American Commission on Human Rights (IACHR) in Washington DC gebracht. Ihre Begründung: CGC hat ohne Einverständnis der Sarayakus mit den Arbeiten begonnen und damit Eigentumsrechte und die Artikel 88 + 89 der Verfassung verletzt. Außerdem seien mehrere Anführer körperlich attackiert worden, sei es auf dem Weg zu friedlichen Demonstrationen in Quito oder wie Marlon Santi, der amtierende Präsident der Sarayakus, unterwegs zu weiteren Verhandlungen in Washington. Der IACHR reagierte im Mai 2003 mit der Order an die ecuadorianische Regierung „to take precautionary measures“ um die Menschen und vor allem die Vorsitzenden der Gemeinden zu schützen. Die Sarayakus sind die prominentesten Kämpfer für ihr Recht auf einen unangetasteten Lebensraum, aber auch die Huaorani, die Achuar und die Shuar haben gesehen, wie die Politik der letzten 30 Jahre das Leben und die Natur im Norden zerstört hat. Sie wollen keine weiteren Opfer des Yana curi Fluches werden. Sie alle kennen die Schilderungen und Statistiken: Anfang der 70er Jahre baute der US-amerikanische Erdölkonzern Texaco die SOTE Pipeline, um Öl aus dem Nordoriente abzutransportieren. Hinterlassen hat Texaco eine Landschaft aus Ölseen, abgeholztem Regenwald und einem Netz aus Zufahrtsstrassen, sowie überdurchschnittlich viele kranke Männer, Frauen und Kinder, die an Atemwegserkrankungen, Hautausschlägen oder Krebs leiden und sterben, und eine Liste von Tier- und Pflanzenarten am Rande der Ausrottung. Texaco und alle, die danach kamen, boten Geld und versprachen Entwicklungshilfe – alles eine große Lüge. Die Sarayakus haben daraus gelernt und stellen ihre Traditionen über die Versuchung: „Wir leben barfuss wie unsere Vorfahren. Und so wollen wir es auch lassen“, fasst eine der Stammesältesten die Entschlossenheit der Gemeinde zusammen. Wie der Kampf ausgeht, wird entscheiden, ob sich Ecuador zu einem der wichtigsten Öllieferanten für die USA entwickeln wird, und damit deren Strategie unterstützt, sich unabhängiger von den Lieferungen aus dem Mittleren Osten zu machen – koste es, was es wolle. 18. Die Rückseite der Story „El Ecuador, la vida en estado puro.“ So will (Noch-) Präsident Lucio Gutiérrez sein Land Touristen schmackhaft machen. Aber gilt das auch für Amazonien? Lago Agrio hat man mir empfohlen, muss ich besuchen - die 246 Ecuador Daniele Jörg Ölarbeiterstadt mit Spielcasinos und Bordellen-, um mir einen Eindruck von dem zu verschaffen, was die westliche Kultur hier geschaffen hat. „Sauren See“ haben es die neuen Herren getauft – in Erinnerung an ihren Salt Lake in Utah. Vielleicht ist die Umtaufe auch besser so, denn Nueva Loja, wie es die Ecuadorianer nennen, bietet nichts mehr, worauf die Ecuadorianer stolz sind. Treffender wäre wohl „Schwarzer See“ ... schwarz soll es sein – das Umland von Lago Agrio, schwarz vom ausgelaufenen Gold – so sieht man es im Internet und so berichten die, die dagewesen sind. Rahel Weingarten zum Beispiel, eine junge Deutsche, die nach dem Abitur in Ecuador was Gutes tun wollte. Gelandet ist sie bei „Acción Ecológica“ – Aktivisten, die von einer Art Villa Kunterbunt aus, Studenten in Quito mobilisieren, sich gegen die Tonnen von Ungerechtigkeiten in ihrem Land zu wenden: Gentechnik, Wasserverschmutzung, der Plan Colombia, Erdöl – es gibt viele Themen. Ich frage sie, was der Gruppe zurzeit am ärgsten unter den Nägeln brennt. Die Antwort: die Sarayakus. Und sie erzählt engagiert: Die Sarayakus werden von der Regierung boykottiert, sie gelangen nur noch via Flugzeug in ihre Dörfer, alle Lebensmittel müssen aufwändig herangeschleppt werden, die medizinische Versorgung ist nicht mehr garantiert, die Schulen sind geschlossen, junge und entschlossene Krieger verstecken sich im Wald und sind bereit zum Kampf ... eine tolle Geschichte, denkt jeder Journalist. Ich überlege, mir ein Bild vor Ort zu machen, mit einem Flugzeug zu den Sarayakus zu fliegen, mich mit ihren Führern zu treffen. Doch das ist sehr teuer und leider bleibt mir in Puyo neben den anderen Projekten nicht genug Zeit. Aber ich habe Glück und lerne im Omaere-Park in Puyo Carlos Piruchkun kennen, der zwanzig Jahre lang als Lehrer für die Sarayakus gearbeitet hat. Seine Frau ist Sarayaku und Tante des jetzigen Gemeindepräsidenten Marlon Santi. Carlos hört fast jeden Tag Nachrichten aus der Gemeinde und relativiert die Geschehnisse, ohne die Dringlichkeit des Anliegens zu schmälern. Das Flugzeug war schon immer der einfachste Weg, Lebensmittel zu transportieren, der andere ist per Kanu auf dem Fluss – lang und beschwerlich. Die Schule geht weiter und er wisse auch nichts von entschlossenen Kriegern in Kriegsbemalung, die sich im Wald versteckt halten, aber man würde sich verteidigen, wenn die Regierung wahr macht, und das Militär vorbeischickt. Ich frage Carlos, was die Sarayakus so besonders macht, woher sie die Kraft nehmen, sich zu widersetzen und sich nicht bestechen lassen. Carlos lobt ihre Organisation (keine Selbstverständlichkeit in Ecuador, wie wir aus den Begegnungen in Intag gelernt hatten) und ihr Talent, auf ihre Belange aufmerksam zu machen und auch im Ausland Mäzene und Unterstützer in Wort und Geld zu finden. Schließlich waren es auch Sarayakus, die OPIP – zunächst mit ehrenhaften Zielen – gegründet haben. Stolz ist Carlos auch, dass ausgerechnet seine Schüler hinter dem 247 Daniele Jörg Ecuador 10-Punkte Forderungskatalog stünden, der den Ölfirmen so zu schaffen macht. Sie fordern darin u.a. einen gerechten Lohn. Statt der üblichen 150 US-Dollar wollen sie, dass ein indigener Arbeiter so viel erhält wie ein ausländischer, nämlich ca. 500 Dollar pro Monat. Es gäbe keinen Grund, Arbeit unterschiedlich zu bezahlen. Die Sarayakus wissen natürlich, dass sich CGC und Konsorten nie auf diese Forderungen einlassen werden. Carlos warnt aber auch, die Sarayakus als Naturschützer und Idealisten zu porträtieren oder sich unkritisch auf ihre Seite zu schlagen. Hanns-Joachim Friedrichs Worte, „sich nie mit einer Sache gemein zu machen, auch nicht mit einer guten, zeichne einen guten Journalisten aus“, fallen mir ein. Die Sarayakus bewohnen das Gebiet seit etwa 150 Jahren und hätten in dieser Zeit auch Wald abgeholzt, Landwirtschaft betrieben und Tiere gejagt. Wenn sie ihr Land jetzt zu einem „Patrimonio cultural“, zu einem Kulturerbe, erklären lassen wollen, denken sie schlicht langfristig an die Vermarktbarkeit eines intakten Waldes: Ökotourismus, Abenteuertourismus, Gemeindetourismus – die Gäste sollen die Schönheit des Waldes genießen und das Leben der Ur-Völker kennen lernen. Gleichzeitig ließen sich für diese Aktivitäten mit entsprechendem Verhandlungsgeschick Spenden und internationale Gelder in beträchtlicher Höhe eintreiben – und darin seien die Quichua Meister. Ich spüre, wie Carlos hier mehr loswerden will. Ja, die Quichuas, die Nachfolger der Inkas, hätten sich erst als Indigene bekannt, als man damit international Aufmerksamkeit erregen und Geld machen konnte. Aber diesmal sei er zuversichtlich: Die Sarayakus haben aus der Vergangenheit und den Betrügereien der OPIP gelernt. Ihr Widerstand könne Vorbild auch für die anderen Bewohner des Oriente sein. Sarayaku vs. CGC bleibt also eine spannende Geschichte. 19. Das Gewissen von Galapagos Dear Mister Darwin, wenn Sie wüssten, welche Folgen Ihr Abstecher auf die Galapagos Inseln für die Menschheit hatte. Die Inseln sind zu einem Wallfahrtsort geworden – für alle, die sich für Naturgeschichte interessieren und über die entsprechende Menge Geld verfügen, den Streichelzoo der Evolution zu betreten. Und überall sind Sie präsent, als alter Mann mit Rauschebart und wissendem Blick. Dabei waren Sie damals bei Ihrem Besuch nur ein neugieriger und draufgängerischer Medizinstudent. Aber Sie hatten offensichtlich ein 248 Ecuador Daniele Jörg Talent, das vielen der heutigen Besucher eher fehlt: Sie konnten genau hinschauen. Sie beneidend, Daniele Godfrey Merlen wurde mir als das Gewissen von Galapagos vorgestellt. Ein hagerer Mann mit Bart, Brite, er lebt seit einem Vierteljahrhundert hier, arbeitet für eine Naturschutzorganisation. Wir reden beim Abendessen (vegetarisch) über Ziegen und Haie, Fangquoten und Tourismus. Alle, die ich in den folgenden Tagen auf den Galapagos kennen lerne und die ihre Zeit und Leidenschaft der Charles Darwin Research Station (CDRS) widmen, sind das kollektive Gewissen des Archipels. Sie kämpfen für den Erhalt dieses einzigartigen Ökosystems – freiwillig und für wenig Geld. Wir erwarten, wenn wir Research Station hören, teure Geräte und dekorierte Wissenschaftler, die mit einem unverständlichen Forschungsauftrag angereist sind, und Tag und Nacht experimentieren, sinnieren und publizieren. An der Charles Darwin Research Station sucht man die Labors mit den Spektrometern, hochauflösenden Mikroskopen und genetischen AnalyseGeräten vergebens. Wer hier herkommt, ist in erster Linie Politiker. Die Nachfolger Darwins kämpfen mit jeder Minute ihres Aufenthaltes gegen den Verfall und die Zerstörung dieses Paradieses. Die Bedrohungen sind keine Unbekannten: Tourismus, Fischerei, Verschmutzung, Invasionen fremder Arten und neuerdings Biopiraterie. Über den Tourismus auf den Galapagos ist schon viel geschrieben worden. Wenn es ihn nicht gäbe, würde sich kein Entscheidungsträger mehr für die Inseln interessieren, denn die Galapagos – bislang 127 Inseln an der Zahl - sind die Gelddruckmaschine Ecuadors. Über 80.000 Touristen jährlich pilgern zum Schaufenster der Evolution. Jeder erbringt direkt ein Eintrittsgeld in den Nationalpark von 100 US-Dollar (macht insgesamt ca. 8 Millionen) und dazu noch mal etwa das Doppelte an indirektem Verdienst durch die diversen Aktivitäten während des Aufenthaltes. Wer über die Menge der Touristen und die Spuren, die sie auf den Inseln und im ganzen Archipel hinterlassen, klagt, vergisst, dass dies, so paradox es klingt, oft die einzige Möglichkeit ist, heute ein Gebiet zu schützen. Kein Land, deren Einwohner ums Überleben kämpfen, kann sich die edle Ansicht leisten, die Natur und ihre Artenvielfalt sei allein wegen ihrer Schönheit – aus ästhetischen Gründen sozusagen – zu bewahren. Konflikte drohen, wenn der Schutz gefährdeter Tiere und Pflanzen auf Kosten der Menschen vor Ort durchgesetzt werden soll. Auf meinen Reisen hatte ich es mehrfach gehört: „Ein Stück Wald, das in einen Naturpark umgewandelt wird, ist für einen Ecuadorianer ein verlorenes Stück Wald.“ Ein Beispiel macht diese Aussage vielleicht klarer: Wenn wir in Deutschland 249 Daniele Jörg Ecuador – unser Gewissen bereinigend – Möbel aus Tropenholz boykottieren, rettet dies im Amazonas nicht unbedingt den Wald. Der Schuss geht sehr oft nach hinten los. Wenn keiner mehr die wertvollen Hölzer kauft, wird für den am Rande des Existenzminimums wirtschaftenden Bauern der komplette Wald wertlos und dann kann man ihn auch gleich brandroden und somit zumindest noch für ein paar Jahre als Weide- oder Ackerfläche nutzen. Die Schönheit der Natur zu betrachten, zu genießen und sie deshalb als schützenswert zu erachten, ist ein Luxus der reichen Welt. Wer es einmal so herum betrachtet, versteht die Schwierigkeiten der Naturschützer in Entwicklungsländern, die oft die einzigen Länder sind, die noch über große Flächen Wald oder Artenreichtum verfügen. Die Engagierten kämpfen dort in erster Linie gegen Neid und Eifersucht – zwei unerträgliche und gefährliche Gefühle des Menschen. Auf dem Festland wissen es alle und für viele ist es der letzte Hoffnungsschimmer: Auf den Galapagos lässt sich noch Geld verdienen. Die Bevölkerung wächst deshalb um mehr als 6 Prozent im Jahr und immer mehr Menschen kommen größtenteils illegal auf die Insel. Offiziell herrscht Einwanderungsstopp. Wer sich auf den Galapagos für Riesenschildkröten und Meeresleguane, gar für Hammerhaie und Seegurken stark macht, muss sich also warm anziehen, wie ich noch lernen sollte. 20. Schaufenster der Evolution Was macht die Galapagosinseln so besonders? 1.000 Kilometer vor der Küste Ecuadors quillt aus einem Hotspot Lava hervor, soviel, dass die Türme bis an die Oberfläche reichen und Inseln bilden. Vulkanische Aktivität lässt sich noch heute auf den jüngeren, den westlichen Inseln des Archipels beobachten, und liefert so ständig neues fruchtbares Land, auf dem sich Tiere und Pflanzen ansiedeln können. Warme Meeresströmungen vom Norden (der Panama-Strom), kalte vom Süden (der Humboldt-Strom) stoßen hier aufeinander und sind mitverantwortlich für die skurrile Mischung der Tierarten, die größtenteils mit den Strömungen auf die Inseln transportiert wurden. Von Westen kommt noch nährstoffreiches kühles Wasser hinzu, das durch die besondere geologische Struktur nach oben gedrückt wird (ein so genanntes Upwelling). Zu guter Letzt begünstigt die Lage am Äquator mit seiner konstanten Sonneneinstrahlung und der hohen Luftfeuchte, dass die Galapagos heute eine so außergewöhnliche Mischung an Arten präsentieren können. Auf den Galapagos existieren tropische Echsen neben arktischen Pinguinen, Kakteen neben Sonnenblumenbäumen und Pelzrobben schwimmen mit Riff-Fischen. Gepaart mit einer erstaunlichen Zutraulichkeit: Weißspitzenriffhaie wer250 Ecuador Daniele Jörg den zu Streicheltieren und Albatrosse lassen sich aus nächster Nähe beim Balzen beobachten. Um es noch griffiger zu formulieren: Der Besucher auf Galapagos sieht einen opulenten und aufregenden Tierfilm – nur ohne Glas und mittendrin. Dabei ist der Anblick aus dem Flugzeug zunächst eine Enttäuschung für den Reisenden, der gerade die Vielfalt und Üppigkeit der Tropen kennen gelernt hat. Charles Darwin hat dies bereits bei seinem Besuch 1835 sehr treffend geschildert: „Nothing could be less inviting than the first appearance. A broken field of black basaltic lava, thrown into the most rugged waves, and crossed by great fissures, is everywhere covered by stunted, sunburnt brushwood, which shows little signs of life. ... and such wretched-looking little weeds would have better become an arctic than an equatorial flora. [....] None of the birds are brilliantly coloured as might have been expected in an equatorial district. ... I did not see one beautiful flower. The insects, again, are small sized and dull coloured and as Mr Waterhouse informs me, there is nothing in their general appearance which would have led him to imagine that they had come from under the equator.“ Die Besuche sind streng reguliert: Schon auf dem Flughafen in Quito oder Guayaquil suchen Beamte im Gepäck nach Pflanzen oder Tieren, die nicht auf die Inseln gehören. Bei der Ankunft in Baltra schnüffeln Hundestaffeln am Gepäck vorbei und es wird noch mal ein Blick ins Handgepäck geworfen. Die Italiener in der Reihe vor mir, hatten eine tropische Leckerei – Passionsfrüchte – dabei und mussten zusehen, wie der Beamte sie in einen „Sondermüll“-Behälter beförderte. Eine Tour des Archipels geht nicht auf eigene Faust. Die einzelnen Inseln besuchen oder eine Tauchsafari erleben, kann man nur auf speziell lizenzierten Schiffen. Die Wahl hat der Besucher, der meist auf dem Festland bucht, zwischen unterschiedlichen Kategorien, was Luxus, Anzahl der Mitreisenden und die Art der Fortbewegung (Motorboot oder Segelschiff) anbelangt. Derzeit sind etwas 60 Schiffe zugelassen und momentan noch freiwillig kann sich ein Betreiber mit dem werbewirksamen Zertifikat „Smart Voyager“ auszeichnen lassen. Beurteilt werden u.a. Firmenpolitik, Bemühungen um den Artenschutz, Risikoverminderung für die Einführung neuer Arten, gute Arbeitsbedingungen, Recycling und Müllreduktion etc. Eine Insel betreten, kann man nur mit einem Forscher oder einem so genannten „guia naturalista“, auf genau festgelegten Wegen und auch nur für kurze Zeit. Der Naturführer achtet peinlichst darauf, dass kein Sand und damit kein Kleinstlebewesen oder Samen unter den Schuhsohlen von einer Insel zur nächsten transportiert werden. Die neuste Studie über den Einfluss des Tauchtourismus auf die Unterwasserwelt der Galapagos-Inseln hat die Kritiker überrascht: Zwar besuchen fast 12.000 Touristen jährlich die Teufelskrone vor der Insel Floreana, aber die Tierund Pflanzenwelt Unterwasser scheint nicht darunter zu leiden – bislang 251 Daniele Jörg Ecuador jedenfalls nicht. Und genau deshalb wollen die Forscher vorbeugen. Die Taucher sollen auch im Meeresreservat nur bestimmte Attraktionen aufsuchen, und die Tauschschulen müssen ihre Routen im Voraus mit der Nationalparkverwaltung absprechen, so dass stark frequentierte Plätze entlastet werden können. Außerdem sollen die Tauchschulen und ihre Kunden in die wissenschaftlichen Untersuchungen miteinbezogen werden - Daten sammeln, Fische zählen und damit auf Schwankungen im Ökosystem rechtzeitig aufmerksam machen. Viel problematischer als der Tourismus ist die Überfischung. 21. Feuer im Schlaraffenland Längst sind die Zeiten vorbei, in denen man Naturschutz mit Fernglas und Notizblock betreiben konnte, heute braucht man Überwachungsflüge, Wasserpolizei und Rechtsbeistand. Der Nationalpark Galapagos wurde 1959 ins Leben gerufen und von der UNESCO 1978 zum Weltnaturerbe ernannt; das marine Schutzgebiet – kreiert 1998 – erhielt diesen Status erst 2001. Eine 40 Meilen Schutzzone wurde um die Inseln eingerichtet und die industrielle Fischerei aus dem 133.000 km² umfassenden Meeresgebiet verbannt. Lokale Fischer dürfen innerhalb dieser Grenzen ihrem Lebensunterhalt nachgehen. Um die Einwanderung vom Festland aufzuhalten, gilt diese Regelung aber nur für Fischer, die vor 1998 auf den Galapagos gemeldet waren. Wen überrascht es da, das so manche alte Dame heute einer kleinen Fangflotte vorsteht – auf dem Papier zumindest. Bestimmte Fangtechniken wie das Langleinenfischen sind prinzipiell verboten und die Fangquoten und -gebiete werden in gemeinsamen Abstimmungen der Fischer, Behörden und Wissenschaftler festgelegt. Das ist für Ecuador ein einzigartiges Verfahren. Für Eva Danulat, die wissenschaftliche Leiterin der Meeresforschung an der CDRS, ist die Junta de Manejo Participativo (JMP) ein unendlich mühsamer Kleinkrieg, aber auch die einzige Chance für den Naturschutz im Archipel. Wirklicher Verlierer ist die industrielle Fischerei vom Festland, die mit großen Flotten vor den Inseln operiert(e). Die UNESCO-Auszeichnung als Weltnaturerbe machte ihrem Geschäft den Garaus. Und ihrem Unmut verschaffen sie immer wieder Luft. Die letzte große Studie zwischen 1997 und 2001 zeigte deutlich, dass der Archipel überfischt ist, besonders für seine zwei Besonderheiten den roten Spiny lobster (Panulirus penicillatus) und die Seegurke (Isostichopus fuscus). Exemplare dieser Arten zu sammeln, wird immer mühsamer und die Individuen immer kleiner – ein sicheres Zeichen für den Zusammenbruch einer Population. 2003 wollten die Forscher der Charles Darwin Station des252 Ecuador Daniele Jörg halb eine Schonzeit für die Seegurken erwirken. Seegurken – Verwandte der Seeigel und Seesterne – leben am Meeresgrund, ernähren sich von organischen Abfällen und das macht sie so wichtig für das ökologische Gleichgewicht, gerade in den Küstengewässern. Aber auf Druck der Fischer hat das entscheidende Gremium doch nachgegeben. Eva Danulat verweist auf die üblichen Verdächtigen: In Ostasien gelten getrocknete Seegurken als Delikatesse und so lassen sich in wenigen Wochen attraktive Jahresgehälter (50.000 US-Dollar) verdienen. 2003 wurden in der 60tägigen Saison 5 Millionen Seegurken mit einem Umsatz von mehr als 4 Millionen Dollar aus dem Meer geholt. Die Wissenschaftler verhindern durch ihre Auflagen und Einschränkungen den schnellen Dollar, deshalb lässt sich leicht Stimmung machen gegen die Naturschützer. Dazu kommt, dass Galapagos eine kleine aber einflussreiche Provinz in Ecuador ist. Ein lokaler Politiker braucht nur wenige Anhänger zu versammeln, um trotzdem in den Versammlungen in Quito ernst genommen zu werden. Und die kriegt er schnell, wenn er Profit, uneingeschränkte Fischereirechte und eine laxe Siedlungspolitik verspricht. In der Vergangenheit ist es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Naturschützern und den Fischern gekommen – so auch im Februar 2004. Eva Danulat erzählt von den Fischern, die vor ihrem Haus Autoreifen verbrannt haben. „Ich hatte Angst um mein Leben“. Seitdem läuft ein Ultimatum: Die Fischer versuchen einen 18 Punkte Katalog zu erzwingen, der ihnen die Fischerei im Schutzgebiet erleichtert und weitere Privilegien verschafft. Als ich Eva in Puerto Ayora besuchte, zeigte sie mir die Teerspuren auf der Strasse, die das Autoreifenfeuer hinterlassen hatte. Das Ultimatum war gerade abgelaufen. Nichts ist passiert, aber das sei immer so in Ecuador. Man mache nun einfach weiter, versuche alles, um die Fangquoten für 2004 so niedrig wie möglich zu halten. Das Pre-Monitoring im April war erschreckend. Taucher, die den Seeboden inspizierten, fanden nur wenige Exemplare pro Quadratkilometer. „Eigentlich dürfe man keine einzige Seegurke mehr rausziehen“, sagt Eva. Aber es kam alles ganz anders. Die Fangsaison für Seegurken wurde am 31. Mai eröffnet – für zwei Monate. Entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen wurde der Fang von vier Millionen Seegurken gestattet. Gleichzeitig flammte der Protest der Fischer wieder auf, und heftiger als je zuvor. Büros, Anlagen und Aufzuchtstationen der Forscher wurden besetzt und Touristen der Zugang zu den Schiffen blockiert. Die Polizei und Ordnungskräfte schauten einfach zu. Bleibt die Frage, warum sich die Fischer aufregen, sie haben doch ihr Recht erhalten. Sie stören sich an der Limitierung: Immer mehr Familien, die über die Jahre vom Festland nach Galapagos gekommen sind, leben vom Seegurkenfang. Sie sammeln über das ganze Jahr illegal Seegurken, trocknen und lagern 253 Daniele Jörg Ecuador sie ein. Ohne Quote könnten sie diese während der Saison hervorzaubern und ohne Probleme auf den Markt bringen. Unter diesem Druck wird auch noch die letzte Seegurke verschwinden, und erst dann wird man merken, welchen Schaden diese massive Ausbeutung der marinen Ressourcen auf die Flora und Fauna an Land hat. „Wir sind entsetzt und tief besorgt über die Zustände auf Galapagos“, sagt Christof Schenk von der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF). Die ZGF unterstützt den Naturschutz auf den Galapagos seit 1968 und hat in den letzten zehn Jahren jährlich 200.000 bis 300.000 Dollar in den Naturschutz auf Galapagos investiert. „Sollte sich die Situation in Kürze nicht verbessern und die Regierung Ecuadors nicht in der Lage sein, für Recht und Ordnung auf den Inseln zu sorgen und die Sicherheit unserer Projektpartner zu gewährleisten, sehen wir uns gezwungen ein weiteres Engagement auf Galapagos einer kritischen Prüfung zu unterziehen.“ Eva Danulat macht vorerst weiter, aber sie hat sich ein Limit gesetzt: „Ich will nicht erleben, wie die Galapagos zu einer weiteren Costa Brava werden.“ 22. Galapagos darf nicht sterben! Auf Galapagos arbeiten scheinbar zwei Kräfte gegeneinander. Die einen tun alles, um Leben zu schützen, die anderen sind da, um zu töten. Doch beide haben ein Ziel: Die Einzigartigkeit des Archipels zu erhalten, denn das Ökosystem der Galapagos ist in Gefahr. Eingeschleppte Tiere und Pflanzen verdrängen die einheimischen. Zuerst kamen die Ratten und Katzen mit den Schiffen der Walfänger, zuletzt gelangten 1997 durch die warmen Meeresströmungen des „El Nino“ die ersten Frösche auf die Inseln. Töten um zu überleben, bestimmt auch einen Großteil der Arbeit des deutschen Forschers Helmut Rogg, Leiter der Abteilung Terrestrische Wirbellose der Charles Darwin Research Station. Neben Riesenschildkröten und Leguanen spielten Weichtiere und Insekten jahrzehntelang nur eine untergeordnete Rolle. Dabei bringen es die Landschnecken der Gattung Bulimulus auf immerhin 60 Arten, die nur auf Galapagos vorkommen, während sich die berühmten Darwinfinken in gerade mal 13 Arten aufspalteten. Seit 1998 gibt es an der Station auch ein kleines Insektenmuseum. Und immer wieder finden die Forscher neue Arten auf der Insel. Die Galapagos-Inseln sind noch jung und neue Arten können noch freie Nischen erfolgreich besetzen. Das ist eine Chance, andererseits aber auch eine Gefahr. Vor allem seit es Tourismus und Handel gibt. Mit jedem Flugzeug und mit jeder Ladung erreichen neue Organismen die Inseln. Auch Eva Danulat erzählt von ihrem Umzug und der Handvoll verschiedener Insektenarten, die beim Auspacken 254 Ecuador Daniele Jörg aus den sorgfältig kontrollierten Kisten krabbelten. 2003 beschrieben die Insektenexperten der Forschungsstation 10 Weltneuheiten, und berichteten von 50 bekannten Arten, die zum ersten Mal auf einer Insel gesichtet wurden, und von 440 neuen eingeschleppten Arten – ein Zuwachs von 22 Prozent gegenüber 2002. Eine erschreckende Zahl, aber eingeschleppt heißt noch lange nicht, dass sich die Art auch festsetzen wird. Genau das zu bewerten, liegt Helmut Rogg. Er erzählt stolz von den verschiedenen Strategien, die sich seine Abteilung im Kampf gegen die Eindringlinge ausgedacht hat, um sie rechtzeitig zu entdecken und zu vernichten, bevor sie sich dauerhaft einrichten. Da ist zum Beispiel die Geschichte von den Feuerameisen. Sie kamen mit einem Schiff und breiteten sich in Windeseile über die verschiedenen Transportwege im ganzen Archipel aus. Feuerameisen sind Fleischfresser, schrecken auch vor Vogel- und Schildkröteneiern nicht zurück. Sie sind auf der ganzen Welt für ihre Aggressivität gefürchtet. Aber sie können nicht fliegen und das ist die Chance der Forscher. Auf der Insel Marchena, einer der unbewohnten im Archipel, begannen sie ein Pilotprojekt. Sie legten Giftköder aus, die die Arbeiterinnen zur Königin brachten. Die Königin und damit auch der Nachwuchs gingen daran zugrunde. Das war im Jahr 2000. Seit dem kontrollieren die Forscher jedes Jahr den Erfolg. Sie locken die Feuerameisen mehrere Tage lang mit Erdnussbutter, doch 2002, 2003 und 2004 tauchten keine Vertreter der Art Wasmannia auropunctata mehr auf. Auch Arten, die durch die Feuerameisen verdrängt wurden, breiten sich wieder auf der Insel aus. Demnächst soll auf anderen Inseln genau so gegen die Feuerameisen vorgegangen werden. Gleichzeitig läuft natürlich ein Überwachungsprogramm, um die Wiedereinwanderung der Feuerameise zu verhindern. Helmut Rogg ist nämlich auch der Vater von SICGAL (Sistema de inspección y cuarentena para Galapagos). SICGAL trifft man als Tourist mindestens zweimal. Beim Einchecken auf dem Festland, wenn das Gepäck abgetastet und wahrscheinlich im Bauch des Flugzeuges mit Chemie behandelt wird. Und am Flughafen auf Baltra, wenn das Handgepäck durchsucht und speziell trainierte Hunde noch einmal am Gepäck vorbeischnüffeln. Wer offiziell Waren zu den Inseln transportiert, trifft SICGAL in Form eines Maßnahmen-Kataloges – über die Art der Verpackungen, die erlaubt sind und wie sie verschlossen und gehandhabt werden müssen und über die Produkte, die eingeführt werden dürfen und die, die auf alle Fälle verboten sind – z.B. Frischmilch und Käse. Seit 2001 ist das System in Betrieb und der Erfolg der Männer und Frauen in roten Uniformen lässt sich erst in einigen Jahren bewerten, wenn hoffentlich weit weniger eingeschleppte Arten als 2003 gezählt werden. 255 Daniele Jörg Ecuador 23. Der Herr der Ziegen Roslyn Cameron von der Öffentlichkeitsarbeit zeigt mir zwei Fotos vom Rand des Alcedo Vulkans auf der Insel Isabela. Eines aus den 70ern mit üppiger Vegetation und Riesenschildkröten überall, das zweite zeigt dieselbe Stelle Ende der 90er, kein Baum kein Strauch, drei Schildkröten, die in einem Erdloch Schutz vor der Sonne suchen. Was war passiert? Irgendwann in den 70er Jahren brachte vermutlich ein Frachter eine Handvoll Ziegen auf den Nordteil der Insel. Der Süden war schon lange bewohnt und bewirtschaftet, aber ein 12 km breites Lavafeld zwischen dem Süd- und Nordteil der Insel galt als unüberwindbar – die Hölle auf Erden. Oder gelang ein paar Ziegen in einem verregneten Jahr doch die Passage? Ziegenexkremente haben die Forscher dort zumindest gefunden. Wie auch immer die Ziegen dorthin gekommen sind, 1998 zählte man bereits über 100.000 Exemplare und 2004 schätzte man die Invasion auf eine halbe Million. Aus einer bewaldeten Insel war geschorener Fels geworden und die verbleibende dünne Schicht Erde ist leicht wegerodiert. Isabela ist nicht nur die größte Insel im Galapagos Archipel, vor allem der nördliche, unberührtere Teil zählt auch die meisten endemischen Arten. Er beherbergt etwa 80 Prozent der Riesenschildkröten und Landleguane Galapagos und die brauchen Schatten und Tümpel zur Fortpflanzung. Herr der Ziegen-Plage werden, das ist der Job von Felipe Cruz. Er steht einer beispiellosen Kampagne vor: dem Projekt Isabela, der Ausrottung der Ziegen auf der Insel. Als ich im Büro von Roslyn die Bilder der Verwüstung betrachte, steigt nur wenige hundert Meter entfernt ein Hubschrauber auf – bereit zur Jagd. Die Forscher haben sich Rat in Neuseeland geholt. Dort rückt man Eindringlingen in ähnlich unzugänglichem Gebiet schon seit längerem aus der Luft zu Leibe. Ich frage, ob ich mal mitfliegen könne - für eine Reportage über die Ziegenjäger, aber dafür ist das Projekt noch zu frisch. Der Presse möchte man die Ergebnisse erst später komplett präsentieren. Die Tierschützer auf Galapagos fürchten um ihren Ruf und damit um ihre Spenden. Wie kommuniziert man, das man töten muss, um zu überleben? Was passiert mit den Tonnen von Ziegenkadavern? Kann man das Fleisch nicht zu hungernden Menschen nach Afrika transportieren? All diese Fragen hatte Roslyn schon auf dem Tisch. Wenn das Projekt erfolgreich abgeschlossen ist, dann würde man gerne einen Film und alle Daten veröffentlichen. Z.B. dass die Ziegen wie alle anderen Tiere, die auf Galapagos sterben, einfach in der Sonne verrotten und damit wenigstens neue Nährstoffe für den Boden liefern. Vom Kadaver zum Skelett dauert das unter der Sonne des Äquators gerade mal sieben Tage. Ganz unvermittelt fragt mich Roslyn, ob ich denn nicht die Pressearbeit übernehmen möchte, man suche noch jeman256 Ecuador Daniele Jörg den, der sich auf dem internationalen Terrain auskennt. Ein festes Filmteam arbeitet für den Nationalpark. Allerdings müsste ich viel Idealismus mitbringen, bezahlen könnten sie mir nichts. Ich überlege in den folgenden Tagen, ob ich nicht wirklich alles stehen und liegen lassen soll – zuhause im fernen Deutschland, ein halbes Jahr Auszeit nehmen, schließlich ist es für eine gute Sache, das müsse man doch verstehen. Dann wurde mir klar: Ich war im Galapagos-Fieber, wurde mit jeder Minute meines Aufenthaltes stärker befallen vom Darwin-Virus, hier etwas Außergewöhnliches zu sehen und auch etwas für den Erhalt des Paradieses tun zu müssen. [Anmerkung: Offensichtlich habe ich mich dagegen entschieden.] Ein wenig mehr Informationen über das Projekt erhalte ich dann aber doch: Die Ziegenjäger haben erst Anfang April 2004 mit der Arbeit vom Helikopter aus begonnen, verzeichnen aber erstaunliche Erfolge – Tausende von Ziegen sollen sie schon erledigt haben. An diese erste Phase wird sich dann die Jagd vom Boden aus anschließen, so wie Felipe Cruz und sein Team es seit 1998 auf der Insel Santiago geprobt haben. Mit Hunden hat man dort die Tiere zusammengetrieben und in Phase 3 mit so genannten Judas-Ziegen. Das Prinzip ist einleuchtend: Ziegen sind Herdentiere. Stattet man ein Individuum mit einem Radiosender aus, lässt sich eine Herde so telemetrisch auch in schwer einsehbaren Tälern oder Waldstücken ausmachen und abschießen. Denn eines haben die Forscher gelernt: So lange nicht auch das letzte Ziegenpärchen ausgelöscht ist, ist die Gefahr nicht gebannt. Und wenn man mit den Ziegen fertig ist, dann muss man sich um die verwilderten Esel, Katzen, Hunde, Schweine etc. kümmern, die sich ebenfalls in rasantem Tempo auf der Insel ausbreiten. Von ihrer Arbeit auf Santiago wissen die Forscher aber auch, dass es sich lohnt: So bald die Ziegen dezimiert werden, wächst der Wald in erstaunlichem Tempo nach und einheimische Arten kehren zurück. In Santiago begann der Feldzug 2000 und die Insel gilt 2004 als fast geheilt. Ein Zeichen dafür: Die Galapagos Ralle, die Darwin 1835 noch als einen der häufigsten Vögel auf Santiago beschrieb und die vor wenigen Jahren auf eine Population von 100 Exemplaren zusammengeschrumpft waren, kann man heute wieder überall antreffen. Das Projekt Isabela ist auf sechs Jahre angelegt und darf 8,5 Millionen US-Dollar kosten. Doch überall hört man die Gerüchte, dass die fliegenden Ziegenjäger wesentlich schneller vorankommen als gedacht. Und die Mitarbeiter der Charles Darwin Station haben sich an den Lärm der Helikopter gewöhnt, die nun mehrmals täglich neben ihren Labors aufsteigen. Sie wissen, dass Galapagos nur so zu retten ist. Sie managen Natur und sind keine geblendeten Naturliebhaber. Und wenn sie abends in der Avenida de Kiosco einkehren, wird die Frage nach „... und wie schmeckt das Fleisch?“ auch mal gerne mit „nach Ziege“ quittiert. Umso stärker trifft die Forscher die Drohung der Fischer, auf Santiago 257 Daniele Jörg Ecuador ein paar Ziegen auszusetzen, wenn die Forderung nach höheren Fangquoten nicht erfüllt wird. Die Schlange ist immer noch im Paradies! „It is the fate of most voyagers, no sooner to discover what is most interesting in any locality, than they are hurried from it.“ (Charles Darwin) 24. Widmung Ich könnte und müsste vielen danken, dir mir dieses wunderbare Erlebnis von der ersten bis zur jetzigen Minute ermöglicht haben. Aber ich möchte diese Aufzeichnungen nur einem einzigen Menschen widmen, meiner Großmutter Sophie Jörg („Dauphine Oma“), die am 18. April 2004 für immer eingeschlafen ist, als ich gerade mit Carlos Zorrilla und den Frauen und Männern der Defensa in Apuela zusammensaß. Sie war fast 91 Jahre alt. 258 Florian Klebs aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Ghana 31. August bis 03. Dezember 2003 259 Ghana Florian Klebs Goldrausch in Ghana Von Florian Klebs Ghana vom 31.08. – 03.12.2003 261 Ghana Florian Klebs Inhalt 1. Zur Person 266 2. Einleitung 266 3. Basislager Accra 267 4. Schwarz und weiß 4.1 „Ein weißer Mann kann das nicht“ 4.2 „Einmal zu Abédi Pelé, bitte“ 4.3 „Sie wird dich töten! Sie macht einen Juju mit dir“ 269 269 270 271 5. Zeitung in Ghana 5.1 FAZ und Fritten 5.2 Grünes Licht für Pressefreiheit 5.3 Mein Blatt: die Public Agenda 5.4 Gold in den Medien 271 271 272 272 273 6. Ghanas Goldschmuck 6.1 Feiner als Frauenhaar, dünner als Seidenpapier 6.2 Der Goldschmied des Königs 6.3 Design als Geheimsprache – Ghanas Adinkras 6.4 Ich war ein Wasserhahn – die Messinggießer von Kumasi 274 274 275 276 277 7. Die Könige und ich 7.1 Mein König von Accra 7.2 Doppelt verwaltet – der Staat und das Königssystem 7.3 Höfisches Protokoll – vom richtigen Umgang mit Königen 7.4 Eine Nacht im Palast 277 277 279 280 281 8. Gold – Hoffnungsträger für Ghanas Wirtschaft? 8.1 Ghana im Goldrausch 8.2 Reserve im Regenwald 282 282 283 9. Rund um die Goldgruben von Tarkwa 9.1 Ghana Goldfields 9.2 WACAM – Grasswurzeln des Widerstandes 9.3 Gold – was nutzt es den Menschen? 284 284 285 287 263 Ghana 9.4 Umweltskandale und Übergriffe – Besuch in den Dörfern um Tarkwa 9.5 In den Gruben der Galamsey Florian Klebs 289 292 10. Ashanti Goldfields – Ghanas ältester Vorzeigebetrieb 10.1 Obuasi, das Pulverfass 10.2 Flüssiges Gold – vom Stollen in die Goldschmelze 10.3 Harte und weiche Hunde 10.4 Die Verzweifelten von Sansu 10.5 Tod aus dem Abflussrohr 294 294 294 296 298 300 11. Recherche in Afrika 11.1 „Dann haben wir ja noch Zeit“ 11.2 „Es gibt ihm ein unangenehmes Gefühl“ 11.3 „Ich habe Angst vor dir“ 302 302 303 304 12. Geschichten am Rande 12.1 Zum Studium nach Deutschland 12.2 Der erstaunliche Mr. Blayh 304 304 307 13. Thank you!!! 308 265 Florian Klebs Ghana 1. Zur Person Florian Klebs ist vor seinem Stipendium der Heinz-Kühn-Stiftung noch nie in Afrika gewesen. Der 1967 Geborene studiert Geologie in Heidelberg, Tübingen und Flagstaff/Arizona. Seine ersten Radioreportagen entstehen während der Diplomarbeit in Brasilien. Nach dem Diplom volontiert er beim Mindener Tageblatt, verlässt nach zwei Tagen den Pressestab der Expo 2000, arbeitet als Chefredakteur für das Hochschulmagazins Unicum und wird anschließend Pressechef der Alexander von Humboldt-Stiftung. Als freier Autor veröffentlicht er bei der ZEIT, der Süddeutschen, dem Tagesspiegel, Unispiegel und anderen. Zurzeit arbeitet Florian Klebs als Pressesprecher für die Universität Hohenheim und lebt als freier Autor in Tübingen. 2. Einleitung Ghanas Gold ist ein vielschichtiges Thema. „Goldküste“ taufen die Portugiesen den schmalen Landstrich, an dem 1471 ihre Schiffe anlegen. Die Wirtschaftsgeschichte des Edelmetalls in Ghana ist allerdings wesentlich älter. Bereits im 7. Jahrhundert exportiert das Volk der Ashanti den Rohstoff von Afrikas Westküste bis in den Norden des Kontinentes. Weltweit einmalig sind das handwerkliche Geschick und die reiche Bildersprache im traditionell-afrikanischen Goldschmuck der Ashanti. Ihre Schmiede verwenden die Technik der „verlorenen Form“: Der Künstler formt den Schmuck aus Wachs und ummantelt ihn mit Mist und Lehm. Das Wachs lässt er im Ofen ausbrennen und gießt den Hohlraum mit flüssigem Metall aus. Europäischen Arbeiten überlegen sind die feinen Strukturen, zu denen sich Wachs nur in tropischer Hitze verarbeiten lässt. Kulturgeschichtlich hat das Metall einen hohen Wert. Das wichtigste Symbol des Volkes ist der „goldene Schemel“: ein reich verzierter Zeremonial-Stuhl. Direkt vom Himmel soll ihn der oberste Gott, Nyame, dem 4. König der Ashanti übergeben haben. Ende des 19ten Jahrhunderts führen die Kolonialmächte den industriellen Bergbau ein. Kurz nach der Unabhängigkeit werden die Minen verstaatlicht, in den 90er Jahren wird der Bergbau wieder liberalisiert. Heute sind Ghanas Minengesellschaften multinationale Unternehmen. In den 90er Jahren des 20.Jahrhunderts vervierfacht sich der Goldbergbau. Nach Südafrika ist Ghana der größte Goldproduzent des Kontinents. Gold stellt ein Drittel aller Exportgüter. 266 Ghana Florian Klebs Zwei Zentren haben sich bei der Goldproduktion etabliert: die Bergbaustädtchen Tarkwa und Obuasi. Letzteres besitzt Ghanas einziges Tiefenbauwerk. Das meiste Erz wird kostengünstig im Tagebau gefördert, aufgeschüttet und mit toxischen Blausäure-Salzen durchspült. So werden selbst winzige Goldmengen ausgewaschen. Neben Landnutzungskonflikten mit örtlichen Kleinbauern werden mehrere Chemieunfälle bekannt, die ganze Flüsse verseuchen. Anwohner beklagen sich über vergiftete Felder, zerstörte Dörfer und Menschenrechtsverletzungen durch die Minengesellschaft. 3. Basislager Accra Ankommen, Unterkunft, Praktikumsplatz – alles, was man von Deutschland aus organisieren will, ist schwierig. Besser ist es, man hat einen Freund, der bei diesen und anderen Problemen hilft. Am besten, man hat einen Freund wie Mike Anane: preisgekrönter Umwelt-Journalist, Sohn des Königs von Ejisu und meist übermüdet, weil er einen Vortrag in Simbabwe oder einen Workshop in Äthiopien vorbereitet. Ich lerne Mike Anane bei meiner Vorrecherche kennen, weil er die Probleme der Goldexploration seit Jahren bearbeitet. Hilfe und Unterstützung erhalte ich auch durch die Friedrich-Ebert-Stiftung. Und während meines Zeitungspraktikums lerne ich weitere Kollegen kennen, die immer wieder weiterhelfen. Tatsächlich aber ist es Mike Anane, der bei mir die Rolle eines Mentors übernimmt. Für alle, die nicht das Glück haben, Anane zu kennen, hier ein paar Erfahrungen: Presscard. So heißt in Ghana die Presse-Akkreditierung. Und die wird vor allem von staatlicher Seite überprüft. Den ghanaischen Presseausweis unbedingt schon von zu Hause aus beantragen. Ich versuche es von Ghana aus, was mich mehrere Tage auf dem Amt und fünf Wochen Wartezeit kostet. Ohne die exzellenten Kontakte von Edward Briku Boadu von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ghana hätte ich das Papier wahrscheinlich heute noch nicht. Beim Verfahren hilft das deutsche Auswärtige Amt unter: www. auswaertiges-amt.de/www/de/laenderinfos/adressen/index_html Dress-Code. Selbst die kleinste Hütte besitzt ein vielbenutztes Bügeleisen. Vor allem bei Recherchen in der Hauptstadt, bei Firmen oder Behörden ist Dress-Code eine ernste Sache. Waschen und Bügeln bietet jedes Hotel. Für den Alltag reichen Anzugshemd, Hose (Bügelfalten!) und Halbschuhe. Mit Jackett war ich meist overdressed. Über die Krawatte war ich öfter 267 Florian Klebs Ghana froh. Meine Erfahrungen mit Schneidern in Ghana wären einen eigenen Erlebnisbericht wert. Visitenkarte. Englisch: Complimentary cards. Sie können helfen, dem eigenen Besuch etwas Autorität zu verleihen. Noch wichtiger: Man hat etwas bei der Hand, wenn man um die Adresse in Deutschland gebeten wird – und das passiert häufig, zum Teil von völlig unbekannten Menschen. Meine Visitenkarte enthielt deshalb Namen, Email und meine Ghanaische HandyNummer. Drucken ließ ich sie in Accra. Stadtpläne und Karten. Sind schwierig zu bekommen. Die einzige mir bekannte Landkarte von Ghana wird vertrieben von IMB Publishing/ International Travel Maps in Kanada und hat die ISBN-Nummer 155341223-0 (vgl. Auch www.itmb.com). In Accra hilft das Souvenirgeschäft am Eingang des Arts Centre in der 28th February Road im Stadtteil Victoriaborg. Fotos. Fotografiert werden ist schön. Fotos geschenkt bekommen noch schöner. Für mich als Journalisten, der in das Leben anderer Menschen einbricht, um dann auf immer zu verschwinden, sind Bilder oft die einzige Möglichkeit, mich bei den Menschen zu bedanken, die mir ihre Zeit und Einblicke in ihr Leben schenkten. Neben der Spiegelreflex mit Profifilmen habe ich erstmals eine 20-Euro-Kamera mit Billigfilmen dabei, die ich vor Ort entwickeln lasse. Vorsicht: Auf einem Foto können schnell 20 begeisterte Dorfbewohner sein. Ein Abzug kostet umgerechnet immerhin 20 Cent. Außerdem haben Ghanaer bei Fotos ein gutes Gedächtnis. „Fehlt da nicht der eine Abzug, wo ich so schräg nach hinten schaue?“, ist eine beleidigte Frage, die man gestellt bekommen kann, obwohl man gerade zehn Abzüge verschiedenster Posen verschenkt hat. O-Töne und Technik. Mein MD-Player kennt die Tropen besser als ich: Laut Aufkleber wurde das Gerät in Malaysia produziert. Trotzdem rollen die meisten Verkäufer mit den Augen, wenn man sie fragt, ob ihre Technik tropentauglich ist. Sorgen wie diese scheinen unbegründet: Kameras und Minidisk bewähren sich drei Monate lang als äußerst zuverlässig. Auf dem Land ist es manchen Menschen unangenehm, in ein Mikro zu sprechen, andere tauen auf. Telefonieren. Ghanas Variante der Telefonzelle ist das Communication Centre: Ein Büdchen mit einer Theke voller Telefonapparate. Dahinter sitzt der Betreiber, wählt die gewünschte Nummer, stoppt die Gesprächszeit mit der Stoppuhr und kassiert sekundengenau. Handy ist teuer, aber unentbehrlich, wenn man wirklich etwas erreichen will. Billige StandardKommunikation läuft in Ghana über SMS. Ghanaische SIM-Karten kann man in Accra kaufen. Unterlagen aufheben – sie erleichtern Sperrung und Wiederbeschaffung, wenn das Gerät geklaut wird. Mein Handy wird im 268 Ghana Florian Klebs Gewühl beim Buseinsteigen aus meiner Hosentasche gezerrt. Ansonsten keine Verluste. Email & Büro. Computer in Internetcafés sind schrecklich langsam. Manche Cafés dienen angeblich nur dazu, Emailadressen der Kunden zu sammeln, um ihnen dann 491 Spam zu schicken. Einzige Ausnahme während meines Aufenthaltes: Busy Internet auf der Ring Road Central (östlich des Circles) in Accra. Sehr flott und massentauglich. Hierhin kann man sich auch ein Fax schicken lassen – oder gleich stundenweise ein Büro mit PC, Telefon und Fax mieten. Unterkunft. Hotels sind eine gute Lösung. Im Herbst 2003 kostet eine Nacht in Accra ab fünf Euro. Billighotels beherbergen meist keine Touristen aus Übersee – denn Rucksacktouristen gibt es hier kaum welche, Entwicklungshelfer und Firmenvertreter leisten sich andere Etablissements. Wochenlang lebe ich Tür an Tür mit Studentinnen aus Côte d’Ivoire, die in Ghana englisch lernen. Geld. Wechselstuben erkennt man an türgroßen Aufstelltafeln mit den Tageskursen, Bargeld ist hier kein Problem. Alle Banken und Wechsler akzeptieren Traveller-Schecks in Dollar, Euros sind schwierig. Visa & Co. sind in jeder größeren Stadt (Accra, Tarkwa, Obuasi, Cape Coast, Kumasi) am Bankautomaten problemlos. Essen. Frühstück, Mittag- oder Abendessen: In der Stadt gibt es alle paar 100 Meter einen Straßenstand oder Restaurants. Aus meiner Erfahrung zu empfehlen. Krank geworden bin ich nie. Wer Glück hat, findet eine Frau wie Auntie Bea in Tarkwa, die einen täglich bekocht und das Standardmenü der Restaurants erweitert. Schokolade. Ist lebenswichtig. Auch für die vielen Kakao-Bauern, die Ghana für lange Zeit zur Nr. Eins der kakaoproduzierenden Länder machten. Jede dritte Tafel in Deutschland enthält Kakao aus Ghana. Vor Ort besteht jede Tafel zu 100 Prozent aus Kakao aus Ghana, wenn man die Lokalmarke Kingsbite von Golden Tree wählt. 4. Schwarz und weiß 4.1 „Ein weißer Mann kann das nicht“ „Auf unserer Reise waren wir gezwungen, oft hüfttiefe Flüsse zu überqueren“, schreibt Bernhard Grzimek, Tierarzt, Zoodirektor und Filmemacher in einem Buch über seine erste Afrikareise. Ein Foto zeigt seinen Sohn Michael im blütenweißen Tropenanzug – auf den Schultern eines schwarzen Angestellten, der bis zu den Hüften im Gewässer steht. 269 Florian Klebs Ghana Dieses Bild aus den 60er Jahren ist mir schon lange vor meinem Aufenthalt in die Hände gefallen. Vergessen habe ich es nie. Die Afrikaner offensichtlich auch nicht. Entsprechend gering werden unsere Fähigkeiten vor Ort eingeschätzt. „Ein weißer Mann kann das nicht“, ist eine Antwort, die ich öfters zu hören bekomme. Variationen wie: „Kann ich bis zu diesem Dorf laufen?“ – „Ja, man kann laufen, aber für einen weißen Mann ist es zu weit.“ oder: „Kann ich euch beim Goldschürfen begleiten?“ – „Nein, ein weißer Mann hält das nicht durch“, ergänzen die Liste. Andererseits haben weiße Besucher in Ghana ständig neuen, beeindruckenden und unerklärlichen Schnickschnack dabei. „Das ist der Grund, warum wir euch Weiße fürchten“, meint Menschenrechts-Aktivist Kwesi Aduakwah, als ich ihm den winzigen Minidisc-Player zeige und kurz darauf die eigene Stimme vorspiele. Auf dem Land werden weiße Menschen, gewollt oder nicht, oft als Autoritätspersonen behandelt. Was sicher ein Erfahrungswert ist. Weiße haben Geld. Weiße sind Minenarbeiter. Weiße bringen Ärger. „I am sick of white men coming in our village“, übersetzt mir Aduakwah das Zwiegespräch zweier Bauern, die wir auf einer Recherche passieren. Mit der Zeit wird meine Welt schwarz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Menschen eine andere Hautfarbe haben. Bisweilen vergesse ich, dass ich aus jeder Menschenmenge herausleuchte und beschreibe Erkennungszeichen, wenn ich mich mit Fremden am Telefon verabrede. Zurück in Deutschland beginnt der umgekehrte Prozess. Menschen sind weiß. In meiner Erinnerung werden ghanaische Freunde immer weißer. 4.2 „Einmal zu Abédi Pelé, bitte“ Wochenlang sehe ich selbst keinen einzigen Weißen. Das ändert sich schlagartig, als ich für fünf Tage bei Freunden in Accras Diplomatenviertel Cantonments wohne. Die Mehrzahl der Bewohner scheint weiß – von Fahrern und Nachtwächtern abgesehen. Kein Taxi findet hier eine Adresse – zu selten, dass jemand mit öffentlichen Verkehrsmitteln in diese Ecke fährt. Umgekehrt komme ich kaum von dort weg. Taxen meiden das Viertel, wo jeder Bewohner ein Auto hat. Wenn man eines findet, verlangt der Fahrer ein Vielfaches des Normalpreises. Mein Problem löst sich erst, als ich merke, dass unmitellbar neben meinen Gastgebern auch die Villa eines prominenten Fußballers liegt. „Zu Abédi Pelés Haus“, sage ich seither zu Taxifahrern, die mich dann sicher zur Heimatadresse des ghanaischen Kickers von 1860 München chauffieren. Die 20 Meter von dort zu meinen Gastgebern muss ich halt zu Fuß gehen. 270 Ghana Florian Klebs 4.3 „Sie wird dich töten! Sie macht einen Juju mit dir“ „Vielleicht wird es Sie wundern – doch in Ghana gibt es keinen Rassismus“, schreibt Jojo Cobbinah im bekanntesten Reiseführer zu dem Land. Rassismus vielleicht nicht. Aber ganz grün sind sich die Völkergruppen auch nicht. „Unser Volk wurde immer von Ashanti überfallen. Weil sie zu viele Könige haben. Die durften nicht arbeiten, da haben sie halt ihre Nachbarn bekriegt“, erklärt mir George Komsoon, Journalist aus Cape Coast und Angehöriger der Volksgruppe Fanti. Bei den Ashantis gilt diese Volksgruppe als die Epikureer Ghanas. „Nimm ja keine Fanti zur Frau. Sie wird nur Kuchen wollen und dein Geld verschleudern“, zitiert Mike Annane, Angehöriger der Ashanti die Weisheit seines Volkes. Harmlose Sticheleien im Vergleich zu dem Misstrauen gegenüber den Ewe, einer Volksgruppe aus dem Osten. Ewe sprechen eine komplett andere Sprache, man versteht sie nicht und traut ihnen jede Schlechtigkeit zu. „Ich wette, deine Mutter würde dir jede Fanti-Ehe verzeihen, bevor du auf die Idee kommst, eine Ewe zu heiraten“, meine ich zu Mike. „Du lernst schnell“, ist seine Antwort. „’Sie wird dich im Schlaf töten! Sie wird dich mit Juju verhexen’ – das ist es, was eine Ashanti-Mutter zu ihrem Sohn sagen würde.“ 5. Zeitung in Ghana 5.1 FAZ und Fritten Wer schon immer das Bedürfnis hatte, das ein oder andere deutsche Presseerzeugnis rektal zu applizieren – in Ghana bekommt er Gelegenheit dazu. Handlich zerschnitten liegt das FAZ-Feuilleton auf öffentlichen Toiletten. Als Teller-Ersatz schimmert der Leitartikel der Süddeutschen durch scharf gewürzte Schnitzel von fettig frittierten Kochbananen am Straßenstand. Wer wissen will, was Deutschland vergangenen Sommer bewegte, sollte die Altpapierhändler am Kaneshi-Markt besuchen. Hier decken sich die Marktfrauen mit Einwickelpapier ein. Woher die Zeitungen kommen? Ausgewanderte Ghanaer aus ganz Europa würden den Nachschub sichern, erklärt mir Händler Kwabena Achana. Der Handel ist durchaus lukrativ. 200 Cedis kostet eine Toilettenbenutzung, bezahlt wird dabei das Papier von ein bis zwei Zeitungsseiten. Auf diese Weise ist die alte Secondhand-FAZ schnell teurer, als der druckfrische Daily Graphic. Der ist für 2.000 Cedis zu haben. Und um einiges aktueller. 271 Florian Klebs Ghana 5.2 Grünes Licht für Pressefreiheit Was Medien betrifft, hat sich viel getan, seit meine Vorgänger mit einem Kühn-Stipendium anreisten, um über die Pressefreiheit in Ghana zu recherchieren. Was Menschenrechte betrifft, sei die erste demokratische Regierung von John Kufuor nach der vorherigen Militärdiktatur vorbildlich, sagen auch die Kritiker von Kufuors Wirtschaftspolitik. Eine Seite täglich widmet der Daily Graphic, Ghanas größte Zeitung, dem Bericht eines Opfers aus Zeiten der Militärdiktatur vor der Menschenrech tskommission. Ansonsten weiß die Regierungszeitung leider traurig wenig aus ihrer Marktposition zu machen. Selbst spannende Schlagzeilen entpuppen sich oft als Zitat eines Beamten, der in Vertretung eines Vizeministers ein Grußwort auf einer Veranstaltung verlas. Vielversprechender sind die vielen kleinen Zeitungen – etwa der Statesman oder der Chronicle. Was beim Kollegengespräch auffällt: Viele berichten von Weiterbildungen und Stipendien in USA oder England. Leider zu spät lerne ich, dass es in Accra mehrere Journalistenschulen gibt. Hier könnte es sich für künftige Stipendiaten lohnen, ein wenig Werbung für die HeinzKühn-Stiftung zu machen. Als Medienzentrum besitzt Accra jetzt das International Press Centre. Herausragendes Ereignis während meines Aufenthaltes ist die Wahl der neuen Vorsitzenden der Journalistenvereinigung von Ghana. Für einige Medienvertreter soll die Wahl zum Fiasko werden. Einer der Kandidaten wird schmählich disqualifiziert, als bekannt wird, dass er trotz Anstellung als Chefredakteur seit Jahren seine Beiträge nicht zahlte. Ein anderer zahlte sie erst kurz vor der Nominierung. In den Medien wird das Ereignis breit dargestellt. „Ghanas Journalisten haben viel zur Rückkehr der Demokratie beigetragen, deswegen ist die Öffentlichkeit an allen Vorgängen innerhalb der Medien sehr interessiert“, meint ein Teil meiner Kollegen. „Unnötige Nabelschau“, urteilt ein anderer. 5.3 Mein Blatt: die Public Agenda Für mein Praktikum habe ich mir ein kleines Wochenblatt ausgesucht: Die „Public Agenda“. Am Anfang ist es schwer für die Redaktion, den neuen Mitarbeiter einzuschätzen. Viele Redaktions-Praktikanten aus Übersee sind britische Highschool-Abgänger ohne Vorbildung. Mit wechselnder Besetzung teilen wir uns die acht Computer und ein Telefon. Wertvollstes Instrument ist immer noch der Kopf. Wer berichten will, braucht Connections. Es gibt keine Nachschlagewerke, Adressenver272 Ghana Florian Klebs zeichnisse, Organigramme. Für viele Themen brauche ich erst mal die Hilfe der Kollegen, um richtige Ansprechpartner zu identifizieren. Viele schauen nur sporadisch in die Redaktion, statt Konferenzen laufen Themenabsprachen informeller ab. Von Sonderseiten über den WTO-Gipfel in Cancun bis zur ausführlichen Berichterstattung über Goldbergbau – wer will, kann hier viel machen. Man muss sich allerdings aufdrängen. 5.4 Gold in den Medien Gold ist täglich in den Medien, zumindest während meines Aufenthaltes. Mit ganzseitigen Anzeigen liefern sich zwei ausländische Konzerne eine Werbeschlacht. Denn Ashanti Goldfields Company (AGC), Ghanas ältester und erfolgreichster Konzern, ist auf Brautschau. In 1.500 Meter Tiefe lassen Probebohrungen immense Goldreserven vermuten. Doch um die zu heben, braucht AGC das technische Knowhow aus Südafrika – und möchte fusionieren. Liebling der Presse ist Samuel Jonah, AGCs Chief Executiv: Jonah ist – seit 1986 – der erster schwarze Leiter eines Bergbaukonzerns in Afrika und Ehrendoktor der University of Cape Coast. Noch während meines Aufenthaltes erhält der Manager für seine Wirtschaftsverdienste den Ritterschlag durch Queen Elizabeth in London. Die Position von Jonah ist stark. So stark, dass der Graphic bereitwillig seinen Aufruf druckt, die Presse solle über Menschenrechtsverletzungen durch Minenpersonal nicht schreiben. Denn dies gefährde Ghanas Ansehen, die Fusion der Goldkonzerne und damit auch die nationale Wirtschaft. Nur einmal begeht Jonah einen PR-Fehler. Nach einem Vortrag im Rotary Club von Accra zitiert ihn ein zufällig anwesender Journalist mit dem Ausspruch, er fände Arbeitsplätze und Wohlstand wichtiger als Schmetterlinge. Die Bemerkung zielt auf den Okyhene, Paramount-König und damit höchste traditionelle Instanz im Gebiet seiner Volksgruppe. Bislang hatte der Okyhene jeden Goldbergbau in seinem Königreich abgelehnt. Die lokale Bevölkerung habe nichts davon und das Erz liege in einem Waldschutzgebiet, das wegen seiner hohen Biodiversität geschützt sei. Hat Jonah den Okyhene beleidigt? Das Thema hält sich einige Tage. Die Landwirte rund um die Goldminen haben es schwerer, in die Zeitung zu kommen. Schuld daran ist auch die Distanz: In Ghana ist es üblich, dass Journalisten nach einer Pressekonferenz vom Veranstalter für ihre Zeit und die Anfahrt bezahlt werden. Für Interviews mit Kleinbauern, die 300 Kilometer entfernt leben, fehlen da Zeit und Ressourcen. 273 Florian Klebs Ghana Vor allem Bildmaterial ist Mangelware. Zurück in Deutschland erhalte ich mehrmals eine Mail oder einen Anruf von Journalisten. Sie hätten von meiner Recherche gehört. Ob ich ihnen Bilder schicken könnte. 6. Ghanas Goldschmuck 6.1 Feiner als Frauenhaar, dünner als Seidenpapier Über die Kunstfertigkeit ghanaischer Goldschmiede erzählt man sich wahre Wunder. Feiner gesponnen als Frauenhaar: Aus Bienenwachs formen die Künstler filigrane Schmuckstücke, die Form wird mit Lehm ummantelt, im Feuer ausgebrannt und mit flüssigem Gold ausgefüllt. Dünner geschlagen als Seidenpapier: Mit feiner Goldfolie veredeln sie Schnitzerein auf den Sonnenschirmen der Adligen, den Repräsentationsstäben der königlichen Linguisten oder den Griffen von Zeremonialschwertern. Bei meiner Recherche hoffe ich, in Ghanas alter Königsstadt Kumasi fündig zu werden. Denn traditionell ist Goldschmuck eines der wichtigen Statussymbole ghanaischer Monarchen. Aus vielen Quellen höre ich von sagenhaftem Reichtum. Bilder zeigen den Ashantihene, oberster König der Ashanti, beladen mit so viel goldenen Armreifen, dass er die Hände auf die Köpfe zweier Knaben stützen muss. Ein Wandkalender zeigt den Monarchen in vollem Ornat, wie er die Queen in London besucht. Später erklärt mir ein Goldschmied einen Teil der goldenen Ornamentik. „Ich greife dich nicht an, wenn du auch den Frieden wahrst“, sei die Bedeutung der goldenen Symbole im Kopfputz des Ashantihenes. Selbstbewusster kann man die Queen nicht besuchen. Fakt oder Fiktion? Professor Ayensu, Kosmopolit, international angesehener Mediziner und Verfasser eines Buches über Ashanti Gold, erzählt mir, dass die Ashanti ihren toten König mit Goldstaub bepudern. Später würden die Körpergelenke durch Golddraht ersetzt, damit die Gebeine in ihrer natürlichen Position bleiben. Gleichzeitig erzählt mir der renommierte Arzt von einem us-amerikanischen Kollegen, der „das nutzloseste Buch der Welt“ über Heilkräuter Afrikas schrieb. Nicht eine Information sei zutreffend, denn während seiner Recherche sei der Fremde in Ghana von allen Spezialisten nur angelogen worden. „Warum soll ich ihm alles verraten, wenn er dann damit reich wird“, hätten die Quellen Ayensu gegenüber gestanden. In Ordnung! Botschaft verstanden! 274 Ghana Florian Klebs 6.2 Der Goldschmied des Königs Der Goldschmied des Königs – das sind eigentlich zwei Personen. Der eine trägt den Titel des Burasemene – was heißt, das er selbst den Rang eines Königs besitzt. Das Amt des Schmiedes vererbt sich mit seinem Stuhl. Als der Ashantihene nach England reist, soll er ihm ein Goldkreuz für den Bischof von Canterbury geschmiedet haben. Tatsächlich stehen ein großer Lehmofen für Gussformen und ein kleiner zum Metallschmelzen im Hof des Palastes. Für eine Werkstadt aber sieht es sehr sauber aus. Der Burasemene arbeitet wohl nicht allzu oft. Zurzeit ist er auf Reisen. Nach vielen Telefonatsversuchen und einer geglückten Verbindung treffe ich ihn später auf einem Parkplatz in Accra. Wie viele Monarchen unterhält der Burasemene einen Zweitpalast in der Hauptstadt. Wir schmieden zusammen, vor allem große Pläne. Um das Ende vorweg zu nehmen: Viel ist nicht daraus geworden. Ich glaube, dass alles möglich gewesen wäre, wenn ich entsprechend Zeit und Energie investiert hätte. Drei Monate sind eine lange Zeit. Doch manchmal nicht lang genug. Geschäftiger geht es im Haus der Goldschmiede-Familie Agiare zu. Die rußige Bretterbude liegt dem Palast des Burasemenes gegenüber. Dem Hörensagen nach hassen sie sich von Herzen. Zumindest über Aufträge scheint sich Familie Agiare nicht beklagen zu können. Die Öfen rauchen, die Öllampen qualmen, über offener Flamme lötet einer der Brüder mit dem Mundrohr. Auch in der Fachwelt hat die Familie Agiare einen Ruf. Den talentiertesten der Brüder hatte die Pforzheimer Designprofessorin Johanna Dahm als Dozent für einen Sommer-Workshop eingeladen. Seither ist der AusnahmeGoldschmied in England abgetaucht. Und seither kennt Familie Agiare ihren Wert. Zusammen feilschen wir einen Vormittag. Sie würden mir gerne etwas erzählen, auch eine Demonstration geben. Ich bin gerne bereit, den Verdienstausfall zu übernehmen. Doch unsere Vorstellungen unterscheiden sich um Zehnerpotenzen. Ob ich denn wüsste, was ihnen ein US-Filmteam gezahlt hätte? Ich überschlage die Kosten, die entstehen könnten, wenn alle Quellen, die mir seit Tagen in Kumasi helfen, von diesem Deal Wind bekommen – und sehe selbst das großzügige Budget der Kühn-Stiftung gesprengt. Was darf man mit dem ökonomischen Hintergrund eines Europäers umsonst in einem gebeutelten Kontinent verlangen? Welche Sonderregelungen kann man als Journalist beanspruchen? Die Recherche bei den königlichen Goldschmieden verläuft im Sande. Das Dilemma bleibt. 275 Florian Klebs Ghana 6.3 Design als Geheimsprache – Ghanas Adinkras Trotzdem bleibt die Zeit in Kumasi spannend. Zum Wohnen hat mich Professor Kwabena Sarpong eingeladen. Sarpong lehrt Goldschmieden und Design an der Universität von Kumasi. Er selbst hat in Zürich und Japan studiert. Tagsüber ist Sarpong am Improvisieren. Vom Strom, der irgendwann einmal sein neues Haus erleuchten soll, bis zur Jagd nach einem flüchtigen Schuldner, für den er bei der Polizei bürgte. Abends sitzen wir auf den Mauerresten eines Anbaus, für den schon dem Vorbesitzer das Geld ausging. Sarpong plant, dazwischen eine Baumschule anzulegen. Was nur eines von sehr vielen Projekten ist. In langen Gesprächen weiht mich Sarpong in seine Sicht über afrikanisches Design ein. Dass Muster und Darstellungen lebhaft seien, weil sie absichtlich Unregelmäßigkeiten enthielten. Dass Ghanas Künstler davon abkommen müssten, die maschinenartige Gleichförmigkeit europäischer Goldschmiede zu kopieren. Dass Nigerias Künstler in diesem Prozess schon weiter seien. Es sind Gespräche, die vom Hundertstel ins Tausendstel kommen. Sie gleiten ab in die Frage, warum afrikanischer Honig gekocht wird, wie man in Ghana reich werden könnte, ob ich einen Verleger für seine Gedichte kenne und über die Macht des Juju, von der Sarpong selbst erlebte, wie sie mehreren Menschen das Leben nahm. Sarpong grübelt über seine Vorfahren und Europas Einfall in Afrika: „Ich frage mich, warum sie Juju nicht bei euch Weißen angewendet haben. Aber vielleicht wirkt es bei euch nicht“, sinniert der Designer. Und Sarpong führt mich – ein kleines bisschen – in die Bedeutung der Adinkras ein. Adinkras, das sind symbolische Ornamente. Und wer einmal einen Blick dafür bekommt, sieht die Zeichen plötzlich überall: auf Plastikstühlen, Fertigbausteinen für Gartenmauern, Aschenbechern und – natürlich – Schmuckstücken. An den Symbolen gibt es einen reichen Fundus. Traditionell werden sie vor allem auf Kleidung gedruckt. Stoffe mit dem Adinkra der Himmelsleiter werden zum Beispiel meist auf Beerdigungen getragen. „Gye Nyame“ ist das häufigste. „Nichts als Gott“ oder „ich fürchte nichts als Gott“ bedeutet das bisymmetrische Design. Aussage hat auch die Art, wie das traditionelle Tuch um den Körper geschlungen wird. Stolz und Bescheidenheit, Macht, Unterwerfung oder Drohung lassen sich so ausdrücken und meist mit wenigen Griffen in eine neue Aussage arrangieren. 276 Ghana Florian Klebs Sarpong ist stolz auf die Adinkras. „Wir waren dabei, eine Schrift zu entwickeln“, ist er sich sicher. 6.4 Ich war ein Wasserhahn – die Messinggießer von Kumasi Versierte Schmiede, die auch Adinkras produzieren, treffe ich auf einem Eckchen Wiese auf der Straßenseite gegenüber Sarpongs Haus. Es sind zwei Brüder. Statt Gold arbeiten sie kostengünstig mit Messing. Ihre Technik entstammt der berühmten Tradition der Ashantis. Mit Anleihen: Als Blasebalg verwenden sie die ausgebaute Klimaanlage eines Autos. Schmelztiegel für das Messing sind die Motortöpfe ausgeschlachteter Kühlschränke. Vom Schrottplatz kommt das Metall für ihre Kunst: alte Wasserhähne, Zahnräder, Manometer, Türklinken... Zusammen verbringen wir mehrere Nachmittage, heizen das Lehmcarree voller Formen auf, betrachten die grüne Flamme, gefärbt durch das Zink aus der Messinglegierung. Flüssig zischt das Metall in Formen aus Lehm. Wir schwitzen in der Tropenhitze. Als ich weiterreise, habe ich ein Säckchen Messingschmuck dabei. Mein Messingschmied hat genug verdient, um seinen zwei Kindern die nächste Rate Schulgeld zu zahlen. Außerdem hat er sich im Internet-Café eine Email-Adresse eingerichtet. Er möchte mit mir Kontakt halten. Vielleicht tun sich in Europa ja neue Absatzmärkte auf. 7. Die Könige und ich 7.1 Mein König von Accra Gestehen wir es lieber gleich zu Anfang: Nana Boakye-Yadom I. ist eher ein kleiner König. Tatsächlich beschränkt sich sein Reich auf einen Stadtteil der Hauptstadt. Hinzu kommen einige verstreute Ländereien. Wir lernen uns kennen zwischen Autowracks und ölverschmierten Mechanikern: das gemeinsame Schicksal einer Wagenpanne hat uns auf einem Werkstattgelände vor Cape Coast zusammenführt. Zufall, dass wir mehr als die üblichen Begrüßungsfloskeln wechseln. Zufall, dass wir entdecken, fast gleichzeitig einmal im ostwestfälischen Minden gearbeitet zu haben. Und Zufall auch, dass ich unter den weiten Ärmeln ein Armband um sein Handgelenk entdecke: Das Statussymbol seiner Königswürde. Ausgerechnet Minden: Die Kleinstadt, in der ich volontierte. Nana hat dort drei Monate gearbeitet, als Hilfsbäcker in einer Brotfabrik. Eigentlich 277 Florian Klebs Ghana war er nach Deutschland gekommen, um Untertanen in der Diaspora zu besuchen. Doch dann ging ihm das Geld aus - und zu Hause wurde erwartet, dass er Geschenke mitbringt. Also stellte sich der König in Minden ins Labor, mischte Mehl mit Muskatnuss und Backtriebmittel, verbrachte den Sonntag allein am McDonalds-Tischchen vor dem Marktplatz, blickte auf die Turmspitze des einzig romanischen Doms Norddeutschlands und fühlte sich einsam. Eine Erfahrung, die mir nicht unbekannt war. Ob König aus Afrika oder Volontär aus Süddeutschland – dem Ostwestfalen in Minden ist das egal. „Minden ist kaputt-Stadt. People are scheiße there“ – ich würde es nicht ganz so drastisch formulieren, wie Nana. Aber die gemeinsame Erfahrung teilen, wie einsam man in einer Kleinstadt sein kann – das schweißt zusammen. In den nächsten drei Monaten wird Nana eine feste Größe in meinem Leben. Mit der Zeit ritualisieren sich unsere Begegnungen. Wann immer ich in Accra bin, speise ich meine Ankunft in alle Kanäle der Kommunikation. Selbstverständlich hat Nana ein Handy und ebenso selbstverständlich hat er keine Einheiten drauf. Zudem harmoniert sein Ghana Telecom-Gerät nicht mit meiner Ghana-Spacefon-Karte: Die afrikanisch-kostengünstige Standardkommunikation über SMS bleibt uns verwehrt, Telefonate sind nur manchmal möglich. Alternativ bleibt das Communication Center, die afrikanische Variante der Telefonzelle. Nana verbringt viel Zeit in solchen Einrichtungen, ich telefoniere ihm, seinem Neffen oder seinem Assistenten hinterher. Er hinterlässt Zettel an meiner Hotelrezeption, wir verpassen uns ein paar Tage, aber irgendwann sitzen wir doch beim Bier zusammen. Selbstverständlich, dass ich bei solchen Gelegenheiten bezahle: Einen König bittet man nicht, die Rechnung zu begleichen. Nana genießt es, sich mit kleinen Beweisen seiner Macht zu revanchieren. Als ich weit nach Ladenschluss erwähne, wie sehr ich zum Bier ein Stück Schokolade genießen würde, winkt er heimlich einen Jungen heran und fünf Minuten später liegt die Tafel auf dem Tisch. Wie in aller Welt er das geschafft habe, leite ich brav einen Wortwechsel ein, der auch Ritualcharakter hat. „Rate“, meint Nana. „Vielleicht, weil du König bist?“, frage ich, als käme ich jetzt erst auf den Gedanken. „That’s right, man!“, trompetet Nana. Wir schlagen die Hände ineinander, umgreifen die Finger, dann den Daumen und zurück. Wir trennen die Finger, indem wir den Mittelfinger gegen den Daumen des Freundes schnalzen. Dann lachen wir albern und freuen uns. Nana, weil er es mir wieder mal gezeigt hat. Ich, weil ich mein Leben lang stolz sein werde, auf diese Nachmittage mit Nana. Manchmal erscheinen seine Stories zu fantastisch: Dass er müde sei, denn gestern sei er im Sessel eingenickt, statt im Bett zu schlafen. Seine Frau habe 278 Ghana Florian Klebs ihn sitzen lassen, anstatt ihm mehr Komfort zu geben, denn der Schlaf eines Königs sei heilig, so dass sie ihn nicht wecken dürfe. Auch sein Auftreten ist gewöhnungsbedürftig. Bei unserem ersten Treffen trägt er traditionelle Batik-Kleidung, beim zweiten Netzhemd und Shorts. Im Zivilberuf sei er Geodät und habe in den Niederlanden studiert. Von dort zeigt er mir Bilder, wie er im Nebenjob im Radio moderiert. Tatsächlich kann ich mir Nana am ehesten als Viva-Moderator vorstellen: Cool, schlagfertig und ansteckend fröhlich. Wann immer meine Fragen in die Tiefe gehen, scheint es Zeit, sich wieder zu trennen. Denn Nana hat nie viel Zeit, er muss sein Land entwickeln, sucht Investoren für seine Diamantvorkommen, hat Pflichten seinen Untertanen gegenüber oder muss in die Burg: Ghanas Regierungssitz, in dem auch die Monarchen mit einem Gremium vertreten sind. Erst später setzen sich viele Puzzle-Teile zusammen und bestätigen Nanas Geschichten. Einmal treffe ich ihn nach einem offiziellen Termin: Den Körper gehüllt in Kente-Stoff, einem unerhört teuren Textil aus schmalen, handgewobenen Streifen. Die Finger zieren Ringe mit Aufsätzen, so groß wie Golfbälle. Gut, sie sind nicht aus massivem Gold. Ein silbriges Metall scheint unter den abgewetzten Stellen hervor. Das wahrhaft Königliche an Nana ist ganz bestimmt sein Selbstverständnis. Einmal bleiben wir auf der Landstraße liegen. Als kurz darauf sein Wagen wie durch ein Wunder wieder anspringt, stellt er eine Frage, die ich diesmal nicht so leicht beantworten kann. „Weißt du, warum das Auto wieder angesprungen ist?“ – „Keine Ahnung“ – „Because otherwise Nana would have been stuck in the middle of nowhere.“ 7.2 Doppelt verwaltet – der Staat und das Königssystem Viele weitere Könige werden mir auf den späteren Recherchen begegnen. Tatsächlich ist Ghana das Land der Könige. In jedem Dorf gibt es einen König. Diese unterstehen einem Distrikt-König. Darüber steht noch der ParamountKönig, die höchste traditionelle Instanz einer Bevölkerungsgruppe. Nur die Ashantis kennen eine weitere Hierarchiestufe, in dem sie über die Paramount-Könige den Ashantihene stellen: einen einzigen König, der über allen anderen steht. „Nana“, so lautet der Titel jedes Königs. Den zu erlangen ist ein komplizierter Vorgang: Die meisten Bevölkerungsgruppen Ghanas regeln die Erbfolge matrilinear. Das heißt, nicht der Sohn eines Königs hat Anrecht auf den Thron, sondern der Sohn seiner Schwester. Die Entscheidung trifft der Onkel des Königs zusammen mit der Queenmother. Auch dieser Begriff ist 279 Florian Klebs Ghana für Europäer irreführend: Queenmother ist nicht die Königinmutter, sondern eine Frau, die sich vorrangig um die Interessen der weiblichen Bevölkerung kümmert. Dies kann zum Beispiel die Schwester des Königs sein. Hinzu kommen die Familien der Königsmacher, die der Wahl eines Königs zustimmen müssen. Auch für Ghanaer scheint dieses System komplex zu sein: Einmal pro Woche hat jede Zeitung einen Bericht aus einer Region, wo sich zwei Königsneffen um die Erbfolge streiten. Im Ernstfall liefern sich Anhänger verfehdeter Königskonkurrenten auch Straßenschlachten. Ghanas Recht, so Ghanas bekanntester Reiseführer von Jojo Cobbinah, sei eine Mischung aus traditionellem und angelsächsischem Recht. Tatsächlich scheint sich das Land in nahezu jedem Bereich eine doppelte Verwaltung zu leisten, bei der staatliche Instanzen und Monarchen parallel, mit und gegeneinander ähnliche Aufgaben wahrnehmen. Könige haben das Recht, Land zu verpachten und Steuern einzutreiben. Von jährlich zwei Flaschen Schnaps bis zu einem Drittel der Ernte reichen Steuersätze und Pacht, die mir in den Dörfern genannt werden. Im Dorf Atwereboana erlebe ich, wie König Nana Kojo Bogya II. die Dorfbevölkerung zur wöchentlichen Gemeinschaftsarbeit aufruft. In New Atuabo zeigt Joseph Duncan mir ein Video, wie ihm durch den District König der Prozess gemacht wurde. Wegen angeblicher Königsbeleidigung war Duncan von der offiziellen Polizei verhaftet worden, der staatliche Richter übergab den Fall dem traditionellen Gericht. Als Kläger und Richter hieß ihn der Monarch, ein Schaf als Opfer anzubieten. Vier Stunden stand Duncan in der Sonne, das Tier über den Schultern. Derweil kniete seine Familie zu Füßen des Königs und flehte, das Schaf als Entschuldigung anzunehmen. Der Hintergrund des Konflikts: Als Verhandlungsführer seines Dorfes stritt Duncan über die Höhe der Entschädigung, als die Bevölkerung durch Bergbaugesellschaften umgesiedelt werden sollten. Ein Engagement, so sein Verdacht, dass seinem König ein Dorn im Auge war. Denn auch an dem Geld, das Bergbaufirmen für Abbaurechte bezahlen, sind District- und Paramount-Könige beteiligt. 7.3 Höfisches Protokoll – vom richtigen Umgang mit Königen „Was ist dein Begehr?“ – Bei meiner Recherche rund um die Goldminen Tarkwas bekomme ich die Frage in jedem Dorf gestellt. Das erste Mal falle ich aus allen Wolken. Mir gegenüber sitzt Nana Molobah, Dorfkönig von Abekoase. Wir sitzen auf Holzbänken. Zwischen uns ein Eimer voll frisch 280 Ghana Florian Klebs gezapftem Palmwein. Hinter uns ein Gewirr von schwarzen Kesseln, Rohren und Schläuchen. Hier brennt der König seinen Schnaps. Und mein Begehr? Den hatten wir doch am Vortag besprochen. Wir waren uns in Tarkwa begegnet, hatten uns bekannt gemacht und meine Reportage haarklein besprochen. Molobah versteht meinen fragenden Blick: „Die Tradition verlangt, dass es du es mir noch einmal sagst. Selbst, wenn ich es schon weiß.“ Im Lauf der Zeit lerne ich das Ritual zu schätzen. Die kurze Zusammenfassung, warum man sich eigentlich trifft, hilft uns, das Gespräch zu strukturieren. Und ich merke, dass das Gespräch mit Molobah noch für lange Zeit die informellste Begegnung bleiben sollte. „Ein weißer Mann ist in unser Dorf gekommen. Wir treffen uns auf dem Versammlungsplatz!“ – So übersetzt man mir den Ruf des Gong-GongBeaters, mit dem König Nana Kojo Bogya II. meine Ankunft im Dorf Atwereboana bekannt gibt. Gut zehn Minuten läuft der Ausrufer durch das Dorf, schlägt auf eine Metallglocke und wiederholt die Botschaft. Der Platz ist groß, so groß wie ein Tenniscourt. Der König sitzt an der Längsseite, an seiner Seite die Ältesten. Davor steht sein Linguist, der das Gespräch führt und meine Antworten in Twi, die Landessprache, übersetzt. Erst später erhalte ich die Erlaubnis, mich direkt an den König zu wenden. Auf Englisch, denn Kojo Bogya spricht diese Sprache fließend. Warum er in der Versammlung schweigt? Warum sein Linguist das Gespräch führt? Und warum der alles, was ich sage, in Kojo Bogyas Muttersprache übersetzt? So will es das Protokoll. 7.4 Eine Nacht im Palast Zwei Monate nach meiner ersten Begegnung mit Nana Molobah, Schnapsbrenner und Dorfkönig von Abekoase, soll ich noch einmal Gast in seinem Palast werden. Zu diesem Zeitpunkt bin ich nicht allein: Begleitet werde ich von dem Berliner Fotografen Dejan Patic. Gemeinsam verfolgen wir ein Ausstellungsprojekt über die Opfer des Bergbaus, das uns zwei Wochen lang verschiedene Stationen meiner Recherche noch einmal aufsuchen lässt. Von meiner Bitte, uns Quartier für die Nacht zu geben, ist Molobah anfangs begeistert. Doch als der Tag näher rückt, häufen sich die Ausflüchte. Ob wir es wirklich wollten? Ob wir damit zu Recht kämen, nur Fufu zu essen? Ob weiße Männer es durchhalten, zu zweit auf einem Sack voll Stroh zu schlafen? Die windigste Ausrede präsentiert Molobah am Morgen un- 281 Florian Klebs Ghana serer Anreise: Sein Sohn sei in ein Sanatorium eingewiesen worden. Und leider habe er den Schlüssel zum Schlafraum im Palast mitgenommen. Auch mir kommen Zweifel an der Idee. „Palast“ ist ein dehnbares Wort in Ghana. An sich ist es wenig mehr, als der offizielle Wohnsitz des Königs. Im Fall von Molobah ist es eine Lehmhütte wie die seiner Nachbarn. Einziges Statussymbol ist die qualvolle Enge, die sechs Ungetüme von Postermöbeln verursachen – in Ghana ein Zeichen für jemand, der es geschafft hat. Vielleicht, so meine Vermutung, beschäme ich Molobah, weil ich ihn zwinge, seine Armut offensichtlich zu machen? Gemeinsame Freunde überzeugen den König schließlich, dass der Besuch für meine Reise wichtig sei. Kurz vor der Abfahrt verschwindet Molobah noch einmal auf den Markt. Als wir ins Sammeltaxi steigen, trägt er Päckchen unter dem Arm. Später, als wir im Versammlungsraum plauschen, ist lauter Tumult vor dem Palast. Es sind Molobahs Untertanen, die sich mit Hämmern und Macheten bemühen, die Tür zum Schlafraum aufzubrechen. Das Päckchen in Molobahs Hand war ein neues Türschloss. Denn tatsächlich war Molobahs Sohn kurz vorher in ein Sanatorium eingewiesen worden – und hatte den Schlüssel zum Schlafraum des Palastes mitgenommen. 8. Gold – Hoffnungsträger für Ghanas Wirtschaft? 8.1 Ghana im Goldrausch Für Ghanas Könige ist Gold ein Statussymbol. Für Ghanas Wirtschaft ist es ein Hoffnungsträger. Nach Südafrika ist das kleine Land der größte Goldproduzent des Kontinents. Weltweit rangiert Ghana auf Platz zehn der Förderländer. In den 90er Jahren liberalisiert Ghanas Regierung die Bergbaurechte und privatisiert staatliche Firmen. In der Folge vervierfacht sich der Goldbergbau. Heute stellt Gold ein Drittel aller Exportgüter. Für 2002 weist Ghanas Minerals Commission in ihrem Statistical Overview einen Goldexport im Wert von 689 Millionen Dollar aus. Im Folgejahr zur Zeit meiner Recherche dürfte die Zahl noch höher liegen. Der neue Goldrausch wird von der Börse getrieben. Fast 20 Jahre kennt der Goldpreis nur die Abwärtsbewegung. Noch 2001 gilt die Investition in das Edelmetall als unattraktiv. Doch im Kielwasser von Börsenschocks und Terrorhysterie wird das Edelmetall als traditioneller Wert wieder modern. Zur Zeit meiner Bewerbung feiern Wirtschaftsberichte den Goldpreis von 320 Dollar pro Feinunze als Aufsehen erregend. Kurz nach meiner Rückkehr 282 Ghana Florian Klebs wird Gold mit 428 Dollar pro Unze notiert. Generell gilt eine Mine ab einem Goldpreis von 300 Dollar pro Unze als profitabel. In Obuasi, dem größten und ältesten Bergwerk Ghanas, liegen die Produktionskosten bei 190 Dollar pro Unze. 8.2 Reserve im Regenwald Angesichts solcher Preise sind Ghana auch seine Waldschutzgebiete nicht heilig. „Wir haben die Umweltbehörde beauftragt, spezielle Richtlinien für den Goldbergbau in Waldschutzgebieten zu entwickeln“, erklärt Ghanas Bergbauministerin Cecilia Bannerman kurz nach meiner Ankunft auf einer Pressekonferenz. In einer abenteuerlichen Argumentationskette begründen Industrie und Behörden die neuen Pläne mit Umweltschutz. Viele der Wälder seien zerwühlt, weil Glücksritter den Boden aufrissen, um selbst nach dem Edelmetall zu graben, erklärt mir Ahmed Nantogmah von der PR Abteilung der Ghana Chamber of Mines. Da es unmöglich sei, die Schutzgebiete sicher abzuschirmen, sei es besser, den Tropenwald im industriellen Bergbau abzugraben, um später ordnungsgemäß zu renaturieren. Wie ordnungsgemäße Renaturierung aussieht, soll ich im Laufe der Zeit noch in Obuasi erleben. Zudem zeigt sich, dass die Pläne umso mehr Beifall finden, je weiter die Beteiligten vom Ort des Geschehens entfernt sind. „Auf unserem Land werden wir keinen Goldbergbau zulassen!“, erklärt mir Nana Kojo Bogyah II, König des Dorfes Atwereboana am Rande des BonsaWaldschutzgebietes. Als größter Kakao-Produzent des Disktrikts sei das Land vergleichsweise wohlhabend. „Dank dem Kakao können alle unsere Kinder zur Schule gehen. Wenn eines krank wird, können wir uns einen Arzt leisten. Es gibt sogar spezielle Stipendien für Kinder von Kakao-Bauern“ begründet Bogyah II. „Wenn die Bagger den Boden aufreißen, werden wir kein Trinkwasser haben. Der Bergbau wird unser Wasser verseuchen, denn alle Quellen entspringen im Wald. Wir werden kein Wild mehr haben, das wir jagen dürfen, denn die Kinderstube des Wildes ist der Wald. Die Explosionen werden unsere Häuser zum Einstürzen bringen. Unsere Kinder werden krank sein, denn für die Minen stauen sie das Wasser auf. Dann haben sie Malaria und wir haben kein Geld mehr, um Medikamente zu bezahlen“, berichtet der König. „Wir haben das alles in anderen Dörfern gesehen. In Damang hatten alle Kakaobäume. Dann wurden sie umgesiedelt, keines ihrer Kinder geht jetzt noch in die Schule. Gold bringt niemals Wohlstand. Der Tagebau wird unsere Lebensgrundlage vernichten. Keine Summe der Welt kann diese Zerstörung aufwiegen.“ 283 Florian Klebs Ghana Als kurz vor meiner Ankunft ein Explorationsteam den Wald untersuchen wollte, haben es die Dorfbewohner davon gejagt. Ob sie sich langfristig durchsetzen, ist ohne Unterstützung fraglich. Denn ohne Frage ist Nana Kojo Bogyah II. eine beeindruckende und respekteinflößende Persönlichkeit. Doch als Dorfkönig endet die Macht des Monarchen eben an der Dorfgrenze. 9. Rund um die Goldgruben von Tarkwa 9.1 Ghana Goldfields Ein Kärtchen für meine Visitenkarten-Sammlung und 20 Minuten Schweigen mit Mittagessen – so lautet meine Bilanz nach einem offiziellen Besuch bei Ghana Goldfields Ltd, der Nummer zwei unter den Bergbaukonzernen des Landes. Im groben verteilt sich die Goldproduktion des Landes auf zwei große Firmen und Standorte. Die Nummer Eins, der ehemalige Staatsbetrieb Ashanti Goldfields (AGC), betreibt Ghanas älteste Mine: ein UntertageBau in Obuasi. Goldfields Ghana Ltd, ist die Tochter eines Konzerns in Südafrika und gilt als ernsthafter Herausforderer AGCs. Die Minen der südafrikanischen Konzerntochter konzentrieren sich auf die Region um die Bergarbeiterstadt Tarkwa. Anders als AGC baut Goldfields das Golderz im Tagebau ab. Ein kleiner Konkurrent am gleichen Standort ist Ghana Australian Goldfields. Für beide Standorte habe ich einen Besuchstermin. So denke ich zumindest. Mein Türöffner ist eine Einladung durch John Brinpong, National Chairman der Bergarbeiter Gewerkschaft. Möglich gemacht hatten das die exzellenten Kontakte von Edward Briku Boadu, Programmkoordinator der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ghana. Vielleicht ein ungewohnter Ansatz, sich einem Unternehmensmanagement über die Gewerkschaft zu nähern. Doch im Vorfeld hatten sich Ghanas Bergarbeiter aus einer Position der Stärke präsentiert. Als einziger Gewerkschaft gelang es den Bergarbeitern, Löhne und Gehälter inflationssicher an den Dollarkurs zu koppeln. Ein Mindestlohn von 190 Dollar im Monat macht den Beruf zur begehrten Tätigkeit. Ähnlich selbstbewusst wird mein Eintreffen der Minenleitung mitgeteilt: „Herr Klebs bekundete sein Interesse an der Goldindustrie Ghanas. Für einen Besuch wurde Ihre Firma ausgewählt“, steht in dem Schreiben. Vor Ort sieht es ein wenig anders aus. „Ich bin hier nicht sonderlich beliebt“, gesteht mir Ralph Agbalenyo, Gewerkschaftsfunktionär von Tarkwa, 284 Ghana Florian Klebs der mich auf meinem Besuchstermin begleitet. Für sein Diplom von der University of Cape Coast ist Agbalenyo der ketzerischen These nachgegangen, wie weit lokale Kleinbauern vom Goldreichtum ihres Bodens profitieren. Eine Studie, die allerdings auch Gewerkschaftskollegen dazu bringt, ihn misstrauisch zu beäugen. Tatsächlich ist es aber nur ein Satz, der meinen Rausschmiss aus dem Gelände bedingt: Die Bemerkung, dass ich als Journalist arbeite. Er müsse erst den Human Resources Officer hinzuziehen, entschuldigt sich PRManager Stephen Yaw Yirenkyi. Der möchte gern den Standort-Manager dabei haben. Doch der sei gerade in Urlaub gefahren. Nein, nächste Woche sei er noch nicht zurück. Nein, auch in zwei Monaten könne es schwierig werden. Und überhaupt: Aus Schweden sei schon einmal ein Journalist da gewesen, mit dem sie nur schlechte Erfahrungen gemacht hätten. Eigentlich wollen sie gar niemand auf dem Gelände haben. Ich soll meine Fragen doch schriftlich einreichen. Am besten in der Hauptstadt. 9.2 WACAM – Grasswurzeln des Widerstandes Vielleicht war Yaw Yirenkyi auch mein Besuch in einem winzigen Büro am Busbahnhof von Tarkwa zugetragen worden. Denn hier residiert die Grasswurzelbewegung WACAM, die Wassa Association of Communities Affected by Mining, wobei „Wassa“ die geographische Bezeichnung des Districts ist. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, denn Nachrichten reisen schnell in dem kleinen Bergbaustädtchen. Schon vor meiner Ankunft machten zwei deutsche Studenten von sich reden. Im Rahmen des ASA-Programms der deutschen Entwicklungsorganisation InWent interviewten Fabian Kutenkeuler und Benedikta Rabins umgesiedelte Kleinbauern, um die sozioökonomischen Folgen des Goldbergbaus zu erforschen. Ich war kaum im Bahnhof angekommen, da wurde den beiden Weißen meine Ankunft mitgeteilt: „Euer Bruder ist da“, rief ein unbekannter Passant den Studierenden zu. Die direkte Kommunikation von WACAM und Bergbaugesellschaft wird – meist von letzteren – jedoch auf ein Minimum beschränkt. Dabei gäbe es reichlich Gelegenheit. Jeden Sonntag nämlich. Dann singen Yaw Yirenkyi, PR-Manager von Ghana Goldfields, und Daniel Owusu-Koranteng, geschäftsführender Direktor von WACAMs zusammen in der gleichen Gemeinde. Die Orgel spielt Owusu-Korantengs Schwiegervater. „Wenn wir gewusst hätten, was auf uns zu kommt, hätten wir es gar nicht erst angefangen“, meint Owusu-Koranteng. Zusammen mit Landwirten 285 Florian Klebs Ghana und Dorfkönig hat der Gewerkschafter die Organisation 1998 gegründet. Der Direktor arbeitet ehrenamtlich. Daneben besitzt WACAM drei feste Mitarbeiter und rund ein Dutzend Freiwilliger, die als Ansprechpartner in den Dörfern fungieren. Als Lohn erhalten sie einen Jahreskalender. Ein Statussymbol, ja. Aber nichts, was satt macht. Dafür haben sie es weit gebracht: In Ghana ist WACAM ein Wort, das Türen weit öffnet – oder fest verschließt. „Haben Sie irgendetwas mit WACAM zu tun?“ ist meist die erste Gegenfrage von Minenbetreibern, Regierungsvertretern und Behörden bei meinen Recherchen. Ghanas Goldindustrie ist in der Defensive. Wichtigstes Instrument der Aktivisten ist das Telefon im kleinen Büro in Tarkwa. Mehrmals täglich erstatten die WACAM-Mitarbeiter ihrem geschäftsführenden Direktor Bericht: Gab es Übergriffe? Umweltskandale? Landwirte, die bei Verhandlungen Hilfe brauchen? „Statt Reichtum bringt Goldbergbau nur Verelendung“, ist OwusuKorantengs Fazit aus fünf Jahren Arbeit. Denn das Land, das dem Bergbau zum Opfer fällt, ist meist von kleinen Bauern bewirtschaftet. „Diese Menschen können meistens nicht lesen und schreiben. Sie leben von der Hand in den Mund“, schildert Owusu-Koranteng. Wird ihr Land zerstört, steht ihnen eine Entschädigung zu. „Doch dafür fehlt den Menschen die Erfahrung. Wenn man ihnen ein paar 100.000 Cedis bietet, haben sie noch nie in ihrem Leben so viel Geld gesehen und sagen sofort zu. Erst später merken sie, dass sie kein Land mehr haben, um ihre Familie zu ernähren. Sie merken, dass sie ihre Kakao-Plantage verloren haben, die 15 Jahre noch Früchte getragen hätte. Selbst wenn sie wieder Land bekommen, merken sie, dass jeder neue Setzling 15.000 Cedis kostet. Und dass sie fünf Jahre warten müssen, bis ein Kakao-Baum wieder Früchte trägt.“ Von zwei Litern Kerosin bis ein paar 100.000 Cedis reichen die Summen, mit denen Landwirte mir gegenüber ihre Kompensationszahlungen beziffern. Geldwechsler zahlen zu diesem Zeitpunkt 10.000 Cedis für einen Euro. Hinzu kommen Umweltprobleme: In Ghanas Bergbau wird Zyanidsäure verwendet, um wertvolles Gold aus taubem Gestein auszulösen. Eine schnelle, billige Methode: längs mancher Straße hinter Stacheldraht sieht man die haushohen Haufen aus Erz, darüber sprengen Düsen die Chemikalie, ähnlich wie ein Rasensprenger. Und eine schmutzige Methode: Zyanide sind Salze der Blausäure. Goldproduzenten wie Tschechien, die Türkei und Griechenland haben diese Form des Goldbergbaus deshalb verboten. „Kisten, Fässer, Container – als ich beim Werkschutz der Mine angestellt war, durften wir alle Verpackungen von Chemikalien oder Geräten verschenken. Die Arbeiter nutzten sie zum Möbelbauen, als Wassertonne oder ver286 Ghana Florian Klebs kauften sie als Altmetall. Nur die Zyanid-Container nicht. Mit Eisenstangen haben wir sie zu Schrott gehauen, damit niemand in die Versuchung kommt, sie mitzunehmen. Die Anweisung kam direkt vom Management – weil selbst die leeren Fässer zu giftig waren“, berichtet Joseph Nartey, ein ehemaliger Minenarbeiter. Den wissenschaftlichen Hintergrund liefert Dr. Thomas Akabzaa, Geologe an der Legon University in Accra. „Boom and Dislocation“ heisst eine Studie, mit der sich Akabzaa im Auftrag des Third World Network Ghana zwischen die Stühle setzte. Seither kritisiert er die Auflagen für die Industrie als zu lax, die Sicherheitsvorkehrungen der Minenbetreiber als unzureichend und die Zahl der Umweltskandale als zu hoch. Als Dozent erhält er mit Seminaren trotzdem Zugang zu den Abbaugeländen und vermittelt seinen Studenten auch Aufträge. „Zyanid wird verharmlost, weil es sich im Sonnenlicht zersetzt“, zitiert Akabzaa aus seinem Werk. Allerdings dauere die Zersetzung ein bis zwei Tage und auch die Abbauprodukte seien giftig. Hinzu käme die Belastung anderer Giftstoffe, die mit dem Erz gefördert würden: Arsen, Chrom oder Schwefel, der an der Luft zu Schwefelsäure oxidiert. Staub auf den Feldern lasse die Ernten schrumpfen, durch Sprengungen stürzten die Hütten ein. Außerdem steige die Krankheitsrate, vor allem Malaria, da der Bergbau Gewässer aufstaue, in denen Moskitos brüten. Gleichzeitig schwinde die Kaufkraft und damit das Geld für Arzneien: durch den Landverlust seien viele Menschen arbeitslos. „Auch ökonomisch ist sehr fraglich, ob der Goldbergbau der Volkswirtschaft überhaupt Gewinn bringt“, schließt der Geologe. 9.3 Gold – was nutzt es den Menschen? Die Frage, ob Ghanas Bevölkerung vom Bergbau profitiert, kann WACAMGeschäftsführer nur dank seiner persönlichen Einschätzung verneinen. Gerade drei Prozent der Einnahmen aus dem Goldbergbau fließen als Pacht an den Staat zurück. Hinzu kommen Körperschaftssteuer, Einkommenssteuer von 14.000 Arbeitern und Dividenden, denn immer noch hält Ghana einige Aktien an der ehemals staatseigenen Ashanti Goldfields. In Tarkwa kommen noch zehn Prozent der Pachtgebühren an. Rund die Hälfte verwaltet die District Assembly. Der Rest geht an den District König und das Traditional Council zur beliebigen Verwendung. Ein Verteilungsschlüssel, der auch von den Minengesellschaften kritisiert wird. „Es wäre uns lieber, wenn ein größerer Teil der Abgaben vor Ort investiert würde“, sind sich alle Interviewpartner aus der Goldindustrie einig. 287 Florian Klebs Ghana Die meisten Firmen unterhalten deshalb zusätzliche Stiftungen. Einen Dollar pro Unze zahlt Goldfields in einen Trust für Projekte zugunsten der Lokalbevölkerung. Zur Zeit meines Aufenthaltes entspricht die Summe 0,3 Prozent des Verkaufswertes, rund 0,7 Prozent des Gewinns. Die Verwendung des Geldes bleibt im Ermessen der Firma. „Mit dem Geld wird Politik gemacht“, urteilt Owusu-Koranteng. In wohlwollenden Dörfern würden Straßen und Schulen gebaut. Kommunen, die hart verhandeln oder prozessierten, gingen leer aus. Auch das „alternativ livelihood-programm“, in dem landlose Bauern Speiseschnecken züchten oder Stoffe batiken, sei Image-Kosmetik. Zu wenige würden umgeschult, zu unausgereift sei die Ausbildung, nach der die meisten Existenzgründungen binnen kurzem wieder eingingen. Mit Hilfe der deutschen Entwicklungsorganisation InWent versucht Owusu-Koranteng, seine Einschätzung zu untermauern. Grundlage sollen Interviews mit Betroffenen sein. Durchgeführt werden sie durch die deutschen Studenten Benedikta Rabins und Fabian Kutenkeuler. Beide sind Teilnehmer des ASA-Programms von InWent. Das Kürzel steht für Arbeitsund Studienaufenthalt, ein Programm, das jährlich rund 200 Studierende in lokale Projekte in Entwicklungsländer vermittelt. Ihr Studiengebiet, die Siedlung von New Atuabo, ist Vorzeigeobjekt von Goldfields und WACAM gleichermaßen. Gut sehen die gelben Häuschen aus. Statt Bananenblätter und Lehm gibt Beton den Wänden halt, das Zentrum bildet eine große Markthalle, zur Infrastruktur gehören Brunnen und Latrinen. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass manche Häuser Anbauten aus Lehm haben. Denn bei der Umsiedelung hat das Bergbauunternehmen die Zahl der Zimmer reduziert. Familien wurden zerrissen, es ist kein Land verfügbar und mit der Arbeitslosigkeit kam auch der Handel zum erliegen, mit dem vor allem Frauen ein Zusatzeinkommen erwirtschafteten. Die Lebenshaltungskosten haben sich verdoppelt, errechnet Wirtschaftsstudent Kutenkeuler, denn selbst die schmucken Latrinen sind kostenpflichtig. Statt auf die Schule zu gehen, verdingt sich manche Bauerntochter als Prostituierte, behauptet Owusu-Koranteng. Für WACAM ist New Atuabo dennoch ein Teilerfolg. Vorbei die Zeiten, als Besitzer einer Kakao-Plantage mit zwei Litern Kerosin entschädigt wurden. In zähen Verhandlungen trotzte die Organisation der Bergbaugesellschaft höhere Kompensationen ab. Auch das kleine Krankenhaus der Siedlung war vor den Verhandlungen mit WACAM nicht vorgesehen. Wo immer nun eine Ausweitung der Minen bevorsteht, ist WACAM vor Ort, schult Landwirte in ihren Rechten, drängt darauf, Vereinbarungen 288 Ghana Florian Klebs schriftlich zu fixieren, erläutert und übernimmt auf Wunsch auch die Verhandlungen. Ein fairer Interessensausgleich? Erst eine Tour durch die umliegenden Dörfer erlaubt mir einen Blick hinter die rechtsstaatliche Fassade. 9.4 Umweltskandale und Übergriffe – Besuch in den Dörfern um Tarkwa Wenn die Geister über sie kommen, spricht Fetisch-Priesterin Augustina Antwi in fremden Dialekten. Mal rauchen die Lippen Kette, mal gießen die Finger ständig Schnaps in den Hals – denn so bewirtet sich ein Gott, wenn er den Körper der Heilerin ergriffen hat. In diesem Zustand erkennt Antwi die Leiden der Menschen. Rund um die Hütte des Schreins hat sie ein kleines Krankenhaus gebaut. Hier heilt die Priesterin Verletzungen und Durchfall, Epilepsie und Depression und hilft den Opfern des Juju, der bösen Hexerei. An jenem Morgen winden sich gleich zwei Schwangere in den Wehen. Antwi zerreibt ein paar Blätter, vermischt sie mit Salz und einem Eigelb und formt Abrofo Nketse: Das Zäpfchen bewirkt, das jedes Baby glatt aus der Mutter gleitet. Danach kocht die Priesterin Okumekra und Ofram: getrocknete Baumrinde und – spitzen, zusammen mit Ingwer und Pfeffer. Ein Trank, der nach der Geburt Blutungen stillt und die Bauchwunde schließt. Am Nachmittag weiß Antwi, dass sie ihre Frauen vergiftet hat. Am Vorabend hatte es auf dem Gelände der Bergbaufirma Goldfields Ghana einen Chemieunfall gegeben. Mehrere 10.000 Kubikmeter giftige Zyanidlösung verseuchten den Fluss, der die Dörfer mit Fischen und Trinkwasser versorgt. Erst 20 Stunden später warnt die Minenleitung die Bevölkerung, weder Wasser zu trinken, noch Fische zu essen. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich das Dorf Abekoase im Ausnahmezustand. Noch am Morgen hatten die Fischer den vermeintlich glücklichsten Fang ihres Lebens aus den Netzen gezogen und verkauft. Ölbauern hatten Palmfrüchte mit Flusswasser zu Palmöl verkocht. Nun leiden die Menschen an Bauchschmerzen, Durchfall und Kopfschmerzen. Die Körper frieren, die Haut der Fischer juckt, der ganze Körper schmerzt. Nach zwei Wochen werden die Fischer zur Untersuchung ins Krankenhaus gekarrt. Nach sechs Monaten wird das ganze Dorf gecheckt: Fieber, Blutdruck und Proben von Blut und Urin. Ergebnisse der Untersuchung werden nie bekannt gegeben. Zu diesem Zeitpunkt ist eines der Kinder, das Kräuterheilerin Antwi entbunden hat, schon tot. 289 Florian Klebs Ghana Abekoase, das Dorf der Fetischpriesterin, ist wahrscheinlich der einzige Fall, der international bekannt wurde. Seit dem Chemieunfall vom 16. Oktober 2001 kämpft das Dorf um Entschädigung. Seit sieben Jahren versuchen die Einwohner von Nkwantakrom, sich Recht zu erstreiten. Noch in den 80er Jahren will Dorfkönig Nana Kofi Karikari dem Werksgeologen geholfen haben, die Goldvorkommen der Gegend zu kartieren. 1996 habe ein Rollkommando unter Aufsicht von Polizei und Werksschutz das Dorf zerstört, um die Mine auszuweiten. Der Vorwurf: Das Dorf sei erst später gebaut worden, um Entschädigung für eine Umsiedelung zu kassieren. Zerstört wurden auch die Meiler der Köhler, eine Haupteinnahmequelle des Dorfes. „Seither arbeite ich als Holzfällerin. Um unsere Schulden abzuzahlen. Mein Mann ist untergetaucht“, berichtet zum Beispiel Olivia Mbir. Denn für ihre Arbeit habe er einen Vorschuss von den Händlern bekommen. „Nachdem der Werkschutz unsere Kohle verbrannte, wollten die Händler ihre Kohle – oder den Vorschuss zurück. Fast alle Männer sind inzwischen geflohen.“ Den Prozess hätten die Richter über Jahre verschleppt, erklärt Kofi Karikari. Wie das aussieht, kann ich selbst an einem Verhandlungstag erleben. Für ein Dorf wie Nkwantakrom bedeutet ein Tag vor Gericht zwei Tage Arbeitsausfall: Die Buschkleider verschwinden im Schrank, die guten Kleider werden hervorgesucht, die gusseisernen Bügeleisen mit Holzkohle gefüllt, ein ganzes Dorf putzt sich selbst und reist zwei Stunden bis nach Tarkwa, wo das Gerichtsgebäude steht. 300 Kilometer legt Anwalt August Niber für die Anreise aus Accra zurück. Für Nkwantakrom ist Niber ein seltener Glücksfall: Als Vertreter einer Menschenrechtsorganisation vertritt er die Dorfbewohner kostenlos. Wer fehlt, sind die Vertreter der Bergbaugesellschaft und der Richter. Die Sitzung sei verschoben worden, erfahren die Dorfbewohner im Gerichtsgebäude. Der Richter nehme an einer Fortbildung teil. Auch Koduakrom, ein Dorf aus der gleichen Region, befindet sich seit Jahren im Rechtsstreit. Einer, der nicht mehr vor Gericht aussagt, ist allerdings Simon Mawuko. Seit vier Jahren starrt der Landwirt Löcher in den gestampften Lehm seines Hüttenbodens. Vor vier Jahren hatte Mawuko um Entschädigung demonstriert: Arbeiter der Firma Ghana Goldfields hatten einen Fluss umgeleitet, um ihr Minengebiet auszuweiten. Die Kleinbauern, durch deren Felder der Kanal führt, wurden entschädigt. Doch am Ende des Kanals habe der Fluss ihre Felder geflutet, erklären die Dorfbewohner. 17 Personen waren betroffen, sie ließen ihr Land schätzen, signierten unbekannte Dokumente mit dem Daumenabdruck und warteten auf ihr Geld – nur leider vergeblich. 290 Ghana Florian Klebs Ein Minenarbeiter habe ihnen geraten, ihr Geld mit einer kleinen Demonstration einzufordern. Doch „als wir am Werkstor standen, umzingelten uns 108 Wachleute von Ghana Goldfields“, berichtet Fatima Abukari, die Sprecherin der Bauern. „Wir waren 35. Sie griffen uns einzeln heraus und schlugen uns nieder. Die Fliehenden verfolgten sie im Auto. Zehn wurden verhaftet. Einen, der zusammenbrach, ließen sie liegen. Neun von uns transportierten sie ab zur Polizeistation von Tarkwa. Dort waren wir eine Woche in einer Zelle. Später zeigte uns Ghana Goldfields an: Wir hätten Autos zerstört und das Minengelände angegriffen. Nach eineinhalb Jahren wurden wir freigesprochen.“ „Wir waren neun Menschen in einer Zelle, sechs Männer und drei Frauen. Die Älteste von uns war 68. Wir haben geweint und geschrieen. Wir waren in Panik“, erinnert sich Landwirt Yaw Frimpong. Rund drei mal zwei Meter sei die Zelle groß gewesen. „Als Toilette bekamen wir eine Gummischüssel, unsere Sandalen haben sie weggenommen und fortgeworfen, wir mussten im Urin stehen.“ Nach wenigen Stunden sei Frimpong das Auge zugeschwollen. „Die Wachleute hatten mir mit Schlagstöcken ins Gesicht geschlagen, als ich am Boden lag. Wir flehten die Polizisten an, dass unsere Verwandten Medizin bringen dürfen. Aber sie sammelten die Medikamente ein und warfen sie fort. Nach sechs Tagen wurden wir freigelassen und durften zum Arzt gehen. Der Arzt sagte, meine Wunde sei zu alt, um das Auge zu retten. Er konnte mir nur etwas gegen die Schmerzen geben.“ Mawuko, der Mann auf dem Hüttenboden, schaut in die Luft statt seine Geschichte zu erzählen. „Lass mich für ihn reden.“ – „Er wird dir nicht antworten.“ – „Er sitzt den ganzen Tag so da.“ – „Wenn er einen Minenarbeiter sieht, zittert er am ganzen Leib.“ – „Vor Gericht kann er nicht aussagen.“ – „Er ist kein Mensch mehr.“ – (...) – so drängen sich die anderen Dorfbewohner. „Simon hat auch um Entschädigung demonstriert, weil Ghana Goldfields das Land seiner Frau flutete und die Ernte zerstörte.“ – „Sie schlugen ihm auf den Kopf. Ich sah, wie jemand in seine Geschlechtsorgane griff und sie nach hinten riss.“ – „Ich sah, wie sie ihn brannten. Vier schlugen auf ihn ein. Ein fünfter kam mit einer glühenden Eisenstange, etwa ein Meter lang, mit Holzgriff. Sie stießen sie ihm zwischen die Schenkel.“ „Im Gefängnis schwoll ihm der Hoden an.“ – „Er konnte nicht mal sitzen.“ „Morgens steht er auf und läuft zwei bis drei Meter. Danach hat er Herzschmerzen.“ – „Er fühlt sich schwach, hat Schmerzen im ganzen Körper.“ – „Sein Penis funktioniert nicht mehr. Er kann keinen Sex haben.“ 291 Florian Klebs Ghana „Er kann nicht arbeiten, kann seine Kinder nicht ernähren.“ – „Manchmal geben ihm Leute Essen ab“ - „Seine Eltern haben ihn jetzt zum Schrein des Fetisch-Priesters gebracht. Der Kräuterheiler gibt ihm Medizin zum Trinken und zum Baden.“ – „Davor hat er vier Jahre lang gar keine Behandlung gehabt. Er ist nur so da gesessen.“ So schildern es die Dorfbewohner. Zwei Monate später erhalte ich doch noch Gelegenheit zu einem Gespräch mit Ghana Goldfields. Im Hauptsitz der Firma in Accra bitte ich das Management um seine Sicht der Vorwürfe zu schildern. Nachdem ich meinen Rauswurf vom Minengelände schildere, bemüht sich PR-Chef Toni Amhym um Schadensbegrenzung. Zu dem Vorwurf, Demonstranten niedergeknüppelt und mit glühenden Eisen gebrannt zu haben, kann Amhym allerdings wenig sagen. Schließlich sei das Verfahren noch in der Schwebe. 9.5 In den Gruben der Galamsey Ein Anblick, wie aus der Jeanswerbung: Nur Hose und leuchtend gelber Schlamm zieren die athletischen Körper. Die Szene spielt sich mitten in vier Meter tiefen Gruben ab. Darin plantschen fünf junge Männer, schachten Schlamm aus dem Boden und kippen eimerweise Wasser über eine Rutsche. „Ein weißer Mann“ – „Ein weißer Mann mit einer Kamera“ – „Hey, weißer Mann, komm vorbei“, ruft es aus schlammiger Tiefe. Vier Meter unter der Geländeoberkante herrscht gute Laune. Im Busch zwischen Tagebau und Transportstraße haben Mike, Antwi, Imanuel, William und Charles ihre eigene kleine Mine aufgemacht. Eigentlich illegal, denn die Grube dürfte im Konzessionsgebiet der Ghana Australian Goldfields liegen. Doch die scheinen das oberflächliche Goldgekratze der Fünferbande zu tolerieren. Auch die fünf Freunde haben kein Unrechtsbewusstsein: „Das ist ein freies Land. Wer will mir Goldschürfen verwehren?“ Der Kleinbergbau in Ghana hat eine über tausendjährige Tradition. Tatsächlich beschäftigt der Kleinbergbau mehr als fünfmal so viele Menschen, wie die industrielle Goldproduktion: 80.000 Menschen leben nach vorsichtiger Schätzung des Bergbauministeriums vom Gold- und Diamantenschürfen. Die Minen beschäftigen nur 14.000 Arbeiter. „Galamseys“ nennen sich die meisten selbst, eine Wortschöpfung aus „gather“ und „sell“. Ministerium und Bergbaukonzerne unterscheiden die legalen „smal-scale miners“ und die illegalen „galamseys“, die in Konzes-sionsgebieten wildern. Davon unbesehen kaufen staatliche Agenten 292 Ghana Florian Klebs die Ausbeute beider Gruppen gleichermaßen auf. Als Maßeinheit beim Goldaufwiegen verwenden sie Rasierklingen. „Goldschürfen ist typische Gelegenheitsarbeit für junge Männer“, erklärt Kwesi Aduakwah. Aduakwah ist Mitarbeiter bei WACAM, ein Ex-Galamsey und ein kleines Kraftpaket von annähernd quadratischem Körperbau. Die Kräfte brauche man: „Es ist harte Plackerei, den ganzen Tag in der Sonne. Der Galamsey will schnelles Geld, er isst aus schmutzigem Geschirr, er verschmutzt das Wasser, in dem er arbeitet – länger als ein paar Jahre hält man das nicht durch.“ Auch Mike & Co. haben athletische Modellmaße. In den vergangenen Wochen haben sie vier Gruben von jeweils fünf mal fünf Metern ausgeschachtet und den Schlamm portionsweise über die Rutsche mit Sackleinen gewaschen. Das schwere Gold sinkt in die Fasern ab. Alle paar Stunden wird der Stoff in einem Eimer ausgewaschen. Ende der Woche werden sie das Konzentrat noch einmal waschen, mit Quecksilber verschütteln und den Bodensatz aus Gold und Quecksilber über dem Feuer rösten. So lange, bis das Schwermetall verdampft und das reine Gold zurückbleibt. Falls ihnen das Warten dabei nicht zu lang wird. Denn Freitag wartet der Goldagent und die leeren Taschen juckt es nach den Cedis. Schließlich wird Mike oder Antwi, Imanuel, William oder Charles das Verfahren abkürzen, wird Schwermetall-Gold-Gemisch in ein Schnupftuch binden, den Beutel in den Mund stecken und saugen, bis das Quecksilber ausgelutscht ist. Zwei Studien der UN Industrial Development Organization belegen das Gesundheitsrisiko: Nicht nur Galamseys, auch Anwohner haben erhöhte Quecksilberwerte im Blut. Um den Wildwuchs der Goldwäscher zu organisieren, fordert Ghanas Regierung die Kleinbergbauern auf, sich lizenzieren zu lassen. Bestandteil ist auch ein Schnellkurs im Umgang mit giftigen Chemikalien. Außerdem subventioniert der Staat eine Apparatur, mit der Galamseys das giftige Quecksilber rückgewinnen, statt abzulutschen oder zu verdampfen. Eine gute Idee. Warum es doch nicht funktioniert, erklärt Ex-Galamsey Aduakwah: „Goldschürfen ist Gelegenheitsarbeit. Du hast ein Feld und brauchst schnell etwas Geld für Setzlinge, für eine Machete, für Dünger... Dann steigst du mit ein paar Freunden in die Galamsey-Grube.“ So schnell, wie sich die Gruppen bilden, zerfallen sie wieder – wer wolle da die Investition für etwas Überflüssiges wie eine Anlage tätigen, die angeblich die Gesundheit schützt. Die Statistik scheint ihm Recht zu geben. Wie viele Lizenzen sie denn vergeben hätten, frage ich Wochen später in der Minerals in Accra. „254 für jeweils bis zu zehn Personen“, gesteht Mitarbeiter Amponsah Tawiah. Bei 80.000 Galamsey macht das bestenfalls 0,2 Prozent. 293 Florian Klebs Ghana 10. Ashanti Goldfields – Ghanas ältester Vorzeigebetrieb 10.1 Obuasi, das Pulverfass Im Bergbaustädtchen Obuasi ist die Nachbarschaft von Minengesellschaft und Galamsey eskaliert. Es herrscht Bürgerkrieg zwischen Wachschutz und Goldsuchern, der Opfer auf beiden Seiten fordert. Nach einer factfinding Mission hatte WACAM zu einer Pressekonferenz in Accra geladen, auf der Dorfbewohner über Folter und Mord bei Verhaftungen sprachen. Ashanti Goldfields konterte mit einer eigenen Pressekonferenz und schilderte Fälle von Wachleuten, die während des Dienstes von marodierenden GalamseyBanden verletzt wurden. Schon der erste Blick auf die Stadt verdeutlicht einen Teil des Problems: In 100 Jahren Bergbautätigkeit haben sich Stadt und Goldmine wie zwei Wurzelgeflechte durchdrungen. Im Vergleich dazu ist Tarkwa ein idyllisches Städtchen, wo Tagebaue, Dörfer und Kommunen nebeneinander liegen. In Obuasi wächst der Förderturm fast aus der Verkehrsinsel, die Straße taucht unter Förderbändern durch, die ausgeräumten Felswände der Tagebaue bilden hier den Horizont. 480 Quadratkilometer umfasst das Konzessionsgebiet. Mehr als zwei Fünftel davon sind aktives Abbaugebiet. Dazwischen gibt es über 200 Dörfer. 10.2 Flüssiges Gold – vom Stollen in die Goldschmelze Im ersten Anlauf präsentiert sich Ashanti Goldfields in Obuasi wesentlich offener als die Konkurrenz von Ghana Goldfields in Tarkwa. Im Gästehaus ist ein Zimmer für mich reserviert, zwei Tage umfasst das Besuchsprogramm, das PR-Mitarbeiter Sarpong für mich zusammengestellt hat. Obuasi ist Ghanas älteste Mine. Vor 1987 trieben britische Geschäftsleute den ersten Schacht in die Tiefe. Seither gab der goldene Boden 29 Millionen Unzen preis – mehr als 8.000 Kilo Gold. Nach der Unabhängigkeit wurde die Mine verstaatlicht. Heute ist Ashanti Goldfields eine internationale Aktiengesellschaft. Seit zehn Jahren wird Gold auch im Tagebau gewonnen. Den größten Teil fördert Ashanti jedoch unter Tage. Bis 1.500 Meter unter die Erde reichen die Schächte. Um das Gold vom Erz abzutrennen, baute Ashanti die größte Aufbereitungsanlage der Welt, bei der ein Teil der chemischen Prozesse von Bakterien übernommen wird. 294 Ghana Florian Klebs Auf dem Firmengelände präsentiert sich die Firmenphilosophie als vorbildlich. Schilder fordern die Arbeiter auf, die Sicherheitsvorkehrungen ernst zu nehmen, rechtzeitig Pause zu machen und die Volkskrankheit Aids zu vermeiden. Andere notieren die aktuellen Produktionskosten von 190 USDollar pro Unze und den Wahlspruch „150 sind unser Ziel“. „Jede Unze zählt“ ist ein anderer Slogan, den jeder Arbeitsoverall auf dem Rücken trägt. Darüber prangt das Firmenlogo: zwei Krokodile über Kreuz, deren Torso miteinander verwachsen ist. Es ist ein „Adinkra“, ein Zeichen aus dem traditionellen Symbol-Schatz der Ashanti, der im Gebrauchsdesign häufig verwendet wird. „Funtunfunefu-Denkyemfunefu“ heißt dieses Doppel-Krokodil, bei dem zwei Mäuler im Wettstreit schlingen, obwohl jeder Bissen im Gemeinschaftsmagen landet und beiden zu gute kommt. „In der Familie soll man nicht streiten, denn wenn einer profitiert, profitieren alle“, ist eine Auslegung des Symbols. „Wenn jeder nur nach Kräften rafft, wird es allen gut gehen“, wäre die weniger schmeichelhafte Deutung. Derweil sorgt der Werkschutz dafür, dass die Arbeiter das Krokodilssymbol nicht als Aufforderung zur Selbstbereicherung interpretieren. An jedem Schachtausgang stehen Männer mit Detektoren, die jeden Passanten auf Schmuggelgold untersuchen. Die Kontrollen steigern sich bei der Aufbereitungsanlage und sind am höchsten im „Goldhaus“. Täglich wird hier die Goldausbeute in ein bis zwei Barren gegossen. Ein alchemistisches Spektakel mit Männern in silbernem Hitzeschutz und flammenumtosten Schmelztiegeln, die einen Glutstrom aus Schlacke und Gold in eine Kaskade aus Kastenformen speisen. Einmal die Woche fliegt ein Helikopter die Goldkisten aus. Die Flugzeiten sind geheim. Zur Zeit meines Aufenthaltes ist Ashanti Goldfields täglich in den Medien. In London erhält Samuel Jonah, Ashanti Goldfields‘ Chief Executive, durch Königin Elizabeth den Ritterschlag. Gleichzeitig feilt Jonah an einer internationalen Fusion. Denn in 1.500 Meter Tiefe stoßen Ghanas Ingenieure an die Grenze ihres Knowhows: Die hohen Temperaturen in größerer Tiefe verlangen, dass die Stollen – wie in Südafrikas Tiefenbergwerk - gekühlt werden. Außerdem braucht Ashanti Kapital: Die aufwändige Technik könnte die Produktionskosten auf 40 US-Dollar pro Tonne verdoppeln. Die Investition könnte sich trotzdem lohnen. Probebohrungen zeigen Goldgehalte von 18, 40 und sogar 60 Gramm pro Tonne. Bei der jetzigen Fördertiefe liegt der Gehalt bei zehn Gramm pro Tonne. Zwei Firmen, Rangold und Anglogold, preisen sich täglich mit ganzseitigen Zeitungsanzeigen als ideale Fusionspartner an. Schließlich erhält Anglogold den Zuschlag. 295 Florian Klebs Ghana 10.3 Harte und weiche Hunde Beim Mittagessen in der Werkskantine kommen wir das erste Mal auf die Galamsey zu sprechen. „Wir haben die Konzession – wenn jemand denkt, er könne hier schürfen, verletzt er unsere Rechte. Deshalb haben wir den Werkschutz und die Polizei, um uns zu schützen“, erklärt Yiadom Bakye Amponsah, Administration Manager von Ashanti. Die Leichenfunde auf dem Minengelände? „Galamsey, die in die Löcher fallen oder so gewagte Löcher graben, dass sie selbst darin ersticken.“ Die Vorwürfe, Verhaftete würden wilden Hunden vorgeworfen? „Die Hunde werden nur von der Leine gelassen, wenn ein Hundeführer sein Leben bedroht sieht.“ Und warum suchen Verbrecher, die illegal Gold schürfen, mit einer Pressekonferenz die Öffentlichkeit? „Das liegt an den Eigeninteressen von NGOs wie WACAM. Die machen Lärm, damit sie Spenden aus dem Ausland bekommen.“ Tatsächlich bekomme ich einiges an Verwüstung zu sehen, die den Galamsey zugeschrieben wird. Unter einer Straße bohrt sich ein Tunnel in Richtung einer eingezäunten Werkstatt. Eine Pipeline mit Brauchwasser, die durchgeschnitten und umgeleitet sei, um Gold zu waschen. Zwei Säcke mit Erde, weggekratzt unter den Transportbändern, die Galamsey auf der Flucht zurückgelassen hätten. Die meisten seien Profis, meint Manager Amponsah. Entlassene Arbeiter, die wegen Diebstahl oder Schmuggel hinausgeworfen wurden, Hochkriminelle, die sich in Banden zusammenschließen und mit Macheten und selbstgebauten Pistolen im Konzessionsgebiet einfallen. Auch unter den Galamsey herrschten Rivalität und Bandenkriege, die Todesopfer kosten. „Die Kleinbauern suchen höchstens nach Altmetall. Aber einen Tunnel graben und abstützen – so etwas kann ein Dorfbauer nicht“, sagt Amponsah. Vom Rand eines Tagebaus sehen wir eine Gruppe, die Steine am Fuß der Felswände aufschlägt. Einige der Gestalten sind in den Hängen platziert. „Späher“, so meine Begleiter, die die Illegalen vor dem Werkschutz warnen. Warum die Gruppe dann nicht die Flucht ergreift? „Weil sie dich als Besucher erkennen und sehen, dass wir keinen Einsatz fahren.“ Sergeant Samuel Gyasi Koomson ist einer der Hundeführer, der bei einem Einsatz verletzt worden sein will. Ein schüchterner Mann in Uniform, sein Tun und Handeln bestimmt von Vorschriften, die er nicht in Frage stellt. Ein Mensch ganz unten in der Werkschutz-Hierarchie, die ein ausgedienter Colonel leitet. Wenn er Galamsey sehe, rufe er sie an, sofort zu verschwinden. Andernfalls würde er den Hund loslassen. Sollte der Hund einen Galamsey stellen, rufe Koomson das Büro an, das einen Wagen schickt, ein Protokoll aufnimmt und den Verdächtigen ins Gefängnis bringt. Meistens sei er aber Opfer eines Gegenangriffs. 296 Ghana Florian Klebs An jenem Tag hatte Koomson Pech. Sein Vorgesetzter teilte ihm „einen weichen Hund“ zu: ein liebes Schäferhund-Wauwauchen, das weder kratzt noch beißt und höchstens abschreckende Wirkung habe. „Welchen Hund wir mitnehmen, können wir Hundeführer nicht aussuchen“, resigniert Koomson im Interview. Mit acht Mann und zwei Hunden hätten sie die Galamsey umzingelt: 30 Banditen, die prompt die Felswände erklommen und Felsen runterrollten. Einer davon habe den kleinen Dienstmann erwischt. Von der sechsten bis zur elften Rippe seien die Knochen im Brustkorb zersplittert. „Danach wollte ich kündigen“, beichtet der Sergeant im Einzelgespräch. „Aber ich habe keine Alternative. Täglich habe ich Schmerzen und nicht mal Geld für die Verletzung im Dienst bekommen.“ Es ist der dritte Tag meines Aufenthaltes bei Ashanti, an dem ich den Besuchsplan über den Haufen werfe und um die Interviews mit den im Dienst verletzten Männern vom Werkschutz bitte. Neben Koomson werden mir zwei weitere Opfer von Galamsey-Opfern vorgeführt: Chief Inspector Bayabu raubte das Geschoss einer Zwille die Sehkraft des rechten Auges. Security Officer Bismarck Asare Addo zerschmetterte ein Stein den Unterschenkel. „Als ich im Krankenhaus lag, kamen zwei Männer mit dem Attentäter und zwangen ihn, mich um Vergebung zu bitten“, berichtet Addo. Es seien Mitglieder einer rivalisierenden Gang gewesen, die Addos Angreifer mit einem Hinterhalt gestellt hätten. Indem sie den Schuldigen auslieferten, wollten sie verhindern, dass der Werkschutz großflächige Strafaktionen einleitete. Im Lauf des Gespräches bricht jedes Eis mit den Interviewten. Bereitwillig stürzen sie sich in Uniform, um sich an ihren Unfallorten fotografieren zu lassen. Dabei erlebe ich vor allem, wie Officer Addo sich verwandelt: Vom leisen Angestellten in Zivil vor dem Colonel zum herrischen Befehlsgeber vor den Untergebenen. Auch Koomson ist nicht zufrieden, bis er mir einen der scharfen Hunde vorführt. Ich bitte um einen weichen Hund für ein Foto. Danach besteht er auf einem scharfen Hund: zähnefletschend springt mir das Tier in die Kamera. Die Werkschutzleute sind glücklich. Es ist das erste Mal, dass ein Journalist mit ihnen spricht. Baba Ibrahim, Praktikant der PR-Abteilung, verfasst einen Artikel über meinen Besuch für die Werkszeitung. Das Fazit der Wachmänner: Sie brauchen endlich scharfe Waffen, um sich gegen die Banditen zur Wehr zu setzen. Bei jedem Gespräch betone ich, dass ich auch mit verletzten Galamsey sprechen werde. Ob es nicht doch möglich sei, dass es in dieser aufgeheizten Atmosphäre auch mal zu Übergriffen käme? Und sei es nur aus Nervenanspannung oder falsch verstandenem Korpsgeist, nachdem Kollegen im 297 Florian Klebs Ghana Dienst verletzt wurden? „Nein“, wird die Frage zurückgewiesen: Von Seiten der Wachleute, des Managements und der PR-Abteilung. Die Stimmung wird wesentlich frostiger sein, wenn wir das gleiche Thema vier Wochen später noch einmal diskutieren. Nachdem ich in den Dörfern gewesen war. 10.4 Die Verzweifelten von Sansu Den Eindruck einer Räuberhöhle macht das kleine Dörfchen Sansu nicht gerade. Und doch gibt es kaum einen unter den jungen Männern hier, der sich nicht ein- oder zweimal die Woche heimlich und illegal ins Minengelände schleicht. Das Dorf wirkt eingezwängt zwischen Straßen und Halden der Minen. Die Hälfte der Hütten zeigen Risse, die die Bewohner auf Sprengungen zurückführen. 50 Häuser seien eingestürzt. Auch die Pflanzen auf den Feldern am Haldenfuß wirken kümmerlich: Bei jedem Regen schwemmt das Wasser feinen Schlamm aus dem Gesteinsschutt zwischen die Pflanzen. Die Ernte sei um ein Drittel geschrumpft. „Wir wissen, dass Goldsuchen illegal ist. Aber wir stehen mit dem Rücken zur Wand“, sagt Ben Annan, Assemblyman des Dorfes. Noch vor wenigen Jahren gab es manche Nacht, in der Ben Taschenlampe, Hammer und Machete einsteckte, um auf das Minengelände zu schleichen. „Erst haben sie uns die Felder genommen – jetzt jagen uns die Männer vom Werkschutz. Ich war Zeuge, wie sie einen von uns ermordet haben.“ Dabei sei die Gemeinde einst reich gewesen, berichtet Charles Awuah, 81 Jahre alt und einer der ältesten des Dorfes. „Noch in den 80er Jahren glitzerte das Gold nach jedem starken Regen zwischen den Kiesbänken des Flusses. Früher einmal waren wir reich. Wir hatten alle unsere Felder und am Flussufer wuschen die jungen Männer den Sand nach Gold.“ Sein Vater habe sich 1930 einen Ford leisten können. „Damals gab es in ganz Obuasi nur zwei Automobile. Das eine gehörte einem Weißen. Das andere war das von meinem Vater“, erinnert sich Awuah. So lange Ashanti Goldfields nur den Untergrund ausbeutete, sei das Goldschürfen am Flussufer geduldet worden. Die Übergriffe hätten erst mit Beginn des Tagebaus ab 1987 begonnen. „weil dort die Bagger die Erde aufreißen. Fast alle in unserem Dorf sind nun illegale Goldschürfer. Wir haben 200 arbeitslose Jugendliche hier. Manche hat der Werkschutz von Ashanti Goldfields erwischt und zu Tode geprügelt. Jetzt haben sie scharfe Hunde, die sie auf ihre Gefangenen hetzen.“ 298 Ghana Florian Klebs Kofi Sarpong ist einer der Illegalen, die vom Goldsuchen nie zurückkamen. „Er starb im Werkskrankenhaus, nachdem ihn Wachdienst und Polizei halb tot geprügelt hatten“, berichtet seine Witwe Grace Yankee. Erst später erzählten ihr Freunde, wie es dazu gekommen war: „Sie waren 16, die Gold suchen wollten. In dieser Nacht wurden sie von Militär, Polizei und Werkschutz mit 13 Hunden gestellt. Die schlugen die Goldsucher zusammen und fuhren sie zu den Zellen des Werkschutzes auf dem Minengelände. Nach dem Aussteigen mussten sie Spalierlaufen durch 40 Männer, die auf sie einschlugen. In der Zelle brachen mein Mann und zwei andere zusammen. Sie wurden herausgezogen und zum Werkskrankenhaus gebracht.“ Zu diesem Zeitpunkt war Yankee 19 Jahre alt und schwanger. „Wir hatten einen Hektar Land voll Kochbananen in den Hügeln“, berichtet sie von ihren Zukunftsplänen. „Später sollte das eine Kakao-Farm werden, damit unsere Kinder eine Zukunft haben. Mein Mann schlich sich deshalb etwa zweimal die Woche zum Goldsuchen, um Bäumchen zu kaufen. Meistens haben sie den Abraum von Ashanti Goldfields durchsucht. Manchmal fanden sie auch gar nichts.“ 1998 habe Ashanti Goldfields die Hunde angeschafft. Seither sei das Töten zurückgegangen. Dafür würden die Tiere auf Wehrlose gehetzt. „Ich lag mit dem Gesicht nach unten, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Der Wachmann rief: Suzi, fass! Der Hund verbiss sich in meinen Arm. Ich hörte den Hundeführer lachen. Ich weinte, ich bettelte, ich dachte, es sei das Ende meines Lebens. Dann hetzten sie den zweiten Hund auf mich. Da fiel ich in Ohnmacht“, berichtet Amos Abu. Seit jener Nacht im März 2002 winden sich dicke Narbenstränge um seinen Oberarm. Zusammen mit einem Freund habe er die Straße nach Gesteinsklumpen absuchen wollen, wie sie manchmal von den Lastern fallen. „Dabei lauerte uns der Werkschutz auf. Sie schlugen mich mit Schlagstöcken, kickten in jeden Teil meines Körpers. Dann kamen die Handschellen und die Hunde.“ Die Nacht habe Abu in einer Zelle des Werkschutzes verbracht. „Die Wachleute feierten. Von dem Hundeführer habe ich gehört, dass er befördert wurde. Ich kenne ihn, er heißt Charles Abay. Heute geht er nicht mehr auf Patrouille. Er hat jemanden, der ihn fährt. Es heißt, die Wachleute würden für Gefangene einen Bonus bekommen. Manchmal bekommen sie als Belohnung Alkohol geschenkt. Am Morgen danach sagte einer von ihnen zu mir, wenn ich in der Nacht gestorben wäre, hätte sie niemand zur Rechenschaft gezogen.“ Vor Gericht wurde Abu wegen illegalem Goldsuchen verurteilt und musste 500.000 Cedis Strafe zahlen. Die Stimmung ist aggressiver rund um Obuasi, als sie in den Dörfern um Tarkwa war. „Es stimmt, wir haben Macheten und Hämmer dabei, wenn wir 299 Florian Klebs Ghana Gold schürfen. Es ist Werkzeug, schließlich musst du graben können. Und, ja, es ist möglich, dass jemand auch mal eine Schleuder dabei hat“, gibt Ex-Galamsey Annan zu. Auch sei es jemand aus seinem Dorf gewesen, der dem Wachmann Bayabu einen Stein ins Gesicht schleuderte. „Wenn du um dein Leben rennst, wenn du weißt, dass einer deiner Brüder getötet wurde – dann kämpfst du dir den Weg frei“, begründet Annan. „Allerdings gibt es Fälle, wo 120 Jugendliche von sechs Wachleuten gejagt wurden. Wir hätten angreifen können. Aber wir rannten davon.“ 10.5 Tod aus dem Abflussrohr Dass manche Probleme erst anfangen, wenn der Bergbau längst abgeschlossen ist, erlebe ich wenige Kilometer entfernt am Rande des Dorfes Binsere. Knapp 100 Meter von der Dorfgrenze entfernt bricht der Boden an einer scharfen Kante ab. Dahinter klafft das Loch, in dem mehrere Fußballfelder Platz fänden. Gut 20 Meter tief sind zerklüftete Felswände sichtbar, darunter stauen sich Regen und Grundwasser. Vom Grubenrand speit ein Rohr einen nach Schwefel stinkenden Schwall schwarzen Schlamms in die Tiefe. Die Böschung ist zerfurcht, der scharfe Strahl hat einen metertiefen Canyon hineingefräst. Durch die mannsbreite Schlucht drängen sich Schlammgestalten. Sie klettern, drängen, streiten, prügeln sich um die besten Plätze am Rohr. Es ist die Dorfjugend. Beim Goldschürfen. Denn selbst dieser schwarze Schlamm enthält noch einen geringen Rest Gold. „Tailings“ nennt man den schwarzen Schlamm in der Bergbausprache: Ein Industrieabfall, der bei der Erzaufbereitung anfällt. Es ist das ausgebeutete Gestein, fein gemahlen, voll mit Schwefel, der zu Säure oxidiert, außerdem Arsen, Chrom und andere Schwermetalle. Getränkt ist der Schlamm mit Zyanidsäure, die das Gold auslaugt, und anderen Chemikalien. Das Loch ist Pit T2, ein ausgebeuteter Tagebau der Firma Ashanti Goldfields. Der Abfall dient als Füllmaterial: später soll Erde den schwarzen Schlamm bedecken, darauf wird Ashanti zur Renaturierung Bäume pflanzen. Prince Abu Gyamfi, 18 Jahre alt, ist einer der Jugendlichen, die jeden Tag hier her kommen. Drei Wochen zuvor hat ihm der Schlamm den Bruder genommen: „Wir standen ganz unten, dort, wo der Schlamm in den Grubensee fließt: Mein Bruder Eric, sein Freund Kwaku und ich“, erzählt Gyamfi unter Drängen und mit Stocken. Nach vier Stunden sei der Schwall mit viel mehr Druck aus dem Rohr geschossen. Vom Gas wurde das Trio bewusstlos. 300 Ghana Florian Klebs Später erwachte Gyamfi beim Spucken. „Wir waren wohl alle drei bewusstlos ins Wasser gerutscht. Mich haben die Anwohner herausgezogen. Sie zwangen mir rotes Öl und Kakao ein, damit ich das Gift wieder hoch breche.“ Neben ihm lag sein Bruder, der jedoch nicht mehr aufwachte. Kwaku blieb unter Wasser. Vier Tage habe es gedauert, bis seine Leiche nach oben kam. Zu diesem Zeitpunkt drängt sich Gyamfi schon wieder um einen der besseren Plätze am Rohr. Ein Tick läst die Lider der Augen flattern. Der Kopf und die Brust seien seither voller Schmerzen. Manchmal schüttele es ihn im Fieber. Doch untätig bleiben könne er sich nicht leisten. Den giftigen Schlamm durchzuwaschen – das sei das einzige Einkommen, das er habe. Fünfzehn Jahre ist es her, da hätten seine Eltern eine Farm gehabt. Wo? Genau hier, meint Gyamfi. Dort, wo jetzt das große Loch ist. Das Loch, in dem sein Bruder ertrank. Für Ashanti Goldfields ist die Idee, Umweltauflagen durch Altlastenentsorgung abzuhaken ein kostengünstiger Coup. Laut Firmenangaben fallen monatlich 160.000 bis 180.000 Tonnen chemiebelasteter Gesteinsbrei an. Vor zehn Jahren hatte die Firma ein Tal abgedeicht und angefangen den Pudding aus Stein und Chemie dahinter zu pumpen. Seither musste der Damm bereits viermal erhöht werden. Gut 15 Meter dürfte die Altlast direkt dahinter tief sein. Strenge Sicherheitsvorkehrungen belegen, dass Ashanti Goldfields den Tailingsschlamm durchaus als gefährlich einschätzt. Pumpwerke am Deichfuß sammeln jeden Liter Deponiewasser, der durch das Sperrwerk sickert und kippen ihn oben wieder hinein. Als 1998 eine Pipeline bricht und Aufbereitungsschlamm in den Fluß von Dokyiwaa fließt, warnt die Firma davor, den Fluss weiter zu nutzen und bohrt Trinkwasserbrunnen. Später wird mir das Management eine Genehmigung der Umweltbehörde vorlegen, die es erlaubt, Tagebaue mit Aufbereitungsschlamm zu verfüllen. Dabei liegt der toxische Schlamm im Grundwasser. Durch Sprengung und tropische Verwitterung ist das Gestein rundherum durch Risse zersiebt. Außerdem sind die Trinkwasserbrunnen des Dörfchens Binsere nur wenige Meter von der Schlammdeponie entfernt. Die Giftstoffe seien im Schlamm fest gebunden, das Zyanid würde sich zersetzen, versichert Kingsley Asamoh, Chief Environmental Engineer von Ashanti. Sicherheitshalber gäbe es noch einen Beobachtungsbrunnen zwischen Deponie und Dorf, mit dem man überwachen könne, ob die Schlammgrube dicht halte. Wie denn der Notfallplan aussähe, wenn nicht, will ich wissen. „Wir können uns einen solchen Fall nicht vorstellen“, lautet die Antwort. 301 Florian Klebs Ghana Für Erics und Kwakus Tod hat das Management wenig Mitleid. „In der Grube hatten sie nichts zu suchen“, meint Manager Amponsah. Selbst, wenn es sich um Chemieabfälle handelt – im Konzessionsgebiet ist Goldsuchen eben illegal. 11. Recherche in Afrika 11.1 „Dann haben wir ja noch Zeit“ „Wie lange bist du noch da?“ Mit dieser Frage wird meist der Tod jeder Recherche eingeleitet. Denn prompt folgt auf die Antwort gleich die Feststellung: „Dann haben wir ja noch Zeit“. Eins lerne ich schnell beim Recherchieren: Nichts anbrennen lassen, jede Gelegenheit sofort nutzen. Denn sie kommt höchstwahrscheinlich nie wieder. Auf ein Terminangebot mit den Worten zu reagieren: „Heute um drei passt schlecht, wie wäre es morgen um vier“, bedeutet meist eine verpasste Gelegenheit. Ein anderer Grundsatz: Niemals Alternativen anbieten. Die Terminbitte: „Wir könnten uns morgen treffen oder auch Anfang nächster Woche“ führt meist dazu, dass der Gesprächspartner anbietet, man könne ja auch noch mal telefonieren. Und so viel zu dem Thema. Zurückgerufen wurde ich fast nie. Gerade Behördenvertreter oder Firmensekretärinnen notieren sich gern eine Telefonnummer, um sich nie mehr zu melden. Ausnahmen bestätigen die Regel. Manchmal hilft es, dreist vorbeizufahren mit dem Angebot, man wolle dem Gesprächspartner die Arbeit erleichtern. Traurigste Erfahrung machte ich mit dem Okyhene, einem ParamountKönig und Angehörigen der Umweltbehörde, der ankündigte, sein Land und seine Waldschutzgebiete dem Goldbergbau zu verweigern. Mehrfach baten Mike Anane und ich seinen Verwaltungschef um Gesprächstermine, brachten Bögen mit unseren Fragen zum Zweitpalast in Accra, riefen an, wenn die ausgemachten Zeiten für einen Rückruf abgelaufen waren und sprachen schließlich selbst noch einmal im Palast vor. Einen Tag lang hatten wir das Gefühl, etwas bewegt zu haben. Beim nächsten Anruf putzte mich der Chief of Staff herunter: Es sei ein unmögliches Benehmen, im Palast vorzusprechen, der Okyhene sei kein Politiker, sondern traditional Herrscher. Ich solle vorsprechen, wenn ich gelernt hätte, mich zu benehmen. Wie solches Benehmen aussähe, sei nicht seine Aufgabe, mir zu erklären – ich solle meinen Freund fragen, der sei schließlich Ghanaer und wenn er es nicht wisse, solle er einen fragen, der es weiß. 302 Ghana Florian Klebs Mike Anane weiß genau, wie man sich einem König gegenüber benimmt. Seit rund 30 Jahren ist sein Vater der Paramount-König von Ejisu. 11.2 „Es gibt ihm ein unangenehmes Gefühl“ Vor allem Geduld brauche ich in den Dörfern, um die Menschen zu persönlichen Schilderungen zu bringen. Um zu erkennen, was Goldbergbau für die Anwohner wirklich bedeutet, bitte ich sie, mir beispielsweise einen konkreten Tagesablauf zu schildern: Wie sie Fische verkauften und später erfuhren, dass der Fluss vergiftet war. Wie erfuhren sie davon? Per Zufall? Gingen Ausrufer der Bergbaugesellschaft herum? Haben sie erst Fisch gegessen? Oder was passierte, als Wachhunde auf wehrlose Verhaftete gehetzt wurden? Wurden sie erst gefesselt? Konnten sie weglaufen? Haben sie sich gewehrt? Um Hilfe gerufen? Zuerst bekomme ich meist Standardantworten: „Ich fischte und der Fluss war kontaminiert“ oder „Ich wurde verhaftet und meine Menschenrechte wurden verletzt“. Aus anderen Quellen höre ich Berichte, wie sich die gleichen Menschen verzweifelt auf dem Boden wälzten oder die Witwen illegaler Goldsucher gehalten werden mussten, damit sie sich nichts antun. Die Aussage von einem Betroffenen selbst zu bekommen, war in vielen Fällen fast unmöglich. Gipfel der Emotionslosigkeit im Ausdruck ist mein Gespräch mit Prince Abu Gyamfi, dessen Bruder drei Wochen zuvor bei der verzweifelten Goldsuche in Industrieabwässern starb. Gyamfi ist sichtlich traumatisiert. Sein Gesicht ist maskenhaft, nur die Lider flattern nervös. „Die Erinnerung gibt ihm ein unangenehmes Gefühl“, umschreibt der Dorfchronist seinen Zustand. Mein Verdacht ist, dass meine Ankunft in einem Dorf per se ein so offizieller Akt ist, dass alle glauben, sie müssten sich, ähnlich wie vor Gericht, sehr knapp, faktenorientiert und geschwollen ausdrücken. Alles Persönliche oder vermeintlich banale wird ausgelassen. Das Problem verschärft sich, wenn ich einen Übersetzer brauche. Manchmal wird eine zehnminütige Aussage auf Twi von meinen Begleitern in zwei Sätzen wiedergegeben. „Ich habe es zusammengefasst“, bekomme ich jedes Mal zu hören, wenn ich nachfrage – selbst wenn wir schon zehn Tage zusammen arbeiten. Die Situation ändert sich ein bisschen, wenn ich den MD-Recorder auspacke. Ich erkläre, dass ich das Gespräch im Radio sende und jedes Wort übersetzt brauche. Wie weit es klappt, weiß ich nicht – aber die Übersetzungen werden länger. 303 Florian Klebs Ghana 11.3 „Ich habe Angst vor dir“ Vor allem ein Erlebnis scheint meine Theorie zu bestätigen, dass sich die Dorfbewohner wie bei einem offiziellen Gerichtsprotokoll fühlen. Seit Minuten dringe ich in einen Dorfbewohner, Okye Kuedufia, der schildert, wie die Minengesellschaft einen Kanal durch sein Feld gezogen habe. Was er gemacht habe, als der Bagger am Feldrand auftauchte. Habe er den Arbeiter nicht gefragt, was er hier wolle? Schließlich schreit Kuedufia auf: „Bei Gott, Mr. Klebs, wir sind nicht so wie ihr. Wir haben Angst vor solchen Leuten, wir haben Angst auch vor den Weißen und ich habe auch Angst vor dir. Wenn jemand auf einem Bagger sitzt, dann ist das ein wichtiger Mann, dann laufen wir weg. Weiß ich, ob er nicht gestern erst mit dem Präsidenten zu Abend gegessen hat?“ Zahlen, Daten, Fakten – in den Dörfern rund um die Goldminen werden die Lieblingsangaben für Journalisten zum Problem. Begann das Problem 1997 oder 1998? Wurde zuerst das Dorf zerstört oder erst der Fluss vergiftet? Prompt kollidieren die Aussagen: „Meine Tochter kam im März zur Welt, da war mein Mann schon tot. Er wurde im Januar erschlagen. Da war ich im vierten Monat“, schildert mir eine Frau. Vor allem vor Gericht werden Schilderungen wegen Glaubwürdigkeitsmankos gegen Dorfbewohner eingesetzt. Wo ein Landwirt verzweifelt mit Erinnerungen jongliert, legt die Bergbaugesellschaft Wachbücher oder ähnliche Dokumente vor. Auch die Anschuldigungen sind meist nicht nachprüfbar: Ist dieses Kind tatsächlich gestorben, weil der Fluss kontaminiert war? Könnte dieser Fischer nicht wieder Geld verdienen, weil das Wasser seit dem Chemieunfall längst wieder sauber ist? 12. Geschichten am Rande 12.1 Zum Studium nach Deutschland Unterm Arm trägt John Okae-Asante eine Info-Mappe der us-amerikanischen Franklin University. Darin stecken alle Dokumente, die dem 24jährigen Afrikaner heilig sind: Das Zeugnis der polytechnischen Hochschule mit Notendurchschnitt „A“. Der Kontoauszug seines Onkels, der ihm ein Auslandsstudium finanzieren will. Und eine Studienzulassung für den internationalen Bachelor-Studiengang „Electrical Engineering“ der Hochschule für Technik und Gestaltung in Mannheim. „Mannheim schlägt US-Universität“ könnte nun die Schlagzeile lauten. Und Deutschlands Bildungspolitiker würden sich auf die Schulter klopfen. 304 Ghana Florian Klebs Denn jährlich sechs Millionen Euro spendierte Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn den deutschen Hochschulen, um weltweit Werbung für den „Bildungsstandort Deutschland“ zu machen. Doch Okae-Asante hat ein Problem: Trotz Zulassung in Mannheim wurde ihm das Visum verweigert. Dreimal war der angehende Ingenieur im Minibus zur Deutschen Botschaft nach Accra gepilgert. Ab vier Uhr morgens formiert sich dort die Schlange der Visumsbewerber. Ein mobiler Passbild-Fotograf macht ein gutes Geschäft: Seit diesem Herbst akzeptieren Deutschlands VisumsVorschriften den landesüblichen roten Hintergrund für Passbilder nicht mehr. Ein Kiosk brät Frühstückseier und schenkt Kaffee und heiße Schokolade aus. Findige Jugendliche entdeckten den Geschäftszweig, sich jede Nacht anzustellen um ihren Platz am Kopf der Schlange an betuchte Antragsteller zu verkaufen. Was Studentenvisa betrifft, habe sich die Zahl der Anträge seit Beginn des Marketings von jährlich 50 auf an die 500 verzehnfacht, berichtet mir Anne Wagner, Leiterin der Rechts- und Konsularabteilung der Botschaft. Grund dafür sei, dass sich auch deutsche Hochschulen intensiver um Studenten aus dem Ausland bemühten, ergänzt Harald Olk, der in Accra das Informationsbüro des Deutschen Akademischen Austauschdienstes leitet: „Viele haben „International Degree Programmes“ eingerichtet, bei denen die Vorlesungen auf Englisch abgehalten werden.“ Für jeden Antrag müssen die Bewerber zum persönlichen Interview. „Bei Studentenvisa fragen wir zum Beispiel, welche Kurse in dem Studiengang vorgesehen sind, oder was der Antragsteller über die Stadt weiß, in der er studieren will. Da merkt man schnell, ob sich jemand ernsthaft mit Studienplänen auseinandergesetzt hat“, sagt Wagner. Außerdem müssen sie ein Konto mit mindestens 6.000 Euro besitzen – als Nachweis, dass sie zumindest die ersten zwei Semester finanziell durchstehen. Okae-Asante hatte vor seiner Entscheidung lange recherchiert, drei Hochschulen in Deutschland und mehrere in England und den USA genau durchleuchtet. Zum Gespräch will er den halben Lehrplan intus gehabt haben. Das Internet hatte ihm gezeigt, dass ihn im deutschen Winter die ersten Minusgrade seines Lebens erwarten. Außerdem hatte er gelernt, fünfsilbige Zungenbrecher wie „Baden-Württemberg“ auszusprechen. „Wenn sie mir wenigstens mitteilten, warum sie mich ablehnen – dann könnte ich den Makel beheben“, meint Okae-Asante. Doch „die Ablehnung bedarf keiner Begründung“ steht auf dem Schreiben der Botschaft. Erst später erfährt der Bewerber, dass er sein Studieninteresse nicht ernsthaft belegen konnte. 305 Florian Klebs Ghana Der einzige Rat, den ich ihm geben kann, ist, seine Deutschkenntnisse aufzupolieren. Von Gesprächen im Umkreis des Botschaftspersonals weiß ich, dass darauf großer Wert gelegt wird – selbst wenn die Lehrsprache an der Hochschule Englisch sein wird. „Deutschkenntnisse sind keine explizite Voraussetzung für die Visumserteilung, wohl aber ein weiteres Indiz für die Ernsthaftigkeit des Studieninteresses“, lautet das autorisierte Zitat von Wagner. Für Okae Asante ist dies fast unmöglich. Vier Stunden Reise sind es bis zum Goethe-Institut in Obuasi. Eine Stunde bis zum Sprachinstitut von Kumasi – wenn der Bus pünktlich fährt und ohne Panne ankommt. Doch die letzten Kurse beginnen um fünf Uhr. Um diese Zeit endet gerade die Schicht des angehenden Ingenieurs. Kennen gelernt habe ich Okae-Asante in Obuasi. Reiner Zufall: Sein Onkel ist Human Ressources Manager von Ashanti Goldfields. Bei der gleichen Firma hat Okae-Asante inzwischen eine Ingenieursausbildung als Trainee begonnen. Ein Auslandsstudium würde ihn für das gehobene Management qualifizieren. Von seinen Ausbildern wird er dafür ausdrücklich empfohlen, für seine Rückkehr gibt ihm die Firma eine Arbeitsplatzgarantie. In meinem Hotel in Accra lerne ich den nächsten Studenten kennen, der von einem Studium in Deutschland träumt: Wilson Dogbatse, Marketingstudent der Legon University of Ghana und Neffe des Hoteliers. Mit der Zeit häufen sich Bekanntschaften wie diese. Und zunehmend lerne ich junge Männer kennen, denen der Traum schon viel Geld gekostet hat. 8.000 Euro verlor einer von Dogbatses Freunden. 5.000 Dollar ein weiterer Freund. Geld, das sie gutgläubig an einen Visa-Agenten bezahlten. „Diese Männer versprechen dir, die Papiere durch Connections zu beschaffen“, erklärt Dogbatse. „Du erkennst sie am Anzug und den teuren Autos, mit denen sie vor der Botschaft stehen. Oder du fragst einfach herum – irgendwann sagt jemand ‚Mr. John kann dir helfen’, gibt dir eine Telefonnummer und du triffst dich, um über den Preis zu verhandeln.“ Auch ich entdecke bald die Aushänge an der Uni, die schnelle Hilfe bei der Passbeschaffung versprechen. Wer sie in Anspruch nimmt, wird meist zum Visa-Agenten weitergereicht, weiß Dogbatse. Vier Kommilitonen kennt der Student, die VisaAgenten das ganze Familienvermögen übergaben. „Sie sind alle noch hier – nicht einer hat je die Papiere bekommen.“ Okae-Asante will es weiterhin auf legalem Weg versuchen. Nach meiner Rückkehr habe ich ihm ein Buch und zwei CDs geschickt: Schnellkurs Deutsch für Englischsprachige. Seine jüngste Mail an mich überschrieb er mit „Gutten Tag“. Ich halte weiterhin die Daumen. 306 Ghana Florian Klebs 12.2 Der erstaunliche Mr. Blayh Wer aus Deutschland nach Tarkwa kommt, wird früher oder später Mister Blayh begegnen. Sobald der 60jährige Mechaniker hört, dass ein germanophoner Weißer die Stadtgrenze überschritten hat, wirft er sein Schweißgerät in die Ecke, um den Fremden in dessen Landessprache zu begrüßen. In den sechziger Jahren war ihm ein Flugblatt in die Hände gefallen. Das Goethe-Institut – damals noch in Kumasi – bot kostenlos einen dreimonatigen Deutschkurs an. Drei weitere Monate legte Mr. Blayh aus eigener Tasche drauf. Seither hat der feingliedrige Schweißer kein Klassenzimmer mehr von innen gesehen. Das Land seiner Sehnsucht hat er noch nie betreten. Seine Kenntnisse sind ihm geblieben. Und manchmal trifft er in Tarkwas Straßen einen Landsmann, der einmal in Bochum oder Zuffenhausen malochte. Dann versucht er, ein Gespräch über Grammatik anzuknüpfen. „Wenn ich einen englischen Anlasser in ein Auto baute, war der Kunde nach drei Monaten wieder da. Wenn ich einen deutschen nahm, habe ich mindestens ein halbes Jahr nichts mehr von ihm gehört“, begründet Blayh seine Motivation, sich mit der Sprache auseinander zu setzen. Seit WACAM, die Grasswurzelbewegung gegen Goldbergbau in Tarkwa, jährlich Studenten von InWent bei ihren Praktika betreut, hat Mr. Blayh wieder öfter Gelegenheit, seine Fähigkeit warm zu halten. Manchmal kauft ihm einer der Studenten auch eine deutsche Zeitung, die als Altpapier zum Einkäufe einzuwickeln nach Ghana exportiert wird. Dann liest Mr. Blayh von Gemeinderäten, die im Allgäu Umgehungsstraßen fordern und von der feschen Rosi, die sich in Boulevardblättern auf der Titelseite aalt. Seine Sternstunde hatte der Sprachkünstler allerdings, als Ghana Manganese Company, ein Bergbau-Konzern mit starker Bindung an Deutschland, ein echtes Problem hatte: Für mehrere Monate hatten sie einen deutschen Fachmann eingeflogen. Doch der sprach kein Wort englisch. „Ich habe ihn wochenlang unterrichtet“, erklärt Mr. Blayh mir stolz. Nur zu gern möchte Mr. Blayh auch an Schulen Deutschunterricht geben. Für Schüler, die weitab von Uni oder Goethe-Institut sonst keine Möglichkeit haben, die Sprache zu lernen. Schon mehrfach hat er Deutsche gebeten, ihm eine Adresse zu geben, wo er Lehrbücher bestellen könne. Aus Accra und einem schnellen Internet-Café gebe ich ihm die Anschrift von Langenscheidt. Vielleicht, so meine ich, gibt es dort sogar Restbestände alter Auflagen, die billiger sind. Einfach wird es trotzdem nicht. Für Ghana hat Langenscheidt keinen Importeur angegeben. Ganz hat er seinen Traum noch nicht aufgegeben: Einmal das Land zu sehen, dessen Sprache er langsam aber fließend beherrscht. Rund 8.000.000 Cedis kostet der Flug nach Europa. Rund 400.000 Cedis hat er schon zusammen. 307 Florian Klebs Ghana 13. Thank you!!! My life was enriched thanks to Mike Anane and Carol Anane, who introduced me to Ghana, always made me feel at home and supported me in every very way. I deeply wish to thank Nana Aboagye Aguei II for one of the most impressive receptions in my life and Nana Boakye-Yadom I for the many exceptional hours I spent with him. My gratitude goes to Friedrich-Ebert-Stiftung in Ghana, especially Jörg Bergstermann and Programmes Coordinator Edward Briku Boadu, who used his excellent knowledge and local relationship to help me beyond my expectations. I do wish to thank Daniel Owusu-Koranteng, executive Director of WACAM and his wife Hannah, also Kwesi Aduakwah of WACAM as well as Mohamed and Kofi Scott, WACAM Community Volunteers, who all devoted enormous amounts of time to help me. I thank the Obuasi Management of Ashanti Goldfileds for their hospitality and the excellent insight they gave to me, namely Mr. Sarpong and his intern Baba Abdulai, also the Public Relations Management of Ghana Goldfields. I wish to thank Professor Kwabena Sarpong for being my host and the long conversations introducing me to African art (apart from many other topics). Also brassman Edward Owusu and his brother, Georg Koomson and the staff of Public Agenda. I thank the inhabitants of the villages of Abekoase, Nkwantakrom, Koduakrom, Atwereboana, Sansu, Binsere and Dokyiwoa, namely Nana Molobah, Nana Kofi Karikari, Nana Kojo Bogya II and fetish-priest Augustina Antwi. I thank Fabian Kutenkeuler and Benedikta Rabins from the ASAFellowship for sharing their experiences in Tarkwa with me. For getting me prepared I thank Uli Müller from FIAN Germany for sharing his detailed knowledge and introducing me to Daniel Owusu-Koranteng and Mike Anane, also ASA-alumni Marcus Quinlivan and Anne Wendler from InWent for allowing me to take part in one of the preparation workshops of the ASA-Fellowship. I thank Professor Johanna Dahms and artist Runa Verdandi who first introduced me to the Ashanti art of metalsmithing. Most of all, my deep gratitude belongs to the Heinz-Kühn-Foundation. Thank you, Ute Maria Kilian, for doing an excel lent job that goes far beyond the administrative process. 308 Dr. Sonja Kretzschmar aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Südafrika 10. Februar bis 28. März 2004 309 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar Auf dem Land, im Gefängnis und im Fernsehstudio: Die „Rainbow Nation“ und ihr Mediensystem. Von Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika vom 10.02. – 28.03.2004 311 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar Inhalt 1. Zur Person 314 2. Vorwort 314 3. „Afrika ist ursprünglich auf dem Land, und das afrikanischste aller Medien ist das Radio“ – oder: 24 Stunden Afrika pur 315 4. Die Idee des Multi Purpose Community Centers – und ein Ausflug ins Gefängnis 323 5. Der Film: Gespräch Teboho Malatsi 328 6. Die Presse: Auf einen Tee zum „Star“ 330 7. Das Internet: Black Rage 332 8. HIV / AIDS – das ungeliebte Medienthema 333 9. „Giving access“: den Zugang schaffen. Die Gemeinde-Radios 334 10. Das Fernsehen: SABC, größter Nachrichtenproduzent Afrikas 336 11. Die Medienwissenschaft und die NGOs: Prof. Tuwana Kupe und Jane Duncan 338 12. Der Abschied 339 13. Dank 341 313 Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika 1. Zur Person Dr. Sonja Kretzschmar, geboren am 9.10.1970 in Frankfurt/Main, studierte nach einem Auslandsjahr an der Sorbonne, Paris, Journalistik in Dortmund und Edinburgh. Volontariat bei der „Berliner Zeitung“, Praktika, freie Mitarbeit, Pauschalistin, Urlaubsvertretung bei Tageszeitungen im Print- (WR/WAZ) sowie Online-Bereich (Märkischer Zeitungsverlag), Nachrichtenagentur (DPA), Hörfunk und Fernseh-Redaktionen (SFB, Arte, WDR, NDR). 2001 Promotion an der Universität Dortmund, von 2001-2004 Moderationsredakteurin bei den Tagesthemen (ARD-aktuell, Hamburg), seit 2001 Dozentin an den Universitäten Erfurt, Münster, Leipzig und freie Journalistin. 2. Vorwort Als ich in der Grundschule war, kam eines Tages ein neues Mädchen in unsere Klasse; ihre Familie hatte vorher in Südafrika gewohnt. Sie wurde meine beste Freundin. In ihrem Haus gab es afrikanische Masken, Batiktücher, gewebte Teppiche an den Wänden und Fotos von Löwen. Südafrika war unvorstellbar weit weg, ein Land voller Geheimnisse und Abenteuer. Viele Jahre später, nachdem ich Südafrika bereits als wunderbares Urlaubsland kennen gelernt, Nationalparks und die Weingüter am Kap besichtigt hatte, flog ich wieder hin – diesmal als Journalistin. Zehn Jahre nach den ersten freien Wahlen, zehn Jahre, in denen sich die Medienlandschaft von Grund auf verändert hatte. Ein Land, das eine gewaltsame Vergangenheit getauscht hat gegen eine Gegenwart, bei der Gewalt und die Angst davor ein Teil des Alltags ist. Die Medien versuchen, zwischen Gesellschaftsschichten zu vermitteln, die verschiedener sind als in vielen anderen Ländern dieser Welt. Der Abstand zwischen dem Leben der Schwarzen in den Townships und Dörfern und den Weißen in ihren alarmanlagengesicherten Villenvierteln ist groß. Ich wollte Menschen treffen, die in den Medien des neuen Südafrika arbeiten, die versuchen, einen Dialog zu führen, um zwischen diesen Gruppen Brücken zu bauen. 314 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar 3. „Afrika ist ursprünglich auf dem Land, und das afrikanischste aller Medien ist das Radio“ – oder: 24 Stunden Afrika pur Die Hinfahrt Zehn Uhr abends, mein Handy mit südafrikanischer Nummer klingelt. Das Handy ist in Südafrika zum wichtigsten Kommunikationsmittel geworden, nicht nur unter den Weißen. Vor allem in den Townships, in denen die Zeit der Festnetzanschlüsse übersprungen wird, sind Handys unersetzlich. Als mögliche Objekte zum Diebstahl haben Handys Fotoapparate abgelöst: natürlich soll man keine Fotoapparate in diesem Land offen tragen, aber auch Handy-Anrufe auf offener Straße anzunehmen ist gefährlich. Man riskiert einen Überfall. Diesen Anruf aber kann ich direkt annehmen: ich bin zu Hause. Das Haus teile ich mir mit einem südafrikanischen Mitbewohner, es liegt in einem sicheren Viertel der Stadt. „Ja, hallo, Harry hier. Wir wollen doch morgen in den Norden fahren. Aber - können wir uns nicht auch dort, an der Radio-Station, treffen? Ich muss noch Verwandte besuchen.“ Harry Letsebe arbeitet in Johannesburg für die Media Development & Diversity Agency (MDDA), eine staatliche Organisation, die unabhängige und gemeinnützige Medien in Südafrika fördert. Schwerpunkt der Arbeit sind die „Community Radios“, Gemeinderadios. In einem Land, wo der Analphabetismus hoch ist, der Transport von Zeitungen schwierig und Fernseher für die ganz Armen sehr teuer sind, ist das Radio einfachstes und billigstes Medium, um zu informieren. „Du meinst, ich soll da alleine hinfahren?“ Völlig ausgeschlossen. Mein Leihauto von „Rent a wreck“, ohne dass ich in einem Land fast ohne öffentlichen Nahverkehr nicht arbeitsfähig wäre, ist nur in Johannesburg und im nahen Umland ein sicheres Transportmittel. Wenn ich am Ende der Welt liegen bleibe, was bei diesem Auto wahrscheinlich ist, holt mich niemand von der Verleihfirma ab. Der Service, das bei Problemen sofort Mitarbeiter kommen und das Auto reparieren, beschränkt sich auf das Stadtgebiet und einen Radius von etwa 60 Kilometern. In meiner Zeit mit dem fahrenden Autowrack habe ich ihn mehrmals nutzen müssen. Eine Autopanne gehört zum Alptraum der Südafrikaner: schon normale Überfälle kommen häufig vor, in manchen Gegenden des Landes werden Straßen absichtlich mit Hindernissen blockiert, um die Fahrer beim Anhalten auszurauben. Ein liegen gebliebenes Auto und vor allem dessen Fahrer sind eine leichte Beute. „Nein Harry, das ist zu gefährlich mit meinem Auto.“ Zum anderen würde ich dieses Radio niemals finden, Beschilderungen und Straßenkarten sind, abseits der Touristenstrecken und der großen Städte, kaum vorhan315 Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika den. „Dann komme ich lieber mit zu den Verwandten, das macht mir nichts aus.“ – „Gut. Dann fahren wir aber früh los.“ Harry und ich einigen uns darauf, dass ich um vier Uhr morgens mit meinem Auto zu ihm komme, in seinen Stadtteil von Johannesburg, wo überwiegend Schwarze wohnen. Das ist etwa eine halbe Stunde weit weg von meinem Villenviertel, in dem ausschließlich Weiße wohnen, wenn man von den Gärtnern und Putzfrauen einmal absieht. Das heißt um drei Uhr nachts aufstehen. Egal, die Chance, in ländliche Gebiete Südafrikas zu fahren, die „rural areas“, abseits von Touristenwegen, kann ich alleine nicht wahrnehmen. Das ist nur möglich begleitet von einem Einheimischen, der den Weg und die Menschen kennt. Als ich am kommenden Tag um vier Uhr morgens bei Harry bin, sind wir natürlich noch nicht abfahrbereit. Seine Frau und ein anderer, mir unbekannter Mann, fahren auch mit; wenn schon mal ein Auto fährt, dann muss es auch voll sein. Als wir um fünf Uhr morgens Johannesburg Richtung Norden verlassen, stelle ich fest, dass nur Harry Englisch spricht, was die Unterhaltung im Auto auf uns beide beschränkt. Dafür hat Harry umso spannendere Themen. „Was ich an Weißen nie verstehe, ist, warum sie Hunde haben.“ In Südafrika ist Hundehaltung unter Weißen tatsächlich sehr verbreitet. Zum einen ist es ein sehr ländlich geprägtes Land, mit viel Platz, zum anderen haben auch die südafrikanischen Städter fast alle Hunde: die großen Villengrundstücke werden nicht nur mit Alarmanlagen, sondern meist auch mit großen Hunden gegen Einbrecher geschützt. „Ein Hund, der kostet doch auch Geld, das Futter, der Tierarzt... Wenn man das Geld, das man jeden Monat für den Hund ausgibt, sparen würde, dann könnte man damit doch auch die Schulbildung für das Kind eines Verwandten bezahlen.“ Eine bestechende Logik, ich weiß kaum, was ich darauf antworten soll. Dass ich keine Verwandten habe, die die Schulbildung ihrer Kinder nicht selber bezahlen können? Dass Schule in Deutschland sowieso umsonst ist? Und dass, selbst wenn das nicht der Fall wäre, Bildung sicher nicht für den Preis von ein bisschen Hundefutter zu haben wäre? Irgendwann am Vormittag halten wir vor einer Art Verwaltungsgebäude. Es ist mittlerweile über 30 Grad warm, Harry verschwindet, der Mann, Harrys Frau und ich warten im Auto. Eine halbe Stunde, eine Stunde. Mittlerweile studiere ich die Unterlagen für das Gemeinderadio im Schatten; da niemand Englisch spricht, beschränkt sich die Kommunikation mit meinen Mitfahrern auf den Austausch von trockenen Keksen. Irgendwann taucht Harry wieder auf. Er erklärt mir, dass er irgendwelche Unterlagen für das Auto braucht, die er dort abholen will, offenbar eine Art Tüv-Plakette. Nach einer weiteren halben Stunde fahren wir weiter, ohne die Tüv-Plakette bekommen zu haben. 316 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar Ich habe es mir längst abgewöhnt, allzu nachdrücklich nach den Gründen von Stopps zu fragen, wenn man eigentlich mit einem anderen, bestimmten Ziel unterwegs ist. „Transport“ ist teuer in Afrika und damit kostbar, da müssen immer viele Dinge auf einem Weg erledigt werden. Da es nun Mittagszeit ist, fahren wir bei einer Art Fastfood-Imbiss vorbei, wie alle Läden in Südafrika schwer vergittert, wegen der vielen Einbrüche. Bei der Gelegenheit fällt mir auf, dass ich bei dem Aufbruch nachts um drei Uhr etwas Entscheidendes vergessen habe: meinen Geldgurt mit Bargeld, EC-Karte, Papieren. Ich habe nichts bei mir, keinen einzigen Rand. Das ist erst einmal kein Problem, Harry zahlt an dem Imbiss für uns alle zusammen. Als wir weiterfahren, klingelt Harrys Handy. Seine Stimme ändert die Tonlage, aber nur kurz. Anschließend schweigt er, spricht dann aber doch entschlossen weiter. „Meine Mutter ist gestorben. Wir fahren jetzt zu der Radio-Station, aber wir werden den Besuch dort abkürzen. Dann muss ich in das Dorf, wo meine Mutter wohnt, wo ich herkomme.“ Das also war der Grund für Harrys Verwandtenbesuch: seine Mutter war schwer krank. Meinen Einwand, sofort in das Dorf zu fahren, ohne die Radiostation zu besuchen, lehnt Harry ab. „Nein, nein, das kommt nicht in Frage“ sagt er mit fester Stimme. Auf der Weiterfahrt spricht er ohne Aufzuhören von allem anderen, nur nicht von seiner Familie. „Was ich an den Europäern beneide ist, dass sie so einfach reisen können. Sie sind alle so viel gereist. Ich war in Genf, auf dem „World Summit of Information Society“. Schon das ganze Drumherum hat mich so beeindruckt, das Hotel... Ich konnte mich gar nicht auf die Inhalte konzentrieren. Das ist für die Europäer normal, sie kennen das alles.“ Das neutrale Thema entspannt die traurige Situation etwas. Ich erzähle ein paar Interrail-Geschichten, über das Reisen von jungen Europäern ohne viel Geld, um klar zu machen, dass nicht alle Europäer dauernd in Luxus-Hotels absteigen, in denen Weltkonferenzen ausgerichtet werden. Auch wir müssen uns durchfragen, und folgen schließlich einem staubigen Erdweg, an dessen Ende ein sauber gestrichenes Haus steht. Frauen mit Kopftüchern arbeiten auf den Feldern rechts und links von der Radiostation, mit krummem Rücken, über den Boden gebeugt. Es ist über dreißig Grad warm, die Sonne blendet, ein süßlicher Geruch weht herüber von einem Marulabaum, der neben dem Radio-Gebäude steht. 317 Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika Moutse, das Gemeinde-Radio Johannes Nsiza, Manager der Radio-Station und damit ihr einziger bezahlter Angestellter, empfängt uns überschwänglich. Er zeigt uns den Sende- und Produktionsraum, wo noch mit Tonbändern gearbeitet wird. Die digitale Radioproduktion ist noch nicht bei Moutse angekommen. Seit 1997 ist Moutse on air, ursprünglich war es ein Pilotprojekt der nationalen Landfrauenbewegung. Ziel war es, Informationen für Frauen zugänglich zu machen, die oft mit ihren Kindern alleine in den ländlichen Gebieten leben, während die Männer in den Städten arbeiten. Daher sendet Moutse vor allem in den afrikanischen Sprachen des Nordens: Pedi, Zulu, Ndebele und Tsonga, ein wenig Englisch ist auch dabei. Aber Englisch wird in den ländlichen Gebieten Südafrikas kaum gesprochen. Die Situation der Landfrauen ist nicht einfach: die Feldarbeit gehört traditionell zu den Aufgaben der Frauen, sie müssen sich um die Kinder kümmern, und auch die HIV-Infektionsrate auf dem Land ist sehr hoch. Die Frauen werden von ihren Männern infiziert, die das Virus im Urlaub aus den Städten mitbringen. Wenn die Eltern schließlich an AIDS sterben, bleiben die Waisen mit den Großeltern zurück, die oft zu alt für die Feldarbeit sind; das Essen wird knapp. Über das Radio sollen die Frauen Informationen über richtige Ernährung und Feldarbeit bekommen, aber das ist nicht einfach, erklärt Johannes Nsiza. Eigene Beiträge können kaum produziert werden, denn der Transport für die ehrenamtlichen Journalisten zu möglichen Gesprächspartnern ist schwierig; so werden, wenn überhaupt, entweder Experten eingeladen oder Konserven aus dem landesweiten Verbund der Community Radios gesendet. „Innerhalb von drei Jahren soll Moutse sich selber tragen“, sagt Harry Letsebe, „dauerhaft kann die MDDA die Radios nicht fördern.“ – „Die Akquise von Werbekunden aber ist schwierig“, sagt Johannes Nsiza; „wo sollen sie auch herkommen in einer Gegend, in der die meisten Menschen als Selbstversorger von ihren Feldern leben, und wenig Geld zum einkaufen da ist?“ Das Krankenhaus Wir verlassen die Moutse Radio Station über den staubigen Feldweg und fahren weiter zu Harrys Dorf. Die Landschaft wird bergiger, es gibt immer weniger Dörfer, kaum noch Autos auf den Straßen. „Wer hier ein Auto hat, ist Lehrer“ erklärt mir Harry. „Es sind die einzigen, die ein Gehalt bekommen.“ Arbeit für Geld gibt es wenig hier oben, in den Verwaltungsbezirken Mpumalanga und Limpopo. 318 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar Bei etwa 35 Grad im Schatten, an einem steilen Berghang, passiert es: Harrys Auto bleibt liegen. Es stottert noch leicht, weigert sich dann aber, wieder anzuspringen. Wir steigen aus, weit und breit kein Auto, nichts. Ein leichtes Ziel für Überfälle. Die Kriminalitätsrate ist hoch, ohne Auto gibt es keinen Schutz. Ob ich aussteigen soll, als einzige Weiße weit und breit, ein gut sichtbares Ziel? Eine der Überlebensregeln bei Überfällen ist es, immer etwas Geld griffbereit zu haben, um wenigstens mit dem Leben davon zu kommen. Ich habe nicht nur kein Geld dabei, sondern überhaupt gar nichts, keine EC-, keine Kreditkarte, nichts. Wie soll ich möglichen Gangstern erklären, dass ich meinen Geldgurt mit Inhalt gerade heute nicht dabei habe? In einer Gegend wo sowieso keiner Englisch spricht, und wo von längeren Diskussionen bei bewaffneten Überfällen nachdrücklich abgeraten wird? Immer wieder kursieren Geschichten, bei denen Menschen allein deshalb erschossen werden, weil sie die Autoschlüssel für das teure Auto nur zögerlich hergeben wollten. Ich setze auf Harry, der aus dieser Gegend kommt. Etwas anderes bleibt mir auch nicht übrig. Tatsächlich hält irgendwann ein Auto, ein Mann mit zwei kleinen Kindern hilft uns. Nachdem die Kinder mich im Auto entdeckt haben, probieren sie erfreut ihre wenigen Worte Schul-Englisch an mir aus, und ich beantworte geduldig etwa 20-mal die Frage, wie ich heiße. Die Batterie von Harrys Auto ist offenbar leer, Überbrückungskabel gibt es nicht. So wird kurzerhand die ganze Batterie unseres Helfers zum Starten ein- und wieder ausgebaut, schließlich können wir weiterfahren. In einem der nächsten Dörfer treffen wir einen Freund von Harry. Als die Begrüßung vorbei ist, springt das Auto nicht mehr an. Dass ein Auto mit leerer Batterie nicht mehr anspringen wird, wenn der Motor einmal aus ist, ist selbst mir klar, Harry jedoch nicht. Es ist sein erstes Auto. Für die meisten Schwarzen in Südafrika ist der Besitz eines Autos immer noch etwas Besonderes. Erst seit dem Ende der Apartheid vor mehr als zehn Jahren ist es für reichere Schwarze möglich, ein Auto zu kaufen – ganz anders als bei uns, wo Autos für die meisten Menschen von Kind an zum Alltag gehören. Harrys Freund hat ebenfalls ein altes Auto, Batterien werden aus- und wieder eingebaut, wir können weiterfahren. Schließlich parken wir vor einem flachen Gebäude, auf einem erdigen Parkplatz, Asphalt gibt es schon seit langem nicht mehr auf den Straßen. Das Auto bleibt – nun mit laufendem Motor – stehen. „Hier ist das Krankenhaus, wir werden hier meine Mutter abholen.“ Ich schlucke. Wir sind bereits vier Leute im Auto, das deutlich angeschlagen ist. Wo soll die tote Mutter hin? Und was ist, wenn wir mit der toten Mutter erneut liegen bleiben? Ich versuche, mir nichts anmerken 319 Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika zu lassen, und bekämpfe auch meine ganz persönliche Krankenhaus-Phobie, die mich schon beim Betreten deutscher Krankenhäuser überkommt. Es ist das fürchterlichste Krankenhaus, das ich jemals gesehen habe. In zwei verschiedenen Räumen liegen Männer und Frauen apathisch auf Bettgestellen mit Matratzen, es ist drückend heiß in den Zimmern. Eine Schwester fächelt bei unserer Ankunft einmal die Fliegen von den Kranken neben ihr weg, die sich sofort wieder niederlassen. Vor dem Mund einer Frau, die auf der Seite liegt, steht ein Napf mit braunem Inhalt. Essen? Erbrochenes? Für mich ist die Frage nicht zu klären. Harry verhandelt lange, schließlich ist es klar: Aufgrund von irgendwelchen Verwaltungsproblemen können wir die tote Mutter nicht mitnehmen. Ich atme auf. Die Verwandten Weiter geht es zu Harrys Bruder, der uns verweint entgegen kommt. Hier wird auch Harrys Frau abgesetzt. Diverse Verwandte schütteln mir die Hände. Der Aufenthalt ist aber nur kurz, Harry hat nicht viel Zeit für Erklärungen für mich. Erst als wir wieder im Auto sind, sagt mir Harry, wie es weitergeht. „Ich bin der älteste Sohn meiner Mutter“ sagt er. „Meine Aufgabe ist es nun, alle Verwandten vom Tod meiner Mutter zu informieren. Wir fangen bei der ältesten Verwandten an.“ Spätestens jetzt frage ich mich, ob ich heute noch nach Johannesburg zurückkommen, und wo ich die Nacht verbringen werde. Wir halten auf einem erdigen Platz, auf dem einige Hütten stehen, aus Wellblech. Sie haben keine Fenster, bestehen aus wackeligen Brettern, Blech, Plastiktüten: ein Windzug kann sie umreißen. Heraus kommt eine alte Frau mit faltigem Gesicht, wenigen Zähnen. Bedächtig hört sie Harrys Nachricht, sie sprechen Pedi miteinander, was ich nicht verstehe. Pedi ist eine der neun offiziellen afrikanischen Sprachen Südafrikas, neben Afrikaans und Englisch. Die Frau geht zurück in die Blechhütte um sich umzuziehen, wie Harry mir erklärt. Offenbar hat sie ihre schönsten Sachen angezogen, als sie wieder zu uns kommt: weiße Leinenturnschuhe, einen neuen Rock, ein neues Kopftuch. Würdevoll nimmt sie im Auto Platz, wir fahren los, eine Staubwolke bleibt zurück. Im Laufe des Nachmittags werden nach und nach verschiedene Verwandte eingesammelt, viele kommen auch von alleine und zu Fuß: die Nachricht spricht sich herum. Zahlreiche Verwandte und Freunde treffen sich schließlich im Haus von Harrys Mutter. Es ist ein Haus aus Steinen, das im Wesentlichen aus einem Wohnzimmer, einer Küche und einem Schafzimmer besteht. Die Wände sind von innen weder verputzt noch tapeziert. Im Wohnzimmer ste320 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar hen zwei Sofas und ein Fernseher, Gardinen oder Vorhänge gibt es keine, aber Glas in den Fenstern. Harry bringt mich in das Wohnzimmer. „Dieses Haus habe ich für meine Mutter gebaut, von dem ersten Gehalt, das ich in Johannesburg bekommen habe. Es ist so ein schönes Haus. Und jetzt kann sie sich gar nicht mehr daran freuen“, fügt er bitter hinzu. „Wie geht es jetzt weiter?“, frage ich vorsichtig. „Ich sage alle Termine in Johannesburg ab für die kommende Woche“, sagt Harry. „Ich muss mich jetzt um die Beerdigung kümmern“. Es ist Zeit für eine Nachricht an meinen südafrikanischen Mitbewohner Jeremy. Nachdem in meinem WG-Zimmer sonst immer Referendare einer deutsch-südafrikanischen Anwaltskanzlei gewohnt haben, ist er erschüttert, wie anders die Arbeit von Journalisten ist. Meine verschiedenen Termine in den unterschiedlichsten Stadtteilen von Johannesburg beobachtet er mit Sorge. „Mutter tot, Auto kaputt“, texte ich per SMS; „Hast du eine Idee, wie ich aus dem Norden wieder zurück nach Jo’burg komme?“ – „Es fährt ein Bus von Pietersburg“, textet er zurück. Erleichtert frage ich Harry, wie weit wir von Pietersburg entfernt sind. „Etwa 200 Kilometer“, meint er. Als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck sieht, überlegt er. „Mach Dir keine Sorgen. Ich bring’ Dich heute Nacht noch nach Johannesburg. Ich leihe mir das Auto von meinem Freund.“ Eine Fahrt durch die Nacht mit dem alten Auto von Harrys Freund, mit dem er uns den Tag über immer wieder Starthilfe gegeben hat? Im Dunkeln in Südafrika mit einem alten Auto liegen zu bleiben ist noch gefährlicher, noch dazu ist Harry nach diesem Tag bestimmt kein sicherer Autofahrer mehr. Andererseits: Was mache ich, wenn ich hier bleibe? Auch am nächsten Tag wird es keinerlei öffentliche Verkehrsmittel geben, mit denen ich mich selbst auf den Rückweg nach Johannesburg machen könnte. „Wenn es sein muss, komme ich dich abholen“, textet mein Mitbewohner. „Also Harry, mein Mitbewohner könnte mich abholen. Was meinst Du?“, frage ich. „Ja, das wäre besser“, sagt Harry und bemüht sich, nicht allzu erleichtert zu klingen. Eine gute Idee, doch schwierig umzusetzen. Harrys Dorf ist viel zu klein, um auf irgendeiner Landkarte von Südafrika eingezeichnet zu sein, Schilder gibt es kaum auf dem Land. Außerdem reflektieren die wenigen Schilder hier kein Licht, sind also im Dunkeln nicht zu sehen. Die Sonne geht früh unter in Südafrika. Während ich im Land bin ist Spätsommer, da ist der Sonnenuntergang gegen 19 Uhr. Aufgrund der größeren Nähe zum Äquator gibt es keine Dämmerung, die Nacht kommt schlagartig. 321 Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika „Er wird es niemals allein finden“, sagt Harry, „aber mein Bruder wohnt in Johannesburg, er kennt den Weg, er ist schon selber oft mit dem Auto gefahren.“ Nun muss ich also nur noch per Handy meinen Mitbewohner zum Stadtteil von Harrys Bruder dirigieren, um ihn dort abzuholen. Und dann einige Stunden mit Warterei überbrücken, bis ich abgeholt werde. Der Abend Bei Harrys Familie gibt es nun Essen: „mealie pap“ ist eine Art Brei, der für sich genommen völlig geschmacklos ist, und daher mit einer scharfen Soße und, wenn vorhanden, Fleisch gegessen wird. Hier sind Fischstücke in der scharfen roten Soße. Natürlich wird mealie pap mit den Händen gegessen, der Brei wird in Stücken in die Soße getunkt, alles zusammen vermischt in den Mund geschoben. Selbstverständlich esse auch ich mit den Händen und stelle mir vor, dass ich bei McDonalds bin, oder auf einer Party, wo „Fingerfood“ der letzte Schrei ist. Erfrischungstücher gibt es nicht, dafür aber ein feuchtes Handtuch, mit dem sich alle vor dem Essen die Hände abwischen, und es ist dasselbe Handtuch, mit dem sich alle anschließend die Finger säubern. Vom dringenden Bedürfnis getrieben, mir die Hände spätestens nach dem Essen zu waschen, gehe ich in die Küche, werde aber enttäuscht. Der Raum hat zwar einen Kühlschrank, in dem sich nichts außer Wasserflaschen befindet, und einen elektrischen Zweiplattenherd, aber keine Spüle und natürlich auch kein fließendes Wasser. Ein Badezimmer gibt es gar nicht, draußen auf dem Hof steht eine windschiefe Wellblechhütte, in der sich offenbar ein Plumpsklo befindet. Harrys Cousin und Cousine, sechs und zehn Jahre alt, setzen sich neben mich auf das Sofa, Denia, das Mädchen, zeigt mir ihre Schulhefte, liest mir auf Englisch vor und rechnet auf Englisch Aufgaben für mich. Anfassen ist spannend, und Denia staunt über meine weißen Hände, verschränkt ihre in meinen und lacht über die wechselnden schwarzen und weißen Finger. Spannend sind für sie aber auch meine Haare. Erst nach einer Weile traut sie sich, meine Haare anzufassen und bürstet sie anschließend neugierig, fühlen sie sich doch ganz anders an als ihre eigenen. „Du warst die erste Weiße, die Denia so nah gesehen hat, nicht aus dem Fernsehen“, wird mir Harry später in einer E-Mail schreiben. Mit den alten Frauen sitze ich anschließend ein wenig vor dem Haus, sie sind traurig wegen des Todesfalls, deuten mir aber über Harry an, ich solle doch unbedingt wiederkommen. Schließlich, gegen elf Uhr abends, hält in einer großen Staubwolke ein Auto vor dem Haus. Aus dem großen Kombi steigt mein weißer, blonder 322 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar und blauäugiger Mitbewohner, betritt höflich das Steinhäuschen, schüttelt Harry die Hand, und meint, dass wir jetzt auch wieder fahren. Ich muss gestehen, dass ich mich noch nie so sehr gefreut habe, abgeholt zu werden. Harry schüttelt mir zum Abschied die Hand, die Verwandten und Freunde winken mir nach. Schweigend fahren wir los, auf der Rückbank Harrys Bruder, der uns wieder den Weg zurück über die Dörfer führen wird, sowie ein Mann aus der Gruppe von Verwandten und Freunden, den wir irgendwo im Dunkeln in einem Dorf auf dem Rückweg absetzen. Mein Mitbewohner Jeremy deutet im höflichen Understatement der britischen Südafrikaner an, dass es doch 350 Kilometer für eine Strecke waren, und dass er vier Stunden allein für die Hinfahrt gebraucht habe. Da sein Auto aber eine besondere Versicherung hat, die nur ihn als Fahrer zulässt, kann ich ihn noch nicht einmal ablösen beim Fahren. Um überhaupt anzukommen, fährt er natürlich viel zu schnell für die erdigen Straßen, und schließlich läuft ein Hase vor das Auto. Der Aufprall zerschlägt den Kühler, die Ersatzteile müssen von VW in Deutschland eingeflogen werden, es wird ein teuerer Ausflug. Als wir schließlich auch noch Harrys Bruder abgesetzt haben, die Alarmanlage entsichern, um auf das Grundstück zu fahren, ist es spät in der Nacht. Genau drei Uhr ist es, als ich schlafen gehe, 24 Stunden Afrika nonstop liegen hinter mir. „Es war unverantwortlich von Harry, dich mit so einem alten Auto in diese Gegend mitzunehmen“, sagt Jeremy am kommenden Morgen. „Dein ausländischer Akzent hat dich gerettet, wir wären dort totgeschlagen worden“, sagen die Eltern einer afrikaanssprachigen Freundin aus Johannesburg zu mir, als ich ihnen von meiner Fahrt in den Norden erzähle. „Die Leute da mögen die Weißen nicht, und sie haben allen Grund dazu“, fügt die Mutter meiner Freundin hinzu. „Sie haben ihnen niemals etwas Gutes getan.“ Keiner meiner weißen südafrikanischen Freunde war je im ländlichen Ausstrahlungsgebiet der Radiostation Moutse. Es gibt für sie keinen Grund, dorthin zu fahren. Südafrika, zehn Jahre nach den ersten freien Wahlen, zehn Jahre nach Beginn einer demokratischen Regierung. Vieles hat sich geändert, vieles ist geblieben. 4. Die Idee des Multi Purpose Community Centers – und ein Ausflug ins Gefängnis Bei mehr als 30 Grad fahre ich mit meinem alten Auto durch Johannesburgs Großstadtverkehr. Johannesburg, oder kurz Jo’burg, hat das einfache quadratische Straßenmuster amerikanischer Großstädte, das die Stadt in Blocks 323 Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika aufteilt. Theoretisch kann man sich gut zurechtfinden, wenn es nicht so viele Einbahnstraßen gäbe. Aufpassen muss man im Straßenverkehr auf die vielen Minibusse, voll gestopft mit Menschen, die oft die Spuren wechseln ohne zu blinken, manchmal hält der Beifahrer lässig den Arm aus dem Fenster, anstelle eines Blinkers. Grundregeln für das Autofahren in Johannesburg, der gefährlichsten Stadt der Welt: niemals mit offenen Fenstern fahren, immer alle Türen von innen verschlossen haben, keine Tasche auf den Beifahrersitz legen, niemals den Eindruck vermitteln, als würde man den Weg nicht kennen und wäre ein Tourist. So kurve ich denn durch die Stadt, meinen Rucksack an den Füßen, damit er nicht auf dem Beifahrersitz liegt, den Stadtplan auf dem Lenkrad, damit ich mich nicht verfahre, natürlich mit geschlossenen Fenstern. Das hat den Nachteil, dass die Temperatur im Auto auf etwa 40 Grad steigt: In meinem Miet-Wrack ist natürlich keine Klimaanlage. Hinzu kommt der Linksverkehr, bei dem ich auch nach einigen Wochen nicht die gleiche Routine habe wie in Deutschland – es erfordert einigen Durchhaltewillen und etwas Glück, ohne Unfall das Büro der Film Resource Unit (FRU) zu erreichen. Dort treffe ich Desmond, er ist „Project Manager“ für ein neues Pilotprojekt, das FRU zusammen mit der südafrikanischen Regierung startet. Über das ganze Land verstreut sollen „Multi Purpose Community Centres“ (MPCC) eingerichtet werden, vor allem in ländlichen Gebieten und städtischen Townships. Hier sollen Filme gezeigt werden, die die politische Entwicklung des Landes thematisieren, über HIV-Infektionen aufklären, Gesundheitsthemen behandeln, über Rechte der Arbeitnehmer informieren. Neben den ländlichen Gebieten, in denen die Menschen sehr arm sind, sind vor allem die Townships soziale Brennpunkte in Südafrika. Viele Menschen wohnen auf engem Raum zusammen, oft ohne ausreichende sanitäre Anlagen. Die Arbeitslosigkeit ist nach dem Ende der Apartheid sprunghaft angestiegen, gerade in den Townships. Dabei hat die Gewalt in den Townships eine lange Tradition: Während sie sich früher vor allem gegen die Polizei richtete, die das weiße Apartheid-Regime verkörperte, ist sie heute vielfältiger. In den Townships leben heute viele Mitglieder von Banden, die in die hoch gesicherten Villen der Weißen einbrechen. „Das sind die Helden der Townships. Sie nehmen sich das von den Weißen, was sie sonst nicht bekommen. Daher geht der ANC auch nicht gegen die Kriminalität vor. Die stört fast nur die Weißen, und das ist eine Minderheit. Die TownshipBewohner wählen alle ANC“, erklärt mir Prof. Tuwana Kupe, der an der Witwatersrand Universität arbeitet. Aber auch die Gewalt der Township-Bewohner untereinander ist groß. Vergewaltigung von Frauen gehört zum Alltag, die HIV-Infektion verbreitet sich sprunghaft. Alle wohlmeinenden Ratschläge, die HIV-Infektion zu 324 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar senken, wie „Treusein“, „Kein Sex vor der Ehe“ oder „Benutzt Kondome“, die als Parolen in den Townships hin und wieder zu lesen sind, bleiben sinnlos, so lange die Frauen der Gewalt in ihrem Alltag nichts entgegensetzen können. Unklar ist, ob die Gewalt in den Townships heute wirklich so viel häufiger ist als zu Apartheid-Zeiten. „Früher waren die Fronten klar, die Polizei gehörte zu den Weißen, daher hat niemand im Township der Polizei Überfälle oder Vergewaltigungen gemeldet“, erklärt mir Sam, der Touristengruppen durch Soweto führt. Das South-Western-Township (kurz SoWeTo), im Südwesten von Johannesburg, ist sicher das berühmteste Township Südafrikas: Hier formierte sich der Widerstand gegen die Apartheid besonders massiv, Soweto war lange Zeit Wohnort von Nelson Mandela und Bischof Tutu. In Soweto wohnt auch Desmond von FRU, mit dem ich nach Bophelong fahre, ein Township im Süden von Johannesburg. „Mit welchem Auto fahren wir?“, fragt er mich, und in Erinnerung an Harrys marodes Auto entscheide ich mich für mein fahrendes Wrack. Immerhin ist der Reparaturservice zuverlässig. „Kann ich dort parken?“, frage ich vorsichtig. Sichere Parkplätze müssen bewacht sein, an jedem Supermarkt und an jeder Straße steht jemand, der das Auto einwinkt, bis zur Rückkehr bewacht und dafür Geld bekommt. Diebstahlversicherungen werben mit Peilsystemen, mit denen gestohlene Autos wieder gefunden werden können. Wir fahren nach Süden, Desmond zeigt mir den Weg zum Township, etwa 60 Kilometer von Johannesburg entfernt. Dort angekommen suchen wir die Halle, in der die Filme gezeigt werden. Auch Desmond kennt sich im Township nicht aus, er ist noch nie da gewesen, wie er mir nun mitteilt. Schilder gibt es nicht, asphaltierte Straßen sowieso nicht, so fragen wir uns durch, nehmen hier und da mal eine Frau mit Kind mit dem Auto mit, die uns den Weg zeigt. Schließlich finden wir die Halle, Parken ist, vom Platz her, kein Problem. Oder anders gesagt, es gibt unbegrenzt viele Parkplätze vor der Halle. Mein Auto ist das einzige im Township. Alle anderen dort fahren Minibus oder gehen zu Fuß. Die Filmvorführung hat bereits begonnen. Es ist dunkel, etwa drei- bis vierhundert Menschen sitzen auf Stühlen in einer leeren Lagerhalle, die nun vorübergehend als „Community Center“ dient. Desmond übergibt mich dem Filmvorführer Simon, der mir einen Stuhl besorgt. Der Film hat bereits begonnen. Anlass für die Vorführung ist der „Human Rights Day“, der in Südafrika mit großem Aufwand gefeiert wird. Die Filme, die an diesem Tag gezeigt werden, sollen „den Menschen die Geschichte des Kampfes um ihre Rechte, des Kampfes für die Unabhängigkeit“ zeigen, hat mir Michael 325 Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika Dearham erklärt, Leiter von FRU und ehemaliger Partisanenkämpfer für Umkhonto We Sizwe (spear of the nation), den bewaffneten Arm des ANC. Die Tonqualität des Filmes ist miserabel, und ich frage mich, wie viele Menschen in der Halle wohl das völlig verzerrte Englisch verstehen. Die Bilder jedenfalls sind einfach zu verstehen: Im Wesentlichen beschießen weiße Soldaten aus Flugzeugen im Tiefflug schwarze Widerstandskämpfer. Gewaltszenen werden mit lautem Gejauchze kommentiert, auch die Vergewaltigung einer uniformierten Widerstandskämpferin durch ihren Vorgesetzten wird bejubelt. Ich überlege, ob das eigentlich ein Film ist, der für die vielen Schulkinder, die in ihren Uniformen zuschauen, geeignet ist. Aber vielleicht habe ich auch eine falsche Vorstellung von einer beschützten Kindheit. Vielleicht gehört Gewalt auch einfach zum Alltag der Kinder hier. Währenddessen läuft der Film weiter, die Reaktionen der Zuschauer werde immer lauter, alle Zuschauer begeistern sich für die Gewaltszenen und letztendlich siegen natürlich die schwarzen Freiheitskämpfer, und auch die Liebesgeschichte findet ihr Happy End. Ich bin froh, als der Film endet. Es ist die einzige Situation, bei der ich mich, als einzige Weiße unter Schwarzen, unsicher fühle. Simon, der fieldworker, der die Filme vorführt, bringt mich zu den Jugendlichen, mit denen ich sprechen soll. Sie setzen sich gegen die Gewalt im Township ein. Jede Woche gibt es etwa zwanzig „Vorfälle“, das heißt Mord, Vergewaltigung, Überfall. Die Jugendlichen versuchen, die Täter dazu zu bringen, Konflikte ohne Gewalt zu lösen. „Wir wollen das hier nicht. Das ist jetzt unser Land “, sagt einer der Jugendlichen. Die Gruppe trifft sich hin und wieder in der Polizeistation, Geld bekommt sie nicht, alle arbeiten ehrenamtlich. Es ist eine Initiative der Jugendlichen, die nur einen eigenen Stempel für Briefe besitzt, keine Adresse, kein Büro, kein Telefon, keinen Computer. Die Polizeistation „Kann ich noch etwas von dem Township sehen?“, frage ich Simon. „Ja, natürlich“, sagt er, stolz, die weiße Journalistin begleiten zu dürfen. Ihm fehlen mehrere Zähne, er trägt eine rote Wollmütze, obwohl es mindestens 30 Grad warm ist. „Es ist echt gut, dass ich diesen Job bei FRU habe“, sagt er stolz. „Wenn ich keinen Job habe, kann ich nichts zu essen kaufen. Wovon soll ich leben? Wenn ich dann sehe, dass du einen Geldbeutel hast, nehm’ ich ihn dir natürlich weg. Klar.“ Auch ich bin froh, dass Simon diesen Job hat und ich mein Portemonnaie behalten kann. 326 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar Ein Äquivalent zur deutschen Sozialhilfe gibt es nicht in Südafrika, selbst Arbeitslosengeld gibt es nur unter ganz bestimmten Bedingungen, und auch dann nur kurze Zeit. Anschließend muss die Familie einspringen, wenn sie kann. Viele Möglichkeiten, Geld zu verdienen, gibt es nicht. Wir gehen zwischen den Hütten durch, auf der rotbraunen Erde liegen Plastiktüten, Müll in verschiedenen Haufen. Das Problem ist, dass es gar nichts zu sehen gibt im Zentrum des Townships. Einige Hütten sind rundum vergittert, das müssen die Läden sein, die so gegen Einbrüche geschützt werden. „Das ist die Polizeistation“, sagt Simon, erfreut, mir eine Sehenswürdigkeit im Township zeigen zu können. Sie ist direkt neben der Lagerhalle, wahrscheinlich ein Grund, die Filme hier vorzuführen. „Willst du nicht ein Foto machen?“, fragt mich Simon. „Nein, danke“, sage ich. „Kann ich eins von dir machen?“, fragt er, sichtlich stolz, mir seine Kamera zeigen zu können. „Ja, klar“, sage ich, und lächle freundlich für Simon in die Kamera. „Was machen Sie da?“, fragt mich ein Polizist, der aus der Polizeiwache kommt. Bevor ich antworten kann, antwortet Simon für mich. „Sie ist Journalistin.“ Der Polizist deutet uns an, ihm zu folgen, und in der Wache müssen wir noch einmal seinem Chef erklären, was wir hier tun. „Sie dürfen keine Fotos von der Polizeistation machen“, sagt der Chef, „Sie hätten um Erlaubnis fragen müssen.“ Das sind die letzten Worte, die er auf Englisch und zu mir spricht. Er deutet uns an, ihm zu folgen, und ehe ich es ganz verstanden habe, fällt hinter uns eine Gittertür in Schloss. Der Polizeichef ist draußen, wir sind drinnen. Von nun an reagiert er auf mich überhaupt nicht mehr und lässt sich nur noch von Simon dazu bewegen, auf Sotho zu antworten. Er könne nicht entscheiden, was weiter mit uns passieren solle, lässt er sich noch entlocken. Das müsse sein Chef tun, und der würde bald kommen. Er ignoriert weiterhin all meine Versuche, die Sache noch mit ihm auf Englisch zu besprechen und reagiert schließlich auch nicht mehr auf Simon. Dem ist die Sache sichtlich peinlich, er dreht die Wollmütze in seinen Händen. Zeit für eine SMS an meinen südafrikanischen Mitbewohner. „message not sent“, lese ich auf dem Display meines Handys. Die Prepaid-Karte ist alle. Was für ein günstiger Augenblick. Ich überlege, was wohl passiert, wenn ich die Nacht im Gefängnis verbringen muss, niemandem Bescheid sagen kann, und was wohl mit dem Auto passiert. Auch nach einer halben Stunde ist nichts weiter zu erreichen. Wenn die Zeitangabe „bald“ sich auf „African time“ bezog, den sprichwörtlich großzügigen Umgang mit der Zeit, dann kann die Warterei hinter Gittern Stunden dauern. In etwa eineinhalb Stunden wird es dunkel werden, und bei Einbruch der Dunkelheit wird es noch gefährlicher. Ich überlege, wie lange 327 Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika mein Auto unbewacht auf dem Parkplatz stehen kann, obwohl er nicht weit von der Polizei entfernt ist, und wie ich hier wegkommen soll, wenn das Auto nicht mehr fährt oder ganz einfach weg ist. Doch wir haben Glück. Der Chef der Polizeiwache kommt nach einer guten Stunde, und in Kombination von Simons FRU-Ausweis und meiner Visitenkarte mit Doktortitel gelingt es uns, den Polizeichef soweit zu beeindrucken, dass wir, mit einigen Ermahnungen, gehen können. Simon dreht seine Wollmütze in den Händen, als wir zum Community Center zurückgehen. „Integration between black and white is still very difficult“, sagt er. Mein Auto ist noch da, und aus dem Nichts taucht auch Desmond wieder auf. Während der Rückfahrt nach Johannesburg schweigen wir beide. „Ist es so wie der Teil von Soweto, wo du wohnst?“, frage ich Desmond. „Nein“, sagt er. „Das kann man nicht vergleichen. Soweto ist viel weiter entwickelt.“ Ich denke an die Jugendlichen, die in ihrem Township leben, ohne irgendetwas zu tun, außer dem Engagement gegen Gewalt und den Befreiungsfilmen am „Human Rights Day“. Aber kann man das jeden Tag acht Stunden lang tun? „Wir denken darüber nach, einen Elektrozaun auf die Mauer um unser Grundstück zu setzen“, erzählt mir am Abend die Schwester meines Mitbewohners. „Wir haben hier so viele Überfälle. Es ist so gefährlich.“ 5. Der Film: Gespräch Teboho Malatsi „Es ist mein erstes Mal.“ – „Willst Du es lieber mit einem anderen Schüler tun, auf der Schultoilette, hinterm Busch oder im Auto, weil zu Hause deine Mutter ist?“ Mit diesen romantischen Worten beginnt die Affäre zwischen Kekeletso, kurz KK, die vielleicht vierzehn Jahre alt ist, und ihrem Englischlehrer Elliot Khubeka, in dessen Wohnung. Sehr bald ist sie auch schon wieder zu Ende. Dabei hatte KKs Freundin Nomsa doch vorher auf dem Schulklo gesagt: „Du wirst eine Frau sein, und Mr. Khubeka ist der Jackpot!“ Der ungeschminkte Alltag in einer Township-Schule ist das Thema der Reihe „Yizo Yizo“ (zu Deutsch: „So ist es.“). „Saying the unsaid, seeing the unseen“ ist das Motto der Serie, und was die Zuschauer zu sehen bekommen, schockiert: Missbrauch, Vergewaltigung, Mord, Auto-Überfälle, Einbrüche, Prostitution und HIV/AIDS. Mit vier Millionen Zuschauern wurde Yizo Yizo zum Straßenfeger, der die Nation spaltete. „Kinder-Pornographie“ riefen ANC-Politiker und wollten die Serie, deren erste Staffel 1998 ausgestrahlt wurde, verbieten, als auch noch die Vergewaltigung eines Mannes im Gefängnis thematisiert wurde. Nelson Mandela hingegen bekannte sich 328 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar als Yizo-Yizo-Fan, und so sah das neue Südafrika zum ersten Mal das im Fernsehen, was dem weißen Publikum vorher nur als No-Go-Area bekannt war: die Townships und seine Bewohner. Unter den Jugendlichen hat die Serie längst Kult-Status erreicht. „Wenn man als junger Mann im Township aufwächst, hat man zwei Möglichkeiten: sterben, bevor man 21 ist, oder im Knast enden“, fasst Zola, eine der Hauptfiguren, die Lebensperspektiven zusammen. Und obwohl viel „dagga“ (Marihuana) geraucht wird, Alkohol, Tabletten und Gewalt zum Alltag gehören, ist Yizo Yizo keine traurig-sentimentale Milieustudie. Es gibt nicht nur Gewalt sondern auch Wärme, es wird auch auf den Schultischen gerappt. Die erste CD mit dem Yizo-YizoSoundtrack erreichte den Platin-Status, die zweite lag schon bei dreimal Platin, die der dritten Staffel, deren Ausstrahlung 2004 begann, wird noch verkauft. Die Serie lief auf verschiedenen Festivals weltweit, CNN, BBC, das kanadische CBC, Sky, die ARD und Arte berichteten über Yizo Yizo oder zeigten Teile der Serie. „Yizo Yizo war wie starker Kaffee – es hat alle aufgeweckt“, heißt es in der Filmbroschüre, und die Laiendarsteller, allesamt Township-Bewohner, sind in Südafrika eine Art Stars geworden, viele spielen mittlerweile auch in anderen Fernsehserien mit. Fünf Avanti-Preise (das südafrikanische Äquivalent des Emmy) hat die Serie gewonnen, u.a. für die beste Schauspielerin und den besten Regisseur. Teboho Mahlatsi ist der Regisseur und Macher von Yizo Yizo. Zusammen mit einigen anderen Kollegen hat er die Filmproduktionsfirma „the bomb shelter“ im Norden von Johannesburg gegründet. „Ich komme aus dem Free State, einer halb-ländlichen Region, wollte Filmemacher werden, und bin deshalb nach Johannesburg gekommen. Als ich die Filmschule im „Africa Culture Centre“ besucht habe, habe ich selber in Soweto gewohnt. Ich kenne das Township und das Leben dort gut.“ Mit „Ghetto-Diaries“, einer Dokumentarfilmreihe über Township-Bewohner, hat Teboho Mahlatsi angefangen, Yizo Yizo war seine erste Fiction-Produktion. „Es gab diese Ausschreibung von SABC (South African Broadcasting Corporation, das südafrikanische öffentlich-rechtliche Fernsehen). Das Thema „Schule“ sollte im Mittelpunkt der Serie stehen. Ich habe ein Drehbuch-Konzept geschrieben, und das wurde dann angenommen“, erzählt Teboho. Mit der dritten Staffel, deren Ausstrahlung im Sommer 2004 begann, ist dann aber Schluss mit Yizo Yizo. „Die Schüler werden eben älter, verlassen die Schule, fangen ihr eigenes Leben an. Das verfolgen wir noch, aber dann löst sich die Gruppe auf. Yizo Yizo war eine Art Startschuss: Serien wie Gazlam oder Cha-Cha führen heute unsere Themen weiter. Maria McCloy macht die Homepage für Jugendkultur von „Rage“, Greg Maloka und sein Team machen das Jugendradio „Radio Y“: der Alltag der Jugendlichen ist ein Thema geworden, in allen Medien.“ Ein Medienthema, obwohl die 329 Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika Nutzer dieser Medien längst nicht die ganze Regenbogennation umfassen. Zuschauerzahlen sind nicht nach Gesellschaftsschichten aufgeschlüsselt: Allen meinen schwarzen Interviewpartnern und Freunden war Yizo Yizo ein Begriff, von den Weißen kannte es keiner. Immerhin sind die ZuluSequenzen, die Sprache, in der die Jugendlichen untereinander reden, wenn sie nicht mit Lehrern Schul-Englisch sprechen, auf Englisch untertitelt. Falls doch einmal ein Zuschauer einschaltet, der kein Zulu versteht. 6. Die Presse: Auf einen Tee zum „Star“ „Wen erkennen Sie auf diesem Bild?“ – „Lenin, Zar Peter I., Stalin“, sage ich; eine Gruppe von Männern aus unterschiedlichen Zeiten, in Öl gemalt. Das Bild hängt im Büro von Peter Sullivan, Herausgeber der IndependentZeitungsgruppe, dem größten Medienkonzern für Tageszeitungen in Südafrika. Der Independent gibt mehr als zehn regionale englischsprachige Tageszeitungen heraus. Ich würde gern etwas über die Zeitung fragen, muss aber zuerst weiter russische Staatsführer benennen. Es ist kein Spiel, es ist ein Test. „Die anderen? Wer sind die anderen?“, hakt Sullivan nach. Breschnew rate ich nicht, aber alle anderen erkenne ich, inklusive den Chef der russischen Übergangsregierung von 1917. „Kerenski? Den hat nicht einmal der russische Botschafter erkannt.“ Peter Sullivan, dessen Familie seit vielen hundert Jahren in Südafrika lebt, zieht die Augenbrauen hoch. Nun zeigt er mir Fotos von seiner Familie zusammen mit Nelson Mandela und lädt mich dann ein, auf dem Sofa im Büro Platz zu nehmen. Es gibt Tee, was sonst bei traditionsbewussten britisch-stämmigen Südafrikanern. „Ursprünglich wurden die Zeitungen der Argus-Gruppe vom Goldminenkonzern Anglo American gemacht, ohne jegliches Profitziel. Die Verbreitung von Informationen war nur ein Nebenprodukt des Konzerns, Profit wurde mit der Goldförderung ohnehin erzielt“, erklärt Sullivan die Geschichte der Zeitungsgruppe. Nach dem politischen Umschwung änderte sich das, seit 1993 sollten auch die Zeitungen Profit erwirtschaften, der irische Verleger O’Reilly kaufte den Verlag. „Früher haben sie uns Geld gegeben, um gute Zeitungen zu machen. Heute wollen sie mit guten Zeitungen Geld machen, und das ist etwas völlig anderes.“ Zugpferd des Verlags ist die Tageszeitung „Star“, mit mehr als 165.000 Exemplaren Südafrikas auflagenstärkste Tageszeitung. „Unter den Zeitungen ist es im Moment der Toyota“, beschreibt er das Blatt, „aber wir wollen mindestens einen Volkswagen daraus machen. Mit dem Zwang zum Profit kann es kein Mercedes werden wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung in Deutschland.“ 330 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar Zu Apartheidszeiten waren die englischsprachigen Medien in Südafrika traditionell regierungskritisch, die afrikaanssprachigen regierungsfreundlich. „Unsere Chance war der Fall der Berliner Mauer. Sonst hätten wir uns nach der Apartheid entscheiden müssen: für Washington oder für Moskau. Jetzt sind wir ein freies Land, und was wir tun, das tun wir für uns selber. In den vergangenen zehn Jahren konnte Südafrika sich selber finden.“ In dieser Zeit hat das Verhältnis zwischen Regierung und Medien verschiedene Höhen und Tiefen erlebt. „Mandela, der hatte ein gutes Verhältnis zu den Medien. Wenn etwas war, hat er mich angerufen, wir haben das besprochen. Mbeki ist da anders. Die Situation vor 2001 war einfach schwierig, für beide Seiten. Wir Journalisten wussten, dass die Mitglieder der neuen Regierung praktisch über Nacht zu Politikern geworden waren. Vorher waren sie Widerstandskämpfer. Wir wussten das zwar, aber wir haben nicht verstanden, dass da natürlich viel Erfahrung fehlte. Wir englischsprachigen Journalisten hatten vorher immer die Apartheidregierung kritisiert, und jetzt haben wir einfach die neue Regierung kritisiert. Und die haben gedacht, die Weißen aus den Medien kritisieren die schwarze Regierung, die wollen die Apartheid zurück. Sie waren überempfindlich Kritik gegenüber.“ Das Verhältnis von Regierung und Medien wurde immer schlechter, die Zusammenarbeit wurde immer schwieriger, Informationen für Journalisten waren immer schwerer zu bekommen. Medien- und Regierungsvertreter trafen sich im Jahr 2001 in Sun City, nahe Johannesburg, zu einer Konferenz. „Der Anfang der Konferenz, der erste Tag, war dröge und schwerfällig. Abends traf sich an einem Tisch per Zufall eine Runde von Journalisten und Politikern, Thabo Mbeki war dabei. Wir haben dann plötzlich offen geredet, wir haben uns gestritten, uns angeschrieen – aber wir haben gut gestritten, wir haben uns dabei kennen gelernt. Alle Spannungen sind herausgekommen, und das war gut. Auch heute gibt es eine Art von Feindlichkeit zwischen Politikern und Journalisten, aber das muss auch so sein, sonst funktioniert Demokratie nicht. Aber so schlimm wie damals, in den Jahren vor 2001, wird es nicht mehr werden.“ Wir trinken den Tee aus, und Peter Sullivan führt mich noch durch die Redaktion und zeigt mir den einzigen „pale male“, den männlichen weißen Volontär des Jahrgangs. „Newsroom diversity“, das Besetzen von Stellen durch Frauen und Nicht-Weiße, beziehungsweise der Kombination von beidem, ist für den Independent-Verlag ein wichtiges Prinzip. „In Durban ist noch die Hälfte der Redaktion weiß, in Kapstadt noch etwa ein Fünftel, in Johannesburg fast niemand mehr“, fasst Sullivan die Tendenz zusammen. „Johannesburg steht immer am Anfang der neuen Entwicklungen in Südafrika.“ Die Mischung von ethnischen Gruppen im Konzern erreicht aber nur die Redakteure: alle Mitglieder der Verlagsleitung sind weiß. „Das 331 Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika ist noch so“, gibt Sullivan zu. „Aber wir sind auf dem Weg, Dinge in diesem Land zu ändern. Wir haben schon viel geschafft.“ 7. Das Internet: Black Rage Es war eine Idee von Journalistik-Studenten. Damals, 1996, trafen sie sich in Grahamstown, einer kleinen Studentenstadt an der Küste. Dzino, der sich selber so nennt und aus Zimbabwe kommt, Kuloano Skosana aus dem Township Soweto bei Johannesburg und Maria McCloy. Marias Vater kommt aus Großbritannien, ihre Mutter aus Lesotho, dem kleinen unabhängigen Königreich innerhalb Südafrikas. „Wir waren von der Kwaito-Bewegung Anfang der 90er Jahre beeindruckt, wir mochten Hip Hop und lasen diese amerikanischen Jugendmagazine: ‚Vibe‘, ‚Source‘, ‚Face‘. So etwas wollten wir auch machen. Die Stadtkultur der Jugendlichen in Südafrika wollten wir zeigen, dazu gab es einfach nichts“, erzählt mir Maria. Kwaito ist eine eigene Musikrichtung, die sich in Südafrika gebildet hat, hier sehr beliebt ist, und längst auch über die Grenzen hinaus bekannt ist. „Wir haben dann zusammen ein Konzept für eine Zeitschrift entwickelt, zwei Verleger waren auch sehr interessiert daran. Aber es waren eben große Konzerne, sie wollten unser Konzept umsetzen, und wir wären nur die Angestellten gewesen. Das wollten wir nicht. Wir Schwarzen haben in Südafrika nie etwas besessen, wir wollten damit nicht weitermachen. Es sollte unsere eigene Zeitschrift sein.“ Wie alle großen Industriezweige so sind auch die privaten Medienkonzerne in Südafrika überwiegend in der Hand von Weißen. Die neue Regierung versucht zwar, mit dem Programm „Black Media Ownership“ Konzerne zum Verkauf von Aktienpaketen an Schwarze zu bewegen, aber das Programm ist nur mäßig erfolgreich. „Die Renditen im Medienbereich sind längst nicht so hoch und schnell wie in anderen Bereichen“, hat mir Mathatha Tsedu von SANEF (South African National Editors Forum) bei einem Besuch bei City Press erklärt. „Das macht sie für Aktionäre nicht sehr attraktiv.“ Maria und ihre Freunde haben das Magazin dann als eigene OnlineZeitschrift gestartet, unter „http://www.rage.co.za“ ist es heute online, mit monatlich aktuellen Meldungen über Konzerte, Veranstaltungen und Entwicklungen in der „Urban Culture“. „Black Rage“ heißt die eigene Medienproduktionsfirma, „Outrageous“ das eigene Label. Die drei Freunde geben selber CDs heraus und entwickeln gerade ein Konzept für eine Sendereihe über neue schwarze Musik in Südafrika, die auf dem öffentlichrechtlichen Fernsehsender SABC1 ausgestrahlt werden soll. 332 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar Leben können die drei einigermaßen davon: Die Website ist zwar kostenlos, fungiert aber als Schaukasten, über die diejenigen auf „Black Rage“ aufmerksam werden, die sich für die Straßenkultur der Jugendlichen interessieren. Journalisten nutzen das Insider-Wissen der Rage-Mitarbeiter für eigene Beiträge über die Musik-Szene, Produzenten von Werbe-Clips lassen sich von ihnen beraten, und natürlich soll auch die Musik des eigenen Labels über die Website vermarktet werden. „Südafrika ist viel mehr als nur Kriminalität. Die Website ist einfach Teil einer Bewegung: die Jugendlichen in den Städten machen ihre eigene Musik, eigene Sendungen, und informieren sich darüber über das Internet“, sagt Maria. „Wir zeigen dieses neue Südafrika, wir sind ein Teil davon.“ 8. HIV / AIDS – das ungeliebte Medienthema „Es ist dein Körper! Wenn du HIV-positiv bist, sag deinem Mann, dass du willst, dass er Kondome benutzt!“ Der weiße Mann, etwa Mitte dreißig, blonde kurze Haare, gestikuliert entschlossen mit den Händen. Die schwarze Frau, etwa gleich alt, sitzt ihm gegenüber auf dem Sofa. „Ja, weißt du, nicht alle Frauen haben Arbeit, und sie haben Kinder. Sie fragen: Was soll ich morgen essen, wenn er mich verlässt für eine, bei der er keine Kondome nehmen muss?“ Der Rest der Selbsthilfegruppe schweigt. Es ist nicht einfach, AIDS anzusprechen, nicht in der Beziehung, nicht bei der Familie, nicht in der Arbeit. Die Mitglieder der Selbsthilfegruppe, deren Treffen von der FernsehSendung „Beat it!“ verfolgt werden, haben diese Gespräche schon hinter sich. Es sind Schwarze und Weiße, eine Muslimin mit Kopftuch ist auch dabei. Sie sprechen Englisch, Afrikaans und verschiedene afrikanische Sprachen, die in der Ausstrahlung auf dem englischsprachigen Privatsender E-TV untertitelt werden. Das neue Südafrika, die Regenbogen-Nation, trifft sich in der HIV-Selbsthilfegruppe. Hier erfahren sie, dass über AIDS in den Familien geschwiegen wird, in denen der weißen afrikanischen Buren ebenso wie in denen der Schwarzen oder in denen der muslimischen Gemeinden. Aber: Zum Schluss geht es all denjenigen, die diese Gespräche geführt haben, besser. Auch wenn sie viele Jahre gebraucht haben, um es auszusprechen. „Beat it!“, ein kämpferischer Ausruf, HIV zu begegnen, ist eine FernsehReihe, deren Stücke jeweils 26 Minuten lang sind. Ein schwarzer Moderator und eine schwarze Moderatorin führen durch die Sendung, manchmal tragen auch sie T-Shirts mit der Aufschrift: „Yes, I am HIV-positive“. Bei den Gesprächen in der Selbsthilfegruppe steuern sie eigene Erfahrungen bei, 333 Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika denn auch sie leben mit AIDS. Sie sprechen mit Schülern, die HIV-infiziert sind und diskutieren mit Schulleitern, warum es keine Kondom-Automaten in den Schultoiletten geben darf. „Beat it!“ ist eine Produktion der freien Fernsehfirma „Idol Pictures“, die von den Filmemachern Zackie Achmat und Jack Lewis 1992 gegründet wurde. Die Fernsehreihe wird von verschiedenen NGO-Geldgebern gefördert, die meist aus dem Ausland kommen. Auf dem privaten Sender E-TV lief sie als eine Art Anzeigensendung – nicht nur die Produktionskosten, auch der Sendeplatz musste bezahlt werden. Seit sich die AIDS-Politik der Regierung geändert hat, und seit 2004 Anti-AIDS-Medikamente ausgegeben werden, wurde auch den Fernsehmachern des öffentlich-rechtlichen SABC klar, dass AIDS als Thema im Programm vorkommen muss. Im Juli 2004 startete die neue Staffel von „Beat it!“, die in 26 Folgen am Sonntagnachmittag auf SABC 1 läuft. Für Zackie Achmat und Jack Lewis ist die Produktion von „Beat it!“ eine logische Folge aus ihrem privaten Engagement. „Wir waren beide bei der Treatment Action Campaign (TAC) aktiv, wir sind beide Filmemacher, da war es klar, etwas zu AIDS zu machen.“ TAC ist die südafrikanische Bürgerbewegung, die sich für eine bessere AIDSPolitik in Südafrika einsetzt, seit sich das Virus Ende der 80er Jahre im Land ausgebreitet hat. Heute kämpft sie dafür, dass retrovirale Medikamente an HIV-Kranke abgegeben werden dürfen, was in Südafrika lange Zeit verboten war. Mit der rasend schnellen Verbreitung von HIV in Südafrika haben sich auch die Themen von „Beat it!“ verändert. Während am Anfang noch Prävention im Vordergrund stand, geht es jetzt vor allem darum, den Alltag der Infizierten lebenswert zu gestalten. In den Townships sterben die meisten Menschen mittlerweile an Tuberkulose (TBC), die sich durch die Immunschwächekrankheit AIDS ungehindert ausbreiten kann, und der die schlecht ernährten und geschwächten Menschen wenig entgegensetzen können. Jack Lewis erklärt: „Es gibt in diesem Land eine unglaubliche Ungleichheit, die sich gerade auch beim Thema AIDS zeigt. Da brauchen wir Medien, die nicht nur Nachrichten bringen und Unterhaltung. Sie müssen auch eine soziale Agenda vorgeben, Themen ansprechen, die in unserem Land gelöst werden müssen. Dafür arbeiten wir mit „Beat it!“.“ 9. „Giving access“: den Zugang schaffen. Die Gemeinde-Radios „Das Geld ist nicht das Wichtigste. Es geht um die Einstellung der Menschen, die muss sich ändern. Sonst kann man in jede NGO so viel Geld reinpumpen, wie man will, das bringt gar nichts. Das Ändern der Einstellung ist schwierig, klar. Man muss bei dem Schulsystem anfangen: die Schule 334 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar soll Kinder ausbilden, die sagen: ‚Ja, ich bin für mich selber verantwortlich.’ Im Moment fallen hier 70 Prozent aller Kinder durch das Raster dieses Schulsystems. Sie haben das Wichtigste nicht gelernt: Sich selber zu organisieren, ihre eigene Zeit und ihre Arbeit einzuteilen, Verantwortung zu übernehmen.“ Faiza Abrahams-Smith leitet das National Radio Community Forum (NCRF), den gemeinnützigen landesweiten Zusammenschluss aller Gemeinde-Radios Südafrikas. In Orlando, Soweto, wurde die NCRF 1993 gegründet, als die ersten freien Community Radios den Sendebetrieb aufnahmen. Für die Gemeinderadios, die aufgrund von spärlichen Werbeeinnahmen in strukturschwachen Gebieten chronisch unterfinanziert sind, ist die NCRF Ansprechpartner für Probleme aller Art. Finanzierung, Programm, Ausbildung der ehrenamtlichen Mitarbeiter, Organisation der Radiostationen. „Die Gründung der MDDA (Media Development & Diversity Agency), die die Gemeinderadios finanziell unterstützen kann, war ein großer Fortschritt: wir haben dafür gekämpft, Lobbyarbeit betrieben. Das Problem ist, dass die MDDA zu wenig Geld hat, um den Gemeinderadios langfristig zu helfen. Die kommerziellen Medien sollten mehr Geld an die MDDA zahlen; bis jetzt reicht das Geld nicht für eine dauerhafte Unterstützung.“ Die Finanzierung der Gemeinderadios wird weiterhin ein Problem bleiben, Werbeeinnahmen sind in strukturschwachen Gebieten kaum zu bekommen, Arme sind keine interessante Zielgruppe für die Wirtschaft. „Natürlich ist noch längst nicht alles perfekt hier in Südafrika. Aber diese Regierung hat schon jetzt mehr für die Armen getan, als alle anderen Regierungen in diesem Land vorher.“ Eng verbunden mit der Unterfinanzierung der Radiostationen ist die Programmproduktion: ohne Geld können keine Transportkosten für Journalisten oder Interviewpartner gezahlt werden, manchmal reicht das Geld gerade für den Strom zum Betrieb der Sendeanlage. Den Programmaustausch von produzierenden Sendern über Satelliten an neun regionale Verteiler organisiert die NCRF von Johannesburg aus: Themen sind HIV/AIDS, Frauenförderung, Entwicklungsthemen. „Es ist eine Herausforderung für die Gemeinderadios, die Politik für die Menschen zu entmystifizieren, ihnen Informationen zu vermitteln, zu denen sie bis jetzt keinen Zugang hatten. Das ist eine Errungenschaft dieser Radios: einen Informationsfluss zu schaffen, wie es ihn in Südafrika nie vorher gegeben hat.“ Neben den Programminhalten ist auch die Ausbildung der freiwilligen und unbezahlten Mitarbeiter ein wichtiges Ziel der Gemeinderadios. Für viele Menschen in den Townships und den ländlichen Gebieten ist es die einzige Chance, eine Ausbildung zu bekommen, mit der sie später Geld verdienen können. „Die Gemeinderadios bilden aus, und die ausgebildeten Freiwilligen 335 Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika können dann zu kommerziellen Radiostationen wechseln, und arbeiten dort als Radiojournalisten“ erklärt Faiza Abrahams-Smith. Auch dafür ist das Geld der MDDA notwendig, die erst von der neuen ANC-Regierung ins Leben gerufen wurde. „Es ist keine Honeymoon-Beziehung zwischen der Regierung und uns, wir streiten viel“ sagt Faiza Abrahams-Smith. „Aber es ist unsere Aufgabe als Organisation der Bürger, sie verantwortlich für die Menschen zu machen, sie dazu zu bringen, sich zu engagieren. Es ist ihr Job, wir von der NCRF sorgen dafür, dass sie ihn auch umsetzen.“ 10. Das Fernsehen: SABC, größter Nachrichtenproduzent Afrikas Der Kameramann macht eine Handbewegung zu meinem Handy. Während der Vorspann schon läuft, schalte ich es ab. Sonst hätte es am Ende noch geklingelt, live in der Hauptnachrichtensendung „News“, die täglich auf SABC 3 läuft. Die Sendung wird nicht im Studio produziert, sondern direkt aus der Großraum-Nachrichtenredaktion von SABC gesendet. Während im Hintergrund die anderen Journalisten arbeiten, spricht die Moderatorin die Texte, die sie vorher versucht hat auswendig zu lernen. Einen Teleprompter, der es Moderatoren erlaubt, ihre Texte direkt aus der Kamera abzulesen, gibt es nicht. „News“ ist die einzige englischsprachige Nachrichtensendung des Tages, die es innerhalb der Programme der drei öffentlich-rechtlichen Fernsehsender SABC1, 2 und 3 gibt. Alle anderen Nachrichten-Sendungen werden in verschiedenen anderen Sprachen gesendet. „Wir senden elfsprachig, das gibt es sonst nirgendwo auf der Welt“, sagt Jimi Mathews, Head of News Department von SABC. Seit der politischen Wende in Südafrika gibt es die elf offiziellen Sprachen in Südafrika, und der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist verpflichtet, Nachrichten in allen Sprachen anzubieten. Im Radioprogramm ist das kein Problem, im Fernsehen ist es schwieriger, weil die Produktionskosten hier viel höher sind. „Im Newsroom sprechen alle Englisch, aber unsere Reporter müssen mindestens zweisprachig sein.“ Das Team fährt zum Drehen raus, anschließend wird dasselbe Material mindestens für drei bis vier Sprachversionen genutzt. Regionale Nachrichten gibt es nicht, einzelne Regionalstudios liefern ihre Beiträge nur für das landesweite Programm zu. Gerade für Sprachgruppen, die sich regional genau eingrenzen lassen, wäre ein eigenes Fenster zwar sinnvoll, lässt sich aber nicht finanzieren. So werden die Nachrichtensendungen für die kleineren afrikanischen Sprachgruppen, wie SiSwati und Ndbele, schon nachmittags um 17 Uhr gesendet, wenn sie von einem großen Teil des Publikums gar nicht gesehen werden können. Aus Sicht der Programmmacher ist das ver336 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar ständlich: Obwohl SABC ein öffentlich-rechtlicher Sender ist, finanziert er sich zu mehr als 80 Prozent über Werbung. Um den „Audience Flow“ aber zu halten, um also einmal erreichte Zuschauer von einer Sendung in die folgende mitzunehmen, sind Programme in Randgruppensprachen allerdings tödlich. So werden die Nachrichtensendungen der meisten afrikanischen Sprachen auf schlechten Sendeplätzen am Nachmittag versteckt: Damit wird der Programmauftrag zwar erfüllt, den Zuschauern, die einen normalen Arbeitstag haben, aber dennoch Nachrichten in ihrer Muttersprache sehen wollen, nützt das wenig. „Man kann den größten Teil der Zuschauer nicht einfach ignorieren, und der spricht eben vor allem Englisch“, sagt Jimi Mathews. Englisch als lingua franca auf dem ganzen Kontinent zu etablieren ist auch ein Nebeneffekt des neuen Projektes von SABC: Der Satellitensender SABC Africa, der über dem ganzen Kontinent ausgestrahlt wird. „Seit dem Irakkrieg war klar, dass wir nicht mehr nur von CNN abhängig sein wollen, dass wir einen eigenen Nachrichtensender brauchen, der unabhängig berichtet. Dieser Bereich ist für SABC der interessanteste Entwicklungsbereich, für SABC Africa arbeiten jetzt schon etwa 150 Mitarbeiter, wenn die technischen Mitarbeiter eingerechnet werden.“ Dabei soll SABC Africa, produziert in Johannesburg, mehr sein als eine Abspielstätte von Bildern und Texten internationaler Bildund Textagenturen. „Wir haben extra ein News Desk hier und ein weiteres in Äthiopien für SABC Africa. Oft schicken wir Reporter raus, die nur für diesen Sender berichten. Das wollen wir ausbauen“, sagt Jimi Mathews. „In den anderen afrikanischen Ländern wird SABC Africa oft kritisch gesehen. Viele denken, SABC will einfach nur das CNN von Afrika werden. Eine Art Medien-Imperialismus. Schon heute ist Südafrika das Land, das in Afrika den Ton angibt, wirtschaftlich und auch politisch“, sagt Peter Schellschmidt, Leiter der Medienprojekte der Friedrich-Ebert-Stiftung im südlichen Afrika, mit Sitz in Windhoek, Namibia. Die eigenen SABC-Nachrichten „News“ werden jetzt schon auf SABC Africa ausgestrahlt und können in mehr als 40 afrikanischen Ländern empfangen werden. Für heute ist die Nachrichtensendung aber erst einmal zu Ende. Das Gesicht des neuen Südafrika geht sich abschminken, es ist weder schwarz noch weiß: die Moderatorin gehört zur Gruppe der Südafrikaner indischer Herkunft. 337 Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika 11. Die Medienwissenschaft und die NGOs: Prof. Tuwana Kupe und Jane Duncan Es dauert eine Weile, bis ich den Seminarraum an der Witwatersrand University, kurz „Wits“ genannt, gefunden habe. Das liegt nicht nur an der verwirrenden Architektur auf dem Campus, sondern auch daran, dass ich ohne Studenten-Chip nicht durch die Sicherheitsschleuse am Eingang komme. Erst ein Pförtner, den ich über ein Außentelefon herbeirufen kann, lässt sich davon überzeugen, dass ich wirklich zu einem Seminar will, ohne als Studentin eingeschrieben zu sein. Etwa zwanzig Studenten sind gekommen zu der Veranstaltungsreihe „Transformation of the Media – Reflections on Ten Years of Freedom“, die Tuwana Kupe, Professor für Medienwissenschaften, zusammen mit Jane Duncan, Leiterin des FXI (Freedom of Expression Institute), an der Wits University durchführt. „Die Medien in Südafrika haben sich in den letzten Jahren ähnlich entwickelt wie in Ost-Deutschland“, beginnt Professor Kupe, „weg von staatlich kontrollierten Medien zu einer privaten Medienwirtschaft.“ Ich überlege, ob ich vielleicht einige Unterschiede zwischen beiden Systemen klarstellen soll, entscheide mich aber dagegen. Schließlich geht es nicht um die spezielle Situation ostdeutscher Medien, sondern um Südafrika. Tuwana Kupe spricht viele Probleme der letzten zehn Jahre an, die mir auch verschiedene andere Interviewpartner immer wieder bestätigt haben. Zum einen kam es nach der politischen Wende fast in allen Redaktionen zu einem kompletten Austausch des Personals. In öffentlich-rechtlichen Medienanstalten sollten die Stellen nun vor allem mit „formerly underprivileged persons“ (FUP) besetzt werden, eine Regel, die auch alle Betriebe betrifft, die mit Regierungsbehörden zusammenarbeiten; das Prinzip der „affirmative action“ ist dabei aus den USA übernommen worden. Viele Weiße sahen darin zum einen das Ende ihrer Karrierechancen in Südafrika; zum anderen waren nach der Wende auch die Reisebeschränkungen gelockert, viele weiße Journalisten leben und arbeiten seitdem dauerhaft in den USA oder Großbritannien. Eine neue Regierung musste relativ schnell besetzt werden: Gerade Journalisten wechselten in großer Zahl in die Politik oder wurden Pressesprecher für Behörden und Regierungsinstitutionen. Es kam zu einer „Juniorisation“, zu einer radikalen Verjüngung der Redaktionen: Die neuen, nachrückenden Journalisten hatten relativ wenig Erfahrung. Obwohl das nun schon zehn Jahre her ist, hat sich das Grundproblem nicht wesentlich geändert. „Die Gehälter, die in Südafrika im Journalismus heute gezahlt werden, sind meist so niedrig, dass die Leute nach der Einarbeitungsphase 338 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar schnell die Branche wechseln. Kaum jemand in den Redaktionen hat mehr als fünf Jahre Arbeitserfahrung“, hat mir Mathatha Tsedu von SANEF erklärt. Das schlägt oft auf die Qualität der Berichterstattung, Lösungen sind für dieses Problem nicht in Sicht. „Guter Journalismus, der viel Zeit für Recherche braucht, dafür aber Missstände aufdecken kann, rechnet sich finanziell oft nicht; das ist in Südafrika auch nicht mehr anders als in westlichen Industrienationen. Früher wurden Themen der Schwarzen von den weißen Medien unterdrückt. Im Prinzip ist das heute anders, aber wenn beispielsweise in Soweto der Strom abgeschaltet wird, weil die armen Leute dort die Rechnungen nicht bezahlen können, dann berichten die Zeitungen darüber kaum. Das ist kein politischer böser Wille. Aber die kommerziellen Medien, wie Tageszeitungen, berichten eben über Themen, die ihre Leser interessieren. Sie zielen auf kaufkräftige Lesergruppen, denn die sind attraktiv für die Anzeigen, die die Zeitung finanzieren. Die Bewohner der Townships aber sind arm, sie sind keine Bevölkerungsgruppe, die für die Wirtschaft interessant ist, denn sie können nichts kaufen. Das ist ein Problem unseres kommerzialisierten Mediensystems: dass die Interessen der Armen nicht wahrgenommen werden“ sagt Jane Duncan, Leiterin des FXI, die im Anschluss an Prof. Kupe spricht. Die zuhörenden Studierenden nicken beifällig. Ob sie die neue soziale Bewegung bilden werden, um das Mediensystem der Zukunft zu befreien, wie Jane Duncan es fordert? 12. Der Abschied Mein südafrikanischer Mitbewohner bringt mich zum Flughafen in Johannesburg. „Und, wie war es?“ fragt er mich, als wir nach dem Einchecken des Gepäcks noch einen Kaffee trinken und darauf warten, dass ich boarden kann. „Anders“, sage ich. „Nüchterner.“ Das Land aus meinen Kindheitsträumen, das wunderbare Urlaubsland, das Vorzeigeland eines neuen Südafrika mit friedlichem Übergang, es ist realer geworden. Ich habe den Lack der Oberfläche abgekratzt, und darunter war nicht nur die freundliche Regenbogennation. Jeremy, mein Mitbewohner, ist typisch für viele südafrikanische Weiße, die ich in meiner Zeit von Februar bis April 2004 getroffen habe. Geboren in Namibia, aufgewachsen in Zimbabwe, das damals noch Rhodesien war. Sein Vater hat dort eine Mine geleitet. Zum Internat ging es erst mit bewachtem Autokonvoi, und als auch das zu gefährlich wurde einmal im Monat mit dem Flugzeug nach Hause. Als die ersten Einschusslöcher am Flugzeug zu sehen sind, verlässt seine Familie das Land, und zieht nach Johannesburg, 339 Dr. Sonja Kretzschmar Südafrika Südafrika. Heute arbeitet er als Ingenieur in einer Softwarefirma. Alle seine Freunde sind Weiße. Er möchte, dass ich einen guten Eindruck von Südafrika mitnehme. „All das, was du hier siehst, die Straßen, die Städte, die Autos – und, woher kommt das? Wer hat den ganzen Wohlstand hier aufgebaut?“, fragt er. Nein, denke ich, den Gefallen tue ich ihm nicht. Ich sage nicht: „Die Weißen“, sondern etwas anderes. „Das Land verdankt den Reichtum seinen Goldminen. Die konnten billig ausgebeutet werden, weil die Schwarzen dort für wenig Geld zur Arbeit gezwungen wurden. Sie mussten der Regierung Steuern zahlen, mit Geld, das auf dem Land nicht zu verdienen war. So hat es die weiße Regierung geschafft, die Männer zum Abwandern in die Minen zu bringen, um dort für wenig Geld einen lebensgefährlichen Job zu machen.“ „Ja? War das so? Das wusste ich gar nicht, das mit den Steuern“, sagt Jeremy, der weiße Südafrikaner. Abends wird er wieder mit seinen Freunden am Pool sitzen, während die schwarzen Hausangestellten die auf der Straße geparkten Autos vor möglichen Diebstählen bewachen, und wird mit ihnen darüber sprechen, dass es diesem Land nicht gut geht, dass alles so gefährlich ist. Und morgen früh wird er die Alarmanlage entsichern, die bei Überfall die „Armed Response“Truppe losschickt, die bewaffnet gegen mögliche Einbrecher vorgeht. Dann wird er Rory, seinen achtjährigen Sohn, zur Schule fahren. Die Schulen, Bildungsstätten der Nation, die zu Apartheidszeiten streng nach Hautfarbe getrennt waren, sind heute verpflichtet, alle Schüler aufzunehmen. „Das führt dazu, dass das Niveau sinkt, denn die meisten Schwarzen haben keine gute Bildung. Deshalb geht Rory, und alle Kinder meiner Freunde, zu Privatschulen.“ Heute verläuft die Wohlstandsgrenze in Südafrika nicht mehr entlang der Hautfarben, sondern entlang der Einkommensgrenzen. Südafrika ist also angekommen im Alltag der halb-industrialisierten Schwellenländer, bei dem eine arme Mehrheit und eine reiche Minderheit oft unvermittelt nebeneinander leben. Aber dann muss ich an Frieda denken, die Putzfrau. Alle Bilder hängen nach dem Abstauben immer schief, denn das räumliche Sehen klappt nicht mehr: Frieda ist auf einem Auge blind. „My Zoetie-Love“ hat sie mich genannt, eine afrikaans-englische Wortschöpfung, es mag so viel wie „meine süße Liebe“ heißen. Sie ist weit über 60 Jahre alt, trägt eine dicke, uralte Hornbrille, und das weiß angelaufene, blinde Auge ist in ihrem schwarzen Gesicht sehr deutlich zu sehen. Ihr Lächeln aber, mit vielen Zahnlücken, ist unschlagbar. „Come back, my Zoetie-Love“, hat sie mir zum Abschied gesagt. 340 Südafrika Dr. Sonja Kretzschmar 13. Dank Bei der Heinz-Kühn-Stiftung möchte ich mich für die Unterstützung meiner Recherche-Reise bedanken, besonders bei Ute Maria Kilian – vor allem für das Versprechen, sie jederzeit auf dem Handy anrufen zu können. Und obwohl Südafrika kein Bürgerkriegsland ist, hat es mich ungemein beruhigt, die Heinz-Kühn-Stiftung auf dieser Reise als Unterstützung hinter mir zu haben. 341 Andreas Lautz aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Argentinien 01. Dezember 2003 bis 15. Januar 2004 343 Argentinien Andreas Lautz Zwischen Hoffnungslosigkeit und Aufbruchsstimmung: Argentiniens mühsamer Weg aus der Krise Von Andreas Lautz Argentinien vom 01.12. 2003 – 15.01.2004 345 Argentinien Andreas Lautz Inhalt 1. Zur Person 348 2. Vorbemerkung 348 3. Rosa wandert aus 348 4. „Argentinien ist ein wunderschönes Land“ 353 5. Das Schloss 356 6. Misión Imposible 359 7. River gegen Beccar 361 8. Der pfälzische Patron 366 9. Mähnenwolf gegen Ameisenbär 369 10. „Die Züge rollen wieder“ 371 11. Schluss 373 347 Andreas Lautz Argentinien 1. Zur Person Andreas Lautz, Jahrgang 1970, Studium der Politikwissenschaft und Geschichte in Trier und London, Büroleiter eines Abgeordneten im Europäischen Parlament in Brüssel, Volontär der Georg-von-HoltzbrinckSchule für Wirtschaftsjournalisten und Redakteur beim Handelsblatt in den Ressorts Finanzen und Politik in Düsseldorf. Seit März 2003 arbeitet er als Pressesprecher im NRW-Ministerium für Wirtschaft und Arbeit, ebenfalls in Düsseldorf. 2. Vorbemerkung Drei Dinge verbindet man gemeinhin mit Argentinien: Fleisch, Fußball, Krise. Gut zwei Jahre ist es her, dass Argentinien in eine der schlimmsten politischen und wirtschaftlichen Krisen seiner Geschichte schlidderte. Straßenunruhen forderten Menschenleben, mehrere Präsidenten mussten das Handtuch werfen. Inzwischen hat sich die Lage beruhigt, doch die bittere Wirklichkeit ist überall im Land deutlich zu spüren. Vor gut 100 Jahren hieß es noch „Reich sein wie ein Argentinier“. Mit dieser Hoffnung wanderten damals zahllose Menschen aus ganz Europa nach Argentinien aus, um sich dort eine neue Zukunft aufzubauen. Ein Jahrhundert später ist es umgekehrt. Viele Argentinier haben das Land verlassen. Und immer noch denken viele darüber nach, woanders ihr Glück zu suchen. Argentinien schwebt zwischen Hoffnungslosigkeit und Aufbruchsstimmung. Die folgenden Reportagen versuchen, das Land und seine Menschen in möglichst vielen Facetten darzustellen. Sie drehen sich um das Thema Auswanderung, um soziale Projekte, um Menschen, die versuchen zu überleben – und um Deutsche, die sich in Argentinien Träume verwirklichen. Es gibt überraschend viele Verbindungslinien zwischen dem „Silberland“ am anderen Ende der Welt und Deutschland. 3. Rosa wandert aus Rosa sitzt kerzengerade, aber ihre Hände zittern, als sie beginnt, zu erzählen. Sie spricht zögerlich, ihre Worte sind kaum zu verstehen. „Wenn alles gut geht, werden wir Argentinien bald verlassen und nach Israel gehen.“ Wenn alles gut geht. Bisher hat sie wenig Glück gehabt. Sonst säße sie nicht hier, an diesem Esstisch im Versammlungssaal von Lamroth Hakol. 348 Argentinien Andreas Lautz Zwei ältere Frauen räumen die leeren Teller und die bunten Plastikbecher ab. Mit Reis gefüllte Tomaten gab es, Pfannenkuchen mit Karamellcreme. Rosa ist eine von zahlreichen Hilfesuchenden, die regelmäßig in die von Deutschen gegründete, jüdische Gemeinde in Vicente Lopez im Norden von Buenos Aires kommen, um wenigstens ab und zu richtig zu Mittag zu essen. Oder um sich aus der Kleiderkammer eine gebrauchte Hose oder eine Bluse auszusuchen. Auswandern. Alles das zurücklassen, womit man aufgewachsen ist. Allein irgendwo einen neuen Anfang suchen. Rosa hat ihr ganzes Leben in der argentinischen Hauptstadt verbracht, 51 Jahre. Aber ihre Entscheidung ist unumstößlich. „Mein Sohn Mauro hat hier keine Chance. Was sollen wir hier noch?“ Vor zwei Jahren, auf dem Höhepunkt der Krise Argentiniens, ist ihr Mann gestorben. Sie hat keine Arbeit und damit kein Geld mehr, um eine Wohnung zu mieten. Und beim Schwiegervater kann sie nicht bleiben. Die Wohnung ist viel zu klein für den Alten und die Frau mit dem elfjährigen Jungen. „Es gibt nicht mal eine Küche, wo wir uns etwas kochen könnten.“ Rosas Schicksal ist in Argentinien nichts Außergewöhnliches. Seit das Land im Dezember 2001 in die schwerste wirtschaftliche Krise seiner Geschichte schlidderte, sind zahllose Menschen abgestürzt. So gut wie jeder hat schon einmal darüber nachgedacht, das Land zu verlassen. Das Leben ist teuer. Arbeit gibt es kaum, erst recht keine Arbeit, die mehr ist als Arbeit zum bloßen Geld verdienen. Über die Hälfte der Menschen lebt heute unter der Armutsgrenze, manche Schätzungen reichen sogar bis 70 Prozent. Wer mehr will vom Leben, der überlegt, woanders sein Glück zu versuchen. Das EinwanderungslandArgentinien ist längst zu einemAuswanderungsland geworden. Viele Menschen haben resigniert. Dabei ist es gerade einmal hundert Jahre her, dass die Redewendung „Reich sein wie ein Argentinier“ in Europa die Runde machte. Tausende Spanier, Italiener, Deutsche und Iren machten sich damals auf den Weg an das andere Ende der Welt, um eine bessere Zukunft zu finden. Immer noch gibt es in Buenos Aires und in verschiedenen Provinzen hundert Tausende von deutschstämmigen Argentiniern. Der Bauarbeiter, der Universitätsprofessor, der Arzt – jeder kennt jemanden, der schon weg ist oder weggehen will. „Meine Tochter lebt in Frankreich, um dort zu arbeiten und Geld zu verdienen“, erzählt Angel. Der alte Mann mit den grauen Locken und der Nickelbrille betreibt im Stadtteil Palermo Viejo einen dieser unzähligen winzigen Kioske, wo man alles von der einzelnen Zigarette bis hin zur Klopapierrolle kaufen kann. „Und eine Bekannte von mir hat eine Tochter, die in Spanien lebt.“ Zweifellos ist der Auswanderungsdruck nicht mehr so extrem, wie auf dem Höhepunkt der Krise. Vor zwei Jahren standen die Menschen Schlange 349 Andreas Lautz Argentinien vor den Botschaften und Konsulaten Spaniens, Italiens, Deutschlands oder der USA. Seither ist der Auswanderungsstrom zu einem Rinnsal abgeschwollen. Aber zu einem Rinnsal, das das Land Tropfen für Tropfen auszutrocknen droht und rasch wieder anschwellen kann, wenn der neue Präsident Ernesto Kirchner scheitert. Wer eine spanische Oma oder einen deutschen Opa hat, der organisiert sich einen europäischen Pass. Wer nicht sofort ausreist, der besorgt sich die Papiere auf Vorrat. Für den Fall, dass das Chaos zurückkehrt. Kirchner ist es gelungen, ein gewisses Maß an Stabilität wiederherzustellen. Aber viele trauen dem brüchigen Frieden noch nicht. Argentiniens Geschichte als Einwanderungsland wird dabei zur Hypothek. Schon immer liebten es die Argentinier, sich als die Europäer Lateinamerikas zu sehen. Bei den Nachbarn in Chile oder Brasilien gelten sie deswegen nicht selten als hochnäsig. Seit jeher blicken viele Argentinier sehnsuchtsvoll in die Länder ihrer Vorfahren. Jetzt eröffnen die europäischen Wurzeln vielen die reale Möglichkeit, tatsächlich in diese vermeintlich bessere Welt zu gelangen. Dabei gilt der deutsche oder der italienische Pass in erster Linie nicht als Eintrittskarte in das Land der jeweiligen Vorfahren, sondern als Fahrkarte nach Spanien. Sprachliche Hürden verbauen oftmals den Weg in die Heimat der Eltern oder Großeltern. Selbst Nachkommen polnischer, tschechischer oder ungarischer Einwanderer zieht es nach Spanien. Sie setzen darauf, dass die Erweiterung der Europäischen Union die Pforte zur iberischen Halbinsel öffnet. Von den Übergangsfristen, die die Bewegungsfreiheit in der EU von Ost nach West noch auf Jahre hinaus einschränken werden, hat bisher kaum jemand gehört. Zurzeit leben schätzungsweise 120.000 bis 180.000 Argentinier in Spanien. Die argentinische Tageszeitung La Nación hat in ihrem Online-Angebot sogar eine gesonderte Rubrik eingerichtet, über die sich die Exilanten austauschen können. Rosas deutsch-jüdische Gemeinde Lamroth Hakol ist ein Mikrokosmos, in dem sich das Thema Auswanderung beispielhaft kristallisiert. „Die aktuelle Krise des Landes hat uns hart getroffen“, erzählt Marcello Taussik, der Präsident. „Ein gutes Drittel der 1.200 Mitglieder ist in den vergangenen zwei Jahren in erschreckende Armut gestürzt. Fünf bis zehn Prozent unserer Gemeindemitglieder haben das Land verlassen“, bilanziert der stämmige Mann. Lamroth Hakol feiert dieses Jahr ihr 60. Jubiläum. 1944 wurde die Gemeinde als Ableger der Hauptgemeinde im benachbarten Stadtteil Belgrano gegründet. Über lange Zeit hinweg war Deutsch die dominierende Sprache, auch in den Gottesdiensten. Inzwischen haben sich die Kinder und 350 Argentinien Andreas Lautz Kindeskinder der Einwanderer jedoch mit Argentiniern anderer Herkunft vermischt. Spanisch rückt immer weiter in den Vordergrund. Vor zehn Jahren lebten noch zwischen 250.000 und 300.000 Juden aus aller Herren Länder in Buenos Aires oder in den entfernten Provinzen des Landes. Die jüdische Gemeinschaft in Argentinien war und ist damit einer der größten der Welt. Deutsche Einwanderer jüdischen Glaubens haben diese Gruppe stark geprägt. Allein in den 30er Jahren gelangten bis zu 45.000 deutsche Juden auf der Flucht vor den Nazis nach Argentinien. Heute zählt die Gemeinschaft noch knapp 180.000 Mitglieder. Taussik schätzt, dass allein in den vergangenen zwei Jahren über 1.000 Familien das Land verlassen haben. Die meisten von ihnen sind in die USA gegangen, nach Kanada, Spanien oder Israel. Allein nach Israel wanderten nach offiziellen israelischen Angaben in den Jahren 2002 und 2003 knapp 8.000 Argentinier aus. Die Jewish Agency macht in Argentinien massiv Werbung für die „Heimkehr“. Rosa zählt auf, welche Hilfen der israelische Staat für diejenigen bereithält, die sich in dem Land niederlassen wollen: „Die Jewish Agency organisiert alles und bezahlt den Flug. Es gibt sogar ein Taschengeld. Alle Neuankömmlinge bekommen für die ersten sechs Monate eine Unterkunft garantiert. Man hilft uns dabei, Arbeit zu finden und die Sprachkurse sind gratis.“ Sorgen macht sich Rosa aber dennoch. „Ich kann zu den Verwandten meines Mannes in Haifa. Aber mich beunruhigt die explosive Lage in Nahost. Man hat mir zwar gesagt, dass mein Sohn nicht zum Militär muss, weil ich Witwe bin. Aber kann ich mir da so sicher sein?“ Tatsächlich trägt die unsichere Situation in Nahost neben der ruhigeren Lage in Argentinien dazu bei, dass sich inzwischen auch die Auswanderung nach Israel abgeschwächt hat. Nach Deutschland kam und kommt kaum einer der deutschstämmigen Juden Argentiniens. „Viele von ihnen fühlen sich zwar auch heute noch eher als Deutsche denn als Argentinier und haben über Jahrzehnte hinweg ihre Kultur und ihre Sprache gepflegt“, erklärt Alfredo Schwarcz, Psychologe und selbst Sohn deutschsprachiger Juden, die in der Nazi-Zeit nach Argentinien kamen. „Gleichzeitig bleibt Deutschland aber das Land der Peiniger. Das Land, das die eigene Familie verlassen musste, weil man sie sonst ermordet hätte.“ Für sein Buch „Y a pesar de todo...“ („Und trotzdem...“) über die tief zerrissene Identität deutschsprachiger Juden in Argentinien hat er zahllose Einwanderer interviewt. Aber es gibt Ausnahmen. Rosa erzählt von einem alten Ehepaar, das in den 30er Jahren aus Bayern nach Buenos Aires kam und vor einem knappen Jahr zurück nach München gegangen ist. Namen will Rosa nicht nennen. „Die beiden haben Angst, weil sie hier Schulden zurückgelassen haben.“ 351 Andreas Lautz Argentinien Oder Juan Strauß, 60 Jahre alt, Zahnarzt, heute Vorstandsmitglied in der jüdischen Gemeinde Düsseldorfs. Sein Vater musste kurz nach Hitlers Machtergreifung nach Argentinien fliehen und fühlte sich dort Zeit seines Lebens fremd. „Er hat zu uns Kindern immer gesagt: Geht zurück nach Deutschland, wenn ihr könnt.“ 1977 packte Strauß dann tatsächlich seine Koffer, gemeinsam mit seiner Frau. „Damals war es allerdings leicht, in Deutschland als Zahnarzt eine Arbeit zu finden. Ich konnte zwischen mehreren Angeboten auswählen. Heute ist das sicher anders.“ Taussik, der mit einer Nichte von Strauß verheiratet ist, unternimmt große Anstrengungen, um die soziale Not seiner Gemeindemitglieder zu lindern und die Menschen dazu zu bewegen, in Argentinien zu bleiben. „Unsere Leute haben sich schon immer sehr engagiert“, erzählt er. „Aber in den vergangenen Jahren hat das eine neue Dimension bekommen. Früher waren wir vor allem ein religiöses und kulturelles Zentrum. Inzwischen sind wir zusätzlich Sozialstation.“ Lamroth Hakol kocht für Bedürftige nicht nur regelmäßig reichhaltige Mahlzeiten, sondern verteilt auch in großem Stil Kleider, Lebensmittelrationen und Einkaufsgutscheine für Supermärkte. Außerdem gibt es Medikamente. „Manchmal wird auch eine dringende ärztliche Untersuchung bezahlt“, erzählt Rosa. Besonders stolz ist Taussik auf eine Bäckerei, die er gemeinsam mit einer benachbarten katholischen Pfarrei aufgezogen hat. „Vier Mal die Woche backen wir in unserer Küche Brot. Jeden Dienstag geschieht das zusammen mit vier Frauen aus einer christlichen Gemeinde.“ Dabei vermischen sie Weizen- mit Sojamehl, um die Laibe möglichst nahrhaft zu machen. Eine Woche werden die Brote in der jüdischen, eine Woche lang in der christlichen Gemeinde verteilt. Mit diesen Hilfen erreicht Lamroth Hakol über 1.000 Menschen. Die notwendigen Finanzmittel kommen aus eigenen Spenden, zum großen Teil aber auch aus den USA und aus Deutschland. 2002 etwa überwies der Zentralrat der Juden über 100.000 Euro nach Buenos Aires. Taussiks wichtigster Kontaktmann in Deutschland: Juan Strauß. Einer der Argentinien ganz sicher nicht mehr verlassen wird, ist Hermann Ehrenhaus. Und dies, obwohl er in der jüngsten Krise fast alles verloren hat „Dafür bin ich zu alt“, sagt er leise. Fast vier Jahrzehnte lang hat der über Achtzigjährige im Orchester des berühmten Teátro Colón Oboe gespielt. Der Pensionsfond, in den er sein Leben lang eingezahlt hat, ist pleite. Deshalb lebt er heute in einer winzigen, zugigen Wohnung. Das Klassikprogramm im Radio läuft den ganzen Tag. In einem kleinen Bücherregal stehen säuberlich aufgereiht bunte Suhrkamptaschenbücher. 352 Argentinien Andreas Lautz Seine Familie gehört zu den Juden, die Hitlerdeutschland verlassen mussten, obwohl sie mit dem Judentum eigentlich gar nichts zu tun, sich völlig assimiliert hatten. Sein Vater war Opernregisseur, seine Mutter Schauspielerin. „Deshalb haben wir auch nie engeren Kontakt zu den jüdischen Gemeinden hier in Buenos Aires gesucht.“ Erst kurz vor der Flucht nach Argentinien erfuhr Ehrenhaus von seinem Vater, dass er jüdischer Herkunft ist. Während der Militärdiktatur erhielt der Musiker einmal das Angebot, sich in den USA niederzulassen. Ehrenhaus schlug es aus. „Argentinien ist mein Zuhause. Hier habe ich seit meiner Jugend gelebt“, sagt er. Dabei töteten die Militärs sogar den Lebensgefährten einer seiner Töchter. Bettina Ehrenhaus zählt heute zu den aktivsten Menschenrechtlerinnen in Argentinien und vertritt die Interessen der Familien von deutschen Staatsbürgern, die von der argentinischen Militärjunta umgebracht wurden. Musizieren kann Ehrenhaus schon länger nicht mehr. Probleme mit den Zähnen verbieten es ihm, Oboe zu spielen. Dafür zitiert er Gedichte von Bertold Brecht aus dem Stegreif, die in Deutschland kaum noch jemand liest, geschweige denn auswendig kennt. Etwa die Ballade von den Seeräubern: „Sie lieben nur verfaulte Planken/ Ihr Schiff, das keine Heimat hat.“ 4. „Argentinien ist ein wunderschönes Land...“ 22.00 Uhr. Der Spuk ist vorbei. Der Zug schließt seine Türen und fährt an. Langsam verlässt er die Station Urquiza im Herzen von Buenos Aires. Ein paar Sekunden lang kann man die erschöpften Gesichter hinter den vergitterten Fenstern noch sehen. Dann sind die Cartoneros außer Sichtweite. Abend für Abend werden tausende Kartonsammler in Sonderzügen aus den Slums in die eleganten Wohn- und Geschäftsviertel der Millionenstadt am Rio de la Plata transportiert. Ein paar Stunden haben sie dann Zeit, um mit ihren Sackkarren durch die Straßen zu ziehen und Altpapier zu sammeln. Wenig später bringen die Sonderzüge sie wieder zurück in ihre elenden Wohnquartiere. Das Sammeln von Altpapier hat sich in der argentinischen Hauptstadt zu einem bestens organisierten Wirtschaftssektor entwickelt. Er ist aus dem Leben der Stadt nicht mehr wegzudenken. Nicht nur Immigranten aus anderen Ländern Lateinamerikas und aus dem verarmten Norden des Landes verdienen sich als Cartoneros das Notwendigste zum Leben. Seit Argentinien vor zwei Jahren in die schwerste Wirtschaftskrise seiner Geschichte gestürzt ist, finden sich unter den Sammlern nicht wenige, die sich eben noch zur Mittelschicht zählten. 353 Andreas Lautz Argentinien 21.00 Uhr. In einem dunklen Winkel hinter der Bahnstation treffen die ersten Cartoneros ein. Geschickt wie chinesische Rikschafahrer manövrieren sie ihre mannshoch bepackten Karren dorthin, wo sie niemandem im Weg stehen. Die Kartons und das Papier haben sie in riesige weiße Säcke gepresst. Franciscos Wagen ist ziemlich kein, wie er selbst. 30 Pesos, weniger als 10 Euro, verdient der braungebrannte Mann pro Woche. Wenn das Wetter gut ist. „Das reicht für eine warme Mahlzeit am Tag“, erzählt er. Regnet es zwei Tage lang oder gar eine ganze Woche, dann wird die Arbeit beschwerlicher. „Dann trocknet meine Kleidung nicht schnell genug.“ Francisco hat über 25 Jahre lang in einem Matadero gearbeitet, in einem der riesigen Schlachthöfe der Stadt. „Vor ein paar Jahren haben sie mich vor die Tür gesetzt.“ Ohne jegliche Abfindung, die es ihm ermöglicht hätte, einen kleinen Lebensmittelladen oder einen Kiosk aufzumachen. „Bevor ich an den Stadtrand ziehen musste, wohnte ich im Viertel San Martín. Damals gab es dort eine kleine Fabrik neben der anderen. Heute gibt es dort nichts mehr.“ Francisco zuckt mit den Achseln. „Argentinien ist ein wunderschönes Land, aber die da oben schaffen es nicht, Ordnung zu schaffen.“ 21.10 Uhr. Gabi läuft durch die Reihen der Cartoneros und fragt jeden, ob alles in Ordnung ist. Ihre ganze Familie lebt von der Arbeit als Papiersammler. Ihre über 70 Jahre alte Mutter hilft genauso wie die sieben Kinder. Mit der kümmerlichen Sozialhilfe ihres Mannes kommen sie zusammen auf etwa 390 Pesos im Monat, rund 110 Euro. Sie selber kann wegen Herzproblemen nicht mehr sammeln. Aber sie hat Glück gehabt. Sie ist jetzt eine Delegada, sprich eine jener Delegierten, die die Cartoneros an jeder Bahnstation selbst ausgewählt haben, um dafür zu sorgen, dass alles reibungslos abläuft. In knappen Sätzen erklärt die Frau, wie der Papierkreislauf in Buenos Aires funktioniert. „Wir sammeln in der Stadt das Altpapier ein und bringen es zu Sammelstellen am Stadtrand. Dort warten Aufkäufer, die uns das Material abnehmen und in Lastwagen in die Papierfabriken transportieren. Die verschiedenen Stadtviertel sind unter den Cartonero-Gruppen fein säuberlich aufgeteilt, damit sie sich nicht in die Quere kommen.“ Viele Sammler haben in ihrem Revier Vereinbarungen mit den Ladenbesitzern und Privatleuten, das Papier zu einer ganz bestimmten Uhrzeit auf die Straße zu legen. Gabis Gruppe aus ungefähr 80 Sammlern mit 30 Karren ist gut organisiert und kann gegenüber den Aufkäufern recht gute Preise durchsetzen. Einzelkämpfer werden von den Zwischenhändlern dagegen gnadenlos unter Druck gesetzt. Immerhin gibt es inzwischen ein Gesetz, das gewisse Regeln festschreibt. „Damit sind wir zu ganz normalen Arbeitern geworden“, sagt Gabi. „Vorher hielten uns manche Leute für gefährlich. Jetzt haben sie sich an uns gewöhnt.“ 354 Argentinien Andreas Lautz 21.25 Uhr. Inzwischen hat Ricardo eine kleine Feuerstelle aufgebaut. Jeden Mittwoch kommt der Friseur, der seinen Laden gleich um die Ecke hat zur Station, um für die Kinder Kakao zu kochen. Dazu verteilt er Kekse mit Dulce de Leche, einer Art Karamellcreme. Fast an jeder Bahnstation, wo die Cartoneros verladen werden, gibt es jemanden, der sich um die Sammler kümmert. Ricardo erzählt, dass es seit dem Absturz vor zwei Jahren viel Solidarität unter den Leuten gibt. „Jeder weiß inzwischen, dass es auch ihn treffen kann.“ Der Friseur kann sich mit seinem Laden ganz gut über Wasser halten. „Vor der Krise hatte ich mehr. Aber es reicht.“ Die kleineren Kinder haben sich um die Tüte mit den Keksen gesetzt und schlecken mit ihren Fingern die Karamellcreme aus dem Glas. Die Größeren drängeln sich um Ricardos zerbeulten Topf und schöpfen sich mit einer Kelle den heißen Kakao in kleine Plastikbecher. Einer von ihnen ist Hugo. Er ist sechzehn Jahre alt, sieht ein wenig aus wie Ronaldo, der Fußballstar, und ist überhaupt der Größte. Sein blau-gelbes Trikot von den Boca-Juniors trägt er lässig über der abgeschnittenen Hose. „Wir haben gerade den Weltcup gewonnen“, sagt er stolz und zeigt auf den Namenszug des Boca-Stars Carlos Tévez. Ricardo fragt ihn, ob er weiß, dass Bayern München den Spieler gerne kaufen würde. „Klar. Alle wollen sie ihn“, antwortet Hugo lachend. „Aber Téves gehört zu Boca. Er wird hier bleiben.“ 21.45 Uhr. Gabi gibt mit einem kurzen Pfiff durch die Zähne das Signal. Der Zug wird gleich kommen und die Sackkarren müssen auf den Bahnsteig geschoben werden. Hektisch füllt sich Hugo den Rest Kakao in eine leere Plastikflasche. Die Cartoneros bilden mit ihren Karren eine Karawane, die sich durch das kleine Stationsgebäude langsam auf den Bahnsteig schiebt. Die anderen Passagiere, die auf ihren normalen Zug warten, treten einen Schritt zur Seite. 21.55 Uhr. Die Cartoneros stehen kaum in Reih und Glied, da fährt schon der Zug mit höllisch quietschenden Bremsen in die Station ein. Gabi und zwei weitere Delegadas haben sich so auf dem Bahnsteig verteilt, dass sie den Überblick behalten können. Die Türen der beschmierten Wagons öffnen sich. Schon jetzt drängeln sich in den dunklen Röhren Sammler, die an den vorherigen Stationen zugeladen wurden. Sitze gibt es keine, damit auch die Karren in die Wagons passen. Die Gitter vor den Fenstern sollen die gewöhnlichen Passagiere auf dem Bahnsteig vor Steinwürfen der Sammler schützen. Die Leute nennen diese Züge „trenes blancos“, weiße Züge, weil die Bahngesellschaft die Farben des Unternehmens abgeschliffen hat. 355 Andreas Lautz Argentinien Dann geht alles ganz schnell. Ein paar kurze Kommandos und die Cartoneros haben ihre Gefährte durch die Öffnungen geschoben. Nur am letzten Wagon gibt es eine kurze Verzögerung. Ein riesiger Karren passt nicht durch die Öffnung. Gabi wird etwas lauter. Mit vereinten Kräften wird das Gerät in den Wagen gewuchtet. 22.00 Uhr. Der Spuk ist vorbei. Der „weiße Zug“ schließt seine Türen und fährt an. Langsam verlässt er die Station. Ein paar Sekunden lang kann man die erschöpften Gesichter hinter den vergitterten Fenstern noch sehen. Dann sind die Cartoneros außer Sichtweite. Zurück bleiben die kleinen Kinder. Sie müssen noch ausharren. Zusammen mit einer älteren Sammlerin werden sie später mit einem normalen Passagierzug das Stadtzentrum verlassen. In den Sonderzügen für die Papiersammler dürfen nur Jugendliche ab 15 Jahren mitfahren. 5. Das Schloss Wer sich auf der staubigen Schotterstraße bis ans Ende dieses menschenleeren Tals in den argentinischen Anden verirrt, den überrascht ein wahrhaft erhabener Anblick. Auf einem grünen Hügel thront einsam ein Schloss. Ringsum steigen schroffe, mit Nadelhölzern bewachsene Berghänge auf. Der weiße Putz des Gemäuers und die roten Fensterläden reflektieren das grelle Sommersonnenlicht und an den Ecken des Gebäudes recken sich vier stolze Türme. „Ich glaube nicht, dass ich diesen Ort noch einmal verlassen und nach Deutschland zurückkehren werde“, sagt Ruprecht von Haniel. „Ich habe hier Wurzeln geschlagen.“ Zwanzig Jahre schon baut der Niederbayer aus der weit verzweigten deutschen Adelsfamilie an seiner Residenz 50 km südlich des feinen Wintersportstädtchens San Martín de los Andes. „Vor drei Jahren bin ich endgültig hierher gezogen. Manche Verwandte haben mich deshalb als vaterlandslosen Gesellen beschimpft.“ Zumal er damals auch seinen angestammten Wohnsitz, die Burg Tunzenberg im bayerischen Menghofen, verkaufte. Von Haniel wirkt wie ein Holzfäller, wie er die Daumen seiner kräftigen Hände zwischen das weite weiße Hemd und die ledernen Hosenträger schiebt. Seine Augen strahlen grün, die blaue Jeans ist ausgebleicht. Für einen Arbeiter ist er allerdings ein bisschen zu beleibt. Er ist nicht der einzige Deutsche in diesem Tal. Zwei weitere Wohlhabende blauen Blutes haben hier schon Ende der 70er Jahre Tausende von Hektar Land erworben. Gleich neben der Estancia Ruprecht von Haniels liegt das Anwesen des baden-württembergischen Fürsten von Waldburg-Zeil, einem 356 Argentinien Andreas Lautz der größten Waldbesitzer in Deutschland. Der dritte im Bunde ist Wolf von Buchholtz, der mehrere Jahre in der argentinischen Niederlassung des Ferrostahl-Konzerns arbeitete. Zusammen kommen die drei Adligen auf gut 15.000 ha Grundbesitz. In der Lokalpresse werden die „Prinzen“ aus Deutschland auch als die „neuen Vizekönige“ des Landes bezeichnet. Andere Ausländer haben die Schönheit und den wirtschaftlichen Wert des argentinischen Südens ebenfalls für sich entdeckt und weite Landstriche Patagoniens erworben. Zu ihnen zählen nicht nur Ted Turner, der Gründer des US-Nachrichtensenders CNN, sondern auch der Italiener Luciano Benetton, der in Argentinien einen Großteil der Wolle für seine Textilien produziert. Auf seiner weitläufigen Estancia, die sich über knapp eine Million Hektar erstrecken soll, betreibt er sogar ein Museum zur Geschichte der indianischen Bevölkerung Patagoniens. In der jüngsten Vergangenheit geriet Benetton jedoch in heftige Kritik, weil er seine indianischen Arbeiter angeblich schlecht bezahlt. Ruprecht von Haniel führt seine Gäste um das Schloss herum, zeigt stolz die atemberaubende Aussicht hinunter ins Tal. Nach kurzem Zögern geleitet er die Besucher auch in den Eingangsbereich des mittelalterlich anmutenden Gemäuers. „Das Dachgeschoss ist noch nicht ausgebaut“, sagt er. „Das wird wohl auch noch eine Weile dauern.“ Alte Möbel aus dunklem Holz säumen die rauhen, weiß verputzten Wände. An den Mauern hängen Ahnenportraits. Die schweren Holztüren bleiben verschlossen. Der Boden aus roten, weißen und schwarzen Steinplatten wirkt, als läge er hier schon eine Ewigkeit. „Der Stein stammt hier aus der Region. Mein Steinmetz hat die Platten nach meinen Anweisungen bearbeitet. Deswegen wirken sie so alt und ausgetreten.“ Von Haniel hat nicht nur Volkswirtschaft, sondern auch Forstwirtschaft studiert. Er ist nicht zum Zeitvertreib in Argentinien. Wie die beiden anderen „Prinzen“ hat er auf seiner Estancia vor 25 Jahren mehrere Tausend Hektar Nadelholz angepflanzt. Jetzt will er damit beginnen, die Früchte seiner Arbeit zu ernten. „Viele Bäume sind inzwischen so weit, dass sie geschlagen werden können.“ Der Bestand ist jung, das Holz noch nicht von besonderer Qualität. Als einfaches Stangenholz ist es aber bestens für die endlosen Zäune geeignet, mit der die argentinischen Grundbesitzer ihre Farmen abgrenzen. „Es gibt in diesem Land kaum ernsthaft bewirtschafteten Wald, dafür aber einen gewaltigen Bedarf an Holz. Die wichtigsten Lieferanten sind Brasilien und Chile. Mit denen kann ich aber locker mithalten. Erst recht seit der Abwertung des argentinischen Pesos vor zwei Jahren.“ 357 Andreas Lautz Argentinien Bedächtig erzählt von Haniel, dass Forstwirtschaft unter den argentinischen Farmbesitzern nicht hoch angesehen ist. „Das Größte ist die Viehzucht. Als Patron bist du dann „El Macho“, der Oberstier.“ Der Niederbayer versucht den Eindruck zu verwischen, sein Traumschloss sei eine Verrücktheit im Stile König Ludwigs. Verglichen mit dessen Zuckerschlösschen ist sein Werk tatsächlich schlicht und geschmackvoll. „Wenn meine Familie das Schloss eines Tages nicht mehr als Wohnsitz nutzen will, dann kann sie es in ein Luxushotel umbauen.“ Die Region um San Martín de los Andes und Bariloche ist touristisch bestens erschlossen und zieht nicht nur Urlauber aus dem In-, sondern zunehmend auch aus dem Ausland an. Wie an einer Perlenkette aufgereiht finden sich hier Nationalparks mit unberührten Wäldern, glitzernden Bergseen und wilden Flüssen, an denen man herrlich Fliegenfischen kann. Schon jetzt bietet von Haniel zahlungskräftigen Kunden auf seiner Estancia Unterkunft an. In einem kleinen Pinienwäldchen hat er dreizehn solide Ferienhäuser aus Stein und Holz errichtet. Ein junges Ehepaar aus Buenos Aires, das von der argentinischen Hauptstadt die Nase voll hat, kümmert sich um die Gäste. Im Mittelpunkt steht für den Unternehmer aber die Waldwirtschaft. Gegenwärtig plant von Haniel den Bau einer Anlage, in der er die Baumstämme zu Stangenholz weiterverarbeiten kann. Etwas despektierlich erzählt er, dass sich Fürst von Waldburg-Zeil auf seiner Estancia 2.000 ha für die Rotwildjagd reserviert hat. „Das ist Fläche, die der Fortwirtschaft verloren geht.“ Von Haniel hat schon in Deutschland Waldwirtschaft betrieben. „In den 70er und 80er Jahren nahm das dann aber eine Richtung an, die mir ganz und gar nicht schmeckte. Hier in Argentinien habe ich freie Hand, kann ich meine eigenen Vorstellungen verwirklichen und die Leute, die für mich arbeiten noch formen.“ In Deutschland sei alles irgendwie schon fertig, die Grundkoordinaten schon gezogen. „Das war mir alles zu eng.“ Er ist ein Eigenbrötler. Nur zur Feuerbekämpfung arbeitet er eng mit Waldburg-Zeil und von Buchholtz zusammen. Der benachbarte Nationalpark stellt Ranger zur Verfügung, die Deutschen bezahlen ihr Gehalt. Unten am See haben sie sogar eine alte Landebahn ausgebaut, um Feuersbrünste notfalls auch mit Löschflugzeugen bekämpfen zu können. „Alle hier haben ein Interesse daran, dass der Wald nicht zerstört wird. In dieser trockenen Gegend ist Feuer die größte Bedrohung“, sagt der Niederbayer. Das Schloss ist nicht die einzige Überraschung, die Besucher im Reich der deutschen Fürsten erwartet. Im Stile des gütigen Lehnsherrn hat WaldburgZeil gleich neben dem Eingang zu seiner Estancia „San Jorge“ eine kleine Kirche errichtet. Über der großen Holztür wacht Georg der Drachentöter, 358 Argentinien Andreas Lautz handgeschnitzt im Tiroler Stil. Weitere Heiligenfiguren aus edlem Holz finden sich im Inneren der Kapelle. In San Martín de los Andes verrichtet zudem ein altes Feuerwehrauto aus der ehemaligen DDR seinen Dienst. Waldburg-Zeil hat den alten Tatra aus tschechischer Produktion Anfang der 90er Jahre mit der Hilfe des damaligen CDU-Generalsekretärs Volker Rühe nach Argentinien gebracht. Und im Kirchturm des Andenstädtchens sollten eigentlich schwere Glocken hängen, die Waldburg-Zeil in Deutschland gießen lies. Leider ist der Turm zu fragil, um sie zu tragen. „Ich gebe es ja zu“, sagt Ruprecht von Haniel. „Ein bisschen spinnert ist das alles schon.“ 6. Misión Imposible „Wenn man nicht die Hand aufhält, dann kann auch niemand etwas hineinlegen“, sagt Padre Jorge Thor verlegen. Verlegen, weil er mit dieser Begründung Lotto spielt. Jede Woche drei Pesos auf die gleiche Zahlenreihe. An Lottoglück glaubt er aber nicht. Eher daran, dass „der da oben meine ausgestreckte Hand sieht und etwas für mich hineinlegt“. Der zurückhaltende Mann heißt eigentlich nicht Jorge, sondern Georg. Er stammt aus Effelder in Thüringen und ist 1949 als kleiner Junge nach Westdeutschland geflohen. Der Arnsteiner Pater lebt nun schon seit fast 40 Jahren in Argentinien. Der Lottogewinn wäre nicht für ihn selbst bestimmt. Das Geld würde in seine Pfarrei in einem Armenviertel am Stadtrand von Buenos Aires fließen. Kerzengrade sitzt der fast kahle Padre auf einem Holzstuhl in seinem kleinen Wohnzimmer. Das Hemd steht in argentinischer Manier ein paar Knöpfe weit offen. Ruhig erzählt er, wie er vor sieben Jahren aus einer normalen Pfarrei im Stadtzentrum von Buenos Aires in das Armenviertel gekommen ist. Es war ein Umzug aus der ersten in die dritte Welt. Die Armut ist mit Händen zu greifen. Die meisten der fast 20.000 Bewohner dieses Bezirks sind Zuwanderer aus Bolivien. Nur die wichtigsten Zufahrtsstraßen sind geteert. Der Rest ist Staub. Die wenigen Bäume bieten nur wenig Schutz vor der flimmernden Hitze. Aufgerissene Müllbeutel zeugen von hungrigen Straßenhunden. Wenn es einen oder zwei Tage lang regnet, dann versinkt die Pfarrei im Schlamm. Durch Zufall kann der Pater für sich und die Gemeinde einen kleinen Teil der 1. Welt bewahren. Allerdings einen, der schon vergangen ist. Hinter dem Thüringer hängt eine alte Deutschlandkarte, die noch zwischen DDR 359 Andreas Lautz Argentinien und BRD unterscheidet. Sie stammt aus der aufgelösten DDR-Botschaft in Buenos Aires. Zudem hat ihm die deutsche Botschaft ein paar alte Möbel aus der DDR-Vertretung vermittelt, darunter zwei dringend benötigte: eine alte Küchenzeilen und eine blumige bauchige Stehlampe. Die Pfarrei ist ein großes Provisorium. „Als ich vor sieben Jahren hier anfing, gab es nichts“, erzählt der Padre. „Kein Pfarrhaus, keine Kirche, nichts.“ Deshalb ist der Deutsche nicht nur Seelsorger, sondern auch Architekt und Bauherr. Immer wenn er ein wenig Geld aufgetrieben hat, baut er hier noch ein Dach drauf, da noch einen Raum dran. „Mal sehen wie weit ich komme. Mein Nachfolger kann dann darauf aufbauen.“ 300 Euro geregeltes Einkommen hat der Pater im Monat neben seiner kleinen Rente aus Deutschland. Das Geld kommt aber nicht von der eigentlich zuständigen Diözese Quilmes. „Die hat doch selber nichts“. Stattdessen greift ihm Bischof Joachim Wanke vom Bistum Erfurt regelmäßig unter die Arme. Die meisten Mittel für die Baumaßnahmen hat das bischöfliche Hilfswerk Adveniat bereitgestellt. In vier Jahren rund 40.000 Euro. „Wenn ich jetzt Euro bekomme, dann kann ich damit Wunder bewirken“, erzählt er. Seit der Abwertung des Pesos vor zwei Jahren sind die Spenden dreimal soviel wert. Eine der beiden Kapellen dient gleichzeitig als Speisesaal. Täglich bekommen hier bis zu 80 kleine Kinder aus der Gemeinde Frühstück, Mittag- und Abendessen. Sieben junge Frauen aus der Gemeinde bereiten die Mahlzeiten zu. Wenn Zeit bleibt, spielen sie auch mit den Kindern. Gerade stecken sie kleine kitschige Weihnachtsbäume aus Plastik zusammen. In den letzten zwei Jahren hat sich die Lage der Menschen in Padre Thors Pfarrei drastisch verschlechtert. Fast alle Männer, die meisten Bauhandwerker, haben ihre Arbeit verloren. Es sind jetzt die Frauen, die Geld nach Hause bringen. Mucamas, sprich Hausmädchen, werden in der Stadt immer gesucht. Die Jugendlichen gammeln in den Straßen herum. Arbeit gibt es auch für sie keine, Drogen aus Bolivien dafür an jeder Ecke. Sicher ist das Viertel nicht. Die Fenster der Pfarrkirche, der Kapellen und des Pfarrhauses sind kleinmaschig vergittert, um sie vor Einbruch und Steinwürfen zu schützen. „Die Armut verbittert die Leute. Die aufgestauten Aggressionen machen dann auch vor uns nicht halt“, sagt der Pater. Von den Nachbarn dringt ohrenbetäubende Musik herüber. Georg Thor entschuldigt sich: „Das ist die Macht derer, die sonst gar nichts haben.“ Wenn er in der Gemeinde unterwegs ist, geht er immer zu Fuß. Zwei Mopeds sind ihm schon gestohlen worden. „Ein drittes will ich nicht verschenken“, sagt er. Das zweite Moped hat er wenigstens einmal erfolgreich verteidigt. Der Preis ist eine Kugel im Bein. „Es war halb so schlimm. Es 360 Argentinien Andreas Lautz ist nichts Wichtiges kaputtgegangen. Die Kugel ist noch drin, aber sie stört nicht.“ Stolz zeigt er die zweite Kapelle, die er eigenhändig aufgebaut hat. Die neue Eingangstür aus Holz schützt er mit einem großen Blech. „Es wäre schade, wenn sie gleich zu Bruch ginge.“ Ansonsten steht nicht vielmehr als der Rohbau. Die Wände sind kahl, die Treppe in den zweiten Stock grauer Beton. Nur eine realsozialistische DDR-Garderobe aus falschem Furnierholz und eine hässliche braune Plastikuhr schmücken den Eingangsbereich. In einem kleinen Nebenraum will der Pater einmal einen oder zwei Computer aufstellen. Auch von einer Bibliothek träumt er. „Ich muss den Jugendlichen doch etwas bieten. Das ist ihre einzige Chance.“ Manchmal fühlt sich der Pater in seiner Gemeinde ziemlich allein. Dann reist er zu Freunden ins Stadtzentrum von Buenos Aires. Die Bolivianer beteiligen sich zwar rege am Gemeindeleben, aber sie haben aus ihrem Land starke Traditionen mitgebracht, auch in religiöser Hinsicht. Die eine der beiden Kapellen hieß zunächst nur „Heiliges Herz Jesu“, kein ungewöhnlicher Name für eine Kirche in Argentinien. Seit einiger Zeit trägt das Gebäude aber zusätzlich den Namen der wichtigsten Heiligen der Bolivianer: „Jungfrau von der Copacabana“. Und links und rechts vom Altar stehen je eine argentinische und eine bolivianische Schutzpatronin. Mit dogmatischem Katholizismus käme Pater Thor hier nicht weit. „Ich bin Christ“, sagt er vorsichtig. „Ja, so kann man es sagen.“ Und deshalb pflanzt er vor den Kapellen und der Kirche einen Baum nach dem anderen. Jedes Jahr aufs Neue, denn immer wieder gibt es jemanden, der sie verstümmelt. „Aber irgendwann werden sie so groß sein, dass ihnen niemand mehr etwas anhaben kann“, sagt er. Stacheldraht schützt neuerdings die jungen Stämme. 7. River gegen Beccar „Beccar!“ Der in der Mitte des Spielfeldes hin und her laufende, beleibte Moderator hat eindeutig „Beccar!“ in sein Mikrofon gerufen. Aber so schnell können es die Kinder auf der Tribüne gar nicht fassen. „Damit seid Ihr gemeint!“ ruft ihr Trainer Javier Torres. „Victor, Diego, Martín, holt Euch den Preis!“ Die Basketballarena in den Katakomben des River Plate-Stadions in Buenos Aires ist zum Bersten gefüllt. Zum Abschluss der Fußballsaison haben sich Jugendmannschaften aus der ganzen Stadt beim argentinischen Traditionsclub River Plate versammelt, um die Preisverleihungen zu feiern. 361 Andreas Lautz Argentinien Alles glänzt. Der blank gewienerte Parkettboden des Spielfeldes, die Pokale auf dem langen Tisch in der Mitte der Halle. Mühsam bahnen sich die drei Gerufenen einen Weg durch die eng besetzten Reihen auf der Tribüne hinunter auf das Spielfeld, um stellvertretend für ihre Mannschaften Fair Play-Medaillen entgegen zu nehmen. Als die drei aus Beccar die Trophäen endlich in der Hand halten, kennt der Jubel ihrer Mitstreiter keine Grenzen mehr. „Das gibt es doch gar nicht“, schreit Martín euphorisch. „Wir sind die Größten!“ Lachend hakt er sich mit Victor und Diego unter. Wie echte Champions posieren sie für ihren Trainer und seine Kamera. In dieser Stunde gibt es in der Fußballwelt Argentiniens keine Klassenunterschiede. Einen kurzweiligen Nachmittag lang überbrückt die von River gesponserte Preisverleihung die tiefen Gräben, die die argentinische Fußballlandschaft durchziehen. Das eine Extrem: die Mannschaften aus dem Armenviertel Beccar. Sie sind Teil eines privaten, in Argentinien einzigartigen Sozialprojektes, das den Jugendlichen über den Sport neue Hoffnungen machen will. Das andere Extrem: der privilegierte Nachwuchs des Rekordmeisters River Plate, der auch dieses Jahr wieder reihenweise Pokale abräumt. River, so nennen die Fans den Verein liebevoll, produziert Talente in Serie. Musterschüler wie D‘Alessandro und Menseguez, die beim VfL Wolfsburg spielen, bekommen sogar Angebote aus dem Ausland. Beccar, im Norden der argentinischen Hauptstadt. Wie eine Insel liegt dieser herunter gekommene Stadtteil inmitten von vornehmen Villenvierteln. 14.000 Menschen leben hier, darunter zahllose Jugendliche. Als Fremder sollte man sich nicht allein in die Gassen wagen. Die Leute sind misstrauisch und nicht immer freundlich gesinnt. „Genau deshalb haben wir uns diesen Stadtteil für unser Projekt ausgesucht“, sagt Javier Ghía. Der Mittdreißiger verdient sein Geld als Manager beim US-Nachrichtendienstleister Bloomberg. Er ist der Initiator und Präsident der Stiftung DAD. Das Kürzel steht für „desarrollo a través del deporte“, Entwicklung durch Sport. „Der Fußball ist für diese Jungs die einzige Möglichkeit, aus ihrem trostlosen Alltag auszubrechen und lebenswichtige Grundwerte wie Fairness, Teamgeist und Disziplin zu erlernen“, erklärt Ghía. „Die Kinder lieben Fußball. Damit packen wir sie.“ In der ganzen Welt – in Brasilien, auf dem Balkan, in Afghanistan oder in Kenia – gebe es inzwischen erfolgreiche Entwicklungsprojekte, die sich die Anziehungskraft des Sportes zu nutze machten, erläutert Ghía. „Als Argentinien in die Krise schlidderte, dachte ich mir, dass man so etwas auch bei uns aufziehen kann.“ Dort, wo es nur Verzweiflung gebe, könne der Sport neue Hoffnung wecken, zitiert er Nelson Mandela. 362 Argentinien Andreas Lautz In kürzester Zeit trommelte der Manager im Jahr 2002 Freunde und Bekannte zusammen, um die neue Stiftung ins Leben zu rufen. Neben dem Präsidenten gibt es einen Chefkoordinator, der sich hauptamtlich um alle praktischen Belange kümmert. Ghía hat dafür Melchor Villanueva gewinnen können, der dafür seinen Job in der Marketingabteilung eines Unternehmens an den Nagel hängte. Außerdem gehört Armicar Bossi zum Team. Der magere Banker im Ruhestand fungiert als Schatzmeister und Fundraiser. „Wir nennen ihn nur Art“, sagt Ghía. „Weil er genial darin ist, Geld aufzutreiben.“ Und dann gibt es noch Javier Torres, 28 Jahre alt, Sportlehrer. Er trainiert die Jungen von Beccar jeden Abend von sieben bis halb neun. Am Wochenende finden die Ligaspiele statt. „Da nehmen wir aber nur diejenigen mit, die sich in der Schule, zu Hause und im Training ordentlich benehmen“, sagt Torres. Wer nicht bereit sei, diese Regeln zu akzeptieren, der könne gehen. „Aber normalerweise gibt es keinerlei Probleme. Die Kinder sind einfach unglaublich.“ Ohne Victor, Diego und Martín wäre die Stiftung allerdings hilflos. Die drei sind in Beccar aufgewachsen und kennen das Viertel wie ihre Westentasche. Sie arbeiten für die Stiftung als Koordinatoren und stellen so sicher, dass DAD in Beccar tiefere Wurzeln schlagen kann. Victor, 25 Jahre alt, ist für den Kontakt zum ganzen Viertel zuständig. Selbstbewusst erzählt er, dass es für ihn eine ganz neue Erfahrung sei, gebraucht zu werden. „Vorher war ich arbeitslos. Jetzt habe ich endlich was zu tun. Stellen Sie sich vor, wie es hier gewesen ist, bevor die Stiftung startete. Hier gab es rein gar nichts.“ Die Kinder hätten nur herumgelungert, ohne jede Idee, was sie mal machen wollen. Diego und Martín, 17 und 14 Jahre alt, sind als Koordinatoren so etwas wie die offiziellen Anführer der Jungen und damit wichtige Vorbilder. Martín hat zusammen mit seiner Familie bis vor kurzem noch als Papiersammler gearbeitet. Die Stiftung musste den Eltern seinen Verdienstausfall ausgleichen, damit er bei dem Projekt mitmachen kann. „So kann ich mich mit Fußball beschäftigen und außerdem in Ruhe die Schule fertig machen“, sagt er. Das leuchtend rote T-Shirt trägt er lässig über der abgeschnittenen Sporthose. Während er erzählt, gesellt sich ein anderer Junge mit blonden Haaren und großen braunen Augen dazu. Interessiert mischt sich Jonathan in das Gespräch ein, fragt, wer der Mann mit dem Notizblock und dem Stift ist. Was er will. „Journalist? Wehe, Sie schreiben schlecht über uns! Wo kommen Sie her? Was heißt Fußball auf Deutsch?“ Wie viele der anderen Jungen trägt er für das Fußballtraining alte Turnschuhe, ein alte Jeans, ein abgetragenes T-Shirt. 363 Andreas Lautz Argentinien Noch steht die Stiftung mit ihrer Arbeit ganz am Anfang. Im September 2003 ist sie offiziell gestartet und die Jungen haben bisher nicht einmal eine Wiese, geschweige denn einen Sportplatz, auf dem sie trainieren können. Stattdessen treffen sie sich auf einem sandigen, mit kümmerlichen Bäumen bestandenen Platz gleich neben der katholischen Kirche. „Richtig Fußballspielen kann man hier nicht“, meint Torres. „Deswegen machen wir vor allem Lauf- und Konditionstraining. Aber den Jungen ist es egal. Für sie ist es schon etwas großartiges, irgendwo dabei zu sein.“ Neuerdings versucht die Stiftung auch, die Mädchen des Viertels mit Sportangeboten anzusprechen. Über hundert nehmen bereits an dem Projekt teil. Eine zweite Trainerin kümmert sich um sie. Javier Torres: „Es reicht nicht, sich nur um die Jungen zu kümmern. Den Mädchen in Beccar geht es keinen Deut besser.“ Bislang muss die Stiftung mit dem wenigen Geld auskommen, das die Initiatoren und Mitarbeiter der Stiftung und einige wenige Sponsoren wie zum Beispiel die Bank Itaú monatlich bereitstellen. Art Bossi erläutert, dass es in Argentinien ziemlich schwierig sei, für ein Sozialprojekt Geld einzusammeln. „Systematisches Sponsoring hat hier keine Tradition. Viele, die es sich durchaus leisten könnten, das Projekt zu unterstützen, wohnen gleich in der unmittelbaren Nachbarschaft. Aber für die ist Beccar ein Slum, wo Kriminelle wohnen. Sie glauben, dass die Kinder, die hier leben, ohnehin schon verloren sind.“ Für jede Kleinigkeit braucht Bossi einen Sponsor. Zum Beispiel für die regelmäßigen Busfahrten zu den Ligaspielen. „Einen eigenen Bus haben wir nicht, Geld für öffentliche Transportmittel auch nicht. Also suche ich nach einer Firma, die uns am Wochenende mit einem Bus aushilft.“ Oder für das alljährliche Weihnachtsfest. Das letzte Mal haben Bloomberg-Mitarbeiter die Hamburger und Getränke gespendet. Für die Zukunft schwebt dem Ex-Banker ein Patenschaftssystem vor. „Pro Kind brauchen wir nicht mehr als 30 Euro pro Monat. Dafür werden wir den Paten regelmäßig Berichte über „ihr“ Kind abliefern, wie es sich entwickelt, welche Fortschritte es in der Schule macht und wie es um seine körperliche Gesundheit bestellt ist.“ Mit dem Geld will Bossi die laufenden Kosten des Projektes abdecken: Ordentliche Gehälter, kleine Stipendien für bedürftige Jugendliche, die Gebühren für die Teilnahme in der Fußballliga. Große Hoffnung setzt Bossi in Gespräche mit der argentinischen Niederlassung von Siemens. Der Konzern besitzt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Beccar ein riesiges, grünes Sportareal, das früher von SiemensMitarbeitern genutzt wurde und heute brach liegt. „Die Verhandlungen ziehen sich schon ziemlich lange hin“, sagt Bossi. „Aber wir sind guter Dinge, dass da bald Bewegung rein kommt.“ 364 Argentinien Andreas Lautz Die Jungen von River Plate, die sich auf dem Sportplatz seitlich des riesigen Stadions warmlaufen, tragen allesamt das rot-weiße River-Trikot und Fußballschuhe. Einer der Jungen heißt Roberto. Stolz zeigt der Neunjährige mit den kurzen braunen Haaren auf das Autogramm, das D‘ Alessandro ihm auf sein Trikot gekritzelt hat. „Das ist noch aus der Zeit, als er bei River spielte. Ich kenne ihn persönlich“, erzählt er ernst. Seit einem Jahr besucht Roberto die Fußballschule von River. Die Rahmenbedingungen, die der Verein ihm bieten kann, sind perfekt. Neben dem Trainingsplatz gibt es zwei Schwimmbecken im Freien und sogar ein Hallenbad. In den Katakomben unter den Tribünen des Stadions befinden sich nicht nur die Basketballarena des Vereins, sondern auch Krafträume, eine Kantine, eine Bibliothek und ein Kino. Außerdem sind hier die Schulund Schlafräume für die 80 Jungen des Fußballinternats untergebracht. Die Gänge, die Flure, die Bettwäsche in den funktionalen Schlafräumen, alles ist blitzsauber und in die Vereinsfarben getaucht. Seit 1990 betreibt der Club, der Saison für Saison mit dem ewigen Rivalen Boca Juniors um die Krone im argentinischen Fußball ringt, seine Jugendförderung systematisch. 100 der 700 Mitarbeiter des Vereins arbeiten in diesem Bereich. Rund 12.000 Jugendliche sichtet der Club jährlich in ganz Argentinien. Vereinsfilialen in allen Landesteilen organisieren regelmäßig Turniere, zu denen aus dem fernen Buenos Aires ein Talentsucherteam anreist. 400 Jugendliche werden jeden Dezember zu einer weiteren, zweiwöchigen Auswahlrunde in die Zentrale in der Hauptstadt eingeladen. 40 von ihnen schaffen es in das Fußballinternat. „Morgens ist Schule, nachmittags trainieren wir“ erzählt Roberto. „Und am Wochenende sind die Spiele.“ Viel Freizeit bleibt da nicht. Jorge Valentini, der bei River für die Nachwuchsarbeit zuständig ist, legt großen Wert auf Disziplin. Der smarte Mittdreißiger hat selbst einmal bei River das Fußballspielen erlernt. „Um halb neun wird das Licht ausgemacht. Um sieben Uhr klingelt der Wecker.“ Trotzdem sei es für die Kinder ein Traum, bei River zu sein, versichert er. Viele stammten aus armen Verhältnissen. Für River ist die Jugendförderung nicht nur aus sportlichen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen überlebenswichtig. Der Verkauf von Spielern ist ein einträgliches Geschäft. „Ideal wäre es, wenn wir jedes Jahr einen wie D‘Alessandro verkaufen könnten“, sagt Valentini. Die Verbindung zum VfL Wolfsburg über D‘Alessandro und Menseguez sei deshalb von strategischer Bedeutung. „Das ist unsere Eintrittskarte in den deutschen Markt.“ Vor dem Eingang zum Stadion stehen mehrere weiße Vereinsfahrzeuge, die Volkswagen, der Finanzier Wolfsburgs bereitgestellt hat. „Das ist Teil des Geschäfts“, sagt Valentini. 365 Andreas Lautz Argentinien Für die Jungen aus Beccar ist die Welt von River wie ein fremder Planet. Während Roberto realistische Chancen hat, einmal mit Fußball sein Geld zu verdienen, dürfte für Martín oder Diego nur der Traum von einer großen Sportlerkarriere bleiben. Aber vielleicht ergibt sich ja doch eine Möglichkeit. Denn auch ihr Trainer Javier Torres träumt. Davon, in Zukunft jedes Jahr ein bis zwei Jungen zur Ausbildung in einen deutschen Verein zu schicken. „Das wäre einfach fantastisch“ schwärmt der bekennende Fan der Toten Hosen. Die Rockband aus Düsseldorf gibt in Buenos Aires seit Jahren kultige Konzerte. „Sponsern die Toten Hosen nicht Fortuna Düsseldorf? Vielleicht lässt sich da ja was machen!“ 8. Der pfälzische Patron „In Argentinien gibt es keine schlechten Jahrgänge. Nur gute und sehr gute. Hier in der Pfalz, da wäre es manchmal besser, die Trauben einfach hängen zu lassen.“ Heinrich Vollmer lässt seinen Blick über die Rebstöcke schweifen, die sich in der sanft gewellten Landschaft in langen Reihen fast bis zum nächsten Ort erstrecken. Die Hände wärmt er über einem Feuer, in dem Gartenabfall kokelt. Der Betrieb liegt am Rand von Ellerstadt bei Bad Dürkheim. Wäre der Februarnebel nicht, könnte man am Horizont die waldigen Hänge des pfälzischen Mittelgebirges sehen. „Bei Sonnenschein ist die Aussicht fast wie auf meinem Gut in Mendoza“, sagt der Winzer. „Nur dass die Anden nicht ein paar hundert, sondern ein paar tausend Meter hoch sind.“ In Ellerstadt in der Pfalz ist Heinrich Vollmer ein Winzer unter vielen. Aber in Mendoza, am Fuße der argentinischen Anden, ist er Herr über ein feudales Weingut. Mit der Beharrlichkeit des Extrembergsteigers hat er sich einen Lebenstraum verwirklicht. 1983: Um ein Haar wird der Pfälzer auf einer Tour in den peruanischen Anden von einer Eislawine getötet. Sieben Kameraden sterben, er überlebt. Eine peruanische Familie findet ihn. Vor dem Aufstieg hat Vollmer auf 4.000 Meter Höhe ein paar Tage in ihrem Dorf bei der Ernte geholfen, um sich an die Höhe zu gewöhnen. „Das hat mir das Leben gerettet“, sagt er. „Emilio und seine Leute sahen die Lawine runterkommen und stellten einen Suchtrupp zusammen. Fünf Tage später haben sie mich halb erfroren gefunden.“ Während das Auswärtige Amt den Deutschen nach ein paar Wochen ohne Nachricht für tot erklärt, erholt sich Vollmer in dem Bergdorf. Erst Monate später kann er nach Deutschland zurückkehren. „Das war der Beginn meines zweiten Lebens“, sagt er nachdenklich. 366 Argentinien Andreas Lautz Zwei Jahre später erwirbt Vollmer ein Stück Land in Argentinien. 600 ha im Uco Valley südlich der Andenstadt Mendoza. Zum Vergleich: sein Betrieb in Ellerstadt umfasst rund 100 ha, wobei rund 20 ha ihm gehören und der Rest von Nebenerwerbswinzern bewirtschaftet wird. Bevor er sich endgültig zum Kauf entschließt, schlägt er jedoch für eine Nacht sein Zelt auf dem Grundstück auf. „Früh am Morgen, wenn die Sonne aufgeht und die Feuchtigkeit aus dem Boden aufsteigt, dann riecht man die Erde. Dann weiß man, wie der Wein duften wird.“ Zu diesem Zeitpunkt existiert noch nicht einmal Chile auf den Karten der europäischen Weinkenner, geschweige denn Argentinien. Dabei ist das Land schon damals mengenmäßig einer der wichtigsten Weinbauproduzenten der Welt. Die natürlichen Bedingungen sind nahezu perfekt: extrem nährstoffreicher, vulkanischer Boden; trockenes Wüstenklima mit starker Sonneneinstrahlung am Tag; kalte Nächte, in denen sich die Reben erholen können; Schmelzwasser aus den Anden, das sich über Bewässerungskanäle und Wasserleitungen genau dosieren lässt. Heute haben neben Vollmer auch andere ausländische Investoren die Vorzüge der Weinbauregion Mendoza entdeckt. Die besten Lagen sind inzwischen fest in der Hand kapitalstarker Unternehmen wie Salentein aus den Niederlanden oder Rothschild aus Frankreich. In kürzester Zeit haben sie mit viel Geld und Know-how hochmoderne Kellereien errichtet, deren Weine es problemlos mit europäischen, amerikanischen oder chilenischen Spitzenerzeugnissen aufnehmen können. „Bei mir dauert das alles ein bisschen länger als bei meinen reichen Nachbarn“, sagt Vollmer. „Ich muss meine Finca eben ganz normal über Bankkredite, mit den Erträgen aus Ellerstadt und natürlich mit den Einkünftigen in Mendoza finanzieren.“ Als er 1986 beginnt, existieren auf seinem Land lediglich ein paar vertrocknete Weinstöcke und eine alte Kellerei. Deren veraltete Betontanks nutzt der Pfälzer nur vorübergehend. Mit schweren Maschinen, die er per Schiff aus Deutschland heranschafft, bereitet er den Boden für die Rebstöcke vor. Ein Bewässerungsteich muss gegraben, ein Wohnhaus gebaut werden. Im Laufe der Jahre bepflanzt Vollmer über 500 ha mit Rebstöcken. Derzeit errichtet er eine moderne Kellerei mit Edelstahltanks und eigener Abfüllanlage. Die ersten Rebstöcke transportierte er über Buenos Aires in Seesäcken nach Mendoza – wie der Pionier Miguel Pouget, der Mitte des 19. Jahrhunderts als Erster französische Rebsorten in Argentinien einführte. Das Kalkül geht auf. Rotwein von der „Finca Enrique Vollmer“ hat es in die erste Klasse der Lufthansa geschafft. Wer den Winzer in Ellerstadt besucht, der hat nicht nur die Wahl zwischen typischen Weiß- und Rotweinen aus der Pfalz, sondern auch zwischen rotem Malbec, Cabernet Sauvignon oder Syrah aus dem Uco Valley. Vor allem der weiche argentinische Malbec 367 Andreas Lautz Argentinien genießt Weltruf. Ursprünglich stammt die Sorte aus Bordeaux. Heute jedoch kommen die besten Malbecs aus dem französischen Cahors und eben Mendoza. Nur der Crash Argentiniens Ende 2001 drohte Vollmers Pläne gründlich durcheinander zu wirbeln. „Der argentinische Fiskus schuldete mir damals 250.000 Dollar. Dieses Geld hat er schlicht einbehalten.“ Um frisches Kapital herein zu holen, gründete er deshalb mit langjährigen Kunden eine Aktiengesellschaft. „Aber 90 Prozent der Anteile behalte ich“, betont der Pfälzer. Heute profitiert er davon, dass der argentinische Peso nicht mehr 1:1 an den Dollar gekoppelt ist und deutlich an Wert verloren hat. „Das reduziert meine Produktionskosten drastisch.“ Ortswechsel. Am Horizont schimmert die schneebedeckte Silhouette der argentinischen Anden. Die beiden höchsten Gipfel sind in der klaren Sommerluft gut zu erkennen: der Aconcagua, der mit fast 7.000 Metern höchste Berg Amerikas, und weiter südlich der etwas niedrigere Tupungato. Helmut Schrek, pensionierter Weinkontrolleur aus Speyer, pflückt mit routinierten Handgriffen eine Traube, um einen Tropfen Saft in sein Spektrometer zu träufeln. Dann blickt er durch das Gerät, mit dem man den Zuckergehalt der Flüssigkeit messen kann, in die Sonne. „60 Oechsle zwei Monate vor der Lese, davon kann man in Deutschland nur träumen.“ Seit neun Jahren reist Schreck jeden Januar und Februar nach Argentinien, um vor Ort für Vollmer die Ernte vorzubereiten. Dann nimmt er sich einen löchrigen Strohhut zum Schutz gegen die starke Sonne und ein Pferd, um über das Gut zu reiten und den Zustand der Reben zu analysieren. „Diese Daten brauchen wir, um zu wissen, wann und in welcher Reihenfolge wir die Parzellen abernten müssen“, erklärt Schrek. Er und Vollmer kennen sich seit Ewigkeiten. Die beiden haben sogar schon vor Gericht miteinander zu tun gehabt, weil Vollmer nicht zugelassene Rebsorten auf seinem Weinberg anpflanzte. Dem gegenseitigen Respekt tat es keinen Abbruch. „Ich war noch keine 24 Stunden in Rente, als mich Heinrich fragte, ob ich ihm in Argentinien helfen will. Eine Nacht hatte ich Zeit, darüber nachzudenken. Am nächsten Tag saß ich im Flieger.“ In breitem Pfälzisch erläutert er, wie Vollmer die Arbeit auf der Finca organisiert hat. Dabei bremst die Sommerhitze seine Bewegungen auf das erforderliche Minimum herab. „Im Herbst wird in Deutschland geerntet, im Februar und März hier in Mendoza. Ein pensionierter Major der argentinischen Armee dient Vollmer als Verwalter. Und die sieben Vorarbeiter hat er allesamt für zwei Jahre zur Ausbildung nach Deutschland geholt. Für die Zeit, die der Chef in Ellerstadt ist, gibt es Arbeitspläne, die akribisch umzusetzen sind.“ 368 Argentinien Andreas Lautz Dreizehn Familien leben und arbeiten auf der Finca. „El Patron“ nennen die Arbeiter ihren Chef respektvoll. In der Gewerkschaft ist keiner von ihnen, weil ihr Chef deutlich mehr zahlt, als den gesetzlichen Mindestlohn. Wie ein mittelalterlicher Gutsherr kümmert sich Vollmer auch um Dinge, die nur auf den zweiten Blick mit dem wirtschaftlichen Erfolg seiner Unternehmung zu tun haben. So hat er für die Kinder der Familien auf der Finca und aus den Nachbarsiedlungen eine alte Schule wieder aufgebaut, die jahrelang geschlossen war. Das bindet die Eltern an seinen Betrieb und garantiert, dass er später Leute bekommt, die lesen und schreiben können. Auch dass Vollmer einen Ex-Soldaten als Verwalter beschäftigt, ist kein Zufall. So behält er die Zügel fest in der Hand, wenn er nicht vor Ort ist. Der Winzer pflegt beste Kontakte zum argentinischen Militär, seit er 1985 am Aconcagua einem jungen Gebirgsjäger, einem Generalssohn, das Leben gerettet hat. Seither kann sich Vollmer auf die Militärs verlassen, wenn er Hilfe braucht. Etwa wenn es darum geht, einen Vollernter aus Deutschland durch den argentinischen Zoll zu bekommen. Genüsslich erinnert sich Schrek, wie die Zöllner im Hafen von Buenos Aires versuchten, Vollmer abzukassieren. „Die wollten die Maschine nur gegen Bares reinlassen.“ Gemeinsam mit seinen Freunden habe der Winzer daraufhin eine Geldübergabe fingiert, bei der die Zöllner aufgeflogen seien. „Da hatten sich die Jungs ordentlich verrechnet“, erzählt Schrek. „Aber wenn du hier einmal zahlst, dann zahlst du immer.“ Oder wenn sich Vollmer einen langjährigen Traum erfüllt und am Aconcagua auf über 6.000 Meter Höhe die höchste Berghütte der Welt errichtet. Gemeinsam mit einem Trupp argentinischer Gebirgsjäger und Bergesteigerfreunden aus der Pfalz schafft er 1998 auf dem Rücken von Maultieren zentnerweise Holz auf den Berg. „Da steht sie nun die Hütte“, resümiert Schrek. „Der Heinrich ist eben ein Bergsteiger. Wenn er vor dem Berg steht, dann will er mit aller Macht auf den Gipfel.“ 9. Mähnenwolf gegen Ameisenbär „Am liebsten frisst er Trauben. Mit anderen Früchten tut er sich noch ein bisschen schwer. Aber ansonsten geht es ihm bestens“, erzählt die Zoologin Roxana Laplace, während der junge Krefelder Mähnenwolf in seinem Gehege auf und ab wandert, den wachen Blick immer auf die Besucher gerichtet, die dunklen Nackenhaare aufgerichtet. „Es braucht eben ein bisschen Zeit, bis er sich hier zuhause fühlt.“ Vier Monate ist es jetzt her, dass das rotfellige, hochbeinige Tier aus dem Krefelder Zoo per Flugzeug auf die lange Reise nach Südamerika ge369 Andreas Lautz Argentinien schickt wurde. Der Mähnenwolf ist ein Geschenk an den Zoo La Plata, eine Zugstunde entfernt von der Hauptstadt Buenos Aires. Mit zwei argentinischen Wölfinnen soll der Chrysocyon brachyurus dort möglichst bald Junge zeugen und so das weltweite, von Frankfurt aus koordinierte Zuchtprogramm für diese Tierart vorantreiben. Bislang hatte der Krefelder Wolf dazu allerdings keine Gelegenheit. Das neue Wolfsgehege ist noch nicht fertig. Bis es soweit ist, muss er noch in einem provisorischen Auslauf leben, getrennt von den Weibchen. „Ein paar Wochen wird es noch dauern. Aber dann kann er loslegen“, sagt Laplace. Die oberste Zuchtbeauftragte des Zoos und ihre Handwerker bemühen sich, den Tieren ein Liebesnest mit allen Annehmlichkeiten zu bereiten. Neben einer komfortablen Hütte aus Holz und Beton für die nasskalten Tage ist ein großer Auslauf mit viel natürlicher Vegetation vorgesehen. Aber auch wenn die drei Tiere zusammengezogen sind, wird man sich noch ein wenig gedulden müssen. Mähnenwölfe haben nur in den Monaten von Oktober bis Dezember Lust und die Tragezeit der Weibchen dauert immerhin 62 bis 66 Tage. In jedem Fall können sich die Besucher des Zoos auf einen spannenden Liebesreigen gefasst machen. Der Krefelder Wolf ist wie alle seine männlichen Artgenossen streng monogam. Eine der beiden Wolfsdamen wird also leer ausgehen. Auf den ersten Blick erscheint der Transport des Wolfes einmal diagonal über den Atlantik aberwitzig. Für die weite Flugreise schreinerten Handwerker des Krefelder Zoos eine spezielle Transportkiste. Wegen der komplizierten Veterinärsbestimmungen musste der Wolf 30 Tage lang isoliert, mehrfach geimpft und zweimal narkotisiert werden, damit Blutproben entnommen werden konnten. Dabei stammen seine Vorfahren ursprünglich aus Südamerika. Noch heute streifen einige wenige Mähnenwölfe durch die weiten Steppenlandschaften Argentiniens, Uruguays, Paraguays und Brasiliens. Die einsamen Streuner ernähren sich vor allem von Früchten, Wurzeln, Nagetieren und Schnecken. Mit dem furchterregenden Wolf, der im Rudel Schafe reißt, hat der Krefelder Mähnenwolf also wenig zu tun. Die langen Beine dienen denn auch weniger zur schnellen Jagd, als dazu, in der Buschlandschaft die Übersicht zu behalten. Für den Erhalt der vom Aussterben bedrohten Art scheint kein Aufwand zu groß. Um die frei lebenden Bestände im eigenen Land nicht zu gefährden, kam für den Zoo La Plata nur ein Tier in Frage, das bereits in Gefangenschaft lebt. „Und da die fünfzehn Mähnenwölfe in den argentinischen Zoos alle miteinander verwandt sind, bot sich die Zusammenarbeit mit Deutschland an“, erzählt Laplace. „Wir brauchten frisches Blut!“ 370 Argentinien Andreas Lautz Ganz selbstlos haben die Deutschen den Rüden aber nicht abgegeben. Der Krefelder Zoo hofft im Gegenzug darauf, in ein bis zwei Jahren einen jungen Tamandua aus Argentinien einfliegen zu können. Für den „Kleinen Ameisenbären“ führen nämlich die Krefelder das europäische Zuchtprogramm. In Argentinien stehen Programme zur Erhaltung bedrohter Arten noch ganz am Anfang. „Wir können da von den Deutschen, die das schon seit vielen Jahren systematisch mit detaillierten Zuchtbüchern machen, noch viel lernen“ sagt Roxana Laplace. In den fünf Jahren, seit Carlos Galliari in La Plata Direktor ist, hat sich aber schon viel verändert in dem fast 100 Jahre alten Botanischen und Zoologischen Garten. Inzwischen beteiligt sich der Zoo nicht nur an der Zucht von Mähnenwölfen, sondern auch an entsprechenden Programmen für Papageien, und verschiedene Affenarten. Unter anderem gibt es auch ein Forschungs- und Schutzprojekt für Meeresschildkröten, die jedes Jahr zu Tausenden ihre Eier an den Küsten Argentiniens ablegen. Früher zeigte der Zoo vor allem exotische Tiere wie Elefanten und Giraffen. Die gibt es auch heute noch. Stärker als bisher liegt das Augenmerk jedoch darauf, den Besuchern die vielfältige Tierwelt des eigenen Landes näher zu bringen. „Und dazu gehört eben auch der Mähnenwolf“, sagt Laplace. Besonders die Schulen der Stadt wissen das zu schätzen. Die Kinder in La Plata lieben den Zoo. An allen Gehegen gibt es ausführliche Informationen zu den jeweiligen Bewohnern. Sogar einen kleinen Urwald lässt man wachsen, um den Kindern das eigene Land näher zu bringen. Die Schulkinder werden es auch sein, die für den Krefelder Wolf die Zeit der Namenlosigkeit beenden. „Wenn das neue Wolfsgehege fertig ist und die drei Tiere endlich zusammen sind, werden wir mit den Kindern einen Wettbewerb machen“, erzählt Laplace. „Dann bekommt der Wolf aus Deutschland endlich einen schönen argentinischen Namen.“ 10. „Die Züge rollen wieder“ Interview mit Hebe de Bonafini, der Präsidentin der Menschenrechtsorga nisation Las Madres de Plaza de Mayo, am 3. Dezember 2003. Der Anlass: der zweite Jahrestag der heftigen Unruhen Ende 2001 und der 20. Jahrestag des Übergangs von der Militärdiktatur zur Demokratie. Señora de Bonafini, werden Sie den 20. Geburtstag der Demokratie in Argentinien feiern? Nein. Von 20 Jahren Demokratie kann nicht die Rede sein. Wir haben zwar seit zwei Jahrzehnten eine demokratische Verfassung, aber in dieser Zeit gab es Phasen der schlimmsten Repression. Unter Präsident Menem 371 Andreas Lautz Argentinien zum Beispiel ist das Haus der Madres mehrfach verwüstet worden. Und erinnern Sie sich nur an die gewalttätigen Auseinandersetzungen auf dem Höhepunkt der Krise im Dezember 2001. Am 10. und 11. Dezember werden wir deshalb stattdessen zum 23. Mal einen vierundzwanzig Stunden dauernden Widerstandsmarsch organisieren. Das wird ein großes Fest werden auf der Plaza de Mayo, mit Hunderten von bunten Drachen! Die Madres sind seit Jahren gespalten. Gibt es eine Chance, dass sie künftig wieder mit einer Stimme sprechen? Nein, aber das ist auch nicht notwendig. Meine Vereinigung ist eine starke Organisation mit 15 Filialen im ganzen Land, sogar mit einer eigenen Universität. Die Madres von der “Linea Fundadora“ dagegen sind nur wenige. Außerdem konzentrieren sie sich zu sehr auf die Vergangenheitsbewältigung und nicht auf die sozialen Probleme der Gegenwart. Welches sind für Sie die drei drängendsten Punkte auf der politischen Agenda Argentiniens? Erstens die Bekämpfung des Hungers. Wenn sie durch Buenos Aires laufen, werden sie zahllose Kinder sehen, die nicht genug zu essen haben. In den Provinzen ist es noch viel schlimmer. Zweitens brauchen wir eine neue Kultur der Arbeit. Es gibt viel zu viel Arbeitslosigkeit. Viele Menschen ziehen es vor, zu demonstrieren und Sozialhilfe zu kassieren, als arbeiten zu gehen. Drittens gilt es, die politische Mafia in den Provinzen zu zerschlagen. Sie behindern den Wandel zum Besseren und machen unserem neuen Präsidenten Kirchner das Leben schwer. Es fällt auf, dass Sie nicht von denen sprechen, die während der Militärdiktatur verschwunden sind. Oder davon, dass Kirchner die Aufarbeitung dieser Verbrechen neu angestoßen hat. Stehen Sie nur noch für das Thema soziale Gerechtigkeit? Nein. Soziale Themen standen immer ganz oben auf der Agenda der Madres. Arbeitslosigkeit ist ein Verbrechen! Sehen Sie, auf meinem Kopftuch stehen nicht die Namen meiner verschwundenen Kinder. Wir verstehen uns als die Mütter aller. Deshalb beziehen wir auch in wirtschaftlichen und sozialen Fragen klar Position. Wir sind dagegen, wenn die argentinische Regierung ihre Schulden im Ausland begleicht, ohne auf die Situation im Land Rücksicht zu nehmen. Und wir unterstützen mit aller Kraft diejenigen Belegschaften, die Unternehmen besetzt haben und sie in Kooperativen weiterführen, um ihre Arbeitsplätze zu retten. Trotzdem übt die Linke Argentiniens teilweise heftige Kritik an Ihnen. Woran liegt das? Wir zählen uns nicht zur Linken. Dort gibt es zu viele, denen nichts anderes einfällt, als auf die Regierung einzuschlagen. Große Teile der Linken haben 372 Argentinien Andreas Lautz noch nicht verstanden, dass sich die Situation mit Kirchner entscheidend verändert hat. Mit ihm kann man ganz konkrete Verbesserungen erreichen. Können Sie Beispiele nennen? Natürlich. Kirchner hat dafür gesorgt, dass für Kinder bis zum 5. Lebensjahr kostenlos Ausweispapiere beantragt werden können. Bislang waren zu viele Menschen 2. Klasse, weil sie nicht genug Geld hatten, um für die teuren Papiere zu bezahlen. Und noch ein Beispiel: Im vergangenen Jahr gab es für lange Zeit in Buenos Aires keine Orangen zu kaufen, weil keine Züge mehr zwischen der Provinz und der Hauptstadt verkehrten. Heute rollen die Züge wieder! Es heißt, Sie stünden Kirchner sehr nahe. Wir reden häufig miteinander. Wenn mir etwas nicht gefällt an seiner Politik, dann sage ich es ihm. Zum Beispiel, dass seine wirtschaftlichen Pläne immer noch nicht klar formuliert sind. Im Wahlkampf hat man mich oft gefragt, welchen Präsidentschaftskandidaten ich bevorzuge. Ich sagte: Keiner taugt etwas, auch Kirchner nicht. Dieses Urteil musste ich revidieren, glücklicher Weise. Kirchner hört den Leuten zu, und sie wissen es zu schätzen. Außerdem macht er keine großen Worte. Er handelt. 11. Schluss Diese Geschichten zeigen, dass Argentinien eine zerrissene Gesellschaft ist. Einzelne verwirklichen sich märchenhafte Träume. Für die meisten ist der Alltag jedoch ein Überlebenskampf, der so gut wie keine Zeit lässt für Gedanken, die weiter in die Zukunft schweifen. Diese Zukunft ist mehr als ungewiss. Selbst für aufmerksame Beobachter ist es schwierig, zu erkennen, wohin sich das Land bewegt. Dem neuen Präsidenten Ernesto Kirchner ist es mit einem neuen Politikstil gelungen, wieder ein Mindestmaß an Ruhe und Ordnung herzustellen. Die Wirtschaft nimmt langsam Fahrt auf, die Menschen schöpfen langsam Hoffnung. Doch wie stabil ist die Situation? Ein Gutteil der Popularität des Präsidenten rührt daher, dass er gegenüber ausländischen politischen und wirtschaftlichen Akteuren einen rauhen Ton anschlägt. Mittelfristig braucht Kirchner jedoch wieder das Vertrauen ausländischer Investoren. Nur mit Hilfe von außen wird es ihm gelingen, dem Land neues Leben einzuhauchen. Um die Argentinier auf seinem Weg mitnehmen zu können, benötigt Kirchner möglichst bald vorzeigbare Erfolge, die die Menschen im Alltag spüren. Daneben muss der Präsident vor allem die in mächtige Interessengruppen zerfallende politische Klasse davon überzeugen, dass grundlegende Veränderungen im Interesse aller sind. Andernfalls ist der nächste Rückfall des Landes vorprogrammiert. 373 Michael Lohse aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt im Senegal 16. Januar bis 06. März 2004 375 Senegal Michael Lohse Musik im Senegal Opium für das Volk oder Perspektive? Von Michael Lohse Senegal vom 16.01. – 06.03.2004 377 Senegal Michael Lohse Inhalt 1. Zur Person 380 2. Nachtleben 380 3. RAP - zwischen Revolte und Religion 382 4. Mbalax - zwischen Glamour und Konvention 391 5. Die Akteure im Hintergrund 400 6. Die geschäftliche und juristische Seite 405 7. Fazit 411 8. Dank 412 379 Michael Lohse Senegal 1. Zur Person Michael Lohse, Jahrgang 1967, studierte Musik an der Bremer Hochschule für Künste, anschließend journalistisches Aufbaustudium an der Hochschule für Musik und Theater Hannover, Volontariat beim WDR, dort seit 1999 Redakteur, zurzeit in der Hörfunkunterhaltung. 2. Nachtleben Dakar, Senegal, zwei Uhr morgens. Endlich: Youssou Ndour taucht aus dem Trockennebel. Die Stunden geduldigen Wartens haben sich gelohnt. Sein Club „Thiossane“ mit dem etwas ramponierten Charme einer 70erJahre-Disco ist bis auf den letzten Platz gefüllt – den für die Senegalesen saftigen Eintrittspreisen zum Trotz. Saturday-Night-Fever auf senegalesisch. Der Startschuss für die Tanzextase ist gefallen. Die Menge, die eben noch steif und gelangweilt das Vorprogramm über sich ergehen ließ, drängt sich plötzlich vor der Bühne, präsentiert sich in chicster Garderobe. Meine Begleiter Issa und Samba kennen jedes Lied, jede Zeile. Sie sind nicht die einzigen. Und Youssou, der König des Mbalax, läßt ohne sichtbare Bewegung die Huldigungen über sich ergehen. Konzentriert liefert er seinem Publikum, was es hören will: keinen weich gespülten Pop à la „Seven Seconds“, sondern Rhythmen, nach denen man tanzen kann. Später überlässt er seinem Perkussionisten Mbaye Dieye Faye das Feld. Mit einer Energie, die an Wahnsinn grenzt, bearbeitet er das senegalesische Trommelarsenal von Djembé bis Sabar und singt dazu. Sonntagmorgens um halb fünf ist dann schlagartig alles vorbei. Licht aus, Nebel verraucht, keine Zugaben. Und das eben noch aufgeputschte Publikum schluckt den Abgang des Stars widerspruchslos. Geordnet strömt man zum Ausgang, den aufdringlichen Taxifahrern entgegen. Ich kann mein Glück kaum fassen: Gerade bin ich gut 24 Stunden in Dakar, schon habe ich Youssou Ndour live vor heimischem Publikum gesehen. Um es gleich vorwegzunehmen: so nah komme ich ihm danach nicht wieder. Seine arrogante Entourage vereitelt erfolgreich jeden weiteren Annäherungsversuch. Und so einmalig, wie ich zunächst glaube, ist die Chance nicht. Youssou Ndour ist wie die meisten Künstler, die es im Senegal an die Spitze geschafft haben, ein Arbeitstier. Auch nach über 30 Jahren Showbiz schlägt er sich die Nächte um die Ohren und spielt jedes Wochenende live in seiner Discothek, sofern er in der Heimat weilt. Mich erschöpft ja schon das Zuhören: Reihenweise konsumiere ich in den nächsten Wochen Konzerte, die selten vor zwei Uhr beginnen. Nachdem ich 380 Senegal Michael Lohse erst einmal festgestellt habe, dass Exkursionen ins Nachtleben der senegalesischen Hauptstadt nicht zwangsläufig meine Ermordung zur Folge haben, bin ich nicht mehr zu bremsen. So sehe ich Thione Seck in seinem Club „Kilimanjaro“, Cheikh Lô und Suleymane Faye im „Just 4 you“, gehe ins Open-Air-Theater des französischen Kulturzentrums zu Abdou Guité Seck, oder erlebe ein Konzert des Orchestre Baobab im „Yengoulene“, dem nagelneuen Musiktempel im Norden der Stadt. Der amerikanische Musiksender MTV dreht dort einen Konzertfilm über die Klassiker der senegalesischen Musik, die auf amerikanische Jazzmusiker treffen. „Eine solch hippe Location gibt es nicht mal in New York“, schwärmt mir ein Kameramann vor, der gelassen mit den Stromausfällen umgeht, die immer wieder für ungeplante Drehpausen sorgen. Wie dieses Filmteam bin ich wegen der Musik in den Senegal gekommen, wegen des faszinierenden kulturellen Reichtums dieses Landes. Dakar ist ein Schmelztiegel der Strömungen und Einflüsse, schon aufgrund seiner exponierten Lage: Tor zu Schwarzafrika, westlichster Punkt des Kontinents, keine andere Metropole südlich der Sahara liegt näher an Europa, aber auch an New York und New Orleans, den Zentren von Blues und Jazz. Auf der vorgelagerten Insel „La Gorée“ begann für die Sklaven unter grausamen Bedingungen die Fahrt ohne Wiederkehr. Aus New York kommen heute die schwarzen Musiker in den Senegal, auf der Suche nach ihren Wurzeln: Da sind zum einen die Griots, die spezialisierte Musikerkaste der traditionellen westafrikanischen Gesellschaft. Zugleich Musiker und Geschichtenerzähler, übernahmen sie die Funktion des Historikers. Mündlich gaben sie das Wissen einer Generation an die nächste weiter, priesen die Stammbäume ihrer Adeligen bei festlichen Anlässen. Noch heute singen sie auf Hochzeiten, Beerdigungen und Beschneidungsfesten und werden dafür beschenkt. Und da sind die islamischen Gesangstraditionen: monotone Sologesänge und Rezitationen, die der Meditation dienen. Seit Jahrhunderten dominiert der Islam das gesellschaftliche Leben im Senegal, allerdings weit weniger dogmatisch als in arabischen Ländern. In der aktuellen senegalesischen Musik mischen sich die Traditionen mit latein-amerikanischer Musik, aber auch mit Rock, Blues und Rap. Stimmt die Dosierung der Zutaten, kann diese Mischung durchaus erfolgreich sein: Kaum ein afrikanisches Land hatte am Weltmusik-Boom der letzten zwanzig Jahre so großen Anteil wie der Senegal: Ob Youssou Ndour, Baaba Maal, Ismaël Lô, das Orchestre Baobab, Touré Kunda, Africando oder die explodierende Rap-Szene – sie alle fanden ein internationales Publikum. 381 Michael Lohse Senegal Ich wollte wissen: Woher kommt dieses überschäumende kreative Potential? Wer profitiert von diesem Erfolg? Und welche wirtschaftlichen Perspektiven bietet er beim Kampf gegen die Armut? Dazu führte ich Interviews mit allen Akteuren des Musikbetriebs: Produzenten, Händlern, Managern, Gewerkschaftern und Veranstaltern, aber zuallererst natürlich mit den Musikern. 3. RAP – zwischen Revolte und Religion „C’est où, la maison de Didier Awadi?“ Die Taxifahrt kostet mich den letzten Nerv. Der Fahrer hat keine Ahnung, ich sowieso nicht. Meinen Stadtplan verschmäht er, stattdessen fragt er wahllos Leute an der Straße. „Awadi? Studio Sakama?“ Und alle kennen ihn, den Kopf von „Positive Black Soul“ (PBS), der bekanntesten Rap-Gruppe des Senegal. „Wohnt gleich dahinten rechts“ – im Prinzip jedenfalls. Jeder weiß was, es hilft nur nichts. Wir fahren durch Dakars nördliche Vororte: Hochhäuser dominieren nur im Zentrum, hier reihen sich monotone Siedlungen weißer Bungalows in unterschiedlichen Phasen der Fertigstellung aneinander. Dafür tragen die Viertel phantasievolle Namen wie „Liberté I“, „Liberté II“ oder „Liberté III“. Meine Odyssee endet in „Amitié II“. Wir halten vor einem grauen Appartementhaus. Hier soll es sein? Ich glaube kein Wort, will aber endlich raus aus dem Taxi. Doch tatsächlich: Auf der geräumigen Dachterrasse über der Wohnung von Awadis Familie finde ich die Creme der senegalesischen Rap-Szene versammelt: Xuman von „Pee Froiss“, Shaka Babs, Doug E Tee und Didier Awadi von „PBS“. Alte Couchsessel laden zum Abhängen ein. Auf einem kleinen Gaskocher wird unermüdlich grüner Tee aufgebrüht. Die Atmosphäre ist entspannt. Gerade haben verschiedene Rapper auf Einladung von „PBS“ gemeinsam eine Hymne zur „Coupe d’Afrique des Nations“ aufgenommen, der afrikanischen Fußballmeisterschaft. Stolz präsentieren sie mir das Werk mit eingängigem Refrain fürs Stadion. Auf der Dachterrasse treffen sie sich fast jeden Nachmittag, um Konzerte zu planen, in Awadis Heimstudio an neuen Sounds zu tüfteln, herumzuhängen – oder wie heute einem neugierigen Journalisten Frage und Antwort zu stehen. Routiniert und souverän sind viele Rapper im Umgang mit den Medien. Zum einen entstammen die meisten eher der gebildeten Mittelschicht, zum anderen sind sie den Medienauftrieb gewöhnt. Allen voran Didier Awadi, denn seine 1989 gegründete Gruppe „Positive Black Soul“, war die erste afrikanische Rap-Formation, die international von sich reden machte, nachdem der französische Rap-Star MC Solaar, selbst im Senegal geboren, sie 382 Senegal Michael Lohse als Vorgruppe engagiert hatte. „PBS“ zählt also schon zur senegalesischen Old School, mischt aber immer noch ganz vorne mit. 3.1. Politisches Sprachrohr Didier Awadi formuliert griffige Botschaften gleich in Serie: „Wir haben einen Namen ausgesucht, der ein positives Afrikabild ausdrückt. Wir wollen nicht mehr die Gleichung Afrika gleich Hunger, Krankheit und Krieg. Deshalb der Name Positive Black Soul.“ Bei allem schwarzafrikanischen Selbstbewusstsein – eine blinde Affirmation von allem, was Schwarze tun, meint er damit keineswegs: „Wenn man dieses positive Bild zeigen will, müssen wir uns auch selbst kritisieren. Das heißt auch: Jedesmal, wenn ein Schwarzer einen Fehler macht, muss man ihn kritisieren.“ Die ganze Zeit habe ich das Gefühl, eher mit einem politischen Führer zu sprechen als mit einem Musiker. Auf der aktuellen Platte hat sich die Gruppe in „PBS radical“ umbenannt: „Wir wollten deutlich machen: Das ist jetzt kein Witz mehr. Wir fordern von der Regierung Veränderung, Entwicklung. Keine Korruption mehr, keine Unterdrückung, keine krassen Gegensätze zwischen arm und reich, zwischen Regierenden und Regierten. Die Dinge müssen sich ändern. Um unserer Geschichte und Entwicklung willen: wir brauchen einen Mentalitätswechsel.“ Die senegalesische Jugend befindet sich in einem Überlebenskampf, der sich mit deutschen Verhältnissen schwer vergleichen lässt. 80 Prozent der Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt. Das Land hat eine der höchsten Geburtenraten der Welt, ist gebeutelt von Krankheiten wie Malaria, Aids und Tuberkulose. Die Jugendarbeitslosigkeit in den Vorstädten Dakars ist katastrophal, die Studienbedingungen an der Cheikh-Anta-Diop-Universität unsäglich. Studentenstreiks wegen hoffnungslos überbelegter Wohnheime und ungenießbarem Mensa-Essen sind an der Tagesordnung. Die öffentliche Infrastruktur, ob Bildung, Verkehr, Stromversorgung oder Gesundheitswesen kann mit dem Wachstum der zweieinhalb Millionen-Metropole nicht annähernd Schritt halten. Diese Realität spiegeln die Rapper wider. Shaka Babs zum Beispiel. In seinem Stück „Ich kann es nicht glauben“ spielt er auf Staatsgründer Leopold Senghor an, der einst großspurig versprochen hatte, im Jahr 2000 würde Dakar sein wie Paris: „Ich kann nicht glauben, dass unser Land eines Tages das entwickeltste der Welt sein wird, weil ich einen Präsidenten habe, der zu viel redet, der zu viel reist, weil es Abgeordnete gibt, die überhaupt nichts tun. Weil ich die Bettler auf der Straße sehe, die 383 Michael Lohse Senegal kleinen Kinder, drei oder vier Jahre alt, die im Müll schlafen.“ Shaka Babs betont, wie wichtig die Hip-Hop-Bewegung für den sozialen Frieden ist: „Es gab viele Jugendliche ohne Arbeit, Diebe und Gewalttätige, darunter auch Studenten, die keine Arbeit fanden und gezwungen waren, zu stehlen. Als der Rap kam, hat er geholfen. Er hat viel Beschäftigung geschaffen.“ Man schätzt, dass es allein in Dakar zwischen drei- und fünftausend RapGruppen gibt. Geht man von durchschnittlich vier Mitgliedern aus und rechnet dann noch das jeweilige Umfeld dazu, ergibt sich eine gewaltige Zahl von Jugendlichen, die durch den Rap wenn schon keine Verdienstmöglichkeiten, so doch zumindest eine Idee haben, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Der Rap ist für sie nicht irgendein Hobby - sie träumen von der Karriere; hoffen, einmal von ihrer Musik leben zu können. Ein gewaltiges kreatives Potential also wartet auf den Straßen der trostlosen Vororte, junge Leute, die mit vollem Einsatz versuchen, Musiker zu werden. 3.2 Ventil für Frustration Der deutsche Produzent Steven Töteberg betreibt seit drei Jahren ein Studio in Yoff bei Dakar. Viele unbekannte Rapper kommen zu ihm, um Demokassetten aufzunehmen. Sie kommen längst nicht nur aus dem Senegal, sondern strömen von immer weiter her nach Dakar. Erst recht, seit sich das 2.000 km entfernte Abidjan wegen des rassistischen Bürgerkriegs in der Elfenbeinküste als Alternative praktisch erledigt hat. Töteberg berichtet: „Ich hatte hier eine Gruppe, die kam aus Conakry in Guinea. Die kamen hier an, standen barfuss vor der Tür. Die hatten ihre Schuhe verkauft, um das letzte Stück der Fahrt noch zu finanzieren. Die haben wir dann produziert und über Nacht 40.000 Kassetten verkauft. Ich hab davor einen Riesenrespekt, wenn ein Jugendlicher zum Beispiel zehn Euro in der Tasche hat und davon nimmt er 9,50 Euro, um ein Demotape aufzunehmen, auf dem er tut, was er will. Dass das dann vielleicht nicht ganz große Kunst ist, ist eine andere Frage, aber die Energie ist kanalisiert. Und vielleicht bleibt dann ein Messer länger im Gürtel hängen.“ Der Rap ist ein Ventil für Protest. Dafür eignet er sich deshalb so gut, weil er nicht viel voraussetzt: weder unerschwingliche Instrumente noch langjährige musikalische Vorkenntnisse. Turntables sind im Senegal natürlich Mangelware, aber im Zweifel ersetzen eine Beat-Box oder einfach eine Djembé das technische Equipment. Nein, es geht nicht in erster Linie um Kunst, sondern um Botschaften. Didier Awadi: „Ich werde zuerst wegen der Texte gehört, dann wegen der Musik. Die Musik ist nur ein Transportmittel für meine Botschaften, eine Trägerrakete. Ich versuche, Sprecher zu sein. 384 Senegal Michael Lohse Ich versuche, zu sagen, wozu sie (das Publikum) nicht die Chance haben, weil wir das Glück haben, exponiert zu sein durch Fernsehen und Radio. Wir sind jetzt bekannt, aber wir kommen aus bescheidenen Verhältnissen und kennen die, die unten leben; diskutieren mit ihnen. Es ist unsere Pflicht, alles zu tun, damit sich ihr Leben entwickelt.“ 3.3 Nach dem Wechsel „Ca va P.T.“ – „Es wird knallen“ hieß ein Hit der Gruppe „Pee Froiss“. Das war vor dem Regierungswechsel vor vier Jahren. Bis dahin hatten die Sozialisten das Land regiert - ohne Unterbrechung, seit das Land 1960 unabhängig wurde. Den Wahlsieg über Präsident Abdou Diouf verdankte der damalige Oppositionsführer Abdoulaye Wade nicht zuletzt der Unterstützung der Rapper. Insofern hat sich nach 2000 eine neue Situation ergeben. Xuman, Sänger von „Pee Froiss“, berichtet: „Vor 2000 war die Gesellschaft in einer großen Krise. Mit dem neuen System kam die Hoffnung. Aber das hat die Rapper nicht daran gehindert, die Wahrheit zu sagen. Wir sind vielleicht einverstanden mit Sopi (Wolof für Wechsel), aber wir sind wachsam. An dem Tag, an dem sich die Dinge zum Schlechten wenden, gehen wir mit Wade genau so um wie damals mit Diouf.“ Der neue Präsident bewies vor der Wahl populistischen Instinkt, indem er sich selbst als Rapper bezeichnete und an Protestmärschen der Studenten teilnahm. Noch immer genießt er deshalb einen gewissen Vertrauensvorschuss. Shaka Babs beispielsweise erklärt mir: „Wade ist ein Rapper, er ist schlicht, bescheiden. Wenn er will, geht er auf die Straße. Was mich nervt: Im Moment sieht man ihn zu viel im Fernsehen. Wenn er sich gut fühlt, verfällt er ins Delirium und sagt: Filmt mich, ich hab was zu sagen. Das bringt uns nicht voran. Er müsste sich zurückziehen, um die Probleme zu lösen. Weißt du, was der Präsident den Studenten sagt, wenn sie streiken: Ihr müsst es machen wie die Nationalmannschaft, weiterkämpfen. Er ist clever. Er weiß, die Jugendlichen zählen auf die Fußballer.“ Als Shaka Babs mir dieses Interview gibt, ist der Bruder des senegalesischen Jugendministers dabei. Ich habe nicht den Eindruck, dass er sich deswegen zurückhält. Bei allen Defiziten der Politik - zumindest scheint kein Klima der Angst und der Zensur zu herrschen. Die Regierenden fürchten das Protest-Potential in den Slums und wissen nur zu gut, dass ohne die drei Drogen - Musik, Sport und Religion - nichts mehr laufen würde im Senegal. Und auch der Rap ermöglicht letztlich die Flucht vor der Wirklichkeit, auch wenn er sich zugleich mit ihr auseinandersetzt. 385 Michael Lohse Senegal 3.4 Religion und Moral Weit riskanter als Kritik an den politischen Zuständen ist es für die Rapper, Religion zu thematisieren. Xuman von „Pee Froiss“ berichtet: „Selbst wenn man von Freiheit des Ausdrucks spricht, das ist ein sehr sensibler Bereich. Man muss aufpassen. Gerade unter den Gläubigen gibt es zwangsläufig Leute, die Fanatiker sind. Selbst wenn du mit einem Intellektuellen sprichst, sobald du auf die Religion kommst, legt er das Gewand des Intellektuellen ab und vertauscht es mit dem eines Fanatikers.“ Obwohl der Senegal eine laizistische Verfassung hat, ist der Islam fast so etwas wie eine Staatsreligion. Vertrauenswürdige Statistiken sind wie auf allen Gebieten Mangelware, aber man schätzt den Anteil der Moslems auf über 90 Prozent. Weit problematischer als das Verhältnis zwischen Moslems und hauptsächlich im Süden des Landes lebenden Katholiken sind die Beziehungen der Moslems untereinander, da sie in teilweise rivalisierende Sekten aufgesplittert sind. Ein halbes Dutzend Bruderschaften gibt es im Senegal, alle haben eigene religiöse Führer, Marabouts genannt, und eigene geistigen Zentren. Die zwei größten Gruppen sind die Tidjanen mit ihrer Hauptmoschee in Tiavouane und die Mouriden mit ihrer heiligen Stadt Touba im Landesinneren. Die Mouriden sind zwar in der Minderzahl, aber straffer organisiert als die Tidjanen und äußerst geschäftstüchtig. Im 19. Jahrhundert von Cheikh Amadou Bamba gegründet, dominierten die Mouriden zunächst den Erdnußhandel, später auch Geschäftsleben und Transportwesen. Wie ich später ausführen werde, haben sie auch die Musikbranche fest im Griff. Hauptmerkmal der Mouriden ist ihre geradezu protestantische Arbeitsethik. Die Anhänger, Talibés genannt, sollen schuften von morgens bis abends. Der Marabout wird reichlich mit Spenden bedacht, dafür kümmert er sich um Allahs Unterstützung. Der Einfluss der religiösen Führer auf die Politik ist undurchsichtig und ein Tabu. In jedem Fall können ihre Empfehlungen Wahlen entscheiden. Präsident Abdoulaye Wade ist Mouride und sucht ebenso wie Glaubensbruder Youssou Ndour immer wieder die Rückversicherung der Geistlichen in Touba. Sein Appell für eine nationale Kraftanstrengung zum Aufbau des Landes, der an Dakars Ausfallstraßen plakatiert ist, klingt wie eine Variante des Mouriden-Credos: „Il faut travailler, beaucoup travailler, encore travailler – toujours travailler.“ Politiker wie Diouf und Wade kann man relativ gefahrlos kritisieren, mit ihrem Ansehen ist es angesichts der offensichtlichen Missstände ohnehin nicht weit her. Anders sieht es bei den Marabouts aus, auch wenn bei einigen die Praxis mit dem Koran nicht viel zu tun hat. „Cadillac-Marabouts“ heißen im Volksmund diejenigen, die sich vom Geld ihrer Schüler ein schönes 386 Senegal Michael Lohse Leben machen. Als die Gruppe „BMG 44“ einen Marabout angriff, der sich von Politikern für eine Wahlempfehlung bezahlen ließ, erhielt sie zahlreiche Morddrohungen. Und es bleibt nicht immer nur bei Worten, wie Xuman erfahren hat: „Ein Freund von mir wurde vor einiger Zeit überfallen, weil er in einem Stück einen Marabout namens Kara kritisierte.“ Bei all dem muss man betonen, dass der Islam im Senegal mit dem Feindbild der westlichen Islam-Hysterie nichts zu tun hat – gelegentlichen Bin-Laden-Aufklebern im Taxi zum Trotz. Gegenüber anderen Religionen ist man ausgesprochen tolerant, Moscheen dürfen von Ungläubigen besichtigt werden, und Kopftücher sieht man höchstens in Touba. Faada Freddy von „Daara J“ hat recht, wenn er betont: „Die große Spiritualität sorgt dafür, dass der Senegal trotz allem ein friedliches Land ist.“ Die Rap-Formation bezieht sich schon mit ihrem Namen auf Religion: „Daara J“ heißen im Senegal Islamschulen für Kinder, übersetzt „Schule des Lebens“. Daara J verstehen das im übertragenen Sinne. Zu ihren Lehrern und Vorbildern zählen sie etwa auch Vorkämpfer für ein selbstbewusstes Afrika wie Ghanas Gründungspräsidenten Kwame Nkrumah oder den senegalesischen Wissenschaftler Cheikh Anta Diop. Religion steht bei ihnen nicht für Fundamentalismus, sondern für einen positiven Gegenentwurf zur korrupten Gesellschaft. Im Ausland ist „Daara J“ dabei, „PBS“ den Rang abzulaufen, und auch im Senegal beweist die 1994 gegründete Gruppe, dass man mit religiösen Themen äußerst erfolgreich sein kann. Vielmehr: Ein Bekenntnis zum Glauben ist für senegalesische Musiker letztlich eine Vorraussetzung für kommerziellen Erfolg. Wer öffentlich erklären würde, Atheist zu sein, hätte bei einem Publikum keine Chance, für das Religion eine zentrale Rolle spielt. Das Äußerste, was man sich gestatten kann, ist Zurückhaltung in Glaubensfragen. Sowohl Xuman als auch Didier Awadi meiden das Thema. Awadi ist Katholik, alle anderen Mitglieder von „PBS“ sind Moslems. Vor den Konzerten betet man gemeinsam, doch auf der Bühne hat das Thema nichts zu suchen: „Ich mag die öffentliche Verteidigung von Religion nicht besonders. Das ist eine sehr persönliche Sache.“ Allgemein aber lässt sich beobachten, dass zum einen der Rap für viele Jugendliche zu einer Art Religion geworden ist, dass sich zum andern Islam und Rap immer stärker miteinander vermischen. Xuman stellt fest: „Es gibt Leute, die leben den Hip Hop von morgens bis abends. Der Rap ist dabei auch ein Ausdrucksmittel für spirituelle Botschaften. Die Jugendlichen werden immer gläubiger.“ Einige Rapper entwickeln ein betont religiöses Sendungsbewusstsein. James AJ 1 etwa erklärt mir: „Die Rapper suchen die Wahrheit und zu gegebenem Zeitpunkt gehört die Wahrheit Gott. Es geht immer um Wahrhaftigkeit. 387 Michael Lohse Senegal Ich muss die Jugendlichen zur spirituellen Seite stoßen, damit sie sich erkennen. Alles dreht sich um den Glauben. Wir haben nichts, doch wenn du momentan das Land siehst, ist es, als hätten die Jugendlichen Millionen. Weil wir eine Philosophie im Kopf haben, die besagt: Eines Tages wird Gott kommen - das Wesentliche ist die Arbeit. Dieser Glaube treibt uns nicht nur zur Wahrhaftigkeit, sondern auch dazu, die Moral zu bewahren.“ Ob aus religiösem Antrieb oder nicht - die senegalesischen Rapper sind Moralisten. Sie wollen eine konstruktive Rolle spielen beim Aufbau der Gesellschaft. Didier Awadi beschwört das Potential der Jugend: „Wir werden nicht depressiv. Wir verlassen nicht das Land. Nein, wir bleiben und bauen es selbst auf. Es werden keine Geschenke aus dem Ausland sein, die das Land aufbauen, sondern unser Engagement. Ich bin sehr optimistisch, weil den Jugendlichen das immer bewusster wird.“ 3.5 Nein zum Gangsta-Rap „PBS“ scheuen sich nicht vor Appellen, die deutsche Kids vermutlich nicht besonders cool fänden. So ermutigt Awadi die Jugendlichen, lesen zu lernen, sich mit neuen Technologien wie dem Internet auseinanderzusetzen. Manches wirkt verglichen mit dem Treiben der amerikanischen Kollegen brav und banal, doch ist die Situation für die Rapper im Senegal eine völlig andere. Trotz Hip-Hop-Kultur wird auch ihr Alltag stark von Konventionen geprägt. Xuman erläutert: „Du hast eine große Verantwortung, wenn du ein Stück schreibst. Tausende hören es, auch Kinder. Man darf sich keine schmutzigen Redensarten erlauben. Schimpfwörter vor Erwachsenen gehören sich nicht. All das müssen wir in unseren Texten beachten.“ Hier zeigt sich der grundlegende Unterschied zu den USA. Die Rapper im Senegal sind keine Outlaws wie die Vorbilder in den amerikanischen Ghettos. Sie stehen in der Mitte der Gesellschaft, weil die Mehrheit arm ist. Da bilden die Rapper keine Ausnahme. Daraus resultiert ein ganz anderes Selbstverständnis. Man verzichtet auf Codes, die nur von Anhängern der Hip-Hop-Community verstanden würden, weil man sich ja als Wortführer der Entrechteten insgesamt versteht. Man will aus inhaltlichen wie aus ökonomischen Gründen möglichst breite Schichten ansprechen. Die Jugendlichen sehen sich wahlweise als Sprachrohr von Familie, Clan, Kaste oder Wohnviertel. Generationskonflikte sind ihnen fremd. Sie wollen niemand durch ungehörige Provokationen verschrecken, sondern konstruktiv am Aufbau der Gesellschaft mitwirken. Man bezieht sich dabei zwar auf den amerikanischen Rap, aber nur auf dessen authentische Frühphase, Gruppen wie „Africa Bambaata“ oder 388 Senegal Michael Lohse „Public Enemy“. Von aktuellen Strömungen grenzt man sich ab. Sie werden als dekadent empfunden. Xuman unterscheidet deutlich: „In den USA kannst du im Fernsehen sagen, ich habe mein Haus für so und so viele Dollar gekauft, hier sagt man das nicht. Selbst wenn die Prahlerei ein Teil des Rap ist: Ich bin der Schönste, Stärkste, meinetwegen, aber das ist nicht unsere Kultur. Heute geht es im amerikanischen Rap um schicke Autos, Geld, aber hier sind wir noch im Anfangsstadium, wo der Rap bewusst ist. Hier hat man die Essenz des Hip Hop bewahrt. Das ist eine Botschaft des Friedens und der Einheit.“ 3.6 Kulturelle Identität Die Musiker sortieren also äußerst bewusst, was in der eigenen Gesellschaft vermittelbar ist und was nicht. Die Suche nach einer eigenen Rap-Identität schlägt sich nicht nur in den Texten, sondern auch musikalisch nieder. Nicht zuletzt stellen die Rapper ihren Sprechgesang in eine Linie mit senegalesischen Gesangsstilen wie Tasou und Tebetoul oder mit den Spottliedern der Griots. Eine kühne Interpretation etwa liefern „Daara J“. Auf ihrem aktuellen Album „Boomerang“ schlagen sie selbstbewusst einen weiten Bogen und singen: „Né en Afrique, grandit en Amérique, le rap n’a du faire qu’un tour“ – „Geboren in Afrika, aufgewachsen in Amerika, hat der Rap nur umkehren müssen.“ Teilweise integrieren die Rapper traditionelle Instrumente in ihre Stücke oder sampeln traditionelle Melodien. Didier Awadi erläutert: „Wir leben in einer Gesellschaft, in der Tradition gegenwärtig ist. In einem afrikanischen Haus leben drei Generationen unter einem Dach. So hast du eine direkte Verbindung zwischen deiner Vergangenheit und deiner Zukunft. Die traditionellen Instrumente wie Kora und Tam Tam begleiten uns schon das ganze Leben, lange vor Computer und CD. So ist es ganz natürlich, dass wir in unserer Musik diese Instrumente reflektieren. Wir brauchen unsere kulturelle Basis, ohne die wir einfach nur Europa oder Amerika imitieren würden.“ Shaka Babs weist noch auf ein weiteres Originalitätsmerkmal des senegalesischen Rap hin: „Es gibt die Sprache: Wolof wird nur im Senegal gesprochen. Und selbst wenn ein Senegalese auf Englisch rappt, spürst du seinen senegalesischen Akzent.“ Allerdings ist es durchaus nicht so, dass die Rapper nur auf Wolof rappen würden. Es gibt vielmehr eine ganze Palette von Sprachen, aus der man sich von Fall zu Fall eine herausgreift: die übrigen Stammessprachen, Englisch, Französisch, Spanisch oder Italienisch. Oft wechselt man in einem Song das Idiom. Zum Beispiel singt man die Strophe auf Wolof, den Refrain aber in Englisch, weil er das Thema zu einer globa389 Michael Lohse Senegal len Botschaft verdichtet wie „Fight your life“ oder „No more“. Teilweise mischen sich gleich drei Sprachen in einem Satz wie bei Daara J: „Welcome au pays de la Teranga.“ („Willkommen im Land der Offenheit“). Letztlich zeigt sich hier auch die Zerrissenheit zwischen den Erwartungen der senegalesischen Fans und denen des internationalen Publikums. Mit Wolof lässt sich die Identität unter Beweis stellen, von englischen Texten erhofft man sich den Karrieresprung ins Ausland. Während europäische Veranstalter auf Koraspieler und Boubous anspringen, um ein exotisches Afrikabild des Publikums zu bedienen, können die Rapper im Senegal auf der Bühne nur mit westlichen Markenklamotten punkten. Die Gruppen laufen im Ausland nicht unter Hip Hop, sondern unter Weltmusik. Das zwingt die Musiker zu einer zweigleisigen Strategie, wie Xuman erläutert: „Wir spielen hier andere Stücke als im Ausland. Hier wollen die Leute vor allem hören, was du zu sagen hast. Hier kann ich mit einer rhythmischen Musik kommen, amerikanisch, kein Problem, aber wenn ich im Ausland nicht mehr biete, verschwinde ich in der Masse. Da funktioniert vor allem der Fluss der Texte und die Bühnenshow.“ 3.7 Bilanz und Ausblick Nach 15 Jahren Rap im Senegal sind die Gruppen längst über das Imitieren amerikanischer und französischer Vorbilder hinaus. „PBS“, „Pee Froiss“ und „Daara J“ sind gefragte Acts in Europa und den USA. „Daara J“ zum Beispiel sind zehn Monate im Jahr auf Tournee. Und ihr letztes Album steht amerikanischen Produktionen an Professionalität in nichts nach, entstand allerdings größtenteils in Paris. Musik und Texte haben sich weiterentwickelt. Der Rap genießt breite gesellschaftliche Akzeptanz und mediale Präsenz. Alle Privatradios haben Rap-Sendungen, für die sie prominente Köpfe der Hip-Hop-Bewegung wie Xuman als DJ verpflichten. Doch die goldene Ära des senegalesischen Rap ist vorbei, wie Michael Soumah, Musikchef beim wichtigsten staatlichen Radiosender Dakar FM, feststellt: „Der Rap fällt zurück - obwohl der Senegal nach den USA und Frankreich noch immer das drittwichtigste Rap-Land der Welt ist. Eine zeitlang mussten die MbalaxStars den Rap integrieren, um zu verkaufen. Das ist vorbei. Es gibt einen Mangel an Infrastruktur, jede Gruppe versucht es für sich.“ Noch immer gibt es keine größeren Label und Studios, die sich auf die Promotion des Rap konzentrieren würden. Und die heimischen Studios können mit den technischen Möglichkeiten in Amerika und Frankreich oft nicht mithalten. Für die zweite Rap-Generation ist die westliche Marktnische noch schmaler geworden. Und vom jugendlichen Zielpublikum zu Hause kann man vorerst 390 Senegal Michael Lohse nicht leben. Dem fehlt schlicht die Kaufkraft, wie Xuman ernüchtert feststellt: „Wenn du ein Album gut verkaufen willst, musst du den Rahmen des Rap verlassen. In der Hip-Hop-Gemeinschaft ist nicht viel zu holen.“ Einen viel versprechenden Ansatz, die Stagnation zu überwinden, verspricht der „Hip-Hop-Award“, der seit drei Jahren im Centre Culturel Francais (CCF) in Dakar ausgetragen wird. Für eine Woche im Dezember verwandelt sich das Gelände des Kulturzentrums in ein Dorf der Hip-Hop-Community, wo Rapper, Breakdancer und Sprayer zeigen, was sie können. Begleitet wird das Festival von Fortbildungsangeboten zu Fragen des Urheberrechts und anderen wirtschaftlichen Aspekten des Show-Business. Hauptattraktion ist ein Rap-Wettbewerb, bei dem Talente ohne Produzentenvertrag eine Chance bekommen. Die Finanzierung übernimmt eine belgische Organisation. Die Teilnehmer müssen einen Song zu einem vorgegebenen Thema einreichen. Diesmal ging es um Aids. Sawie Ndiaye, Organisator des Wettbewerbs, beschreibt das Prinzip: „Wir wollten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Jungen Talenten helfen, ihnen eine Aufnahme finanzieren, und gleichzeitig für Aids sensibilisieren. Das ist eine Sache, die wirklich Afrika als Ganzes betrifft. Alle mussten auf einer Kassette die Übertragungswege erklären. Die sechs Preisträger haben eine Kassette mit einer Auflage von 5.000 Stück eingespielt, die umsonst verteilt wurde.“ In einem Land, in dem über die Hälfte der Bevölkerung nicht lesen und schreiben kann, bietet der Rap eine einmalige Chance zur Aufklärung. Für die Gewinner des Wettbewerbs indes bleibt es ein weiter Weg zu Ruhm und Geld. Als ich Ndiaye im Garten des CCF interviewe, kommt auch einer der Preisträger vorbei: Fou Malal. Er bietet mir ein Interview an, wenn ich ihn dafür bezahle. Wenigstens zum Mittagessen soll ich ihn einladen. Es ist kein Scherz. Ich lehne ab. 4. Mbalax - zwischen Glamour und Konvention Dank des ausgeprägten Mitteilungsdrangs der Rapper laufen meine Recherchen zum senegalesischen Hip Hop fast wie von selbst. Wesentlich schwieriger komme ich an die etablierten Stars des „Mbalax“ heran, wie ich bald feststellen muss. Doch zunächst: Was ist überhaupt Mbalax? So nennt man die senegalesische Popmusik, die traditionelle Elemente mit westlichen Einflüssen verschmilzt. Schnelle synkopierte Rhythmen und ein arabeskenhafter, für westliche Ohren wenig eingängiger Gesang sind vielleicht die prägnantesten Merkmale. Doch im Grunde ist „Mbalax“ inzwischen ein diffuser Sammelbegriff für senegalesische Unterhaltungsmusik unterschiedlichster Spielarten. Eine melodiöse Ballade von Ismaël Lô, die 391 Michael Lohse Senegal an Bob Dylan erinnert, fällt ebenso darunter wie eine schnelle Tanznummer von Thione Seck mit endlosen Perkussionseinlagen. Man kann eigentlich nur sagen, was Mbalax in der Regel nicht ist, nämlich traditionelle Musik auf akustischen Instrumenten. E-Gitarre und Keyboard sind Standard, nur bei der Perkussion greift man aufs heimatliche Instrumentarium zurück. Hinzu kommen je nach Präferenz des Interpreten Anteile von Jazz, Blues, Rock, Funk und vor allem lateinamerikanischer Musik in unterschiedlichen Dosierungen. Der Siegeszug des Mbalax begann Anfang der 70er Jahre in den Clubs von Dakar, als man sich von den kubanischen Vorbildern löste und auf Wolof sang statt auf spanisch – oder dem, was man dafür hielt. Die Besitzer der Discotheken unterhielten eigene Orchester, die als wichtige Talentschmieden fungierten – allen voran das „Miami“ von Ibra Kasset. Kasset war kein Musiker, dafür aber ein Veranstalter mit untrüglichem Gespür für das, was ankommt. Er engagierte Musiker für die „Star Band de Dakar“. Dort experimentierte man mit der Vielfalt überlieferter Rhythmen und arbeitete an der zündenden Synthese aus importierter und einheimischer Musik, immer im hautnahen Kontakt mit dem ebenso kritischen wie tanzwütigen Publikum der Hauptstadt. Und dort bekam als 16jähriger auch der Mann seine erste Chance, der den Mbalax zu einem globalen Exportschlager machen sollte: Youssou Ndour. Seit drei Jahrzehnten ist Ndour die alles überstrahlende Figur der senegalesischen Musik, wie die Szene überhaupt durch die Dauerpräsenz weniger großer Namen geprägt ist: Ob Omar Péne, Ismaël Lô oder Thione Seck – die meisten der aktuellen Superstars sind, wenn auch in wechselnden Ensembles, seit den 70ern aktiv. Wie komme ich an sie heran? Ich frage Paul Antoine Decraene, Kulturreferent im französischen Kulturzentrum von Dakar. Eine gute Idee, denn Decraene ist nicht nur ein hervorragender Kenner der senegalesischen Musik, er verfügt auch über eine aktuelle Telefonliste der Protagonisten. Zum Glück gibt es Handys, wenn die Telefonate auch schnell ins Geld gehen. Vor ihrer Verbreitung muss das Verabreden mit Musikern fast unmöglich gewesen sein. So habe ich wenigstens eine Nummer, um zurückgerufen zu werden – theoretisch jedenfalls. 4.1 Youssou Ndour Ich rufe wegen eines Interviews bei Youssou Ndours Plattenfirma „Jololi“ an. Man stellt mich zu einem Mitarbeiter durch, der aber auch nicht zuständig ist. Vielleicht kommt der Zuständige Ende der Woche wieder. Ich ver392 Senegal Michael Lohse suche es noch mal. Wie gewünscht schildere ich mein Anliegen per E-mail. Schließlich werde ich bescheidener und will nur noch einen von Youssous Vertrauten interviewen. Ich verabrede mich mit Ousseynou Guèye, bei „Jololi“ verantwortlich für „Développement“ und offenbar viel beschäftigt. Er sei noch nicht da, eröffnet mir die Empfangsdame nach gemessener Frist, und wann er komme, könne sie nicht sagen. Ich erwische Guèye auf dem Handy – er habe überraschend verreisen müssen, aber am Samstag... Noch einmal mache ich mich pünktlich auf den Weg ins Nobel-Viertel an der Pointe des Almadies, diesmal ist nicht mal mehr die Empfangsdame da. Kurz – eine persönliche Begegnung ist mir nicht vergönnt. Was soll’s, dafür kann mir jeder, den ich treffe, eine Geschichte über „You“ erzählen. Ein Straßenmaler im Plateau-Viertel berichtet mir stolz, er habe den Star schon gekannt, als er noch ein niemand war. Damals habe Ndour immer seine Fanta bei ihm gekauft. Im Studio „Maison Yes“ treffe ich den jungen Franzosen Mathieu, der gelegentlich bei „Jololi“ als Toningenieur jobbt. Ich erfahre, dass Ndour ein Arbeitstier ist, dass er bis zwei Uhr nachts im Studio arbeitet, dann mal eben zum Auftritt ins „Thiossane“ fährt, um am nächsten Morgen ohne Ermüdungserscheinungen weiterzumachen. Weniger weiß man über sein Privatleben. Selbst langjährige Mitarbeiter hätten seine Frau nie zu Gesicht bekommen. In der Bibliothek des französischen Kulturzentrums stoße ich auf das Buch eines Dakarer Universitätsprofessors, das im Stil sozialistischer Schulbücher die grenzenlose Weitsicht und moralische Integrität des Volkshelden „You“ preist. Kein Mangel also an Gerüchten und Legenden. Und in der Tat trägt Youssou Ndours Karriere märchenhafte Züge.1984 lernt er Peter Gabriel kennen, den Ex-Sänger von Genesis. Gemeinsam gehen sie auf Tournee und produzieren Platten. Auch auf Paul Simons bahnbrechendem „Graceland“Album ist Youssou Ndour zu hören, wenn auch nur als Trommler. Der Durchbruch in Frankreich kommt, als der Rocksänger Jacques Highelin Ndour und Mory Kanté als Vorgruppen verpflichtet, die ihm die Show stehlen. Kaum ein afrikanischer Musiker konnte so vom Afro-Pop-Boom der 80er und 90er Jahre profitieren. Trotzdem darf man nicht übersehen, dass die Bäume selbst für Youssou Ndour nie in den Himmel wuchsen: Nach drei poporientierten Alben für den internationalen Markt, die sich jeweils nur rund 200.000 mal verkauften, feuerte ihn 1991 seine Plattenfirma Virgin. Eine Fehlentscheidung, denn kurze Zeit später kam mit „Seven Seconds“ im Duett mit Neneh Cherry der lang ersehnte internationale Hit. Inzwischen hat Ndour beim Label des schwarzen Filmregisseurs Spike Lee unterzeichnet. Kein Westafrikaner hatte bis dato so viele Platten verkauft. Nur Mory Kanté, der Kollege aus der Elfenbeinküste, sollte ihn einige Jahre später mit „Yeke Yeke“ überbieten. Doch war der Charterfolg rückblickend 393 Michael Lohse Senegal eher ein Ausrutscher, an den er schon mit dem folgenden Album „Gainde“ nicht mehr anknüpfen konnte. Sein letztes Album „Sant“ (Heiliger), das im Ausland unter dem Titel „Egypt“ erschien, floppte selbst im Senegal. Das in Kairo eingespielte Werk behandelte ausschließlich religiöse Themen und garantierte mit seinen Streichersounds und arabischen Zutaten nicht gerade für volle Tanzflächen. Für senegalesische Verhältnisse indes verdient Ndour unvorstellbare Reichtümer. Und was noch wichtiger ist – er geht bemerkenswert überlegt mit seinen Mitteln um. So gründete er sein eigenes Studio „Xippi“, seine Plattenfirma „Jololi“, betrieb weiterhin seinen Club „Thiossane“ und investierte sein Geld auch außerhalb der Musikbranche. Mirko Hempel von der Friedrich-Ebert-Stiftung schränkt allerdings ein: „Er ist nicht die Lichtgestalt, als die er im Westen erscheint, er ist vor allem ein knallharter Geschäftsmann.“ So fördere er zwar aufstrebende Talente, sichere sich aber auch mit entsprechenden Verträgen seinen Anteil am Erfolg. Auch der deutsche Produzent Steven Töteberg berichtet von einer raumgreifenden Mentalität der Firma Ndour, die Konkurrenten um jeden Preis draußen halten will: „Die Musiker von Youssou Ndour sind nicht in der Lage, sich mit mir zu treffen, ohne dass gleich der erste Gedanke ist, was könnte mir der andere wegnehmen.“ Immer wieder sorgt der Unternehmer Youssou Ndour auch für kritische Schlagzeilen. So als er als Miteigner einer der größten senegalesischen Telefongesellschaften im vergangenen Jahr, ohne zu zögern, Hunderte von Mitarbeitern entließ, um sein Kapital zu retten. Am Ende meines Aufenthalts lese ich im „Sud Quotidien“, dass die Behörden seinen Club Thiossane wegen eklatanter Sicherheitsmängel geschlossen haben – wozu im Senegal schon einiges gehört. In den Augen der Senegalesen können solche Meldungen das Bild ihres Idols freilich nicht ernsthaft trüben. Zu groß sind seine Verdienste für das internationale Ansehen des Senegal, von seinem sozialen Engagement ganz zu schweigen, ob als UNICEF-Botschafter oder mit der Youssou-NdourStiftung. Unstrittig ist zudem, dass Youssou Ndour der senegalesischen Musikindustrie einen entscheidenden Professionalisierungsschub gegeben hat. Er war der Erste, der seinen Musikern ein regelmäßiges Gehalt zahlte und die Bedeutung einer effizienten Arbeitsteilung erkannt hat: Dass es nicht reicht, schön zu singen, sondern dass man ein funktionierendes Team für Tourmanagement, Studioproduktion und Promotion braucht. Das Ergebnis ist ein Unternehmen, das vielen Leuten Arbeit bietet, und dessen Schlüsselpositionen vorzugsweise mit Familienmitgliedern besetzt sind. So führen die Brüder Boubacar und Ibou Ndour im Studio Regie und produzieren Nachwuchstalente, die gerne ebenfalls aus dem Ndour-Clan kommen 394 Senegal Michael Lohse dürfen: Schwägerin Viviane Ndour zum Beispiel ist momentan die wohl erfolgreichste Sängerin im Senegal. Das „System Youssou“ hat nicht nur mehrere hundert Arbeitsplätze geschaffen, es hat auch das traditionelle eher mäßige Image des Musikerberufs im Lande aufpoliert, wie RTS-Redakteur Michael Soumah betont: „Youssou Ndour hat den Senegalesen beigebracht, dass Musik ein Beruf ist. Jetzt ermutigen die Eltern ihre Kinder, Musik zu machen, weil das Geld bringen kann.“ Und Luc Mayitoukou von Africa Fete, der Weltmusik-Agentur, die Youssous Karriere in Frankreich maßgeblich förderte, meint: „Youssou Ndour ist ein Vorbild, aber er ist auch ein Unternehmer. Seine Stärke liegt darin, seine Aktivitäten aufzufächern. Es ist nicht nur seine eigene Willenskraft, es sind auch die Leute um ihn herum. Er hat gute Berater.“ Youssou Ndour scheint also ein Star zu sein, der sich unter Kontrolle hat, der trotz seines Erfolgs und der fast grenzenlosen Verehrung durch seine Landsleute nicht die Bodenhaftung verloren hat. 4.2 Suleymane Faye Weniger Glück und Selbstdisziplin hatte Suleymane Faye. Ich treffe ihn vor seinem Auftritt im schlecht besuchten Restaurant „Indigo“ im Zentrum Dakars, wo er jeden Freitagabend spielt. Die Szenerie lässt es nicht vermuten, doch Faye, acht Jahre älter als Ndour, schrieb ebenfalls ein Kapitel der senegalesischen Musikgeschichte. Er war in der zweiten Hälfte der 80er Jahre Sänger der legendären Gruppe „Xalam 2“, die als die Erfinder des Mbalax gilt. Doch Faye hatte sich nicht im Griff, schmiss während einer USA-Tournee plötzlich alles hin. Ob Drogen oder Gefängnisaufenthalte im Laufe seiner langen Karriere hat er wenig ausgelassen. Heute wird Faye besonders vom französisch-europäischen Publikum Dakars geschätzt, weil sein Musikgeschmack westlichen Ohren entgegenkommt: „Ich mische zwischen Blues und Wolof, ich spreche Wolof, aber die Harmonien sind Blues oder Rock. Ich mag den Mbalax, aber ich bin ein Rocker.“ Jetzt schlägt er sich wieder wie zu Anfang seiner Karriere mit Auftritten in Touristenzentren oder in Dakars Nachtlokalen durch wie dem „Indigo“ oder dem „Just 4 u“ gegenüber der Universität – ohne jede soziale Absicherung und ohne Alternative: „Ich habe keine Wahl. Es gibt nicht viele richtige Konzerte, also macht man die Tour durch die Clubs. Hier muss man viel arbeiten, um ein bisschen was zu verdienen. Früher habe ich jeden Tag gearbeitet, dann wurde ich krank, müde. Jetzt spiele ich Donnerstag bis Sonntag, Montag bis Mittwoch erhole ich mich. Doch auch, wenn ich nicht arbeite, schlafe ich nachts nicht mehr, dann höre ich die ganze Nacht Musik. Ich bin jetzt über 395 Michael Lohse Senegal 50. Ich muss eine andere Formel finden, aber vorläufig muss ich so weiter machen.“ 4.3 Baaba Maal Auch mein zweiter Versuch, einen senegalesischen Superstar zu interviewen, ist eine lange Geschichte des Misserfolgs, aber immerhin darf ich ihn am Ende berühren. Doch der Reihe nach: Baaba Maal war für mich immer die faszinierendste Musikerpersönlichkeit des Senegal. Er schaffte den Durchbruch beim breiten Publikum, obwohl er nicht auf Wolof singt, der Verkehrssprache der Metropole Dakar, sondern auf Pular. Aufgewachsen in Podor, ganz im Norden des Landes, wählte er – äußerst ungewöhnlich in der von Griot-Nachfahren und Autodidakten dominierten Musikszene – den klassischen Ausbildungsweg an der „Ecole nationale des Arts“ in Dakar. Jahrelang tourte er anschließend durch die westafrikanische Provinz, um gleichzeitig bei den örtlichen Griots zur Schule zu gehen. Ein traditionelles Album mit akustischer Gitarrenbegleitung ist es auch, das den Sänger 1989 in England bekannt macht, während er für die senegalesischen Fans selbstverständlich zur E-Gitarre greift. Ich kontaktiere Maals Manager, der mich an seinen Tourbegleiter verweist, einen arabischstämmigen Franzosen namens Jean. Ich wähle die Nummer. Das Telefonat verläuft etwas chaotisch, aber ich freue mich, dass mein Gegenüber sich augenblicklich mit mir treffen möchte, um alle Details zu besprechen, praktischerweise gleich um die Ecke. Tatsächlich tauchen mein Gesprächspartner und sein Begleiter in einem äußerst schäbigen Wagen am Treffpunkt auf, und fordern mich auf, einzusteigen, um mich zu Maals Haus in Nord-Foire zu bringen. Ich verstehe nicht ganz, hatte es nicht geheißen, Maal sei auf Tournee? Erst als sie das Haus nicht gerade zielstrebig suchen, dämmert mir, dass ich mich schlicht und einfach verwählt hatte. Die beiden waren Wildfremde, die beim Wort „Journalist“ die Chance auf einen kleinen Verdienst witterten. Sie setzen mich schließlich tatsächlich vor Maals Haus ab und sind auch nicht böse, dass ich ihre Hilfsbereitschaft nicht länger in Anspruch nehmen will. Beim nächsten Mal konzentriere ich mich beim Wählen und spreche tatsächlich mit Jean. Ja, man sei in Fouta, dem Tal des Senegals an der Grenze zu Mauretanien. Da ich ohnehin eine Reise dorthin plane, schlage ich ein Treffen vor. Ich solle mich wieder melden, wenn ich dort sei. Also fahre ich nach Podor. Ein verfallenes Franzosen-Fort beherrscht den trostlosen Ort am Senegal, der träge und braun dahin fließt. Kein Schiffsverkehr, nur eine Piroge verkehrt gespenstisch lautlos zwischen senegalesischem und mau396 Senegal Michael Lohse retanischem Ufer. Vom Dach der Ruine des Gouverneur-Palasts sieht man einen Streifen grünes Ackerland, Reisfelder, dahinter beginnt die Sahara. Hier in Podor, mitten in Senegals ärmster Region, ist Maal aufgewachsen, hier wohnen seine Eltern, zu denen er sich jedes Jahr zurückzieht. Und hier wohnt seine Volksgruppe, die Tukuleur, zugleich seine treuesten Fans, für die Maal häufig Tourneen veranstaltet. Jean bestellt mich ins 40 Kilometer entfernte Ndioum, wo Maal abends als Höhepunkt des Stadtfestes auftreten soll; Maal habe zwar wenig Zeit, weil alle im Ort ihn sehen wollen, aber er wolle sehen, was er tun könne. Ich organisiere ein Taxi, das mich nach Ndioum und gegen 21 Uhr wieder zurück fahren soll. Doch vor dem Konzert kann Jean leider gar nichts für mich tun. Und das Konzert findet auch nicht wie behauptet um 20 Uhr statt, sondern mal wieder erst um 2 Uhr nachts. Also Taxi zum Hotel ade. Im Stadion werde ich inzwischen Zeuge der „luttes sénégalaises“, traditionelle Ringkämpfe auf Sandboden zu Trommelmusik. Mein findiger senegalesischer Freund tut nebenbei eine Übernachtungsmöglichkeit bei einer Zufallsbekanntschaft auf. Dann stundenlanges Warten, kein Interview. Maal müsse sich vor dem Konzert konzentrieren. Um viertel vor zwei rast dann tatsächlich Maals Limousine hinter den Bühnenbereich, spuckt den Star in die Nacht, und was ich nun erlebe, ist mit einem Konzert in Europa schwer zu vergleichen. Maal tanzt, wo vorher die Ringer den Sand aufwirbelten: vor dem Podest mit Boxen und Band. Das entfesselte Publikum ist nicht zu halten, alle paar Minuten rennt jemand zu ihm, an den Ordnern vorbei, drückt ihm einen Zettel in die Hand, ein Geschenk. Und ich bekomme tatsächlich Jean zu Gesicht, der mir Zutritt hinter die Bühne gewährt, und mich mitten während dieses völlig chaotischen Konzerts Maal vorstellt, als der sich kurz vom Podium beugt. Ich schüttele ihm die Hand, und das war es auch schon. Was soll man bei dem Lärm auch reden. Dann ist das Konzert vorbei und Maal steigt wieder in seine Limousine, die Fans fahren auf Dach und Motorhaube mit. Jeans letzte Worte: Jetzt direkt nach dem Konzert sei doch auch nicht so der richtige Rahmen für ein gutes Interview, oder? Aber nächste Woche in Dakar, da klappe es bestimmt, Ehrenwort... Ich verzichte und mache mir lieber ein paar ruhige Tage in der Casamance. 4.4 Fallou Dieng Doch es geht auch anders: Meine Zimmerwirtin in Dakar kann das Elend meiner geplatzten Rendez-vous schließlich nicht mehr mit ansehen. So schreitet sie zur Tat, um die Ehre der senegalesischen Musiker zu retten. Fallou Dieng, einer der angesagtesten jungen Mbalax-Stars wohnt gleich 397 Michael Lohse Senegal bei ihr um die Ecke. Kurz entschlossen wirft sie sich in ein farbenfrohes Gewand, türmt das passende Tuch über ihrem Kopf und macht sich mit mir auf den Weg. Sie klingelt, wir werden eingelassen, bekommen grünen Tee im Fernsehzimmer, und nach einigen Minuten ist Fallou Dieng für uns da. So geht das also! Dieng lädt mich ein, bei den Proben für sein neues Album zuzuhören. So treffen wir uns zwei Tage später nochmals. Diengs hoher, kehliger Gesang erinnert stark an Youssou Ndour. Er wird deswegen auch „der kleine You“ genannt. Eine Bezeichnung, die dem attraktiven Zwei-Meter-Mann ansonsten wenig gerecht wird. Sieht man darüber hinweg, gibt es durchaus Parallelen. Fallou Dieng ist wie Ndour in der Medina geboren, dem afrikanischsten und ursprünglichsten Viertel Dakars. Und Ndour hat Dieng immer wieder gefördert, lieh ihm Instrumente und überließ ihm 1994 die Bühne des „Thiossane“, während er mit Neneh Cherry auf Tournee ging. Stolz zeigt mir Dieng Videos von seinen Auftritten, wo er im weißen Boubou zu sehen ist. Im vergangenen Jahr spielte er zusammen mit Hubert von Goysern im „Théâtre Daniel Sorano“, der renommiertesten Bühne des Landes. „Stimmung und Show sind sehr wichtig für die Musik. Früher sangen die Leute und blieben dabei auf der Stelle stehen, ich singe und tanze, habe eine ausgearbeitete Choreografie. Ich bin stolz, dass ich das als erster gewagt habe.“ Wenn Dieng von einem Wagnis spricht, übertreibt er nicht. Denn er riskierte mit seinen Show-Einlagen, als unmännlich zu gelten. Zum Mbalax tanzten ursprünglich nur die Frauen. Und als angehender Musiker hat man im Senegal ohnehin schon mit Vorbildern zu kämpfen, umso schlimmer wenn man wie Dieng aus einer strengen Marabout-Familie kommt: „Bevor ich Sänger wurde, war mein Leben sehr bewegt. Ich konnte meine Studien nicht beenden und wurde Schneider. Mit 19 verließ ich Dakar, um nach Spanien zu gehen. Dort lief es nicht, und nach eineinhalb Jahren kam ich zurück. Ich wurde Händler auf dem Sandaga-Markt, hatte meinen Stand und verkaufte Kleider. 1989 lernte ich einen Saxophonisten vom Konservatorium kennen. Er hat mir immer wieder gesagt: singe, du hast Talent, bleib nicht hier auf dem Markt. Doch weil ich kein Griot bin – ich bin in eine adelige Familie geboren – hatte ich Angst, meinen Eltern zu sagen, dass ich alles fallen lasse, um Sänger zu werden. Am Anfang ist man als Musiker nicht respektiert. Man sagt, der Musiker nimmt Drogen, trinkt Wein. Ich liebte das Singen, aber ich habe es im Verborgenen getan.“ Im schwarzen BMW fahren wir von seinem Haus zum Übungsraum in der Medina. An jeder Kreuzung, an der wir halten, rufen ihm Leute etwas zu. Jeder kennt ihn hier, doch der Erfolg ist auch eine Belastung. Die Texte des Mbalax sind voller moralischer Botschaften. Und der Musiker steht unter ständiger Beobachtung. Zumindest nach außen muss er das Bild des soli398 Senegal Michael Lohse den Ehemannes und Familienmenschen und des frommen Moslems pflegen. Wer sich gehen lässt, ist gesellschaftlich erledigt: „Wir singen von aktuellen Themen. Die Leute wollen keine Banalitäten hören. Die Verantwortung wird immer schwerer. Man muss immer arbeiten an der Musik und den Texten. Ich gebe immer mein Bestes. Hier wird man nicht respektiert, wenn man keinen Ehrgeiz hat.“ In dem kleinen Übungsraum ist Dieng fast mit Fanatismus bei der Sache. Stundenlang wiederholen er und seine sehr jungen Begleitmusiker zwei oder drei Songs, selten stoppt das Ausdauertrommeln, um Stellen isoliert zu proben. Er ist von seiner Sache überzeugt. Seit 1990 hat er jedes Jahr ein Album gemacht, tourt regelmäßig durch Europa. Von zu vielen Konzessionen an den westlichen Geschmack hält er nichts: „Die Älteren haben behauptet, die senegalesische Musik lasse sich nicht exportieren. Ich habe das immer abgestritten. Wir haben nur unsere Kultur, den Mbalax. Wenn wir den nicht verteidigen, haben wir nicht viel.“ 4.5 Coumba Gawlo Das sieht Coumba Gawlo, die ich einige Tage später befrage, ganz anders. In ihrem Büro, das in einem modernen, hellen Bungalow im MittelklasseViertel „Sacre Coeur“ liegt, erklärt sie mir: „Um international erfolgreich zu sein, muss man den Mbalax sehr dosiert einsetzen. Man darf sich nicht darauf versteifen.“ Mit ihrem Remake von Miriam Makebas „Pata Pata“ landete sie vor einigen Jahren einen Sommerhit in Frankreich und Belgien. Von allen Vertretern der jungen Mbalax-Generation kommt sie dem westlichen Bedürfnis nach Eingängigkeit am weitesten entgegen. Zwar beherrscht auch sie perfekt die Rhythmen des Mbalax, aber sie werden nur gelegentlich zitiert. Im Vordergrund steht die luftige Handschrift ihres französischen Produzenten. Stimme und Ausstrahlung bewahren sie dennoch vor weichgespülter Beliebigkeit. Geschickt hat sie einen Look kultiviert, der für senegalesische Verhältnisse freizügig und exzentrisch ist. Sie ist das Idol der weiblichen Jugend, auch weil sie öffentlich gegen Polygamie und Beschneidung eintritt. Sie erzählt mir von den Schwierigkeiten, sich als Frau in der Männerwelt des Show-Business zu behaupten. Einerseits ist es in der Griot-Tradition durchaus vorgesehen, dass Frauen singen. Und sie entstammt einer GriotFamilie – Gawlo ist das Pulaar-Wort für Griot. Andererseits gelten exzentrische Auftritte in der Öffentlichkeit für Frauen als ungehörig. Doch trotz ihrer Offenheit für westliche Einflüsse, ihrer hervorragenden Kontakte in Paris sieht sich Coumba Gawlo als musikalische Botschafterin des Senegal 399 Michael Lohse Senegal und denkt nicht an die Emigration. Im Gegenteil: Sie will in ihrer Heimat jungen Frauen helfen, und ist dabei, ihre Fan-Clubs zu unterstützen und zu einem Fortbildungsnetzwerk auszubauen. Einige der erfolgreichen Musiker des Senegal habe ich kennen gelernt. Sie leben sicher besser als der Durchschnitt. Abgehoben oder abgeschottet in einer luxuriösen Scheinwelt sind sie jedoch nicht. Die Realität des Entwicklungslandes holt sie spätestens ein, wenn wieder der Strom ausfällt oder wenn sie wieder zwischen Dakar und Thiès im Dauerstau stecken. Sie alle brauchen eine gute Konstitution für die Nachtarbeit auf der Bühne. Sie alle zahlen für den Erfolg mit Verantwortung. Zum einen für ihre „musikalische Großfamilie“: Sie sind Arbeitgeber für Musiker, Techniker und Büromitarbeiter. Zum anderen für ihr Land: Sie bringen dem Staat Devisen und transportieren ein positives Image des Senegal, das sich in Touristenzahlen niederschlägt. Das Publikum erwartet von ihnen, dass Texte und Lebenswandel zusammenpassen. Wegen der Vorurteile gegen Musiker stehen sie unter besonderem moralischen Druck. Trotzdem ziehen sie das Leben in Dakar der vermeintlich größeren Freiheit in Paris oder New York vor. Kein Wunder: Sie hatten ausreichend Gelegenheit, auch die Schattenseiten des gelobten Westens kennen zu lernen, um die Vorteile Dakars zu schätzen. Hier leben ihre Fans, hier hat ihre Musik Bedeutung. Hier erfreuen sie sich einer beneidenswerten Position, die Paul Antoine Decraene vom französischen Kulturzentrum in Dakar so zusammenfasst: „Es gibt keine Konkurrenz. Denn die Senegalesen sind ein bisschen chauvinistisch: Sie lieben vor allem ihre Musik.“ 5. Die Akteure im Hintergrund 5.1 Französische Kulturförderung Paul Antoine Decraene besetzt als Kulturreferent des Centre Culturel Francais (CCF) in Dakar eine Schlüsselposition im Musikleben des Landes. So fragwürdig der Einfluss der ehemaligen Kolonialmacht in Westafrika auch auf wirtschaftlichem Gebiet ist, so wenig lassen sich ihre Verdienste um die Kulturszene wegdiskutieren: Radio France International (RFI) vergibt einmal im Jahr den „Prix Découverte“ und hat damit schon manchem Talent den Weg nach Europa eröffnet. Und die drei französischen Kulturzentren in Dakar, St. Louis und Ziguinchor organisieren regelmäßig Tourneen, Festivals und Wettbewerbe. Die Zentren verfügen über kleinere Freilichtbühnen. Jeden Freitag finden etwa im „Théâtre de la Verdure“ in Dakar Konzerte statt. Decraene verfügt über einen Etat, von dem staatliche 400 Senegal Michael Lohse Kultureinrichtungen wie das heruntergekommene „Centre Blaise Diagne“ nur träumen können. Er wählt die Künstler aus, präsentiert werden sie von Michael Soumah vom RTS. Auch sonst bemüht sich der zum Islam konvertierte Franzose um eine enge Abstimmung mit den wichtigsten Akteuren des senegalesischen Musiklebens wie Youssou Ndours Plattenfirma „Jololi“, der Weltmusik-Agentur „Africa Fête“, den Produktionsfirmen „Keur Serigne Fall“ und „Gadiaga“, der Musikergewerkschaft AMS und dem senegalesischen Büro für Autorenrechte, BSDA. Im Dezember 2003 trafen sich Vertreter dieser Einrichtungen zu einer internationalen Tagung im CCF, um über den Austausch von Musikern und die Situation von Produktion und Vertrieb zu diskutieren. Das CCF veranstaltet auch Fortbildungen für Musiker, allerdings ausschließlich zu wirtschaftlichen und technischen Aspekten. Ansonsten ist der typische senegalesische Musiker entweder Autodidakt. Oder seine Eltern sind Griots, und er ging zu Hause in die Schule. 5.2 Musikhochschule Das einzige staatliche Ausbildungsangebot bietet die Musiksektion der „Ecole Nationale Des Arts“. Wer den Namen hört, mag sich ein altehrwürdiges Konservatorium vorstellen. Doch der Plattenbau, direkt am lauten, chaotischen Busbahnhof von Dakar gelegen, befindet sich im finalen Stadium der Auflösung. Teilweise fehlen Türen und Fenster. Die Räume sind leer bis auf ein paar kaputte Tafeln und Stühle. Auch ein paar hoffnungslos verstimmte Klaviere gibt es noch, die sich schlecht wegtragen lassen. Kaum zu glauben, was hier unter diesen Bedingungen alles gelehrt wird: Auf dem Lehrplan steht sowohl Klassik als auch traditionelle senegalesische Musik. Nicht wenige prominente Namen waren hier eingeschrieben: Youssou Ndour ebenso wie Baaba Maal – allerdings oft mehr pro forma, um ihrem Tun vor der Familie einen seriösen Anstrich zu geben. 5.3 Studios Viel wichtiger als die Musikhochschule sind die privaten Netzwerke der Musikszene. Wer erfolgreich ist, fühlt sich verpflichtet, dem Nachwuchs unter die Arme zu greifen. Ob Youssou Ndours Künstlerförderung oder Didier Awadis „Studio Sakama“ – sie bieten Anlaufpunkte, wo man zumindest Know-how austauschen kann, sich je nach Vertrauenskredit aber auch mit Instrumenten und Equipment aushilft. 401 Michael Lohse Senegal Dennoch sind die Studios keine sozialen Einrichtungen. Wer internationalen Standard bietet wie „Studio Xippi“, das von Youssous Bruder Ibou Ndour geleitet wird, oder „Studio 2000“ von El Hadj Ndiaye, läßt sich das auch bezahlen. Billiger wird es in den vielen kleinen Studios wie Steven Tötebergs „Maison Yes“. Dennoch leidet die Qualität der Demobänder oft unter dem Druck, mit einem Minimum an Studiozeit auskommen zu müssen. Für Töteberg, der aus deutschen Studios verbissene Diskussionen um jedes Detail kennt, haben die senegalesischen Produktionsstandards allerdings auch Vorteile: „Der Sound hängt technisch zwar oft 20 Jahre hinterher, aber dafür sind die Senegalesen authentischer. Sie denken nicht so viel nach, sie spielen einfach. Die Tontechniker drehen einfach an ihren Knöpfen. Wenn ich mit einem Perkussionisten zusammenarbeite, passiert es oft, dass ich ihm das Stück einmal vorspiele, und er sagt: Okay, dann können wir ja aufnehmen. Und das Ergebnis ist oft supergut.“ 5.4 Medien Eine weitere Anlaufstelle für Musiker sind auch die Medien. Vor allem seit Mitte der 90er Jahre zahlreiche Privatradios entstanden, die in der Regel von den großen Zeitungsverlagen wie „Sud Quotidien“ (Sud FM) oder „Walfadjiri“ unterhalten werden. Auf „Walfadjiri FM“ hat etwa Rapper Xuman seine eigene wöchentliche Show. Daneben gibt es natürlich den staatlichen Rundfunk RTS (Radio Télévision Sénégalaise) mit seinem Fernsehprogramm, das einmal im Monat eine Rap-Show zeigt. Die von Aziz Coulibaly moderierte Sendung bietet den Jugendlichen vor allem Gelegenheit im Free-TV die Neuheiten aus Frankreich und Amerika zu sehen, der Anteil des senegalesischen Raps beträgt laut Homepage gerade mal 15 %. Auf den Schirm kommen nur noch Aufzeichnungen, nachdem einige Rapper bei Live-Sendungen offenbar die Grenzen des Akzeptierten überschritten haben. Mehr Möglichkeiten bieten die zahlreichen RTS-Radioprogramme. Landesweit senden „Chaîne Nationale“ und „Radio sénégalaise internationale“ (RSI), daneben gibt es zahlreiche regionale Stationen. Diese RTSLokalradios machen Aufnahmen mit traditionellen Künstlern der Umgebung. Die weitaus wichtigere Rolle für die Musikpromotion spielt aber der staatliche Hauptstadtsender „Dakar FM“, der erste UKW-Kanal im Senegal überhaupt, mit seinem Musikchef Michael Soumah. In Sendungen wie „Generation 3R“ (gemeint sind Rap, Ragga, Reggae), „Sono Mondiale“ oder „Découverte“ präsentierte Soumah in den letzten 20 Jahren das Who is Who der westafrikanischen Musik. Viele Stars machten bei ihm die ersten 402 Senegal Michael Lohse Gehversuche – von Fallou Dieng bis Viviane Ndour. Sein sicheres Gespür für Qualität bezieht Soumah dabei aus seiner eigenen Praxis als Sänger und Gitarrist. Seiner Einschätzung nach droht der senegalesische Pop die internationale Entwicklung zu verschlafen: „Der Mbalax blieb zu lange eine senegalesische Angelegenheit. Man hat sich nicht darum gekümmert, dass man den Mbalax auch im Westen tanzen kann. Der synkopische Rhythmus des Mbalax ist viel komplizierter als zum Beispiel der Rhythmus der kongolesischen Musik. Man muss an den Exportchancen in den Westen arbeiten und einen Rhythmus finden, der dort verstanden wird.“ 5.4 Africa Fête Die Verbesserung der Exportchancen für afrikanische Musiker ist das tägliche Brot der Weltmusikagentur „Africa Fête“. Die Aktivitäten umfassen das Booking im Ausland, Konzertveranstaltungen im Senegal, ein eigenes Label und die Weiterbildung für Musiker. Praktisch allen großen Namen der westafrikanischen Musik ebnete „Africa Fête“ den Weg auf den französischen Markt, angefangen mit Youssou Ndour über Mory Kanté bis hin zu Manu Dibango und Salif Keita. In jüngster Zeit hat man „PBS“, „Pee Froiss“ und Alioune Mbaye Nder unter Vertrag genommen. Anfang der 80er Jahre von dem Senegalesen Mamadou Konté in Paris gegründet, hat sich die Firma mit zehn fest angestellten Mitarbeitern mittlerweile in Dakar niedergelassen. Für den Standort Dakar sprechen gute Gründe, wie der Produktionsbeauftragte von „Africa Fête“, Luc Mayitoukou erläutert: „Dakar ist das Tor zu Afrika, das heißt man kommt leicht an Neuheiten aus dem Westen ran, und ebenso leicht können wir unsere eigenen Produktionen in diesem Land voranbringen. Dakar ist eine musikalische Drehscheibe zwischen Afrika und dem Westen. Und es gibt ein konsumfreudiges Publikum hier. Der wichtigste Unterstützer der senegalesischen Musik ist das senegalesische Publikum.“ Doch auch wenn das Publikum in Dakar einen Künstler feiert, bleiben etliche Hürden vor dem Sprung ins Ausland. Das zeigt sich am Beispiel von Alioune Mbaye Nder. Der Mbalax-Sänger aus einer Griotfamilie ist in seiner Heimat ein Superstar, aber den europäischen Markt hat er trotz Promotion durch „Africa Fête“ noch lange nicht erobert. Und wenn die Konzerte laufen, ist es wiederum ein großer Schritt, bis die Plattenverkäufe nachziehen. Umgekehrt kann es sein, dass sich Alben traditioneller Kora-Spieler, von denen im Senegal noch keiner gehört hat, im Westen gut verkaufen. Angesichts der erforderlichen Investitionen ist es für die Agentur entscheidend, auf die richtigen Talente zu setzen. Luc Mayitoukou beschreibt den 403 Michael Lohse Senegal Auswahlprozeß: „Man taxiert die Entwicklungschancen. Wer eine schöne Stimme hat, aber eine schlechte Bühnenpräsenz, hat ein Problem. Man muss beides haben. Man braucht eine ordentliche Stimme, gute Texte, muss komponieren und sich auf der Bühne bewegen können. Wer von all dem mindestens ein bisschen hat, dem bieten wir eine Weiterbildung. Man kann einem Künstler mit schlechter Bühnenpräsenz Proben bezahlen, Aufführungen zeigen, einen Regisseur stellen, um ihn fit zu machen für den internationalen Wettbewerb. Aber er muss bereit sein, hart an sich zu arbeiten.“ Die Mitarbeiter von „Africa Fête“ erfüllen eine Mittlerfunktion: Sie kennen die senegalesische Szene perfekt und müssen zugleich die Selektionskriterien des Weltmarkts vorwegnehmen. Das Publikum im Senegal ist nicht repräsentativ. Die Senegalesen stehen auf Mbalax mit seinen harten, schnellen Rhythmen, die für westliche Ohren ungewohnt sind, ebenso wie die wenig eingängigen Melodien. Entfernen sie sich zu weit vom Mbalax in Richtung westlicher Popmusik, verprellen sie wiederum die heimischen Fans. Die Künstler werden also zu einer Gratwanderung gezwungen. Das gilt für die Musik ebenso wie für die Bühnenperformance. Die oft exotische Afrika-Perspektive des europäischen Publikums führt teilweise zu Show-Elementen, die im Senegal lächerlich wirken würden. Auch RapGruppen wie „PBS“ oder „Daara J“ werden im Ausland in erster Linie als Weltmusik-Acts vermarktet. So tragen „Daara J“ beispielsweise folkloristisch anmutende Phantasiekostüme, um bei ihren Luftsprüngen maximale Show-Effekte zu erzielen. Oft tritt dieselbe Band im Ausland mit Boubous und Koraspieler auf, im Senegal hingegen mit Schlabber-Jeans und NikeTurnschuhen. Für die Promotion hat es sich außerdem bewährt, junge Talente zusammen mit bewährten Zugpferden spielen zu lassen. Mayitoukou: „Wir versuchen, die großen Künstler, die wir international auf den Weg gebracht haben, als Lokomotive für junge Talente einzusetzen. Deshalb haben wir etwa im Dezember Manu Dibango nach Dakar geholt, der hier mit Jugendlichen gearbeitet hat. So konnten wir ihn präsentieren und gleichzeitig junge Künstler fördern.“ Außerhalb des Senegal hingegen stößt die Nachwuchsförderung zunehmend auf Schwierigkeiten, die das Booking für Africa Fete zum schwer kalkulierbaren Risiko machen. Ein ganz wesentlicher Kostenfaktor sind die Flugtickets. Für senegalesische Musiker halten sie sich noch im Rahmen, denn zwischen Dakar und Paris gibt es auch günstige Angebote, aber für Bands aus Ländern wie der Zentralafrikanischen Republik können die Ticketpreise schnell das Aus bedeuten, zumal bei großen Besetzungen. Ein noch größeres Problem ist die immer restriktivere Visa-Praxis der europäischen Konsulate, wie Mayitoukou berichtet: „Natürlich gibt es einige 404 Senegal Michael Lohse verzweifelte Musiker, die fahren und nicht zurückkehren, aber die Masse hat ihre Basis hier in Afrika. Alle werden in einen Sack geworfen und verdächtigt. Viele Tourneen werden wegen der Visa annulliert. Um die Visa zu bekommen, braucht man einen guten Ruf bei den Konsulaten. Für die schon bekannten Gruppen wie PBS läuft es problemlos. Schwierig wird es bei denen, die zum ersten Mal reisen. Dann investiert man Gebühren, und plötzlich heißt es: keine Visa, Tournee annulliert. Man lebt ständig mit diesem Risiko, das alles zunichte machen kann.“ Um sich solche Scherereien zu ersparen, engagieren viele westliche Veranstalter lieber gleich afrikanische Exilmusiker, die weder Visa noch Flugticket benötigen. Überhaupt wird die Marktsituation für afrikanische Künstler nicht rosiger: „Der Kampf um den Weltmusikmarkt wird immer härter. Die große Afrika-Mode, die Mory Kanté ausgelöst hat, ist ein bisschen zurückgegangen, einfach weil die Künstler und ihr Publikum älter werden und sich anderen Dingen zuwenden. 6. Die geschäftliche und juristische Seite Die Afropop-Welle ist abgeflaut. Der afrikanische Anteil am Weltmusikmarkt, ohnehin schon eine Nische, geht seit Jahren zurück. Kein senegalesischer Künstler konnte bisher an den kommerziellen Erfolg Youssou Ndours anknüpfen. Das kann sich natürlich ändern. Dennoch bringt es nichts, den Blick nur auf die Karrierechancen im Westen zu richten, denn nur ein Bruchteil der senegalesischen Produktionen hat international eine Chance. Im Senegal selbst dagegen hat die einheimische Musik einen überwältigenden Marktanteil und ein ebenso begeistertes wie treues Publikum. Eine Quote für senegalesische Musik im Radio brauchen die Musiker wahrlich nicht. Auch der Export in andere afrikanische Länder läuft zum Teil ausgesprochen erfolgreich. Die Künstler müssten nur mehr daran verdienen. Ihre Situation würde sich bereits entscheidend verbessern, wenn es gelänge, den senegalesischen Musikmarkt wie den innerafrikanischen Markt insgesamt professioneller zu organisieren. Aziz Dieng, Vorsitzender der Gewerkschaft AMS (Association des Métiers de la Musique du Sénégal) hat das Problem erkannt: „Wenn wir von Exporten reden, denken wir immer an den Westen – Afrika ist ein Markt, den wir noch nicht ausgeschöpft haben.“ Doch die Realität ist davon weit entfernt: Die Musiker leben in erster Linie von ihren Tourneen. Und schon kleine CD-Umsätze in Europa lohnen sich für sie mehr als ein Super-Hit im Senegal. Dort ist die Audio-Kassette nach wie vor das relevante Medium, denn sie hat zwei unschätzbare Vorteile: Sie ist billig. Mit 1.000 Francs CFA (rund 1,50 Euro) kostet sie nur ein Fünftel 405 Michael Lohse Senegal des CD-Preises. Und sie ist robust genug für den Härtetest im senegalesischen Alltag. Wo CD und DVD schon längst im Straßenstaub verreckt wären, leiert die Kassette unverwüstlich weiter. Wer größere Entfernungen im Taxi Brousse zurückgelegt hat, weiß, dass die senegalesischen Ansprüche an Klangqualität mitunter äußerst bescheiden sind. Aber ohne musikalische Untermalung geht es nun mal nicht. Sie ist das Schmiermittel für den täglichen Überlebenskampf. 6.1 Das Basar-Prinzip Dass die Musiker am Kassettenverkauf kaum etwas verdienen, liegt zum einen am hervorragend organisierten Schwarzmarkt für Raubkopien, zum andern am völlig desorganisierten Vertrieb. Lamine Fall vom zweitgrößten Musikhändler Gadiaga-Production bringt das Problem auf den Punkt: „Im Senegal ist der Vertrieb noch in einem informellen Zustand. Er beschränkt sich praktisch auf Dakar, auf den Sandaga-Markt, es gibt kein Netz von Filialen auf dem Land. So werden selten mehr als 50.000 Stück von einer Kassette verkauft, und davon 80 Prozent hier in Dakar.“ Der Sandaga-Markt im Herzen Dakars besteht nur aus ein paar Straßenzügen am Rande des Plateau-Viertels, aber was man hier nicht findet, findet man nirgendwo im Senegal. Grell und bunt ist das Angebot der dichtgedrängten Marktstände: Früchte und Fisch, Sandalen und Bleichcreme, Handys und Autoteile, Stoffe und grüner Tee. Eine Fülle, die sich als Weißer kaum ungestört studieren lässt. Zielsicher steuern Schlepper der Souvenirläden jeden Touristen an, der sich durch die überfüllten Gassen quetscht. Doch zum Sandaga-Markt gibt es keine Alternative, wenn man im Senegal nach musikalischen Neuheiten sucht. Die Kassettenstände in der Hauptallee sind voll gestopft bis unters Dach. Und jede Woche lassen sich in den Regalen neue Kassetten entdecken. Die Senegalesen schätzen im Übrigen die Hektik des Feilschens. Das Gespräch mit Lamine Fall findet im Hauptgeschäft von Gadiaga-Production statt. Dort im dritten Stock des Touba-Centers, einer modernen Ladenpassage neben dem Sandaga-Markt, herrscht gähnende Leere: „Hier im Laden verkaufen wir gerade mal zehn Prozent, alles andere unten in der Hauptallee des Sandaga-Marktes. Die Senegalesen haben noch nicht die Kultur, in ein Einkaufszentrum zu gehen. Sie ziehen die Kultur der Straße vor.“ Das Basar-Prinzip steht allerdings einer wirtschaftlichen Entwicklung im Weg. Theoretisch soll der „Distributeur“ für Werbung und landesweite Vermarktung sorgen, in der Praxis jedoch kann davon keine Rede sein. Ladenketten fehlen, die Neuerscheinungen schnell im ganzen Land verfüg406 Senegal Michael Lohse bar machen würden, vom Export in die Nachbarländer ganz zu schweigen. Verdienen kann der Musiker aber nur solange, bis die Raubkopierer aufgeholt haben, also höchstens ein paar Monate nach der Veröffentlichung. Jeder Endhändler, ob aus Ziguinchor oder Tambacounda, muss sich selbst auf den weiten Weg in die Hauptstadt machen, um sich mit Nachschub einzudecken. Die Kosten für große Stückzahlen können sie nicht auslegen. Ist eine Kassette dann schnell ausverkauft, ist die Versuchung groß, Raubkopien nachzulegen, statt noch einmal nach Dakar zu fahren. 6.2 Raubkopien Bis vor einigen Jahren machten Originalkassetten deshalb nur einen Bruchteil vom Umsatz aus. Denn der Sandaga-Markt beherbergte neben dem legalen Vertrieb vor allem auch ein perfekt organisiertes System des illegalen Kassettenhandels: Mittelsmänner meldeten jede Neuerscheinung, die dann über spezialisierte Firmen in Fernost kopiert wurde. Die Fälschungen waren ebenfalls in Folie eingeschweißt und von den regulären Kassetten kaum zu unterscheiden – außer durch den Preis. Sie kosten rund die Hälfte. Diesem Treiben hat die Regierung mittlerweile zumindest teilweise einen Riegel vorgeschoben – ein Erfolg, den auch Musikgewerkschafter Aziz Dieng anerkennt: „Seit zwei Jahren gibt es große Fortschritte beim Kampf gegen die Piraterie dank der Einführung der Hologramme.“ Seit März 2002 werden alle Neuerscheinungen mit einem nummerierten fälschungssicheren Aufkleber versehen. Kassetten ohne Hologramme werden bei Razzien konfisziert. Die Kontrolle des Marktes überwacht das Bureau Sénégalais du Droit d’Auteur (BSDA), das anders als die deutsche GEMA als öffentliche Behörde geführt wird. Diabé Siby, die Präsidentin des BSDA, ging anfangs konsequent gegen Raubkopien vor und stieß auf massive Widerstände bei den Kassettenhändlern, die bis zur öffentlichen Morddrohung reichten. Inzwischen haben die Kontrollen wieder nachgelassen - und die Fälscherlobby kann aufatmen. Aziz Dieng kritisiert: „Trotz der Hologramme gibt es immer noch Zonen, wo sich gefälschte Kassetten und CDs offen verkaufen lassen – und das ist sehr lukrativ. Man muss die Märkte permanent kontrollieren.“ Dennoch brachte die Einführung der Hologramme eine deutliche Verbesserung: Während im Senegal vorher nie mehr als 250.000 Kassetten im Jahr gemeldet wurden, stieg die Zahl nach Angaben Diengs im letzten Jahr auf 1,25 Millionen. Die Händler hatten nämlich bis dahin nur die gesetzlich vorgeschriebene Mindestmenge beim BSDA gemeldet: 3.000 Stück pro Album, um weniger für die Autorenrechte zu zahlen. Jetzt nähert sich die 407 Michael Lohse Senegal Statistik erstmals der realen Produktion an – und dokumentiert durchaus beachtliche Umsätze der senegalesischen Musikindustrie. Die Marktanteile verteilen sich dabei nach Angaben von Lamine Fall wie folgt: „Der Mbalax verkauft sich am besten, dann kommt der Rap und die religiösen Gesänge, zum Schluss Musik aus dem Ausland, amerikanischer Rap oder die Musik aus anderen afrikanischen Ländern.“ 6.3 Religiöse Vertriebsmonopole Interessanterweise liegen also die islamischen Gesangsrezitationen bei den Verkäufen bereits an dritter Stelle, noch vor der westlichen Popmusik. Das zeigt den Einfluss der Religion auf das öffentliche Leben. Und auch der Musikvertrieb selbst wird von strenggläubigen Moslems dominiert. Oumar Gadiaga und Talla Diagne haben den Musikvertrieb weitgehend unter sich aufgeteilt. Sie gehören zu den Mouriden, der wichtigsten islamischen Bruderschaft. Beide sind Anfang 30, Analphabeten und sprechen kaum französisch. Dafür pflegen sie enge Kontakte zu ihren Marabouts in Touba, was ihr soziales Prestige sichert. Diagne hat seine Produktionsfirma gleich nach seinem Marabout benannt: „Keur Serigne Fall“ (K.S.F.). Lamine Fall beschreibt das Verhältnis zwischen den Geschäftsleuten und ihren religiösen Führern so: „Hier gibt es die Kultur der Talibés. Sie sind verpflichtet zur Zusammenarbeit mit dem Marabout, denn er stärkt ihnen den Rücken, betet für sie. Gadiaga und Diagne beziehen sich stets auf den Marabout, sie können keine Entscheidungen treffen, ohne seinen Segen einzuholen. Sie brauchen die spirituelle Unterstützung. Aber die Marabouts intervenieren nicht in die tägliche Arbeit.“ Mit Bauernschläue und Gebeten haben sich Gadiaga und Diagne ihre Stellung auf dem Sandaga-Markt erarbeitet. Die Büroarbeit delegieren sie indes an ihre eloquenten und gut ausgebildeten Verwandten – Lamine Fall ist ein Halbbruder von Oumar Gadiaga, was ihn nicht davon abhält, dessen Schwächen zu benennen: „Die Vertriebshändler haben keine Schulbildung, sie wollen nicht investieren, ein tragfähiges Vertriebsnetz aufbauen. Das interessiert sie nicht. Wenn sie 10.000 Stück von einer Kassette verkaufen, sind sie zufrieden.“ Das Desinteresse liegt auch daran, dass es keine Händler gibt, die auf Musikvertrieb spezialisiert wären. Für Talla Diagne etwa sind Kassetten nur ein Produkt neben Teppichen und Turnschuhen. Lamine Fall ist deshalb überzeugt: „Es wäre sehr leicht für einen neuen Distributeur, sich zu etablieren, weil sie nicht daran arbeiten, ihre Stellung zu festigen.“ Die Erfahrungen des deutschen Produzenten Steven Töteberg sehen anders aus. Mit seinen Bemühungen, einen eigenen Vertrieb aufzubauen, ist 408 Senegal Michael Lohse er gescheitert. Um seine Kassetten überhaupt auf dem Markt unterzubringen, arbeitet er mittlerweile gezwungenermaßen mit Gadiaga und Diagne zusammen: „Von dem ganzen Verkaufsmarkt lässt man am besten schnell wieder die Finger. Du kannst nichts kontrollieren, wirst sabotiert. Schwierig für Musiker ist eben, dass die Afrikaner zwar den ganzen Tag Musik hören, aber dass sie nicht bereit sind, Geld dafür auszugeben. Eine Kassette kostet 1.000 CFA und damit kannst du natürlich kein gutes Studio finanzieren, damit kannst du im Grunde gar nichts finanzieren.“ Die Kassettenpreise sind knallhart kalkuliert, noch einmal verschärft, seit 1994 der an den Euro gebundene Franc CFA um die Hälfte abgewertet wurde. Von dem Gesamtpreis entfallen allein 450 Francs auf die Vervielfältigung. 110 Francs gehen ans Büro für Autorenrechte. Der Handel behält nochmals 100 Franc. Der Produzent bekommt auch noch seinen Teil. So bleiben für den Künstler zwischen 200 und 300 Francs - nur von den regulär verkauften Kassetten wohlgemerkt. Hinzu kommen nur noch die Lizenzzahlungen des BSDA. Selbst ein Künstler wie Omar Pène, dessen aktuelles Album 60.000mal verkauft wurde, verdient also selten über 20.000 Euro an einer Kassette. Und mehr als ein Album pro Jahr ist in der Regel nicht drin. Die geringe Kaufkraft, aber auch eine ausgeprägte Boykottmentalität gegen Ausländer schrecken potentielle Investoren ab. Kein Wunder, wenn Paul Antoine Decraene erklärt: „Der hiesige Musikmarkt ist für Ausländer äußerst kompliziert. Die französischen Plattenfirmen überlassen ihren Künstlern gleich von sich aus die Rechte für Afrika. Die wissen genau, dass ihnen die nichts einbringen würden.“ So wird sich wohl so schnell nichts ändern an der Monopolstellung von Diagne und Gadiaga. Zumal beide längst auch in einer Doppelrolle als Produzent und Distributeur agieren. Im Prinzip sind beide Funktionen im senegalesischen Musikgeschäft klar voneinander getrennt: Der Produzent ist die Schlüsselfigur. Er engagiert die Musiker und bezahlt sie nach getaner Arbeit. Er mietet das Studio und beschafft die Leerkassetten fürs Kopierwerk. Und er lässt die Einlageblätter für die Kassetten („Jaquette“) drucken. Er trägt das volle Risiko, dafür behält er nach der Aufnahme das Masterband – und damit alle Rechte. Der Distributeur kümmert sich anschließend um Werbung und Verkauf. Wer wie Talla Diagne beide Funktionen vereint, kontrolliert also gleichzeitig den Vertrieb und besitzt die Rechte eines riesigen Werkbestands bekannter senegalesischer Künstler, der für den internationalen Markt weitgehend blockiert ist. Die Künstler versuchen vergeblich, an ihre Masterbänder heranzukommen. 409 Michael Lohse Senegal 6.4 Urheberrecht Unbefriedigend ist die Einnahmesituation für senegalesische Musiker auch wegen des hoffnungslos veralteten Urheberrecht-Gesetzes von 1963. Es kennt noch keine Leistungsschutzrechte für öffentliche Aufführungen und Ausstrahlung in den Medien. So weigerten sich die Privatradios nach ihrer Gründung jahrelang, irgendetwas für die pausenlos gespielte Musik zu zahlen – mit der Begründung, ihre Gegenleistung bestehe bereits in der Promotion für die Musiker. Inzwischen zahlen sie 4,5 Prozent ihres Budgets, erstellen aber keine exakten Playlists, nach denen die Einnahmen an die Künstler verteilt werden könnten. Die Zahlungsmoral ist zudem gering, denn für den RTS gilt eine Sonderregelung. Der Staatssender mit seinen 13 Kanälen ist schon mit einer jährlichen Zahlung von 25 Mio. Francs CFA dabei - wogegen die ebenfalls staatliche Aufsichtsbehörde BSDA natürlich keine Einwände hat. Der Verbleib der vom Staat erhobenen Lizenzgebühren ist ohnehin alles andere als transparent. Aziz Dieng: „Staatliche Einrichtungen sollen private Interessen durchsetzen – das ist ein Widerspruch in sich.“ Die Musikergewerkschaft AMS fordert deshalb, das BSDA in eine unabhängige Verwertungsgesellschaft umzuwandeln, die von den Rechteinhabern kontrolliert wird, um Interessenkonflikte auszuschließen. Immerhin wurde der AMS-Vorsitzende Dieng im vergangenen Jahr zum Aufsichtsratsvorsitz enden des BSDA ernannt, so dass erstmals eine Bilanz kontrolliert werden konnte – und nicht genehmigt wurde. Ein erster Erfolg für die 1999 gegründete Gewerkschaft, die mittlerweile 1500 Mitglieder hat. 5.6 Weltbankprojekt Unterstützt wird der Reformprozeß auch durch die Weltbank. Seit vier Jahren arbeitet sie an einem Projekt, das auf Musik als Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika setzt. Der Senegal wurde dafür wegen seiner kulturellen Dynamik und politischen Stabilität als Pilotland ausgewählt. Aziz Dieng erklärt dazu: „Die Weltbank hat begriffen: Wenn man der Kultur hilft, so wie man traditionelle Wirtschaftszweige unterstützt, kann man Reichtümer schaffen.“ Konkret geht es um die Schulung von Musikern in Urheberrecht und Management. Außerdem sollen kleine Tonstudios und Plattenfirmen gefördert werden, und die Weltbank will ein Presswerk und einen Instrumentenmietservice finanzieren. Partner für die Umsetzung der Entwicklungsprojekte ist die AMS. Die Gewerkschaft will jetzt dafür sorgen, dass die vielen Kreativen nicht länger leer ausgehen. Im Zentrum der Bemühungen steht 410 Senegal Michael Lohse eine Reform des Gesetzes über Urheber- und Leistungsschutzrechte. „Dabei geht es um die Bedeutung des geistigen Eigentums – sowohl wirtschaftlich als auch künstlerisch“, so Dieng. Die deutsche Urheberrechtsexpertin Sibylle Schlatter vom Max-PlanckInstitut hat für die Weltbank die Mängel der senegalesischen Rechtslage aufgedeckt. So kennt das geltende Gesetz weder Leistungsschutzrechte noch Ansprüche für private Kopien oder Internet-Downloads. Außerdem wird Piraterie kaum ernsthaft bestraft. Die senegalesische Regierung hat zwar grundsätzliche Bereitschaft zu einer Gesetzesnovelle signalisiert, eilig scheint sie es damit jedoch nicht zu haben. 7. Fazit Was kann Musik im Senegal zum Kampf gegen die Armut beitragen, fragte ich eingangs. Die Antwort fällt viel eindeutiger aus, als ich gedacht hätte: Die Musik ist bereits ein ganz wesentlicher Entwicklungsfaktor, und das Potential scheint bei weitem nicht ausgeschöpft. Die überwältigende Mehrheit der senegalesischen Musiker lebt im Senegal. Das gilt auch für die Stars, die ins Exil gehen könnten. Sie reisen viel, aber sie ziehen die Geborgenheit des heimischen Clans dem Leben im Exil vor. Davon profitiert das Land gleich in mehrfacher Hinsicht: Einmal investieren sie ihr Geld im Senegal in Studios, Discotheken, Plattenfirmen und Organisationsstrukturen. Die Musik schafft von allen Kulturzweigen mit Abstand die meisten Arbeitsplätze. Dann aber verstehen sie sich als Botschafter für den Senegal und seine Musik. Die Stars transportieren so international ein werbewirksames Image für den Tourismus. Im Land genießen sie eine schichtenübergreifende Bewunderung als Repräsentanten der eigenen Kultur und tragen viel dazu bei, dass im Senegal, anders als in den meisten afrikanischen Ländern, ein nationales Bewusstsein ausgeprägt ist. Noch mehr zur sozialen Stabilität trägt der Rap bei. Die Rapper kritisieren die politischen Zustände, aber ihre Grundeinstellung ist positiv. Sie suchen nach Lösungen für ihre Gesellschaft und wollen Hoffnung geben. Ihre Power beziehen sie aus einem Islam, der keine fundamentalistischen Züge trägt, sondern einen moralischen Gegenentwurf zur korrupten Gesellschaft symbolisiert. Die Musik ist im Senegal keine verzichtbare Zutat, sondern ein geistiges Grundnahrungsmittel. Das hat handfeste wirtschaftliche Auswirkungen: Die heimische Musikproduktion hat einen Marktanteil von 90 Prozent. Die Kassettenumsätze sind für senegalesische Verhältnisse bereits beachtlich 411 Michael Lohse Senegal und ließen sich leicht noch wesentlich steigern. Voraussetzung wäre ein professioneller Vertrieb auch auf dem Land und in den Nachbarstaaten. Allerdings werden die Kreativen nicht angemessen am Gewinn beteiligt. Die Gesetzeslage ist ungenügend, und viele Musiker kennen nicht einmal die bestehenden Rechte. In den letzten Jahren hat sich jedoch viel getan. Es gab Fortschritte beim Kampf gegen Raubkopien. Und mit der Gewerkschaft AMS hat sich eine äußerst wirksame Interessensvertretung formiert, finanziell unterstützt von der „Fondation Youssou Ndour“. Die AMS arbeitet zusammen mit der Weltbank an einer Reform des Urheberrechts und fördert die Professionalisierung der Musiker in den Bereichen Management und Technik. Im Gegensatz zur senegalesischen Regierung hat die Gewerkschaft das enorme wirtschaftliche Potential erkannt, das in der ebenso produktiven wie innovativen Musikszene schlummert. Dem Plädoyer des engagierten AMS-Vorsitzenden Aziz Dieng ist nichts hinzuzufügen: „Unsere Politiker müssen endlich begreifen, welche Chancen die Kultur für ein Entwicklungsland wie den Senegal bietet, das nicht über Bodenschätze verfügt. Die musikalische Kreativität ist ein wichtiger Rohstoff, unendlich und – anders als Diamanten und Elfenbein - kein Auslöser für Kriege.“ 8. Dank Mein besonderer Dank gilt Samba Sow, Robert Ndiaye, Khady Faye, Lamine Fall, Aziz Dieng, Luc Mayitoukou, Fallou Dieng, Coumba Gawlo, Suleymane Faye, Xuman, Didier Awadi, Shaka Babs, Daara J, Paul Antoine Decraene, Cheikh Tidiane Niane, Steven Töteberg, Sandro Winkler, Jay Rutledge sowie Ute Maria Kilian und der Heinz-Kühn-Stiftung. 412 Hyacinthe Ouingnon aus Benin Stipendien-Aufenthalt in Nordrhein-Westfalen 01. Juli bis 29. Dezember 2003 413 Nordrhein-Westfalen Hyacinthe Ouingnon Eine Erfahrung in Deutschland Von Hyacinthe Ouingnon Nordrhein-Westfalen vom 01.07. – 29.12.2003 415 Nordrhein-Westfalen Hyacinthe Ouingnon Inhalt 1. Zur Person 418 2. Mein Land 419 3. Jetzt erzähle ich etwas von mir... 421 4. Düsseldorf, Goethe und mein Deutschkurs 423 5. Die Ausflüge nach Dresden, Straßburg, Schwarzwald und Weimar 425 6. Bonn und mein Praktikum 429 7. Danksagung 430 417 Hyacinthe Ouingnon Nordrhein-Westfalen 1. Zur Person Geboren bin ich am 11. September 1974 in Porto-Novo. Mit 6 Jahren habe ich das Gymnasium angefangen. 1994 habe ich mich an der Universität eingeschrieben und zwei Fächer studiert: Literatur und Philosophie. Vier Jahre später habe ich den Hochschulabschluss gemacht und bin Lehrer geworden. Aber ich wollte gerne auch Journalist sein. Leider gab es keine Journalistenschule als ich an der Universität war. Zur damaligen Zeit konnte man in Benin nicht Journalismus studieren. Wenn man Journalismus studieren wollte, musste man in den Senegal oder nach Europa fliegen. Ich hatte nicht die Möglichkeit das zu machen. Es gab allerdings an der Universität eine Studentenzeitung, die „Le Herauf“ hieß. Und weil ich verrückt nach der Feder war, habe ich mich bei der Studentenzeitung eingeschrieben. Ich wollte nur lernen wie man schreiben kann. Weiter nichts. Von 1994 bis 1998 habe ich dann als Reporter bei dieser Zeitung gearbeitet und gleichzeitig viel gelernt. Das war für mich eine sehr gute Erfahrung. Im Jahr 1997 wurde ich von den Studenten zum Zeitungsdirektor gewählt. Das war für mich unglaublich, aber ich habe mein Möglichstes getan. Im Jahr 1998 habe ich eine Arbeitsmöglichkeit bei einer große Privatzeitung (Les Echos du Jour) gehabt. Seitdem habe ich bei vier weiteren Zeitungen gearbeitet und meine journalistischen Kenntnisse erweitert. Zwischen 1998 und 2000 habe ich an vielen Seminaren über Presse und Medien teilgenommen und dabei viel gelernt, was mir in meinem Beruf helfen kann. Im September 1998 trat ich der Vereinigung für Journalisten (Union des Journalistes de la Presse privee du Benin) bei. Zwei Jahre später würde ich dort zum Journalistensprecher gewählt. Weil ich der Meinung bin, dass Journalisten viel im Kampf gegen AIDS tun können, bin ich auch der Vereinigung von Journalisten gegen AIDS (Reseau des Journalistes beninois pour la lutte contre le SIDA) beigetreten. Um etwas gegen diese Geißel der Menschheit zu machen, habe ich viel über AIDS geschrieben und zwei Preise gewonnen. Übrigens: seit dem Jahr 2000 arbeite ich auch als Literatur- und Philosophielehrer. Mittlerweile habe ich auch mit meiner Doktorarbeit angefangen. Ich möchte über Albert Camus, Jean-Paul Sartre und André Malraux promovieren und eine Arbeit über den französischen Existentialismus schreiben. Niemand kann in die Zukunft sehen, aber ich bemühe mich darum, meinen Verstand zu gebrauchen und gute Kenntnisse zu bekommen, die mir eine gute Lebenserfahrung geben werden. 418 Nordrhein-Westfalen Hyacinthe Ouingnon 2. Mein Land Ich komme aus Benin, einem sonnigen Land. Benin liegt in Westafrika zwischen Nigeria und Togo. Das Land ist circa 112.600 km2 groß und hat verschiedene Landschaften. Im Süden gibt es Wald, Ebenen und Täler. Im Landesinneren gibt es Hügel, Flüsse und Bäche, und im Norden kann man viele Hochgebirge sehen. Dort gibt es mehrere Landschaftsschutzgebiete, wo man auch Wildtiere, z.B. Elefanten, Löwen und Antilopen sehen kann. Die Wirtschaft Benins hängt noch hauptsächlich von der Landwirtschaft ab, weil Benin ein Entwicklungsland ist. Deshalb gibt es noch viel zu tun, zum Beispiel Autobahnen, Krankenhäuser und Schulen müssen gebaut werden. Zwar gibt es schon eine Straßeninfrastruktur, aber sie muss noch verbessert werden. Benin exportiert viele Produkte, besonders Ananas, Baumwolle, Garnelen und Fisch. Benin hat eine vielfältige Kultur. Es gibt mehr als einhundert Ethnien die friedlich zusammen wohnen. Die meisten Beniner wohnen auf dem Land, aber immer mehr Leute wohnen auch in den größeren Städten, wie Cotonou, Porto-Novo oder Parakou. Jede Ethnie spricht ihre eigene Sprache, z. B. Fon, Mina, Yoruba oder Dendi. Obwohl, oder besser gesagt: gerade weil es mehr als 50 verschiedene Sprachen und Dialekte gibt, ist Französisch unsere Arbeitssprache. Einst war Benin eine Französische Kolonie. Im Jahr 1960 erlangte es seine Unabhängigkeit. Die Geschichte von Benin ist nicht kompliziert, jedenfalls nicht so kompliziert wie die Deutsche Geschichte. Nach der Unabhängigkeit von Benin gab es zunächst eine Zeit der Unsicherheit mit vielen Staatsstreichen. Schließlich kam Herr Mathieu Kerekou nach einem Staatsstreich im Jahr 1972 an die Macht. Er errichtete eine neue Ideologie: den Marxismus-Leninismus. Der Anfang der Zeit des Marxismus-Leninismus war gut. Die Leute verließen sich auf die neue Regierungsform und arbeiteten viel, um ihr Land aufzubauen. Das war eine Zeit der Hoffnung. Aber schnell gab es Diktatur und Korruption. Fünfzehn Jahre später war alles kaputt. Die Regierung konnte nicht einmal mehr die Gehälter ihrer Beamten bezahlen. Die Lebensbedingungen wurden jeden Tag schlechter. Dann kam der Aufruhr. Die Leute revoltierten gegen die schlechten Lebensbedingungen, besonders die Studenten. Das war eine schwere Zeit in der Geschichte Benins. Um eine Lösung zu finden, berief die Regierung im Februar 1990 eine Nationalversammlung ein. Alle repräsentativen Vertreter aus Politik, Gesellschaft und Kirche nahmen an dieser Konferenz teil. Die Hauptentscheidung dieser Nationalversammlung war, dass die Konferenz- 419 Hyacinthe Ouingnon Nordrhein-Westfalen teilnehmer beschlossen, den Marxismus-Leninismus als Staatsform aufzugeben und eine Demokratie aufzubauen. Daher ist Benin seit 1990 ein demokratisches Land mit einer neuen Verfassung und den verfassungsgebenden Organen. Alle fünf Jahre wählen die Staatsbürger einen Präsidenten. Der Übergang vom marxistisch-leninistischen zum demokratischen Regierungssystem verlief friedlich, und das ist so geblieben. Bis heute gibt es keinen Krieg, nicht einmal Unruhen in Benin. Natürlich kommt es gelegentlich zu Spannungen, vor allem in der Zeit des Wahlkampfes und der Wahlen. Aber ich denke, das ist normal. Die Demokratie ist nicht einfach und man muss jeden Tag dafür kämpfen, um sie zu verbessern. Seit der Unabhängigkeit des Landes ist Porto-Novo die Hauptstadt von Benin. Sie hat ungefähr 300.000 Einwohner. Es ist eine Stadt, die eine gute Atmosphäre hat. Es lässt sich gut dort leben, es gibt keine Umweltverschmutzung und das Leben verläuft ruhig und gemächlich. Die größte Stadt des Landes ist Cotonou mit ca. 1 Mio. Einwohner. Die meisten Ministerien, Niederlassungen großer Firmen und wichtige Wirtschaftsinstitutionen sind fast alle in Cotonou. Nur der Bundestag befindet sich in Porto-Novo. „Warum ist das so?“ kann man fragen. Die Erklärung ist ganz einfach: Cotonou ist die größte Stadt von Benin und liegt zudem an der Küste. Auch gibt es hier viele Strände. Jedes Wochenende fahren die Leute dorthin um frische Luft zu haben und um sich zu entspannen. Sie baden gerne im Meer, machen Musik am Strand und essen gemeinsam. Während es in den Vororten Cotonous eher ruhig zugeht, herrscht im Stadtzentrum viel Aktivität und Betriebsamkeit. Die meisten Menschen wohnen im Gegensatz zu den kleineren Städten in Cotonou in einem Mehrfamilienhaus. Man kann sagen: In Cotonou ist immer etwas los, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. In der Nähe des Stadtzentrums liegt Benins größter Markt der Dantokpa heißt. Seit dem Jahr 1974 hat die Stadt auch eine große Universität, an der heute ca. 20.000 Studenten eingeschrieben sind. Die Universität (Universite d‘Abomey Calavi) hat einen guten Ruf in Westafrika. Viele Studenten aus dem Kongo, aus Kamerun, Cote d‘lvoire, Togo, Niger oder dem Tschad kommen hierhin um zu studieren. Auch das Stadtzentrum ist mittlerweile sehr attraktiv und reizvoll geworden. Dort gibt es die besten Cafes, Bars, Diskotheken und Restaurants. Und natürlich gehen die Stadtmenschen leidenschaftlich gerne ins Kino. Ein weiterer Vorteil ist, dass man hier besser eine gute Arbeit finden kann, weil es viele Aktivitäten und Möglichkeit gibt um Geld zu verdienen. Ein Nachteil ist, dass es viele alte Autos gibt und so wenig öffentliche Verkehrsmittel. Die Konsequenz aus dieser Lage ist die Luftverschmutzung. 420 Nordrhein-Westfalen Hyacinthe Ouingnon Trotzdem wollen alle Leute in Cotonou bleiben. Jedes Jahr kommen immer mehr Ausländer und junge Leute aus den Dörfern in die Stadt, um eine Arbeit zu finden. Leider, nur wenige haben Erfolg. Benin hat auch andere Städte, wie Bohicon, Savalou, Kandi, Natitingou. Auch dort kann man gut leben. Aber bezüglich der Entwicklungen dieser Städte gibt es große Unterschiede. Um diese Lage zu korrigieren, hat die Regierung sich für eine neue Entwicklungspolitik, die so genannte Dezen tralisierungspolitik, entschieden. Man kann sagen, diese Entwicklung hat in Benin begonnen und wird mittlerweile von fast allen anderen westafrikanischen Staaten ebenfalls praktiziert. Inhaltlich bedeutet diese Politik, dass von jetzt an die Entwicklung von der Bevölkerung selber abhängt, oder anders gesagt, die Bevölkerung darf viel mehr selber entscheiden, wie sie leben möchte. Deutschland hat eine wichtige Rolle gespielt, um die Dezentralisation in Benin zu entwickeln. Zum Beispiel hat Deutschland den Prozess der Dezentralisierung mit vielfältigen Projekten unterstützt und umfangreiche Maßnahmen finanziert. In diesem Kontext spielen der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) und die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (gtz) sowie mehrere unterschiedliche politische Stiftungen eine wichtige Rolle. Es gibt noch viel zu tun, aber mit dieser Dezentralisierung verbinden die Menschen eine große Hoffnung um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Man kann es zusammenfassen: Die Dezentralisierung ist für die Bevölkerungen lebenswichtig. Benin entwickelt sich zunehmend zu einem Touristenland. Noch gilt es als Geheimtipp, doch die Zahl der Touristen, die aus Europa oder Amerika kommen, steigt kontinuierlich Jahr für Jahr an. In der Tat gibt es in meinem Land viel zu sehen und zu lernen. Außerdem: Die Lebenshaltungskosten sind niedrig, die Menschen sehr herzlich, nett und gastfreundlich und es ist niemals langweilig. 3. Jetzt erzähle ich etwas von mir Wie habe ich das Stipendium bekommen? Ich hatte gehört, dass es in Deutschland eine Stiftung gibt, die Journalisten ein Stipendium gewährt in der Absicht, ihnen dabei zu helfen ihre journalistische Erfahrung zu erweitern und gleichzeitig die Gelegenheit bietet, Deutschland kennen zulernen. Ich hatte auch gehört, dass diese Stiftung Heinz-Kühn-Stiftung heißt und sie zu Nordrhein-Westfalen gehört. Da dachte ich mir, es wäre gut, wenn ich mich um ein solches Stipendium bemühen 421 Hyacinthe Ouingnon Nordrhein-Westfalen würde. Im November 2002 reichte ich meine Bewerbung ein. Zunächst hatte ich wenig Hoffung, umso mehr, als ich niemanden in dieser Stiftung kannte. Kurze Zeit später erhielt ich eine Mail von Frau Kilian, die mir schrieb, dass ich bis März warten müsse, bis über die Vergabe der Stipendien entschieden sei. Anfang April war ich dann im Cyber-Cafe um meine Mails zu lesen. Zufällig war da gerade auch die Nachricht von der Heinz-Kühn-Stiftung angekommen. Ich hatte ein Stipendium erhalten. Für mich war es zunächst unglaublich. „Wie ist das möglich?“, fragte ich mich. Ich war wirklich überrascht und den ganzen Tag stellte ich mir vor, dass ich schon bald nach Deutschland fliegen würde. Ich wusste, dass das Stipendium für mich eine Möglichkeit ist, um Europa zu entdecken und besonders um Deutschland kennen zulernen und auch um meine Deutschkenntnisse zu verbessern. Allerdings wusste ich wenig über Deutschland. Ich hatte in der Schule ein paar Informationen über das Land durch den Geschichtsunterricht erhalten. Ich hatte dort etwas über die Rolle von Deutschland während des zweiten Weltkrieges gelernt und warum das Land nach dem Krieg geteilt worden war. Da ich Philosophie studiert habe, kannte ich einige deutsche Philosophen wie Kant, Marx, Feuerbach, Nietzsche, Schopenhauer, Jaspers und Hegel. Natürlich wusste ich auch, dass Deutsche gut Fußball spielen und sehr sportliche Menschen sind. Und ich hatte gehört, dass die Deutschen sehr stolz, anspruchsvoll und fleißig sind. Nun wollte ich wissen, ob meine theoretischen Kenntnisse mit der Wirklichkeit übereinstimmen würden. Das Stipendium bot mir nun die Chance meine eigenen Erfahrungen zu machen. Deutschland ist sehr gegenwärtig in Benin. Es gibt viele Stiftungen, die in verschiedenen Gebieten arbeiten. Zum Beispiel hat die FriedrichEbert-Stiftung Benin im Bereich des Journalismus viel geholfen. Sie hat zahlreiche Journalistenseminare und Publikationen finanziert. Auch die Konrad-Adenauer-Stiftung hat in Benin viel getan. Diese Stiftung hat zahlreiche Projekte finanziert, um die Demokratie stark zu machen. Überall in Benin vergisst niemand, was der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) in den Dörfern geleistet hat. Und wenn man die Bilanz der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (gtz) in Benin zieht, ist man wirklich zufrieden und dankbar. In Benin gibt es auch viele Studenten, die dank des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Deutschland studieren konnten. Kurz und gut: ich wusste schon, dass Deutschland ein sehr wichtiges Land ist. Soviel ich weiß, ist Deutschland auch sehr wichtig für die europäische Einheit. 422 Nordrhein-Westfalen Hyacinthe Ouingnon Die Vorbereitung meiner Reise war ganz leicht. Ich bekam das Visum bei der Deutschen Botschaft in Benin ohne Unannehmlichkeiten, weil die Heinz-Kühn-Stiftung mir eine offizielle Einladung und das Flugticket schon früh zusandte. So bin ich in Deutschland am 1. Juli angekommen und habe die nächsten vier Monate in der Landeshauptstadt Düsseldorf verbracht. 4. Düsseldorf, Goethe und mein Deutschkurs In Düsseldorf, habe ich den Reiz des Neuen erlebt. Ich wohnte in der Luisenstraße 7 in einem hellen, freundlichen, bequemen und schicken Appartement mit Blick auf die Straßen der Innenstadt. Meine erste Nacht war gewöhnungsbedürftig. Der Tag war schön gewesen, weil die Sonne geschienen hatte, aber als ich um 22 Uhr ins Bett ging, konnte ich nicht schlafen. Ich sah aus dem Fenster und bemerkte, dass es immer noch sonnig war. Unglaublich! Ich konnte das nicht verstehen. Warum ist das so? Bei mir in Benin ist es schon um 19 Uhr dunkel und man geht früh zu Bett. Am nächsten Morgen habe ich auch bemerkt, das der Sonnenaufgang früher ist. Welche Erklärung gibt es dafür? Am folgenden Tag fragte ich einen Nachbarn danach. „Wir sind jetzt im Sommer und normalerweise ist das Wetter immer so“, sagte er. „Ach so!“ war meine Antwort. Das Wetter war also meine erste Überraschung in Deutschland. Der Sommer war wirklich sehr heiß, aber das kannte ich ja schon von Zuhause. Insgesamt machte mir das Eingewöhnen keine Probleme. Zuerst war es allerdings ein bisschen schwierig mich zu orientieren, In Deutschland ist das Orientierungssystem ganz anders als in meiner Heimat. Mit den Straßenbahnen muss man immer aufpassen. Und bevor man die Straßenbahn, den Bus oder Zug nimmt, muss man sich genau überlegen, in welche Richtung man fahren möchte. In diesem Zusammenhang habe ich mich zweimal verfahren, weil ich die falsche Straßenbahn genommen hatte. Mehrmals habe ich Freunden von diesem Erlebnis erzählt und jedes Mal haben wir viel darüber gelacht. Aber kurz danach war ich ortskundig und dann bin ich mehrmals in die Düsseldorfer Altstadt gelaufen. Bei diesem schönen Sommer sollte man die frische Luft am Rhein und Ice-cream genießen. Der Sommer war lebensvoll und herzlich Die Deutschen fanden ihn außergewöhnlich heiß, weil es normalerweise im Sommer häufiger regnet und die Temperaturen nicht ganz so hoch sind. Aber in diesem Jahr gab es keinen Regen. Um Spaß zu machen, sagte ich immer „Das Wetter ist so, weil ich in Deutschland bin.“ Meine zweite Überraschung war, dass sich die Leute hier überall küssen: auf der Straße, in der Straßenbahn und im Zug. Das stand nicht im Einklang 423 Hyacinthe Ouingnon Nordrhein-Westfalen mit dem Verständnis meiner Kultur. In Benin gilt das als unhöflich, aber hier ist es normal. Die Welt ist so, mit vielen unterschiedlichen Kulturen. Das ist eine Tatsache. Deshalb muss man geduldig, tolerant und offen sein. Meine dritte Überraschung war, dass die Leute immer schnell laufen, als ob sie verfolgt würden. Endlich hatte ich alles verstanden: die Verkehrsmittel sind sehr geregelt und man muss sich beeilen, um die Straßenbahn oder den Zug nicht zu verpassen. Einmal wollte ich nach Saarbrücken fahren. Aber ich musste auf den folgenden Tag warten, weil ich meinen Zug verpasst hatte. Meine Deutsche Sprache ist noch nicht gut. Deshalb wollte ich sie gerne noch weiter verbessern, und ich wußte auch, dass ich dazu viel tun muss. Beim Goethe-Institut hatte ich eine gute Möglichkeit, um meinem Ziel näher zu kommen. Ich tat mein Möglichstes, um die deutsche Grammatik zu begreifen und um einen guten Wortschatz zu bekommen Im großen und ganzen habe ich viel gelernt Die Bedingungen waren einwandfrei. In der Bibliothek konnte man verschiedene Bücher lesen oder sich ausleihen. Bücher über Grammatik, Verben, Deklinationen, Präpositionen, es gab alles Mögliche. Man konnte Texte hören und Phonetikübungen machen. Es gab auch Praktikanten, die den Studenten bei ihren Hausaufgaben halfen. Unter solchen Bedingungen kann man schnell lernen. Ich bedanke mich herzlich bei meinen Lehrern. Ohne sie hätte ich mein Deutsch nicht verbessern können. Ich habe viel Glück gehabt. Während der gesamten vier Monate habe ich pünktliche, nette, herzliche und fleißige Lehrer gehabt. Sie haben mir immer geholfen und mich ermutigt. In meinem letzten Kurs hat mir meine Lehrerin einen guten Ratschlag gegeben. Zu Anfang des Kurses hatte ich ihr gesagt, dass ich besonders intensiv meinen Wortschatz verbessern, Dialoge hören, sprechen und schreiben möchte. Sie empfahl mir einige Bücher um meine Phonetik zu verbessern und sie riet mir: „Besprechen Sie bitte mit mir, welche Laute Sie besonders üben müssen. Leihen Sie sich Bücher und Kassetten aus, hören Sie sie zu Hause und sprechen Sie laut. Üben Sie die Laute, die Ihnen noch Schwierigkeiten machen. Bitten Sie die Praktikantinnen um Hilfe“. Immer auch war das Goethe-Institut ein Kulturtreffpunkt. Wie man weiß, kommen Goethe- Studenten aus verschiedenen Ländern der ganzen Welt. Ich habe mit Japanern, Chinesen, Spaniern, Amerikanern, Franzosen, Afrikanern, Türken, Indern, Italienern und Russen studiert und gelernt und wir haben uns dabei auch persönlich kennen gelernt. Man kann sagen, dass das Goethe-Institut für den Kulturdialog kämpft und das ist gut für die Ruhe in der Welt. Ich habe verschiedene Vergleiche angestellt. Zum Beispiel habe ich bemerkt, dass die menschlichen Begrüßungsrituale auf der ganzen Welt recht 424 Nordrhein-Westfalen Hyacinthe Ouingnon unterschiedlich sind. In vielen westlichen Ländern schüttelt man sich die Hand. In Asien legt man beide Hände vor der Brust zusammen. In ostasiatischen Ländern begrüßt man sich mit einer Verbeugung. In Südamerika umarmt man sich. In arabischen Ländern bewegt man seine rechte Hand vom Herzen über die Stirn nach oben und grüßt. In Deutschland habe ich bemerkt, dass man die Hand des Gegenübers mit einem Augenkontakt verbinden sollte. In Japan, Korea und Afrika ist das anders. Man blickt sich nicht in die Augen. Das gilt als unhöflich und respektlos. Zum Beispiel blicken die jungen Menschen den älteren Leuten nicht in die Augen. Und wenn ein Kind mit seinen Eltern spricht, muss es seine Augen senken. Von nun an kann ich die andere Kultur besser verstehen. Ich habe jetzt viele Freunde in der ganzen Welt und das freut mich. Ich erinnere mich an einen wichtigen Treffpunkt: den Stammtisch. Jeden Donnerstag trafen sich dort die Goethe-Studenten. Wir unterhielten uns miteinander, tranken ein Bier und am Ende gingen wir zusammen in die Diskothek. Die Studenten reden am Stammtisch vielleicht nur über das Wetter, aber dieser Stammtisch ist für die Studenten der Grundstufe eine gute Möglichkeit um Deutsch zu sprechen. Deshalb war ich fast jeden Donnerstag beim Stammtisch und ich habe immer eine prächtige Zeit verbracht. Übrigens habe ich dorthin sehr oft mein Wörterbuch mitgebracht und musste auch immer wieder hineinschauen. Mein erster Stammtisch war sehr lustig. Ich war normalerweise in der Grundstufe, aber zufällig saß ich mit Mittelstufe- Studenten um einen Tisch. Mein Deutsch war schlecht und ich konnte die anderen kaum verstehen. Und jedes Mal wenn jemand etwas sagte, fragte ich nach den Worten und schaute in mein Wörterbuch. Das war lustig und meine Nachbarn haben viel gelacht. Aber ich wusste schon aus Erfahrung, dass man ohne Praxis nicht schnell lernen kann. Auf jeden Fall habe ich jedes Mal beim Stammtisch viel gelernt und die Atmosphäre hat mir immer gefallen. In Düsseldorf erinnere ich mich auch an das Heinrich Heine- und das Goethe-Museum, den Turm, die Parks und den Hauptbahnhof, der immer voller Leute und belebt war. Ich habe auch bemerkt, dass es in der Landeshauptstadt viele Ausländer gibt, insbesondere viele, die aus Afrika kommen. 5. Die Ausflüge nach Dresden, Straßburg, Schwarzwald und Weimar Ich habe vier Ausflüge gemacht. Ich bin nach Dresden, in den Schwarzwald und nach Weimar gefahren. Durch diese Ausflüge habe ich viel über Deutschland gelernt und meine Kenntnisse über die europäische Einheit verbessert. 425 Hyacinthe Ouingnon Nordrhein-Westfalen Im August habe ich mit anderen Studenten des Goethe-Institutes einen Ausflug nach Dresden gemacht. Ich hatte schon über Dresden gehört, als wir in der Schule im Geschichtsunterricht über den Zweiten Weltkrieg sprachen. Die Reise war zwar lang, aber trotzdem hat es mich gefreut, daran teilzunehmen. Im vergangenen Jahr war die ganze Stadt unter Wasser, weil es viel geregnet und ein Hochwasser gegeben hatte. Ich habe besonders die Kriegsgeschichte wieder gehört und Fotos gesehen, wie sehr Dresden zerstört war. Wenn man an die Kriegerwitwen, die Kriegstoten, die Kriegsbeschädigten denkt, wird man traurig. Ich habe auch bemerkt, dass viele Touristen nach Dresden kommen. Es gibt in der Tat ja auch viel zu sehen. Im Albertinum-Museum und im Zwinger gibt es schöne Sachen zu bewundern: Juwelengarnituren aus Brillanten, Smaragden, Saphiren, Porzellansammlungen und reiche Medaillensammlungen der Barockzeit. In der Galerie der Neuen Meister lernt man viel über Deutschlands Kunstgeschichte. Man sieht bewundernswerte Originalskulpturen, Antikensammlungen und Goldkunst, Steinschnitte und Bronzestatuen der Renaissance. Im Mathematisch-Physikalischen Salon sieht man ein Spezialmuseum für Uhren und wissenschaftliche Instrumente aus dem 16. bis 19. Jahrhundert. Da entstehen im Kopf viele Fragen über Kunst und Menschengeschichte. Bei diesem schönen Sommer war mein Ausflug mit den anderen HeinzKühn-Stipendiaten nach Straßburg wunderbar. Straßburg ist meiner Meinung nach eine lebenslustige Stadt mit einer bewundernswerten Geschichte. Ich erinnere mich noch an die berühmte Kathedrale „Notre Dame“, die mehr als hundert Jahre alt ist. Ich erinnere mich auch an seine Geschichte und an die schönen Dekorationen auf der Mauer. Man kann nicht die astronomische Uhr vergessen und auch die alten Gebäude, umgeben mit Blumen, die Festungen, die Bootsfahrt auf der Ill quer durch die Stadt. Ich war nie in Frankreich, aber durch Straßburg habe ich etwas über das Land gelernt. Dazu war ich im Europäischen Parlament. Ein wunderschönes Gebäude, wo ich viele Erklärungen zum Thema der Europäischen Einheit bekam, wie die Institutionen funktionieren, welche Probleme sie haben und warum die europäische Einheit wichtig ist. Diese Informationen helfen mir, die Europäische Einheit besser zu verstehen. Auch kann man sagen, dass Straßburg die Hauptstadt Europas ist. Übrigens habe ich bemerkt, dass die Einwohner sowohl Deutsch als auch Französisch sprechen können. Zuerst war ich überrascht. Aber durch die Geschichte habe ich alles verstanden. Man kann sagen, dass Straßburg ebenso zu Deutschland wie zu Frankreich gehört. Zweimal (1870 und 1940) hat Deutschland Straßburg unterworfen und verwaltet. Das erklärt auch, dass man hier französisches und deutsches Essen genießen kann. 426 Nordrhein-Westfalen Hyacinthe Ouingnon Ich habe auch einige Tage im Schwarzwald verbracht. Dort habe ich eine andere Seite von Deutschland entdeckt. Zuerst: die Landschaft ist ganz anders. Man merkt sofort ganz unterschiedliche Attraktionen: die Weinlandschaften, die alten Bauernhöfe und natürlich die grünen Berge und den schwarzen Wald. Im Schwarzwald gibt es viele Natursehenswürdigkeiten. Ich kann durch meine Erfahrung sagen, dass der Schwarzwald für mich wie ein großer Naturpark in Deutschland ist und auch ein Ziel für Genießer. Auf den Bergen hat man eine gute Fernsicht. Weil der Herbst schön war, habe ich spektakuläre Stimmungen, zum Beispiel während der sommerlichen Abendstunden, erlebt. Man schaut gern die Natur; wenn die Sonne im Westen versinkt, glühen die Vogesen golden auf. Auch die Wanderwege über Berg und Tal, die Fahrt mit der spektakulären „Sauschwänzlebahn“ haben mich gefreut. Ich kann sagen, dass der Schwarzwald ein traditionelles Land ist. Das ist offensichtlich. Ich habe gehört, dass man bei verschiedenen Sommerfesten sogar noch die traditionellen Bollenhütten sehen kann. Zu den vielen traditionellen Feiern gehören auch bis heute die kirchlichen Prozessionen. In diesem Ruheland kann man natürlich gut entspannen. In diesem Zusammenhang würde ich gestehen, dass das Leben im Schwarzwald fast wie in Benin ist. Die Leute sind herzlich, nett, liebenvoll, einfach und gastfreundlich. Wie kann ich mein erstes Abendessen in diesem Gasthaus vergessen, wo man gutes traditionelles Essen schmecken kann? Ich bemerkte auch, dass die Leute in der Gaststätte sich untereinander alle kannten und solidarisch wirkten. Es gibt wirklich einen großen Unterschied zwischen Düsseldorf und Schwarzwald. In Düsseldorf hat man ständig den Lärm der großen Stadt, im Schwarzwald genießt man die erholsame ruhige Atmosphäre. Die Gemütlichkeit der Leute gefällt mir. Dort gibt es noch nicht die Zivilisationskrankheiten wie die Einsamkeit, Stress, Unverschämtheit und Egoismus. Der Schwarzwald ist ein unvergessliches, unwiderstehliches, unvergleichliches Land. Und dann kam Weimar! Die Studienfahrt nach Weimar und Umgebung vom 24. Oktober bis 2. November war für mich eine große Möglichkeit für die Erweiterung meiner Kenntnisse. Von nun an weiß ich, dass, wenn man über Deutschland und seine Kultur und Geschichte lernen will, sollte man einmal nach Weimar fahren. Dort gibt es viel über unterschiedliche Sparten zu lernen. Ohne Zweifel genießt man gern die Thüringer Klöße, auch die Abendessen im Gasthaus „Scharfe Ecke“, im Restaurant „Shakespeare“. „Sommer‘s Weinstube“ mit gemütlicher historischer Weinstube, seit fünf Generationen. Aber man vergesse über all den gemütlichen Traditionsgaststätten nicht die Stadtführungen durch die historische Altstadt. Man bemerkt, dass berühmte Personen in Weimar gewohnt haben. Bekannte Personen wie Goethe, Schiller, Liszt, 427 Hyacinthe Ouingnon Nordrhein-Westfalen Nietzsche und Bach. Ich erinnere mich noch an die Besichtigung des Weimar-Hauses, wo mit Spezialeffekten eine Geschichtsshow durch fünf Jahrhunderte Weimarer Geschichte gezeigt wurde. Für mich eine der interessanten Besichtigungen war die Wartburg. Von dieser Festung aus kann man im Osten das Gebiet des Hörseltales überblicken. Die Besichtigung der Räume der Wartburg ist wie eine Reise durch mehrere Jahrhunderte. Es ist gleichzeitig auch eine Reise durch einen Teil der deutschen Geschichte, Kunst und Literatur. Ich habe etwas über die Epoche mittelalterlicher Klassik gelernt. Ebenfalls gern schaut man sich die Sammlung der romanischen Zeit und das Torhaus an. Übrigens habe ich ein außerordentliches Gefühl in der Luther-Stube gehabt. Für mich ist Martin Luther ein mutiger und unerschütterlicher Reformator. Bis heute habe ich für ihn eine unbegrenzte Bewunderung. Ich frage mich nur, wie er in nur drei Monaten das Neue Testament aus dem Lateinischen erstmals in die deutsche Sprache übersetzen konnte. Die Besichtigung des Schillerhauses hat mich sehr gefreut, hauptsächlich sein Arbeitszimmer im Mansardengeschoss. Auch hier findet man originale Sachen, die zu Schiller und seiner Familie gehört haben. Ich denke, dass das Gebäude für die folgenden Generationen ein unschätzbares Memorial ist. Denselben Eindruck hatte ich nach der Besichtigung von Goethes Haus, Goethes Hausgarten und dem Goethe Nationalmuseum. Wer kann die Sammlungen zur Geologie, Mineralogie und Botanik vergessen? Niemand. Im Nationalmuseum habe ich übrigens ein Panorama der Literatur, Kunst und Politik zwischen 1750 und 1850 gehabt: eine unglaubliche Reise durch einhundert Jahre. Ebenfalls besichtigten wir das Gartenhaus Goethes, wo die bekannten Gedichte und Prosafassungen entstanden sind. Das war für mich eine große Ehre. Ein weiterer wichtiger Moment in Weimar war für mich der Besuch bei der Thüringischen Landeszeitung, dort insbesondere die Gespräche mit der Chefredakteurin, Frau Gerlinde Sommer. Warum? Sie sagte, dass es in der DDR Zeit keine Pressefreiheit gab. Die Regierung kontrollierte alles: die Berichte, den Zeitungsdruck, selbst die Zuteilung des Papiers. Die Journalisten konnten sich keine Freiheiten herausnehmen Die Menschen hatten ständig Angst vor der Strafverfolgung. Nach dem Fall der Mauer kam die Hoffnung Heute gibt es verschiedene Zeitungen und Radios. Merkwürdigerweise kann man einen Vergleich zwischen der Mediengeschichte in Ostdeutschland und der Mediengeschichte in Benin anstellen. In meinem Land in der marxistisch-leninistischen Zeit gab es nur eine staatliche Zeitung, und auch nur einen staatlichen Fernsehsender. Die Regierung kontrollierte auch alles, wie in Ostdeutschland. Das war eine schreckliche Zeit, eine Zeit, wo die Diktatur die Menschenrechte ermordete. Viele 428 Nordrhein-Westfalen Hyacinthe Ouingnon Journalisten begaben sich ins Exil oder wurden ausgewiesen. Ohne Freiheit ist das Leben schwer, langweilig, schwül und unangenehm. Aber nach den Nationalgesprächen kam die Freiheit. Heute gibt es wie in Ostdeutschland verschiedene Zeitungen und Sendungen in Benin. Zum Beispiel gibt es in diesem kleinen Land fast 20 täglich erscheinende Zeitungen und ca. 30 Radiosender. Und ein für allemal ist die Diktatur verschwunden. Durch diesen Vergleich sieht man, dass manchmal die Völker dieselbe Geschichte haben. Gewissermaßen sind die Menschen dieselben. 6. Bonn und mein Praktikum Mein Praktikum bei der Deutschen Welle war insgesamt wunderbar. Am 3. November habe ich mein Praktikum bei der Deutschen Welle angefangen. Und ich habe fast zwei Monate beim Französischen Programm verbracht. Zunächst würde ich sagen, dass die Deutsche Welle ein multimediales, weltweit abrufbares Informationsangebot in rund 30 Sprachen bietet: von amharisch bis urdu, von bengali bis ukrainisch und auch in englisch, französisch, spanisch, arabisch, kisuaeli, hausa, indonesisch, chinesisch und japanisch, kroatisch, persisch, russisch, türkisch und natürlich in deutsch. Ich kann weiter sagen, dass die Deutsche Welle eine der reichweitenstärkste Institution auswärtiger Medien ist, und sie einen wichtigen Beitrag zur Kulturarbeit und zum interkulturellen Dialog leistet. Daraus folgt, dass ich bei meinem Praktikum Leute aus vielen verschiedenen Ländern kennen gelernt habe. Schon am ersten Tag hatte ich ein gutes Gefühl. Die Kollegen des Französischen Programms waren sehr nett und sympathisch. Jeder wollte mir etwas zeigen: Z. B. wie funktioniert die Sendung, wie muss man die Berichte zusammenstellen, wie soll man durch die Mikrofone sprechen. Die herzliche Aufnahme, die Liebenswürdigkeit, die Besorgnis der Kollegen und das außerordentlich gute Arbeitsklima haben mich beruhigt. Ich hatte vorher noch niemals bei einem Radio gearbeitet, weil ich normalerweise bei einer Zeitung beschäftigt bin. Aber auf Grund dieser vortrefflichen Bedingungen habe mich sofort eingewöhnt. Schon zwei Tage später habe ich die moderne Digitaltechnik kennen gelernt. Und vier Tage später habe ich einen Bericht geschrieben und zusammen mit der Chefredakteurin meine erste Moderation gemacht. Das war am 7. November. Bei der folgenden Konferenz hat sie gesagt, dass ich super war! Die anderen Kollegen waren stolz auf mich und haben geklatscht. Ich war ein wenig geniert, aber zufrieden. Es war dasselbe, als ich mein erstes Interview gemacht habe. Schnell hat die Chefredakteurin mir Vertrauen ge429 Hyacinthe Ouingnon Nordrhein-Westfalen schenkt. Deshalb hatte ich immer jeden Tag etwas zu tun. Und natürlich habe ich meine Kenntnisse verbessern können. Insgesamt habe ich viele Berichte über verschiedene Themen geschrieben und auch viele Interviews gemacht. Manchmal hatte ich Angst, etwas Falsches zu machen. Aber die Kollegen haben mich immer ermutigt. Hauptsächlich ein Kollege, der ein ehemaliger Stipendiat der Heinz-Kühn-Stiftung war und der jetzt beim Französischen Programm arbeitet. Mit seinem Einverständnis habe ich über einige Themen geschrieben. Mit einem Wort: Mein Praktikum bei der Deutschen Welle war sehr gut. Ohne Unannehmlichkeiten. Zusätzlich habe ich nun mit dem neuen Medium Radio von Heute auf Morgen eine Alternative, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wegen des Stipendiums habe ich eine neue Perspektive und höchstwahrscheinlich werde ich bei einem Radio arbeiten, wenn ich wieder in meine Heimat zurückgekehrt bin. 7. Danksagung Ich bedanke mich bei Frau Ute Maria Kilian. Ich bedanke mich beim Goethe-Institut. Ich bedanke mich bei der Deutschen Welle, dem französischen Programm. Ich bedanke mich bei Nordrhein Westfalen. Ich bedanke mich hauptsächlich bei der Heinz-Kühn-Stiftung und wünsche ihr immer mehr Erfolg. Von ganzem Herzen … 430 Hoang Than Phuong aus Vietnam Stipendien-Aufenthalt in Nordrhein-Westfalen 04. Mai bis 13. September 2003 431 Nordrhein-Westfalen Hoang Than Phuong Aufenthalt und Erlebnisse in Deutschland Von Hoang Than Phuong Nordrhein-Westfalen vom 04.05. – 13.09.2003 433 Nordrhein-Westfalen Hoang Than Phuong Inhalt 1. Zur Person 436 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 Ein paar Informationen über Vietnam Geographie und Klima Nationalitäten und Sprachen Religion und Glauben Vietnam durch die Augen eines deutschen Redakteurs 436 436 437 438 439 3. So fing es an 440 4. Willkommen in Deutschland 440 5. Meine zweite Familie 442 6. Anfang gut, alles... ist nicht so einfach! 443 7. 7.1 7.2 7.3 Praktikum bei der WAZ Die WAZ Die Arbeit in einer WAZ-Redaktion Ein Bericht über mich 443 444 445 446 8. Meine Artikel 446 9. Vielen Dank 451 435 Hoang Than Phuong Nordrhein-Westfalen 1. Zur Person Ich wurde am 09. November 1980 in Hanoi – der Hauptstadt von Vietnam - geboren. Ich habe Germanistik an der Hochschule studiert. Meine Eltern sind beide Journalisten von der Vietnamesischen Nachrichtenagentur (VNA) und arbeiten meistens als Korrespondenten für VNA im Ausland. Deshalb wohnen wir nicht immer zusammen. Trotzdem sind und waren sie meine Vorbilder. Ich will eine gute Journalistin werden. Mit 16 Jahren schrieb ich meinen ersten Artikel für eine Teenager-Zeitschrift, und dann auch für verschiedene andere Zeitungen und Magazine, ebenfalls beim Radio und Fernsehen. Das Berufsziel Journalistin stand damals für mich schon fest. Dass ich nun Journalistin geworden bin und nicht etwas anderes hat sich einfach so ergeben – mir war nur von Anfang an klar, dass es mit einem Notizbuch und einem Kugelschreiber zu tun haben musste. Nach dem Praktikum bei der deutschen Firma „B.Braun Hanoi Pharmaceutical Co.“ bin ich seit September 2002 bei der Sport & Kultur Zeitung – einer Abteilung der VNA - beschäftigt. Mein Schwerpunkt im Journalismus liegt natürlich im Sport- und Kulturbereich. Von Anfang Mai bis Ende August 2003 war ich Stipendiatin der Heinz-Kühn-Stiftung. Im Rahmen meines Stipendiumaufenthaltes machte ich ein Praktikum bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung in Essen in der Lokalredaktion und in Gelsenkirchen in der Stadtredaktion. Das journalistische Know-how lerne ich immer noch weiter. 2. Ein paar Informationen über Vietnam 2.1. Geographie und Klima Vietnam hat die Form eines S-Buchstabens. Es liegt östlich der Indochinesischen Halbinsel in Süd-Ost-Asien und völlig in der tropischen Zone. Vietnam hat eine lange Seeküste von 3.000 km am Ostmeer und Pazifik, nördlich grenzt es an China, westlich an Laos und Kambodscha. Das Land Vietnam ist lang und schmal. Der nördliche und südliche Teil sind größer als der Mittelteil. In Norden befinden sich die großen Deltas des Roten Flusses, der Flüsse Lo und Chay, welche sich nordwestlichsüdöstlich langsam verbreiten und in die Bac Bo-Bucht einfließen. Vom Monsun beeinflusst, wird das Wetter im Norden eindeutig in 4 Jahreszeiten geteilt: Frühling, Sommer, Herbst und Winter, mit hoher Feuchtigkeit. Um den Boden für den Ackerbau und das Leben zu erhalten, hatte das Volk im 436 Nordrhein-Westfalen Hoang Than Phuong Norden seit tausenden von Jahren ein System von Deichen gebaut, die tausend Kilometer entlang der beiden Flussufer laufen. Im Süden fließt der Fluss Mekong von China über Laos und Kambodscha bis zum Süden Vietnams, hier ist es in neun Flussarme geteilt – und wurde deshalb Cuu Long (neun Drachen) genannt. Das Wetter im Süden bildet 2 Jahreszeiten: die Regenzeit und Trockenzeit. Zwischen dem nördlichen und südlichen Teil des Landes liegt das lange und schmale Mittelvietnam. Westlich befinden sich die Bergkette Truong Son und viele kurze Flüsse, die direkt ins Meer fließen. Sie bilden da am Rand des Meeres kleine schmale Ebenen. Das Klima hier ist hart, es gibt oft Naturkatastrophen. Südwestlich des Mittellandes befindet sich eine Hochebene auf einer Höhe von 1. 000 Metern über dem Meeresspiegel, mit fruchtbarem Basaltboden, der sehr geeignet ist für den Anbau von tropischen und klimagemäßigten Industriepflanzen (Kautschuk, Tee, Kaffee, Kakao usw.). Entlang der Küste Vietnams, von Norden nach Süden, gibt es viele schöne Badestrände, z. B. die Ha Long-Bucht mit über 3.000 kleinen Bergen, die aus dem Meer emporragen. Sie ist 1995 von der UNESCO als ein natürliches Welterbe anerkannt worden. Vietnam hat noch viele Urwälder, die noch nicht erschlossen sind, in denen mehrere wertvolle Holzbäume und seltene Tiere vorkommen. Die Hochgebirgsstädte mit mäßigem Klima sind anziehende Touristengebiete. Es gibt noch sehr viele Seen, Flüsse, Bäche, Wasserfälle und wunderschöne Steingrotten. Überall im Norden und in der Mitte des Landes liegen die Kohlengruben, Eisenerz-, Bauxitbergwerke und andere Vorkommen von seltenen Edelsteinen. Am Korridor des Inlandes und der Meeresküste gibt es viele Erdöl- und Erdgasvorkommen. 2.2. Nationalitäten und Sprachen Vietnam hat 54 Nationalitäten mit ca. 80 Millionen Menschen. Die Viet (Kinh) sind 88% der Bevölkerung; sie leben hauptsächlich im Flachland wie im Delta des Roten Flusses, an der Küste des Mittellandes, im Delta des Cuu Long-Flusses und in den Großstädten. Die übrigen 53 Nationalitäten leben hauptsächlich in den Berg- und Waldgebieten, die entlang des Landes von Norden bis Süden liegen und 2/3 der Gesamtfläche ausmachen. Das materielle und geistige Leben der Völker ist noch unterschiedlich. In der ganzen historischen Entwicklung des Landes haben die vietnamesischen Nationalitäten immer die traditionelle Geschlossenheit, gegenseitige Hilfe, besonders in der Zeit der Widerstandskämpfe gegen Aggressoren, gehalten. 437 Hoang Than Phuong Nordrhein-Westfalen Die Regierung der früheren Demokratischen Republik Vietnam und der jetzigen Sozialistischen Republik Vietnam hat sehr viele konkrete politische Programme und kontinuierliche besondere Begünstigungen praktiziert, um den Nationalitäten der Bergregionen zu helfen, damit sie mit anderen im Flachland lebenden Völkern schritthalten können. Gleichzeitig bemüht sich die Regierung um die Entwicklung und Erhaltung der traditionellen Identität der einzelnen Nationalitäten. Zur Zeit erreichen die Vorhaben und Programme zur Hilfe der Bergregionen wie die Versorgung mit Jodsalz gegen Halskropf für die weit entlegenen Dörfer, der Aufbau der Sanitärstellen und Schulen der Minderheitsschüler, Bekämpfung der Malaria und andere Programme wie Schaffung der Schrift für die Völker, die noch keine Schrift haben, sorgfältiges Studieren der traditionellen Kultur der einzelnen Nationalität, gute Ergebnisse. Die verschiedenen Nationalitäten haben ihre eigenen Sprachen und viele haben eine eigene Schrift. Trotzdem ist Vietnamesisch die allgemeine Volkssprache und wird überall im Land gesprochen. In vielen Jahrhunderten waren schriftliche Dokumente in Altchinesisch geschrieben. Es ist wahrscheinlich, dass im 8. Jahrhundert die Vietnamesen eine neue Schrift geschaffen hatten, welche wie das bildhaft bedeutende Altchinesisch geschrieben und mit vietnamesischer Phonetik ausgesprochen wird, die dann als die Nom-Schrift bekannt wurde. Im 13. Jahrhundert gab es viele in dieser Schrift geschriebene vietnamesische Gedichte. Im 17. Jahrhundert hatten einige westliche Missionare eine neue Schrift mit lateinischen Buchstaben geschaffen, die Quoc Ngu (Nationalschrift) genannt wurde. Mit der Zeit wurde diese Schrift vervollständigt und zur offiziellen Schrift am Anfang des 20. Jahrhundert durch die Bewegungen zur Verbreitung der revolutionären Ideologie und kulturellen Entwicklung erklärt. 2.3. Religion und Glauben Wie andere Völker haben die vietnamesischen Nationalitäten ihre Volksglauben wie Verehrung der Fetische und Heilige. Die Verehrung der Ahnen ist jedoch am populärsten. Vietnam ist ein multireligiöses Land. Heute gibt es über 30.000 Ehrungsstätten der Religionsarten, die systematisch organisiert und von den Menschen regelmäßig besucht werden. Der Buddhismus ist die früheste populärste und anteilmäßig am meisten verbreitete Religion. Er wurde im 2. Jahrhundert nach Christus nach Vietnam durch 2 Wege eingeführt: einmal durch China (Dai Thua), ein anderer Weg durch Thailand, Kambodscha, Laos (Tieu Thua). In den feu438 Nordrhein-Westfalen Hoang Than Phuong dalen Dynastien Vietnams der vergangenen zehn Jahrhunderte war der Buddhismus stets als Nationalreligion angesehen. Zur Zeit gibt es im ganzen Land über 20.000 aktive Pagoden, viele davon werden renoviert und erweitert. Heute ist der Buddhismus immer noch die Hauptreligion mit der größten Gläubigenanzahl; die zweitgrößte ist die katholische Kirche, die von westlichen Priestern aus Spanien, Portugal und Frankreich am Anfang des 17. Jahrhunderts eingeführt wurde. Heute sind im ganzen Land über 6.000 Kirchen, die täglich religiöse Tätigkeiten durchführen. Über 500 Kirchen, die durch amerikanisches Bombardement zerstört wurden, sind heute wieder neu aufgebaut worden. Der Protestantismus kam im Jahr 1911 nach Vietnam und verbreitete sich bis 1920 in ganz Vietnam. Dessen Anhänger sind dennoch nicht viele. Der Islam kam nach Vietnam vor ziemlich langer Zeit, ist aber auch nicht sehr verbreitet. Außer den eingeführten Religionen gibt es in Vietnam noch einheimische Religionen: Cao Dai und Hoa Hao. Ihre heiligen Stätten liegen in Tay Ninh und Chau Doc – An Giang (Mekongdelta). Die vietnamesischen Religionen sind nicht feindlich untereinander, sondern freundlich, zusammengebunden in einer nationalen Einheitsfront Vietnams. Sie kämpfen gemeinsam gegen die ausländischen Aggressoren und bauen das Land zusammen auf. 2.4. Vietnam durch die Augen eines deutschen Redakteurs Als eine vietnamesische Leserin habe ich mich dafür interessiert, was die ausländischen Journalisten über meine Heimat schreiben. Der letzte Bericht, den ich gelesen habe, war von Michael Muscheid – Redakteur von der WAZ in Gelsenkirchen. Nach zwei Monaten in Vietnam – im Rahmen des Stipendiums der Heinz-Kühn-Stiftung – hat er eine ganze Seite über das Land für die WAZ in Gelsenkirchen geschrieben. Hier zitiere ich einen Teil dieser Seite: Vietnam ist von der Fläche her so groß wie Deutschland und etwa genauso dicht bevölkert. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (450 € pro Kopf) gehört das Land aber noch immer zu den ärmsten der Welt. Seit dem Sieg es kommunistischen Nordens über den von den USA unterstützten Süden (1975) ist das wiedervereinigte Land unabhängig. Zuvor waren über 100 Jahre fremde Truppen in Vietnam: die französischen Kolonialisten ab 1861, die Amerikaner ab 1964, 1973 zogen die US-Truppen ab. Einen Alleinvertretungsanspruch hat die Kommunistische Partei, die 1986 den Reformkurs „Doi Moi“ (Neues Leben) startete: Die langsame Öffnung in Richtung Markt-Wirtschaft gibt der Wirtschaft Auftrieb. 439 Hoang Than Phuong Nordrhein-Westfalen Wichtigstes Grundnahrungsmittel ist Reis, es wird auf 80% der landwirtschaftlichen Nutzfläche angebaut. Exportiert werden vor allem Reis, Bekleidung und Kaffee. 3. So fing es an Während meines vierjährigen B.A. – Studiums im Fach Deutsch an der Hochschule für Fremdsprachen in Hanoi habe ich mich nicht nur mit Sprache, Linguistik und Literatur beschäftigt, sondern auch mit Themen aus der deutschen Alltagswelt. Da Journalismus schon seit langem zu meinen Berufszielen gehört, hat mich dabei auch die Struktur des deutschen Pressewesens sehr interessiert. Ich habe dabei erfahren, dass die Presse eine große Rolle in der deutschen Gesellschaft spielt. Im Hinblick auf die Zeitungsdichte liegt Deutschland hinter Japan, Großbritannien, Österreich und der Schweiz weltweit an der fünfter Stelle. Überraschend finde ich auch die Gliederung des deutschen Rundfunkund Fernsehwesens. Anders als in Vietnam gibt es in Deutschland zahlreiche private Anbieter neben den öffentlichen Rundfunk- und Fernsehstationen. In den großen Städten können die Bürger in „offenen Kanälen“ sogar ein eigenes Fernsehprogramm machen. Ich war mir sicher, dass ich meine Aufgaben erst dann kompetent und zufriedenstellend erfüllen könnte, wenn ich die Chance haben sollte, durch einen Gastaufenthalt in Deutschland meine sprachlichen und landeskundlichen Kenntnisse umfassend weiterzuentwickeln. In Vietnam habe ich relativ wenig Zugang zu deutschen Medien. Deshalb war es für mich wichtig durch das Praktikum vom Aufbau deutscher Zeitungen viel lernen zu können: Ich wollte gern erfahren, wie man Artikel auch über komplizierte Themen so spannend und verständlich schreiben kann, dass man die Leser nicht verliert. Schon in Vietnam hatte ich den Eindruck, dass die Artikel deutscher Magazine immer sehr sorgfältig gegliedert sind. Das ist immer ein Vorbild für mich und die anderen vietnamesischen Journalisten. Das müssen wir lernen. Das waren die Gründe, warum ich mich um ein JournalismusStipendium in Deutschland beworben habe. 4. Willkommen in Deutschland Mit der Hilfe von David Schwake – dem ersten Sekretär der Deutschen Botschaft in Hanoi, Herrn Franz Xaver Augustin – dem Leiter des Goethe440 Nordrhein-Westfalen Hoang Than Phuong Instituts in Hanoi, Paul Weinig – dem Leiter der Sprachabteilung des GoetheInstituts und besonders Jörg Tiedemann – mein Lehrer, der meine Liebe für Deutschland und für die Deutsche Sprache geweckt hat – hoffte ich schon am Anfang, das Stipendium zu bekommen. Und dann kam das Stipendium sogar schneller als erwartet. Es blieb gerade genug Zeit, um die entsprechenden Papiere zu besorgen und die Reise vorzubereiten. Ich liess alles hinter mir: meine Arbeit, meine Freunde, mein Haus, Vietnam und flog am 04.05.2003 nach Deutschland. Ich freute mich schon darauf, aber trotzdem hatte ich noch ein komisches Gefühl aus Angst und Neugier, aus Unsicherheit, aus Traurigkeit – denn es bedeutete auch, dass ich meinen Freund eine lange Zeit nicht mehr sehen würde. Unbeschreibbar! Der Flug dauerte fast 20 Stunden. Durchs Flugzeugfenster erschien Deutschland durch die Wolken in vielen unterschiedener Farbflecken: grün, blau und rot - wie ein riesiger Stadtplan. Das war mein erster Blick über Deutschland. Und dann noch: die Sprache. Es klingt ein bisschen merkwürdig, aber mein erster Gedanke, als ich in Frankfurt gelandet bin, war: „Oh Gott, hier spricht man Deutsch!“. Manchmal hörte ich auch Englisch, Französisch, aber ich bin wirklich in Deutsch versunken. Ich versuchte alles zu verstehen, und flirtete ein bisschen mit dem Zöllner. Er hat mich verstanden – nicht schlecht! Frau Ute Maria Kilian von der Heinz-Kühn-Stiftung hat mich am Düsseldorfer Flughafen abgeholt. Mein erster Eindruck über sie: eine sehr sympathische Frau. Wir haben uns sofort erkannt. Bis jetzt weiß ich immer noch nicht wie. Zu gleicher Zeit landete noch eine argentinische Stipendiatin: Maricel Drazel, die später eine gute Freundin von mir wurde. Am Anfang, als ich Maricel kennenlernte, hatte ich wirklich Sorge. Sie ist älter als ich. Sie hat viel Journalismuserfahrung. Sie hatte schon vorher ein Stipendium bekommen, um in Deutschland Journalismus zu studieren. Ich habe mich selbst mit ihr verglichen. Und dann dachte ich: Was kann ich von diesem Aufenthalt erwarten? Wie sieht mein Praktikum aus? Egal! Schau mal, was kommt! Die Praktika für Maricel und für mich waren nicht gleich. Maricel machte zuerst einen zweimonatigen Sprachkurs in Goethe-Institut und dann ein zweimonatiges Praktikum beim ZDF. Ich machte ein viermonatiges Praktikum bei der WAZ, weil ich schon genügend Kenntnisse der deutschen Sprache besass. Wir brachten Maricel zum Goethe-Institut, wo sie eine Prüfung machte und anschließend zu ihrem Appartement. Düsseldorf war die erste deutsche Stadt, die ich kennenlernte. Eine schöne Stadt mit vielen Geschäften und großen Gebäuden. Auch viel Verkehr, aber ordentlich! Das Wetter war überraschend angenehm. Nicht warm, nicht kalt! 441 Hoang Than Phuong Nordrhein-Westfalen Schon am ersten Tag habe ich meinen Redakteur – Herr Bernd Kassner – in der WAZ Lokalredaktion in Essen kennengelernt und mit ihm über Journalismus in den beiden Ländern diskutiert. Das war interessant. Aber ehrlich gesagt, an diesem ersten Tag wollte ich nur schlafen. Der Tag war zu schwer für mich. Ich war fix und fertig. 5. Meine zweite Familie Endlich war ich auch „zu Hause“ bei der Familie Muscheid. Als Frau Kilian mir sagte, dass ich dort wohnen würde, war das eine Überraschung für mich. Michael Muscheid – der erste Sohn der Familie – arbeitet als Redakteur für die WAZ in Gelsenkirchen. Er war ein Stipendiat der HeinzKühn-Stiftung. Wir haben uns in Hanoi kennengelernt. Ich habe in einem anderen Kapitel ja schon von ihm gesprochen. Bei seinen Eltern wohnte ich in einen relativ großen Haus mit einer Garage, einem schönen Garten mit vielen Früchtebäumen und Blumen, wo wir oft grillten und es gab auch noch einen kleinen Teich, in dem waren viele Fische und sogar eine Schildkröte. Ich hatte ein eigenes Zimmer, ein Badezimmer und ein Sportzimmer, wo ich fernsehen und in der Freizeit Sport treiben konnte. So viel hatte ich nicht erwartet. Man könnte die Familie „eine schreckliche Familie“ nach einer Komödien-Serie im Fernsehen nennen. Hier fühlte ich mich wie zu Hause. Ich habe sogar meine Gasteltern „Vati“ und „Mutti“ genannt. Hans Muscheid – ein Wörtererfinder. Spielen mit englischen - und deutschen Wörtern ist eines von seinen Hobbys. Er bleibt mir in Erinnerung mit den zwei Fragen „Is there any ... (Noun, wie Phuong z.B) in this area?“ und „Phuong (oder wer anders), what is your opinion?“ Und weiter: Weißt Du, was „after-table“ ist? Überlegst du noch? Hans wird sagen: „ I think you are heavy on the woodway.“ („Ich denke, du bist schwer auf dem Holzweg.“ – bedeutet: „Ich denke, du denkst in die falsche Richtung.“) Die richtige Antwort für „after-table“ ist „Nachtisch“. Bingo! Karin Muscheid kochte für mich nicht nur deutsche, sondern auch internationale Gerichte. Sie weiß genau, was meine Lieblingsspeisen sind, wie Heringsfilet oder Chickenwings. Sie ist eine sehr gute Köchin. Ohne Zweifel! Ich habe in 4 Monaten 3 Kilogramm zugenommen. Sie hat sich auch viel um mich gekümmert – wie eine liebe Mutter. Sie gab mir sogar jeden Bericht, jedes Photo über Vietnam, welches sie zufällig in den Zeitungen gefunden hatte. Michael Muscheid ist nicht nur ein guter Freund von mir, sondern war mir auch ein guter Betreuer. In der Zeit des Praktikums in Gelsenkirchen 442 Nordrhein-Westfalen Hoang Than Phuong hat er mir viel geholfen. Er hat für mich jeden Artikel sorgfältig korrigiert. Unsere Kollegen bemerkten, dass wir uns immer ohne Ende streiten konnten. Manchmal hatten wir auch ein paar Meinungsverschiedenheiten. Aber ohne ihn? Das hätte ich mir doch nicht vorstellten können. Sven Muscheid – der zweite Sohn der Familie - ist ein Praktiker. Wenn dein Computer kaputt gegangen ist, oder du Probleme mit dem Drucker hast, frag ihn. Und nicht zuletzt ist er für mich ein Freund, wie ein Bruder. Wir haben auch viele Gemeinsamkeiten und können uns gut verstehen. Er hat mir in meinem privaten Leben viel geholfen. Er ist ein sehr guter Freund in Deutschland für mich geworden. 6. Anfang gut, alles... ist nicht so einfach! Der erste Tag meines Aufenthaltes war perfekt. Ich wohnte bei den Eltern eines Freundes von mir. Das Leben hier gefiel mir! Ich war wirklich willkommen in Deutschland. Das Wetter war sehr angenehm. Am Anfang war es ein bisschen kalt. Es regnete auch viel. Aber das dauerte nicht so lange. Die Probleme kamen erst ein paar Tage später. Es begann mit dem Geruch. „Mein Zimmer“ war nicht mein Zimmer. Es hatte einen für mich fremden Geruch, den Frau Kilian „deutschen Geruch“ genannt hat. Dann kam noch das Problem mit der Zeitumstellung. Ich war schläfrig, konnte aber gar nicht schlafen. Ich bekam immer Kopfschmerzen, wenn ich mehr als 30 Minuten im Zimmer blieb. Und noch das Heimweh. Ich habe meinen Freund, mein Land und meine Arbeit unheimlich vermisst. In meinem Kopf waren immer Fragen wie „Wie spät ist es in Vietnam?“, „Was macht mein Freund gerade?“. Die Gastfamilie hat mir viel in dieser Zeit geholfen. Zur Arbeit musste ich immer mit einem Bus und einer U-Bahn fahren. Das hatte ich noch nie vorher benutzt. Ein Kuli und ein Notizbuch – wie immer – sind meine besten Freunde. Ich schrieb alles auf, was in einem Fahrplan steht und wie ich zur Arbeit und nach Hause fahren konnte. Aber trotzdem habe ich mich noch mehrmals verfahren: in die falsche Richtung, oder mit der falschen U-Bahn. War ich so dumm, oder war das kein Kinderspiel? Ich habe eben Lehrgeld gezahlt. So sahen meine ersten Wochen des Aufenthaltes aus. 7. Praktikum bei der WAZ Bundespräsident Johannes Rau hat in Berlin 300 Journalisten getroffen und zur Rolle der Journalisten gesprochen: „Journalisten haben eine 443 Hoang Than Phuong Nordrhein-Westfalen Schlüsselrolle bei der Vermittlung eines so weit wie möglich authentischen Bildes anderer Länder.“ Für die deutsche Presse habe ich mich immer interessiert. Es war sehr interessant, und auch wichtig für mich, das Alltagsleben der deutschen Redaktion von innen zu betrachten, daran teilzunehmen, neue Kolleginnen und Kollegen kennenzulernen und vor allem, dies alles mit der vietnamesischen Presse vergleichen zu können. 7.1. Die WAZ Die WAZ Mediengruppe versorgt 59 Prozent der Gesamtfläche NordrheinWestfalens. Das Verbreitungsgebiet erstreckt sich von der niederländischen Staats- bis zur hessischen Landesgrenze, vom nördlichen Rand des Ruhrgebiets bis nach Rheinland-Pfalz. Etwa 90 Prozent der Gesamtauflage werden im Abonnement vertrieben. Zehn Prozent werden im Zeitungshandel verkauft. Rund 7.000 Zusteller sorgen jeden Morgen dafür, dass über eine Million Abonnenten ihre Zeitung pünktlich am Frühstückstisch lesen können. Zur WAZ Mediengruppe gehören 5 Zeitungen: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ), Neue Ruhr Zeitung/ Neue Rhein Zeitung (NRZ), Westfäliche Rundschau (WR), Westfalenpost (WP) und Iserlohner Kreisanzeiger (IKZ). Die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ ist Deutschlands größte regionale Tageszeitung mit Hauptsitz in Essen und mit einer Wochenendauflage von ca. 750.000 Exemplaren. Sie ist das Flagschiff der „WAZ Medien Gruppe“. Gegründet wurde die „WAZ“ von Erich Brost und Jakob Funke als Zeitung für das Ruhrgebiet und hatte ihren ersten Erscheinungstag am 3. April 1948. Die WAZ erscheint mit 28 Lokalausgaben in einem Gebiet, das von Moers bis Unna, von Haltern bis Velbert reicht. In den Reviermetropolen Essen, Bochum, Gelsenkirchen, Duisburg, Oberhausen und Mülheim ist die WAZ die jeweils führende Tageszeitung. Nachrichten aus Politik, Wirtschaft und Kultur, aus Sport und Fernsehen, Berichte aus der Welt, Deutschland und dem Ruhrgebiet, Reportagen und Kommentare, Interviews und Leserbriefe, praktische Lebenshilfe, Beratungen, Telefon- und Zeitungsaktionen (wie „Schulen in Not“ oder „Tier in Not“) stehen immer fest in der WAZ. Außerdem gibt es noch die Extras der Tageszeitung: – „Reise-Journal“ (mittwochs und samstags) steigert die Reiselust im dicht besiedelten Ballungsraum an Rhein und Ruhr. Reiseberichte und –bilder, Tipps für Fernreisende und Wochenendausflügler sowie die vielfältigen 444 Nordrhein-Westfalen Hoang Than Phuong Angebote der Touristikunternehmen bieten alles für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel. – Jeden Freitag liegt den Titeln der WAZ Mediengruppe in NRW und Thüringen die farbige TV-Illustrierte BWZ bei. Mit der BWZ (Bunte Wochen Zeitung) behalten alle Kabel- und Satellitenfreunde den Überblick. Kurzbeschreibungen, Filmtipps und Hintergrundberichte erleichtern den Umgang mit der Fernbedienung. – Freizeit (freitags) bietet allen Lesern eine Fülle von News und Storys. Die bunt gemischte Themenpalette reicht von interessanten Alltagsgeschichten bis hin zum hochaktuellen Veranstaltungskalender. 7.2. Die Arbeit in einer WAZ-Redaktion In Vietnam arbeite ich für die Sport- und Kulturzeitung – eine Wochenzeitung. Sie erscheint zweimal in der Woche – dienstags und freitags. Außerdem haben wir noch ein Sonderheft, das immer am Ende des Monats erscheint. Wir schreiben auch unsere eigenen Artikel, trotzdem die Artikel, die aus ausländischen Agenturen, Zeitungen, Zeitschriften übersetzt oder zusammengefasst werden, spielen sie eine große Rolle in der Zeitung. Das ist der größte Unterschied zwischen meiner Zeitung in Vietnam und der WAZ. Die deutschen Journalisten sind vor allem aktiv, pünktlich, verantwortungsvoll und immer beschäftigt. Das war mein erste Eindruck, als ich bei der WAZ ein Praktikum machte. Sie haben alle Hände voll zu tun mit Terminen und Telefongesprächen, haben manchmal sogar keine Zeit für ein Mittagessen. Es gibt jeden Tag eine Mittagskonferenz. In der Konferenz muss sich jeder Journalist darüber informieren, worüber und wie viele Zeilen er an diesem Tag schreiben möchte. Genauso wie in Vietnam muss jeder deutsche Journalist Verantwortung für seine eigene Arbeit tragen. Normalerweise entscheidet der Chefredakteur, wer über was schreibt. Alle anderen Dinge plant jeder Journalist selber, z. B. seine Termine, die Zeit und den Ort seiner Recherchen, und ob ein Artikel mit oder ohne Photos erscheinen soll. Alle Termine für den nächsten Tag werden von der Sekretärin, natürlich in Absprache mit dem Chefredakteur zusammengestellt, auf einer Liste zusammengefasst und an die Türen geklebt. Ein deutscher Artikel wird in 5 Teile geteilt: Überschrift, Vorspann, Artikel, Bild und Bilduntertitel. (Manchmal gibt es nur Überschrift, Vorspann und Artikel.) Nicht nur der Inhalt, sondern auch der Bilduntertitel ist wichtig 445 Hoang Than Phuong Nordrhein-Westfalen für einen Artikel. Man schätzt ihn sogar wie die Seele des Artikels. In einer vietnamesischen Zeitung ist das anders. 7.3. Ein Bericht über mich Wie ich bereits erzählt habe, war Herr Bernd Kassner der erste Kollege, den ich in Deutschland getroffen habe. Die Zeit in der Essener Lokalredaktion war eigentlich nicht so schön für mich, denn in dieser Zeit waren Deutschland und die Deutsche Presse für mich noch neu. Deshalb konnte ich leider nichts für die Redaktion schreiben. Dafür hat Herr Kassner einen kurzen Artikel über mich veröffentlicht, den ich im folgenden wiedergeben möchte: Viet Cong Ja, wenn zwei Kulturen aufeinandertreffen, dann kann es passieren, dass sich die Menschen überhaupt nicht verstehen. Ich habe jetzt eine Kollegin aus Vietnam, die in der Redaktion ein Praktikum macht. Sie ist in Hanoi Sportjournalistin, und schon nach kurzer Zeit war klar, über Schumi weiß sie nicht nur mehr als ich, sondern ganz viel mehr. Ich verstehe aber eine Menge von vietnamesischen Briefmarken. Befreiungsausgaben des Vietcong während des Vietnamkrieges – ich könnte stundenlang mit ihr darüber fachsimpeln. Doch zu der Zeit war sie noch gar nicht geboren. Ist das nicht schade, wenn zwei Kulturen sich gar nicht verstehen? 8. Meine Artikel Während meines Praktikums in der Gelsenkirchener Redaktion versuchte ich immer mein Engagement zu zeigen. Das war wirklich nicht so einfach für mich, weil ich alles auf Deutsch schreiben musste. Mit der Hilfe von Michael Muscheid bekam ich den ersten Termin. Und dann erschien mein erster Artikel. Das war nicht nur ein Traum, der in Erfüllung ging, sondern auch die Motivation dafür noch mehr zu schreiben. In ihren Adern fließt zweierlei Blut (WAZ – 28.06.03) Julia Nguyen spricht sechs Sprachen und träumt von einem Job in der Tourismus-Branche. Asiatisches Aussehen, freundliches Lächeln. Das findet man bei Julia Nguyen sofort. Die 19-jährige Deutsche hat gerade das Abitur am Annettevon-Droste-Hülshoff-Gymnasium (AvD) bestanden. 446 Nordrhein-Westfalen Hoang Than Phuong „Jetzt kann ich endlich ausschlafen“, sagt Julia lachend. Bislang musste sie immer um 8.20 Uhr in der Schule sein. Und doch: „Ich vermisse die Schule sehr, denn dort hatte ich viele Freunde und tolle Lehrer.“ Probleme zwischen Schülern und Lehrern habe es währen ihrer Zeit am AvD keine gegeben: „Wir waren eine Einheit.“ Aktiv ist Julia als Sängerin der sechsköpfigen Schülerband „Various“. Die Gruppe hat zuletzt für musikalische Stimmung beim Abischerz an der Goldbergstraße gesorgt. „Wir haben uns gut vorbereitet und gut gespielt“, meint die Abiturientin, die in ihrer Freizeit meistens mit der Band singt, Freunde trifft oder zum Bowling geht. In der Arena Auf Schalke arbeitet sie im Wachdienst. Sechs Sprachen hat sie gelernt – Deutsch, Englisch, Vietnamesisch, Spanisch, Französisch und Lateinisch. Das will sie beruflich nutzen: Ihr Traumjob liegt im Tourismusbereich, auch als Dolmetscherin würde sie arbeiten, denn sie möchte etwas machen, wo sie mit Menschen zu tun hat, ihnen helfen kann. Julias Eltern sind Vietnamesen, vor über 20 Jahren aus ihrer Heimat nach Deutschland gekommen. Sie haben an der Ruhrstraße einen chinesischen Imbiss. Julia, hier geboren, war noch nie in Vietnam. Das Land am Mekong zu besuchen, sei aber immer ihr Wunsch gewesen. „Meine Eltern erzählen mir viel über die vietnamesische Kultur, über die Zeit des Aufbaus in dem Land.“ Und: „Ich lerne von meiner Mutter auch, vietnamesische Speisen zu kochen.“ Außerdem spiele die Familie manchmal heimische Musik. „Meine Vorstellung von Vietnam ist ein Land mit hohen Temperaturen, weiten Landschaften und netten Leuten.“ „Zweierlei Blut fließt in ihren Adern. Obwohl hier aufgewachsen, „bin ich zugleich Vietnamesin“. Stolz sei sie auch darauf, dass sie die einzige Vietnamesin in der Schule gewesen sei. Treu ist sie der vietnamesischen Küche, auch isst sie gerne mit Ess-Stäbchen. Ihre Lieblingsspeisen: „Banh xeo“ und „Hu tieu“ – ein Reiskuchen mit Fleisch und eine spezielle Nudelsuppe. Im Geschäft der Eltern gibt es beides aber nicht. Ein Grund mehr, mal nach Vietnam zu fahren. 8.1. „Leseratte“ Timo gewinnt 100 Bücher (WAZ – 05.07.03) Timo Henning ist der Gewinner des Gewinnspiels der Mayerschen Buchhandlung zum Welttags des Buches: Der Zehnjährige gewann 100 Bücher und einen Sessel. Eine Frage galt es in dem Wettbewerb zu beantworten: Aus welcher Stadt stammt der Erfinder des Buchdrucks?“ Mit der richtigen Antwort – Mainz – und auch etwas Glück hat Timo, Schüler der 447 Hoang Than Phuong Nordrhein-Westfalen vierten Klasse der Grundschule Fürstinnenstraße, den 1. Preis gewonnen. „Die Antwort war für mich ganz einfach, ich habe sie in der Schule gelernt“, sagt der schlagfertige Junge, der den Preis gestern im Beisein seiner stolzen Familie in der Buchhandlung entgegen nahm. Dank seiner Mutter ist Timo bereits Besitzer eines großen Bücherregals. Darin stehen auch seine Harry-Potter-Bücher, die Lieblingslektüre. Sein Hobby ist, natürlich, lesen. Außerdem treibt er Sport: Fußball und Schwimmen. 8.2. Schalke-Fan macht die Stadt bekannter (WAZ – 12.07.03) Thomas Brinkmann (41) organisiert die „ExtraSchicht“ Einen vollen Terminplan hat Thomas Brinkmann: Er ist einer der Organisatoren von „ExtraSchicht“ der Nacht der Industriekultur, die am heutigen Samstag auch in Gelsenkirchen steigt. Zum dritten Mal ist Gelsenkirchen bei „ExtraSchicht“ dabei, einer von drei Standorten ist der Nordsternpark. „Hier haben wir ein buntes Programm mit Musik, Lichtkunst, Kunsthandwerkermarkt vorbereitet“, berichtet der 41-Jährige, der in Münster Geographie studiert hat. „Wir hoffen, dass diesmal mehr als die 5.000 Besucher aus dem vergangenen Jahr kommen“, so sein Wunsch. Tourismus-Referent der Stadtmarketing Gesellschaft (SMG) ist Brinkmann. Sein Ziel: die Stadt bekannter zu machen. Um das zu erreichen „muss man viele interessante Programme organisieren, gute Broschüre vorbereiten.“ Familie und Arbeit unter einem Hut zu bringen, sei angesichts dieser Aufgabe nicht immer einfach, sagt Brinkmann, der sich im Kreise seiner Familie am Wohlsten fühlt. „Wir wohnen zu dritt in einem schönen Haus in Ückendorf“, berichtet der Vater einer (fast) vierjährigen Tochter. Mit ihr, natürlich, verbringt er viel Zeit, aber auch mit seinen Hobbys: mit dem Erkunden des Ruhrgebiets (er wohnt erst seit vier Jahren hier) und mit Sport – besonders mit Fußball. Als Schalke 04-Fan beispielsweise ist er häufig Gast in der Arena. Zur Stadtmarketing Gesellschaft kam Brinkmann über mehrere Stationen: Er war als Techniker beim WDR im Studio Bielefeld und dann bei einem privaten Unternehmen tätig. Was ihm an seinem Job in Gelsenkirchen gefällt? Hier kann ich viel Interessantes sehen, viele Leute kennen lernen.“ Und: „Es macht Spaß, kulturelle Aktivitäten für Gelsenkirchen zu organisieren.“ Was er heute Abend macht? Natürlich das: Er ist bei „ExtraSchicht“ im Nordsternpark. 448 Nordrhein-Westfalen Hoang Than Phuong 8.3. Schaukelnest: Nachwuchs lernt schöpferisches Spielen (WAZ – 17.07.03) Kindergarten weiht Gerät ein – Malereibetrieb springt ein Der evangelische Kindergarten Schalke-Ost an der Breslauer Straße hat gestern ein Schaukelnest in Betrieb genommen. Das sei ein weiterer Schritt in der Zusammenarbeit zwischen dem Kindergarten und der Ev.-Lutherischen Kirchengemeinde Schalke, sagte Pfarrer Dirk Purz. Die Gemeinde habe den Kindergarten bereits bei der Neugestaltung des Außengeländes 1996 mit neuen Spielgeräten unterstützt. Dank der Initiative des Malereibetriebes Christofzyk habe das Schaukelnest – eine Therapie – und Spielschaukel – realisiert werden können, freute sich der Pfarrer. Dieses Schaukelnest kann der Kindergarten gut gebrauchen: Viele Kinder sammelten heutzutage weniger Körper-Erfahrungen als früher, erklärte Kindergarten-Leiterin Annette Bonna; viele Mädchen und Jungen säßen meist nur in der Wohnung. Mit diesem neuen Spielgerät könnten die Kinder auch mit anderen Altersgenossen in der Gruppe spielen. Die Kindergartenarbeit ist ein Schwerpunkt in der Kirchengemeinde. Für die Zukunft verspricht Pfarrer Purz noch weitere interessante Aktivitäten. 8.4. Beiköche brutzeln bald mit TV-Koch (WAZ – 18.07.03) Pamela Böckmann gewinnt Wettbewerb Küchenmeister und Initiator Heinrich Wächter war voll des Lobes: „Es war wirklich schwer, den Sieger auszuwählen, alle haben ausgezeichnet gekocht.“ Und doch musste einer gewinnen: Pamela Böckmann (20) aus Gelsenkirchen. Ziel des Westfälischen Kochwettbewerbs 2003 für Beiköche im zweiten und dritten Ausbildungsjahr war es, die Jugendlichen mit erhöhtem Förderbedarf zu unterstützen und anzuspornen. Sechs Endrunden-Teilnehmer wurden aus 26 Kandidaten Westfalens ausgewählt; sie trafen sich gestern in der Hotelküche des Berufskollegs Königstraße. Ihre Aufgabe war es, aus einem Warenkorb unter Anleitung ihres Ausbilders ein Essen für sechs Personen zu erstellen. Auf dem Menüplan standen als Vorspeisen ein Salat mit Tafelspitz sowie eine Rahmsuppe, als Hauptgericht wurden Fisch der Schweineroulade mit Gemüse serviert, und zum Abschluss kam Bayerische Creme mit Erdbeeren auf den Tisch. „Wir sind sehr zufrieden mit den Wettbewerb“, berichtete Wächter, für den feststeht: „Heute sind eigentlich alle Sieger.“ Deshalb bekam jeder Teilnehmer den gleichen Preis: Ein Kochbuch von Matthias Ruta, bekannt 449 Hoang Than Phuong Nordrhein-Westfalen von VOX-Kochduell, der gestern – wie auch Sternekoch Björn Freitag und Konditor Lothar Buss – Juror war beim Wettbewerb. Auch dürfen alle gemeinsam mit Ruta an den Herd. Und nicht zuletzt besuchen die Teilnehmer die Nahrungsmittelfabrik Zamek in Düsseldorf und sind zu Gast beim Gourmetspektakel Palazzo in Düsseldorf. 8.5. Sommerfest fördert soziale Kontakte von Senioren Stadt lud zum Treffen in die Gerhart-Hauptmann-Realschule Regelmäßig, seit 1975, findet es statt, das „Sommerfest zur Förderung sozialer Kontakte von Seniorbürgern“. Gestern trafen sich Senioren und solche, die sich für sie engagieren, in der Gerhart-Hauptmann-Realschule. Das Fest mit Musik, Tanz und Gedichten begann um 15 Uhr mit der Begrüßung durch OB Oliver Wittke, der zu dem Treffen eingeladen hatte. Die Besucher hatten ausreichend Gelegenheit, sich anschließend bei Kaffee und Kuchen zu unterhalten, außerdem konnten sie natürlich das unterhaltsame Programm genießen. Mit dabei Solopianist David Böse, Schauspieler und Solotänzer Rolf Gildenast, das Akkordeonduo der Musikschule „Lasniski und Freund“, Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen sowie Richetta Manager vom MiR. 8.6. Die Türkei ist für sie „nur“ ein Urlaubsland (WAZ – 30.07.03) Ülkü Yilmaz engagiert sich in ihrer Heimat Deutschland Die Türkei trägt Ülkü Yilmaz im Herzen. Und doch: Die Studentin der Rechtswissenschaften verbindet heute viel mehr mit Deutschland als mit ihrem Heimatland. Als einziges Kind einer türkischen Familie ist Ülkü in Deutschland geboren und aufgewachsen. In der Türkei hat sie gut 25 Verwandte, doch die Freunde und meisten Familien-Angehörigen wohnen in Deutschland. „Alle zwei Jahre fliege ich in die Türkei, aber nur als Touristin“, erzählt Ülkü. „Ein sehr schönes Land“, sei die Türkei, mit reichlich Natur und langen Küsten. Doch wie dort der Alltag aussieht, das weiß sie nicht: „Ich habe dort ja nie gelebt.“ Sehr beschäftigt ist die 29-jährige Ex-Bielefelderin, auch mit ihrem Studium. Am Wochenende nimmt sie sich „unbedingt“ Zeit für Freunde, fürs Fitness-Studio und auch für ihre anderen Hobbys, z.B. Musik; besonders gerne hört sie türkische Popmusik und Bryan Adams. Auf Letzteren, gibt sie zu, stehe sie seit ihrer Kindheit. Und: Auch Tanzen liege ihr im Blut, 450 Nordrhein-Westfalen Hoang Than Phuong sie mag Tanz zu italienischer Musik und Jazzdance. Nicht zuletzt ist sie eine gute Köchin: Ülkü kocht mit ihren Freunden, ihre Lieblingsgerichte sind, natürlich, türkisch, aber auch italienisch, koreanisch und chinesisch. Aktiv ist die Frau in der SPD: Ihr Amt als eine von zwei migrationspolitischen Sprechern hat sie gerade angetreten, und auch als stellvertretende Juso-Vorsitzende engagiert sie sich. Die Frau, die später eine eigene Familie haben möchte, ist Kandidatin für die Bezirksvertretung Mitte bei der nächsten Kommunalwahl. 9. Vielen Dank Die Zeit verging wie im Fluge. Die vier Monate mit der Heinz-KühnStiftung waren und sind eine sehr schöne, unvergessliche Erinnerung in meinem Leben. Ich bin glücklich, dass ich die erste vietnamesische Stipendiatin der Heinz-Kühn-Stiftung war. Ich habe hier viel gelernt und viele Erfahrungen gemacht. Über eine Chance, einen Gastaufenthalt in Deutschland absolvieren zu können, bin ich sehr dankbar. Für meine Arbeit als Journalistin in Vietnam ist dies von unschätzbarem Wert. Danke auch an meine deutsche Familie. Die wunderschöne Zeit mit Euch werde ich nie vergessen. Ihr seid alle immer willkommen in Vietnam. Und bitte entschuldigt, wenn ich etwas falsches gemacht habe. Ihr wisst, Ihr habt alle Liebe von Phuong. Besten Dank an meine Kollegen in der Essener Lokalredaktion und Gelsenkirchener Stadtredaktion, die immer hilfsbereit und freundlich, sogar lustig waren! Danke sagen möchte ich auch an Herrn Werner Conrad (weco), Herrn Bernd Kassner (ber), Lars Oliver Christoph (loc) und besonders Michael Muscheid (M.M), allen Kollegen, die mir sehr viel bei der Arbeit geholfen haben. Und vor allem vielen Dank an Frau Ute Maria Kilian für diese einzigartige Chance. Last but not least „Danke Heinz!“ Ich werde noch mal zurück gehen. Xin Chao Va Hen Gap Lai! Glückauf! 451 Kristin Raabe aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Vietnam 06. April bis 28. Mai 2004 453 Vietnam Kristin Raabe Von Reisschnaps und Languren Ein Vietnamesisches Tagebuch Von Kristin Raabe Vietnam vom 06.04. – 28.05.2004 455 Vietnam Kristin Raabe Inhalt 1. Zur Person 458 2. Vom Dschungel Hanois und den letzten verbliebenen Urwäldern 458 3. Pu Luong – was ist das? 459 4. Von Reisschnaps und Schweinezucht 461 5. Von Pilzen, Bienen und Touristen 464 6. Von Wilderern, Rangern und noch mehr Reisschnaps 468 7. Fabriken und Funkgeräte statt Schweine und Bienen? 471 8. Conservation Cowboys 474 9. Auf der Suche nach den Stumpfnasen 478 10. Fazit 481 11. Nachtrag 482 457 Kristin Raabe Vietnam 1. Zur Person Eigentlich waren es Berichte über die Tafelberge Venezuelas in der Zeitschrift Geo, die in mir bereits während meiner Schulzeit den Wunsch weckten, Journalistin zu werden. Ich wollte genau wie mein großes Vorbild, der bekannte Geo-Reporter Uwe George, ferne Landschaften erkunden, um dann darüber zu schreiben. Ein Biologiestudium und einige Semester Philosophie schienen mir eine gute Vorbereitung für zukünftige Expeditionen in unbekannte Gebiete zu sein. Nach meinem Studium in Köln, Berlin und Düsseldorf blieb ich aber erst einmal in Köln, wo ich von 1997 bis 1998 für die Ärztezeitung schrieb. Seit 1998 arbeite ich als freie Wissenschaftsjournalisti n für öffentlich-rechtliche Radio- und Fernsehsender, unter anderem für die WDR-Fernsehsendung „Quarks & Co“ und die Deutschlandfunksendungen „Forschung Aktuell“ und „Wissenschaft im Brennpunkt“. Die Tafelberge Venezuelas habe ich inzwischen auch besucht, danach aber durch Reisen nach Thailand und Malaysia meine Liebe für Südostasien entdeckt. Das Mikrofon war natürlich immer mit im Gepäck. 2. Vom Dschungel Hanois und den letzten verbliebenen Urwäldern Darauf hat mich nichts, was ich zu Hause gelesen hatte, vorbereitet: Eine Armada von Motorrädern stürmt wild hupend auf mich zu. Und ich stehe fassungslos auf dem Zebrastreifen. Der hat hier keinerlei Bedeutung, genau wie die Ampel, die ein leuchtendes Grün anzeigt. Grün für mich und rot für die Motorradfahrer. Aber das scheint sie nicht zu interessieren. Langsam begreife ich, warum Vietnam das Land mit den meisten Verkehrstoten ist. Aber ich will nicht dazugehören. Also springe ich gerade noch einmal rechtzeitig zurück auf den Bordstein. Der Pulk der Motorradfahrer rauscht wild hupend an mir vorbei. Viel zu viele Menschen, denke ich. Aber das wusste ich eigentlich schon vorher. In Vietnam leben genauso viele Menschen wie in Deutschland, gut 80 Millionen. Allerdings ist das Land 30.000 km2 kleiner als meine Heimat, und ein beträchtlicher Teil seiner Fläche ist nicht bewohnbar. Wegen dieser unbewohnbaren Gebiete bin ich hierher gekommen. Sie beherbergen eine faszinierende Natur. In den Wäldern der unzugänglichen Karstfelsformationen leben fünf der seltensten Affenarten der Welt, das erst 1992 entdeckte SaolaRind, der schön gezeichnete Vo Quy Fasan und mit Sicherheit vieles, was noch kein Biologe je gesehen hat. 458 Vietnam Kristin Raabe In den Tälern und Gewässern gibt es allerdings schon lange keine unberührte Natur mehr. 80 Millionen Vietnamesen brauchen viel Reis und Fisch. Aber die Waldgebiete auf den Karstformationen könnten überleben; allerdings nur, wenn der Holzeinschlag und die illegale Jagd auf bedrohte Arten aufhören. Bei meinen Recherchen im Vorfeld der Reise war ich überrascht, dass die Regierung Vietnams sich dieser Probleme anscheinend bewusst ist. Sie hat ein Komitee zur vernünftigen Nutzung der natürlichen Ressourcen und zum Schutz der Umwelt eingesetzt. 1985 hat dieses Komitee eine nationale Umweltschutz-Strategie vorgelegt, an deren Ausarbeitung auch die Internationale Union für Naturschutz IUCN beteiligt war. Etwas Vergleichbares kann kaum ein Land in Asien vorweisen. Dass die Umweltschutz-Strategie Vietnams nicht nur auf dem Papier existiert, belegt ein Übereinkommen, das 1986 von Vietnam, Laos und Kambodscha unterzeichnet wurde. Darin sind Schutzmaßnahmen für das seltene Kouprey-Rind und die Wasservogelwelt im Grenzgebiet zwischen den drei Ländern festgelegt. Ob all diese Maßnahmen tatsächlich greifen, lässt sich nur vor Ort beurteilen. Ich bin optimistisch. Durch die Entlaubungsmittel, die die Amerikaner während des Krieges auf große Waldgebiete in Zentralvietnam versprühten, und durch den armutsbedingten Raubbau an den Wäldern nach dem Krieg, haben die Vietnamesen sehr schnell lernen müssen, was es bedeutet, wenn Bäume und Tiere plötzlich verschwinden. Durch Erosion gehen dann die letzten fruchtbaren Böden verloren und der Grundwasserspiegel sinkt. Ohne Wälder ist ein lohnender Reisanbau also kaum möglich. Die Vietnamesen haben also ein existentielles Interesse daran, die letzten verbliebenen Waldgebiete und ihre Bewohner zu schützen. Ob ihnen das gelingt, möchte ich bei meiner Reise erkunden. Dabei wird mich der Fotograf Stephan Fengler begleiten. Die einmalige Natur Vietnams lässt sich manchmal besser im Bild, als mit dem Mikrofon festhalten. Aber bevor wir uns auf den Weg in die Wildnis machen können, muss ich erst einmal den Dschungel Hanoi durchqueren. 3. Pu Luong – was ist das? „Fahren Sie bloß nicht mit dem Bus, mieten Sie sich ein Auto!“ hatte mir Herbert Lempke geraten, der Leiter der „grünen Gruppe“ beim Deutschen Entwicklungsdienst (DED) in Hanoi. Aber das war gar nicht so einfach. Niemand wusste nämlich, wo ich hinwollte, und deswegen wollte uns erst auch mal niemand fahren. Autos werden in Vietnam nur mit Fahrer ver459 Kristin Raabe Vietnam mietet. Kein Vietnamese schien das Naturschutzgebiet Pu Luong zu kennen. Schließlich entdeckt der Fotograf Stephan Fengler das Gebiet auf einer Karte, und dann endlich finden wir auch einen Fahrer. Aber Kartenlesen ist nicht gerade eine Stärke unseres Chauffeurs, also hält er ständig an, um nach dem Weg zu fragen, und das ist jedes Mal interessant. Wir haben Gelegenheit, in aller Ruhe die grün schimmernden Reisfelder und die rechts und links der Straße aufragenden Kalksteinfelsen zu bewundern. Außerdem treffen wir bei unseren kurzen Stopps immer wieder auf freundliche, aber auf uns fremdartig wirkende Menschen. Die Großmutter zum Beispiel, die immer wieder völlig fasziniert über meine weißen Arme streichelt. Ich bin mindestens genauso hingerissen von ihren schwarz lackierten Zähnen und dem blutroten Mund. Was ich zunächst für einen knalligen Lippenstift halte, stammt eigentlich vom Kauen der Betelnüsse, die vor allem ältere Frauen immer in einem Beutel an ihrem Gürtel mit sich herumtragen. Die Droge hält wach, dämpft den Hunger und macht abhängig. Außerdem verursacht Sie Mundhöhlenkrebs. Das alles erfahre ich allerdings erst im späteren Verlauf meiner Reise. Mit diesem Wissen gefallen mir dann die roten Lippen der alten Frauen nicht mehr so gut, wie bei meiner ersten Begegnung mit der Großmutter. Als die alte Dame endlich von meinen weißen Armen lassen kann, gibt sie uns noch einige hilfreiche Hinweise, dank derer wir tatsächlich in Ba Thuoc ankommen. Drei Stunden von der Provinzhauptstadt Thanh Hoa entfernt befindet sich dort die Forstbehörde, die das Naturschutzgebiet Pu Luong verwaltet. Es gehört zur selben Karstfelsformation wie der berühmte Cuc Phuong Nationalpark, den Ho Chi Minh noch selbst eröffnet hat. Erst kürzlich haben Expeditionen bewiesen, dass die Wälder in Pu Luong mindestens so viele seltene Tierarten beherbergen, wie der Cuc PhuongPark. Beispielsweise haben Biologen in den Höhlensystemen von Pu Luong eine Fischart entdeckt, die bis dahin ausschließlich in den unterirdischen Gewässern der Höhlen von Cuc Phuong gefunden worden war. Aber neben seltenen Fischen, Fledermäusen und Languren, den wunderschönen Schlankaffen Asiens, leben in Pu Luong auch 25.000 Menschen. Und sie bedrohen die letzten noch halbwegs intakten Primärwälder Pu Luongs. Denn die Landbevölkerung ist abhängig von den Fleisch- und Holzressourcen in den Waldgebieten. Aber es gibt eine Alternative zum Raubbau an den Wäldern, und die heißt Gabriele Prinz. Die deutsche Entwicklungshelferin vermittelt den Dorfbewohnern im Naturschutzgebiet neue landwirtschaftliche Methoden. Und dabei möchte ich sie eine Weile begleiten. 460 Vietnam Kristin Raabe 4. Von Reisschnaps und Schweinezucht „Ga – Bieh, Ga – Bieh“ – der Ruf kommt ihr immer entgegen, wenn Gabriele Prinz nach stundenlangem Fußmarsch endlich ein Dorf in ihrem Gebiet erreicht. Kein Telefon, keine Email, kein Fax hat ihre Ankunft angekündigt. Aber das ist hier egal. Hauptsache: Ga-Bieeh ist da. Denn meistens hat sie etwas mitgebracht. Keine greifbaren Geschenke zwar, aber Projekte, die das Leben der Dorfbewohner entscheidend verbessern sollen. Mit den Gaben ist stets eine Bedingung verknüpft: Die Bauern dürfen nicht mehr im Naturschutzgebiet jagen, kein Holz mehr schlagen und die Hänge nicht mehr roden, um dort Maniok anzupflanzen. Wenn sie die Bedingungen akzeptieren, bekommen sie ein Projekt von der deutschen Entwicklungshelferin, beispielsweise eine Schweinerasse, die viel schneller wächst und schon nach sechs Monaten Mastzeit geschlachtet werden kann. Allerdings nur, wenn die Schweine auch fachgerecht untergebracht sind und entsprechend gutes Futter erhalten. Das nötige Fachwissen in Sachen Schweinezucht wollen Gabriele Prinz und ein vietnamesischer Experte den Bewohnern des Dorfes Thanh Cong vermitteln. Alle Dorfbewohner gehören zur Minderheit der Muong. Sie leben in traditionellen Stelzenhäusern, tragen ihre eigene Tracht und sprechen untereinander ihre eigene Sprache. Hinter uns liegt nun schon eine halbe Tagesreise, die wir im Jeep, auf einer Fähre und nicht zuletzt auf dem wichtigsten Verkehrsmittel Vietnams verbracht haben: dem Xeom. Ein Xeom ist ein Motorradtaxi. Mit dem Auto oder dem Jeep sind die meisten Straßen hier nicht zu bewältigen. Aber die allgegenwärtige Honda Dream schafft das. Die letzten 1 ½ Stunden mussten wir allerdings laufen, weil hier sogar die Honda Dream versagt hätte. Die Landschaft, die wir dabei durchqueren, ist atemberaubend. Sie macht aber auch deutlich, was das Problem dieses Naturschutzgebietes ist. Rechts und links unserer schmalen Wege erstreckt sich die grün leuchtende Symmetrie der Reisfelder. Dazwischen ragen immer wieder schroffe Felsen auf, als wollten sie mit ihrer Wildheit die Ruhe der Reisfelder zerstören, die praktisch jeden Quadratmeter bis zum Fuß der Felsen bedecken. Auf den grün bewachsenen Hängen dieser Karstfelsformationen zeigen sich immer wieder rotbraune Wunden. Es sind gerodete Flächen, auf denen zwei bis drei Jahre lang Maniok angebaut wurde, solange bis sämtlicher Humus weggespült war. „Manchmal werden über diese Flächen Holzstämme ins Tal gerollt. Danach hat auf diesem Boden keine noch so anspruchslose Pflanze eine Chance“, berichtet die Landwirtschaftsexpertin, die wir – genau wie alle anderen – Gaby nennen dürfen. 461 Kristin Raabe Vietnam Als wir endlich im Stelzenhaus des Dorfvorstehers ankommen, bin ich beeindruckt von der schlichten Architektur des Hauses. Die Stelzen sind so hoch, dass selbst hoch gewachsene Europäer bequem darunter herlaufen können. Die geschützte Fläche darunter dient zur Lagerung von allerlei einfachen landwirtschaftlichen Gerätschaften. Aber auch Wasserbüffel und Kühe finden hier einen Unterschlupf. Eine stabile Treppe führt zu einer Art überdachter Veranda, auf der ein Webstuhl steht. Auf ihm weben die Frauen des Hauses die traditionellen Schals, die sie sich um Brust und Taille binden. Im Inneren des Hauses beeindruckt vor allem der mächtige Dachstuhl. Auf einem Zwischenboden lagert der Reis für das gesamte Jahr. Der Boden besteht aus schlichten Bambuslamellen. Das ist sehr hygienisch, denn Staub und Krümel fallen durch die Zwischenräume einfach hindurch. Als einziges Möbel fällt eine geschnitzte Truhe auf. In ihr wurde wahrscheinlich die Aussteuer der Ehefrau des Hausbesitzers aufbewahrt. Die Bewohner essen und schlafen auf einfachen Matten, die auf dem Boden ausgebreitet werden. Einen starken Kontrast zur schlichten Ausstattung des Hauses bilden die vielen bunten Kalender, die überall an den Wänden und Balken hängen. Meistens zeigen sie Fotos oder kunstvolle Zeichnungen von protzigen Villen. Davor parkt meist eine Luxuskarosse, über deren Kühlerhaube sich laszive eine spärlich bekleidete Asiatin räkelt. Die Welt, die die bunten Darstellungen auf den Kalendern zeigen, ist für fast jeden Vietnamesen unerreichbar, auch für unseren freundlichen Gastgeber, den Dorfvorsteher Herrn Thao. Ich bin erschöpft von der langen Reise und den vielen neuen Eindrücken. Am liebsten würde ich ein großes Glas kaltes Wasser trinken und mich dann hinlegen. Gaby und unserem Fotografen Stephan geht es bestimmt nicht anders. Aber Herr Thao hat etwas anderes mit uns vor. Er holt die Schnapsflasche heraus, und wir müssen erst einmal mit ihm anstoßen. Eine Ablehnung kommt nicht in Frage. „Trau nur dem, der mit Dir trinkt. Das ist eine wichtige Regel bei den Minderheiten“, erzählt mir Gaby. Uns sollen sie trauen, und deswegen kippen wir tapfer das scharfe Gebräu hinunter. Bei einem Glas bleibt es nicht. Immer wieder schenkt uns Herr Thao nach. Seine Frau Ngan Chi Kanh ist auch ganz schön trinkfest. Zu Hause in Deutschland trinkt Gaby noch nicht einmal ein Bier, geschweige denn härtere Sachen, wie diesen Reisschnaps. Als endlich das Essen kommt, sind alle schon völlig besoffen. Ein Verwandter von Herrn Thao hat es zubereitet. Bei den Muong- und ThaiMinderheiten kochen immer die Männer. Ihre Küche ist wegen der beschränkten Mittel nicht besonders abwechslungsreich. Weil wir zu Gast sind, haben sie ein Huhn gerupft, gekocht und hinterher mit der Machete in Stücke gehackt. Dazu gibt es gekochten Wasserspinat, bitteren Bambus 462 Vietnam Kristin Raabe und natürlich Reis. Ein paar Schweine könnten wirklich für Abwechslung auf dem Speiseplan sorgen. Hoffentlich hat Gaby Erfolg mit ihrem Projekt. Aber das startet erst am nächsten Morgen. In der Nacht wache ich plötzlich von einem lauten Donner auf. Ein mächtiges Gewitter demonstriert, wie stabil die Stelzenhäuser sind. Kein Tropfen Wasser durchdringt das mit Fächerpalmblättern gedeckte Dach. Und wenn die Fensterläden geschlossen sind, kommt auch kein Wind herein. Diese seit Jahrhunderten bewährte Bauweise bietet Schutz vor Unwettern und glühender Hitze. Tagsüber ist es innen überraschend kühl und schattig. Am Morgen nach der Gewitternacht brennt die Sonne auf uns herab. Das ist gut, denn der Regen hat die Wege im Dorf in gefährliche Schlammrutschen verwandelt. Vielleicht ist das der Grund, warum viele Bauern, die weiter weg wohnen, nicht ins Versammlungshaus gekommen sind. Der Dorfvorsteher Thao ist verärgert. Er schimpft erst einmal mit allen Anwesenden, und dann ermahnt er sie noch, nicht mehr in den Wald zu gehen. Die wichtigste Botschaft des Projektes ist hier anscheinend angekommen. Gaby ist begeistert. Das legt sich, als Herr Hien übernimmt. Er soll den Bauern die Schweinezucht erklären. Und das tut er mit vielen Gesten, einer melodiösen kräftigen Stimme und einigen hastig hingekritzelten Schaubildern. Ohne ein Wort zu verstehen, habe ich den Eindruck, dass Herr Hien wirklich weiß, wie er die Leute hier begeistern kann. Aber Gaby ist mit den Inhalten seines Vortrags nicht ganz einverstanden: „Bei dem geht es immer nur um die Ställe. Dabei ist die Ernährung viel wichtiger.“ Couragiert mischt sie sich schließlich ein. Erst seit einem Jahr lernt sie intensiv Vietnamesisch und jetzt versucht sie mit ihrem beschränkten Vokabular, den Menschen zu erklären, was Eiweiße und Kohlenhydrate sind, und dass Schweine beides brauchen. Ich bewundere Gaby, und die Dorfbewohner anscheinend auch. Bei einem Rundgang durchs Dorf zeigen sie ihr, welche Erfahrungen sie bereits mit der Schweinezucht gemacht haben. Gabys Urteil fällt mal mehr, mal weniger wohlwollend aus. Sie ist begeistert von den eiweißreichen Futterpflanzen, die ein Bauer angebaut hat. Entsetzen packt sie, als sie zwei Ferkel mit einer Hautkrankheit sieht. „Zuviel Sonne und zuwenig gutes Futter“, vermutet sie. Für Herrn Hien ist das ein Anlass, noch mal auf die Ställe hinzuweisen. Jede Seite soll gegen Sonnenlicht geschützt sein. „Die Mängel bei einem schlechten Stall aufzuzählen, ist einfach, eine mangelhafte Fütterung aufzudecken, ist schon schwieriger. Wenn ein Tier nicht gut aussieht, dann kann es auch daran liegen, dass es vielleicht Würmer hat oder sonst irgendwie krank ist. Das muss also nicht unbedingt am Futter liegen.“ Gaby wird ungeduldig, weil Herr Hien immer noch nichts über eine gute Schweinefütterung erzählt hat. 463 Kristin Raabe Vietnam „Dabei kann bei guter Fütterung ein Schwein auch in einem schlechten Stall gut wachsen.“ Das Schweineprojekt macht Gaby Sorgen. Am Nachmittag geht der Unterricht weiter, und ich mache mit dem Fotografen Stephan Fengler einen Ausflug in den Wald, der direkt hinter dem Dorf beginnt. Wir kämpfen uns auf einem schmalen Weg die Felsen hinauf. Dabei sind wir ständig umgeben von Malariamücken. Das alles nehme ich nur auf mich, weil ich unbedingt die Pandalanguren sehen möchte, die hier leben sollen. Der Pandalangur zählt zu den seltensten Affen der Welt. Es leben nur noch knapp 300 dieser schönen, schwarzweiß gezeichneten Affen. Eine Gruppe von 50 Pandalanguren hat eine Expedition erst Anfang 2004 in Pu Luong entdeckt. Nach nur einer Stunde muss ich völlig erschöpft und dehydriert umkehren. Stephan geht noch weiter. Als er zwei Stunden später ebenfalls zurückkehrt, hat er zwar etliche Fotos von schönen Orchideen und alten Bäumen gemacht, aber auch noch keinen Pandalangur gesichtet. Wahrscheinlich sind die Tiere viel zu scheu. Schließlich kennen sie Menschen nur als Jäger, die sie erschießen wollen. Aber wer weiß, vielleicht hört das ja auf, wenn die Menschen von Thanh Cong Erfolg mit der Schweinezucht haben. 5. Von Pilzen, Bienen und Touristen Es regnet in Strömen – und das schon seit zwei Tagen. Wir kommen einfach nicht weg aus Ba Thuoc. Wenn es regnet, sind die Wege verschlammt, und kein Xeom kommt dort hindurch. Ohne die wendigen Motorradtaxis lässt sich praktisch kein Dorf in Gabys Revier erreichen. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten bis sich das Wetter bessert. Da ergibt sich dann doch noch eine Möglichkeit: Wir begleiten Gaby zu einem Dorf, das ganz in der Nähe liegt. Eine viertel Stunde Fahrt mit dem Jeep, und wir sind da. Der Vorsitzende der örtlichen Jugendorganisation der Partei empfängt uns. Ihn interessiert im Moment nur ein Thema: Pilze. Für sie hat er extra eine Hütte gebaut. An der Decke hat er in Plastiktüten verpackte Ballen von Reisstroh befestigt. Aus den angeritzten Tüten wachsen weiße Pilze. „Die sind hier eine Delikatesse und können teuer auf dem Markt verkauft werden“, erzählt uns Gaby. Der Vorsitzende der Jugendorganisation jedenfalls berichtet von einem ordentlichen Gewinn. Sein Wissen hat er bereits an andere Dorfbewohner weitergegeben, die jetzt auch mit einer Pilzzucht begonnen haben. Gaby ärgert sich, wenn immer nur die Dorfvorsteher oder ihre Verwandten die Projekte bekommen. „Das sind ohnehin schon die Reichsten im Dorf, oft aber auch die Fitesten, und das ist schließlich auch wichtig, wenn ein Projekt laufen soll.“ Die Pilze 464 Vietnam Kristin Raabe jedenfalls sind ein voller Erfolg, und sie schmecken recht gut, wie wir beim Abendessen in Ba Thuoc feststellen. Am nächsten Morgen hat der Regen endlich aufgehört, und wir machen uns auf zu einer mehrtägigen Reise. Nach einem halsbrecherischen Ritt mit den Xeoms über die immer noch verschlammten Wege gelangen wir schließlich in ein Dorf, in dem Gaby uns ihr Bienenprojekt vorstellen möchte. Einige Dorfbewohner haben bei einem Kurs in Hanoi die Imkerei erlernt. Ihre Bienenvölker liefern einen ausgesprochen wohlschmeckenden Honig. Allerdings sind die vietnamesischen Bienen um einiges aggressiver als ihre europäischen Verwandten. Etliche der Dorfbewohner haben geschwollen Augen von den Bienenstichen. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass erst mal niemand bereit ist, uns die Bienen vorzuführen. Schließlich findet sich doch noch eine mutige Frau, die den Deckel des Bienenstocks öffnet. Die Kiste mit den Waben ist auf Holzfüßen befestigt, die in mit Wasser gefüllten Reisschälchen stehen. Das soll die Termiten abhalten. Wir sehen zu, wie eine Wabe herausgenommen wird und in die Schleudertrommel kommt. Anschließend wird der Honig in eine Flasche gefüllt. „Dafür bekommen sie auf dem Markt schon mal 50.000 Dong. Das sind ungefähr 2,50 Euro. Damit die Bienen einen guten Honig liefern, müssen die Bauern Brachflächen erhalten, auf denen sie sonst vielleicht Maniok anpflanzen würden. Nur wenn sie die Natur schützen, machen sie mit den Bienen auch einen guten Gewinn“, erklärt mir Gaby. Beim Bienenprojekt ist der Naturschutz also quasi integriert. Wir verlassen das Dorf, und seine Bewohner schauen uns lächelnd, mit geschwollenen Augen hinterher. Gaby hat mir versprochen, dass ich nun endlich das schönste Dorf von Pu Luong sehen darf. Dorthin sollen demnächst auch Touristen reisen. Die deutsche Entwicklungshelferin plant ein Ökotourismusprojekt. „Wenn die Menschen merken, wie begeistert die Ausländer von der Natur hier sind, dann haben sie eher ein Interesse sie auch zu erhalten.“ Das Konzept könnte tatsächlich funktionieren. Schließlich gibt es dafür in Südamerika schon einige positive Beispiele. Aber bevor die Touristen kommen, muss Gaby noch einige Probleme bewältigen: Das erste Stelzenhaus, das in Zukunft einmal Ökotouristen beherbergen soll, liegt an einer kleinen Straße. Seine Bewohner tragen westliche Kleidung und haben sogar Möbel. Eine Bank, einen Tisch und sogar ein Bett. Das habe ich bisher in keinem Stelzenhaus gesehen. Seit kurzem gibt es auch eine primitive Dusche und eine Toilette; alles in einem separaten Haus aus Stein – extra für die Touristen. Ich bewundere den schönen sonnengelben Anstrich und überhaupt die gute Ausführung des Baus. „Von wegen“ meint Gaby und stellt sich in den Eingang des Toilettenhäuschens:„Guck Dir das mal an!“ Mit ihren 1,75 m stößt Gaby auch mit eingeknickten Beinen mit 465 Kristin Raabe Vietnam dem Kopf an die Decke des Eingangs. Die Vietnamesen haben beim Bau eben nicht berücksichtigt, dass der durchschnittliche Europäer, Amerikaner und Australier um einiges größer sind als sie. Nach einem kurzen Tee geht es auf Xeoms weiter nach Koh Muong, dem angeblich schönsten Dorf der Gegend. Gaby schwärmt schon jetzt von Herrn Nec, bei dem wir übernachten werden. Ich bin gespannt. Allerdings verzögert sich unsere Ankunft, da wir bei unserer Wanderung auf dem letzten Stück des Weges ständig auf unseren Fotografen warten müssen. Immer wieder stößt er auf eine Landschaft, die unbedingt festgehalten werden muss. Besonders schöne Ansichten müssen mit der Hasselblad-Mittelformatkamera aufgenommen werden. Und das dauert irgendwie länger als mit Kleinbild: Mehrere Kameras und Objektive, etliche Filmrollen – alles in allem gut 20 Kilo. Ich verstehe nicht, wie er das die ganze Zeit mit sich herumschleppen kann. Nach zwei Stunden blicken wir endlich auf das Dorf Kho Muong. Es erstreckt sich über zwei Talkessel, durch deren Mitte ein Fluss fließt. Die Reisfelder leuchten beinah in einem Neongrün. Die hohen Berge rund um die beiden Täler sind dicht bewaldet. Als wir endlich am Haus von Herrn Nec ankommen, ist es schon ziemlich spät. Natürlich müssen wir zuerst die üblichen vier bis sechs Gläser Reisschnaps hinunterspülen. Der Hausherr ist wirklich sehr nett, aber auch ein wenig unvorbereitet. Er hat nicht viel zu Essen im Haus. Kein Problem, wir haben das gekochte Huhn sowieso schon über. Gemüse und Reis – das reicht uns. Herr Nec serviert Schnecken, zähe eklige Schnecken. Gaby isst aus Höflichkeit ein paar. Stephan schafft immerhin zwei. Ich kriege beim besten Willen nicht eine einzige hinunter. Herr Nec ist ziemlich besorgt, was die Touristen angeht, als er sieht, wie schwer wir uns mit seinem Essen tun. Er hat bereits an einer Schulung teilgenommen, bei der alle potentiellen Gastgeber probekochen mussten. Gaby macht sich keine Sorgen wegen seiner Kochkünste. Sie plant schon die nächste Stufe des Ökotourismusprojektes: „Vielleicht könnten wir hier einen Kerosinkühlschrank hinstellen, nur für Coca Cola. Die könnten dann die ärmeren Familien an die Touristen verkaufen. Für eine Dose könnte man dann schon mal 20.000 Dong verlangen.“ Gemeinsam fantasieren wir von den Unsummen, die die Touristen nach Kho Muong bringen werden. Gaby trinkt nur Cola. Wasser gibt es bei ihr nicht. Sie würde in Kho Muong jeden Preis für eine kalte Cola bezahlen. 20.000 Dong entsprechen ungefähr 1 Euro. Das ist mehr als das doppelte, was eine Cola in Hanoi kosten würde. Aber schließlich ist es ein ziemlich langer Fußmarsch vom nächsten Colahändler bis in das Dorf Kho Muong. Und der Kerosin-Kühlschrank will 466 Vietnam Kristin Raabe auch irgendwie betrieben werden. Also sind 20.000 Dong für eine kalte Cola absolut gerechtfertigt. Am nächsten Morgen führt uns Herr Nec zur Höhle von Kho Muong. Er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Intelligent Cinderella“. Eindeutig ein Mädchen-T-Shirt. Aber das weiß Herr Nec sicherlich nicht, schließlich spricht er kein Englisch. Als Übersetzer begleitet uns Chuyen, einer der Forstbeamten von Ba Thuoc. Herr Nec ist ein fantastischer Führer. Freundlich weist er uns auf jeden möglichen Stolperstein hin. Nach einer dreiviertel Stunde haben wir endlich den Eingang der Höhle erreicht. Von dort müssen wir einen Abhang mit Felsen und Geröll herunterklettern. Unten angekommen bietet sich uns ein beeindruckender Anblick. Stalagmiten ragen von der Decke herunter, und die moosbewachsenen Felsen vor dem Eingang leuchten grün zu uns herab. Es herrscht eine andächtige Stille. Aber Chuyen sieht die Muong Höhle in einem ganz anderen Licht: „A perfect place for Badminton – no Wind.“ Badminton ist der Nationalsport der Vietnamesen. Jede Forstbehörde, und sei sie auch noch so abgelegen, hat ihren eigenen Badmintonplatz. Aber Badminton in der Muong-Höhle – das kommt mir beinah vor wie ein Sakrileg. Plötzlich fällt mir auf, dass es gar nicht so still ist. Eine Art unterschwelliges hohes Zwitschern ist ständig zu hören. Ich schaue an die Decke und sehe Fledermäuse umherflattern. Diese nachtaktiven Säuger sind typisch für die Karstformationen. In den Felsen gibt es viele Höhlen, und die sind ein idealer Lebensraum für Fledermäuse. Hier leben einige seltene Arten, die nur in zwei bis drei Höhlen vorkommen und nirgendwo sonst. Früher, erzählt Herr Nec, hätten die Menschen einmal im Jahr Gerüste gebaut und die Fledermäuse zu hunderten gefangen und gegessen. Heute mache das niemand mehr. „Es macht keinen Sinn, Tiere nur wegen einer Tradition zu töten.“ Ich sage Herrn Nec, wie wunderschön sein Dorf sei, dass es überhaupt das schönste Dorf sei, das ich jemals in Vietnam gesehen habe. Und dass die Touristen alle begeistert sein werden – von der Höhle, von ihm und überhaupt von allem. „Wirklich, für uns ist das hier alles ganz normal“, Herr Nec glaubt mir irgendwie nicht. Er befürchtet, die Touristen werden mit seinem Essen nicht zufrieden sein. Diese Furcht kann ich ihm kaum nehmen. Aber zum Abschied gibt es die in Asien allgegenwärtige Instant-Nudelsuppe und das ist nun wirklich das leckerste, was ich jemals in einem Dorf im Naturschutzgebiet Pu Luong gegessen habe. 467 Kristin Raabe Vietnam 6. Von Wilderern, Rangern und noch mehr Reisschnaps Bevor wir nach Ba Thuoc zurückfahren, machen wir noch einen kleinen Abstecher zu einer der kleineren Forststationen. Sie liegt mitten im Naturschutzgebiet, abseits von jeder Ortschaft. Die dort stationierten Ranger sind begeistert, als wir dort ankommen. Gaby will mir hier einen „wichtigen“ Menschen vorstellen. Der Leiter der Forststation hat eine Geschichte zu erzählen. Er spricht sehr leise, und reagiert zunächst nur zögerlich auf die Zwischenfragen, die Gaby und Chuyen ihm stellen: „Wir waren im Wald unterwegs, als wir Wilderer entdeckten. Sie hatten einen Lockvogel dabei, der andere Vögel anlocken sollte, die sie dann verkaufen wollten. Es gelang uns einen Wilderer zu überwältigen und den Lockvogel zu konfiszieren. Er ist sehr wertvoll, man bekommt 1,5 Millionen Dong (ca. 85 Euro) für so einen gut abgerichteten Vogel. Aber den Wilderer mussten wir schließlich laufen lassen. Wir können nicht wie die Polizei einfach jemanden gefangen nehmen. Diese Befugnisse haben wir leider nicht. Erst wenn formal Anklage erhoben worden ist, wird ein Wilderer auch festgesetzt. Aber dieser Wilderer war wütend auf uns, weil wir seinen Lockvogel hatten. Er kam nachts zu unserer Forststation und klaute unsere Wäsche, einige T-Shirts und Hosen. Wir sollten unsere Kleidung erst dann wiederbekommen, wenn wir ihm seinen Lockvogel wiedergeben. Aber ich weigerte mich. Da wurde er so wütend, dass er mit dem Messer auf mich losging.“ Der mutige Forstbeamte hat mehrere Wochen im Krankenhaus gelegen. Die Wunde an seinem Bein hat eine tiefe Narbe hinterlassen. Sie ist inzwischen gut verheilt. Die psychischen Verletzungen, die er durch den Schock erlitten hat, sind nicht so gut versorgt worden. „Ich habe den Eindruck, dass dadurch irgendetwas in ihm zerbrochen ist. Er wird jetzt wahrscheinlich nicht mehr so energisch gegen die Wilderer vorgehen“, vermutet Gaby. Auch ohne gewalttätige Wilderer haben die Kiem lam, so heißen die Forstbeamten in Vietnam, keinen leichten Job. Viele Forststationen und Forstbehörden liegen abseits von bewohnten Gebieten. Die Beamten sehen ihre Familien nicht einmal jedes Wochenende, und zu alledem ist die Bezahlung miserabel. Weniger als 100 Euro im Monat. Als wir nach ein paar Tagen von unserem Aufenthalt bei der kleinen Forststation endlich wieder dort ankommen, werden wir mit großem Hallo empfangen. Zurzeit findet ein so genanntes „Awareness-Programm“ statt. Forstbeamte aus den verschiedenen Forststationen sind zu einer Fortbildung angereist. Trinh Le Nghuyen ist einer der Referenten. Er arbeitet für ENV, das bedeutet „Education for Nature“. Er will den Forstbeamten beibringen, wie sie in den Dörfern ihres Reviers ein Bewusstsein für Naturschutz schaffen können. Keine leichte Aufgabe, aber Trinh ist mit viel Engagement 468 Vietnam Kristin Raabe bei der Sache, und ich werde auch gleich mit eingespannt. Ich soll einen Vortrag darüber halten, was Journalisten von den Forstbeamten erwarten. In 10 Minuten geht es los. Darauf bin ich nicht vorbereitet. Es ist auch nicht besonders hilfreich, dass die meisten Forstbeamten überhaupt kein Englisch sprechen. Am Ende soll ich trotzdem noch ein Interview mit ihnen führen, um zu überprüfen, ob sie sich auch an meine Vorgaben halten. Ich hatte ihnen gesagt, dass Journalisten sich für Geschichten interessieren und dass allgemeine Statements und Statistiken dagegen weniger interessant sind. Als ich sie frage, was das Besondere an ihrer Forststation ist und was sie dort erlebt haben, hören sich ihre Antworten allerdings trotzdem so an, als wären es artig aufgesagte Slogans der Partei. Immerhin habe ich danach die Gelegenheit, mit Dr. Nguyen Xuan Dang zu sprechen. Der Zoologe hat ein Buch verfasst, in dem sämtliche bedrohte Tierarten Vietnams aufgeführt sind. Die Forstbeamten können dann diese Tiere anhand der beschriebenen Merkmale leichter identifizieren. „Das Besondere an der Natur Vietnams ist ihre Vielfalt“, erzählt Dr. Dang. „Das liegt an unserer Landschaft. Felsige Berge, große Gewässer und Täler wechseln sich ab. Dadurch entstehen von der Umgebung isolierte Lebensräume, in denen sich die Tiere völlig unabhängig von der Außenwelt entwickeln können. Deswegen gibt es in Vietnam auch so viele Tierarten, die nur an ein oder zwei Orten vorkommen.“ Zum Bedauern von Dr. Dang fehlt in Vietnam oft das Geld, um die heimische Natur zu erforschen. Einer, der schon viele Expeditionen in Vietnam organisiert hat, ist Neil Furley. Der Ire arbeitet für FFI, Flora & Fauna International, eine britische Naturschutzorganisation. FFI leitet das Naturschutzprojekt Pu Luong, dessen Aktivitäten zentral von der Forstbehörde in Ba Thuoc gesteuert werden. Lediglich Gabys Stelle wird vom Deutschen Entwicklungsdienst finanziert. Sie arbeitet aber eng mit Neil Furley und den anderen FFI-Mitarbeitern in Ba Thuoc zusammen. Gemeinsam mit den Rangern hat der irische Biologe eine Reihe von so genannten „Camera Trappings“ organisiert. Überall im Naturschutzgebiet stehen Kamerafallen, die durch ein vorbeilaufendes Tier ausgelöst werden. Auf den nur selten scharfen Bildern sind etliche erschrocken dreinblickende Tiere mit in der Dunkelheit leuchtenden Augen zu sehen. Die wohl faszinierendsten Tiere auf den Bildern sind der Nebelparder und der asiatische Schwarzbär oder auch Kragenbär. Der Nebelparder misst ohne Schwanz einen Meter Körperlänge. Diese Raubkatze ist ein ausgezeichneter Kletterer und wird von den Asiaten auch als „Astleopard“ bezeichnet. Der Nebelparder gilt in China und Thailand als Delikatesse und wird vermutlich auch in Vietnam stark bejagt. Mindestens ebenso bedroht ist der Kragenbär, der seinen Namen von einem auffälligen Pelzkragen um seinen Hals hat. Manchmal ist dieser 469 Kristin Raabe Vietnam Pelzkragen auch weiß und hebt sich deutlich vom restlichen dunkelbraunen Fell ab. Kragenbären ernähren sich hauptsächlich von Pflanzen und Insekten. Die chinesische Medizin schreibt ihrer Gallenflüssigkeit alle möglichen wundersamen Wirkungen zu. Deswegen werden Kragenbären überall in Asien eingefangen und in enge Käfige gezwängt. Dort wird ihnen ständig Gallenflüssigkeit abgesaugt, bis sie schließlich elendig verenden. Glücklicherweise ist in Pu Luong der illegale Tierhandel nicht sehr verbreitet, so dass die Kragenbären eine Chance haben, hier zu überleben. Die Kiem Lam von Ba Thuoc jedenfalls sind alle so stolz darauf, in ihrem Revier echte Kragenbären zu beherbergen, dass sie garantiert alles tun werden, um die bedrohte Art zu retten. Das gelingt ihnen sicherlich nur, wenn sie auch die Dorfbewohner in der Pufferzone und der Kernzone des Naturschutzgebietes Pu Luong überzeugen können. In einem Stelzenhaus, das mit Motorrädern schon in einer halben Stunde zu erreichen ist, sollen die Kiem Lam zeigen, was sie während der Fortbildung gelernt haben. Gaby, unser Fotograf Stephan Fengler und ich sind auch herzlich eingeladen. Leider kommen die Kiem Lam erst mal nicht dazu, den Dorfbewohnern, den Naturschutz näher zu bringen. Die Vorträge der Kiem Lam enden oft in lautem Lachen. Erst als einer der Beamten ein Lied über den Wald anstimmt wird es ruhiger. Aber dann geht auch schon die Sauferei los. In der Mitte des Raumes steht ein riesiger Krug. Er ist gefüllt mit Maniok, und Reisschnaps ist auch dabei. Mit einer Kelle gießt ein Junge ständig Wasser über die gärende Masse. Riesige Bambushalme stecken in der hochprozentigen Füllung des Kruges. Mindestens sechs Leute können gleichzeitig daraus trinken. Die Dorfbewohner und alle Kiem Lam trinken nacheinander das höllische Gebräu, und bei jeder Runde muss ein Weißer dabei sein. Dadurch kommen Gaby, Stephan und ich öfter zum Zug als alle anderen. Zum Glück sieht keiner, ob wir tatsächlich etwas durch die Bambushalme hochsaugen. Allmählich wird die Stimmung zwischen Kiem Lam und Dorfbewohnern immer besser – auch wenn von Naturschutz nicht mehr die Rede ist. Die Frauen führen schließlich, gekleidet in die traditionellen Trachten der Thai, einen Fächertanz auf. Danach wird gesungen. Auch wir bekommen das Mikrofon gereicht. Unser Fotograf stimmt die Internationale an, die niemand hier zu kennen scheint. Gaby singt „Ich wollt, ich wär’ ein Huhn“. Und am Ende geben wir alle drei noch „Bruder Jakob“ zum Besten, wobei ich allerdings meinen Einsatz verpasse. Wie wir an diesem Abend nach Hause gekommen sind, weiß ich nicht mehr. 470 Vietnam Kristin Raabe 7. Fabriken und Funkgeräte statt Schweine und Bienen? Auf diese Begegnung habe ich mich schon in Deutschland gefreut. Ich treffe Tilo Nadler, den berühmtesten und vielleicht erfolgreichsten Tierschützer in Vietnam. Er empfängt mich in zerschlissenen Shorts und löchrigem TShirt. Mit seinem wettergegerbten Gesicht und seinem Dreitagebart sieht Tilo Nadler genau so aus, wie ich mir einen Abenteurer vorstelle, der im Dschungel Asiens bedrohte Tiere verteidigt. In seinem „endangered Primate Rescue Center“ (frei übersetzt „Rettungszentrum für bedrohte Primaten“) im Cuc Phuong Nationalpark beherbergt er die seltensten Affen der Welt. Die meisten von ihnen wurden schon als Jungtiere gefangen und verkauft. Irgendwann haben Forstbeamte sie dann entdeckt und konfisziert. In Tilo Nadlers Rettungszentrum haben diese geschundenen und misshandelten Tiere schließlich eine Zuflucht gefunden. Endlich kann ich auch den Pandalangur bewundern – und zwar nicht nur in den Käfigen. Der deutsche Tierschützer und seine Mitarbeiter haben einen Hügel im Nationalpark komplett abgesperrt. Das Gebiet ist groß genug, um eine Gruppe von Pandalanguren zu ernähren. Vom Zaun aus, kann ich die Tiere tatsächlich dabei beobachten, wie sie in den Bäumen sitzen und gemütlich ihre Blätter fressen. Languren ernähren sich ausschließlich von Blättern. Das macht ihre Haltung außerhalb der Waldgebiete Asiens so schwer. Tilo Nadler weiß wahrscheinlich mehr über Languren als jeder andere. Die Affen fühlen sich in seinem Rettungszentrum so wohl, dass sie ständig Nachwuchs haben. In den geräumigen und abwechslungsreich eingerichteten Käfigen lassen sich Affen bewundern, die es sonst nirgendwo gibt. Darunter sind auch die seltensten Languren Vietnams: Die Cat-Ba-Languren oder Goldkopflanguren. Sie leben ausschließlich auf der Insel Cat Ba in der Halong-Bucht. Tilo Nadler träumt davon, seine seltenen Affen irgendwann einmal wieder in die Wildnis entlassen zu können. Genau deswegen hat er auch das riesige Freigehege für die Pandalanguren geschaffen. Hier sollen die Tiere lernen, wie sie in der freien Wildbahn an Nahrung kommen. Im mehrere Hektar großen Freigehegen wachsen genug Futterbäume für die Languren. Sie brauchen also kein zusätzliches Futter. Aber bevor irgendein Affe in die freie Wildbahn entlassen wird, muss das entsprechende Gebiet vor Wilderern sicher sein. Wie man mit denen umgeht, weiß der Tierschützer: „Als ich vor elf Jahren hierher kam, habe ich die Wilderer selbst gejagt. Dabei kam es auch schon mal zu der ein oder anderen brenzligen Situation, schließlich haben die Wilderer Waffen.“ 471 Kristin Raabe Vietnam Tilo Nadler fordert eine bessere Ausrüstung für die Ranger: „Die Wilderer haben auch Waffen und Funkgeräte. Wenn die Kiem Lam überhaupt eine Chance haben wollen, dann brauchen sie eine gleichwertige Ausrüstung.“ Nach Meinung des deutschen Naturschützers sollten die Entwicklungshilfegelder besser in die Rangerarbeit investiert werden anstatt in die landwirtschaftliche Entwicklung. „Man sollte den Menschen, die in den Naturschutzgebieten leben, nicht noch einen Anreiz bieten, dort wohnen zu bleiben. Dann ziehen doch immer mehr Menschen dorthin. Die holen sogar ihre Verwandten aus den Städten, weil sie Schweine, neue Reissorten oder eine Schule von den Entwicklungshelfern bekommen haben.“ Nach Meinung von Tilo Nadler haben die Reisbauern in den Naturschutzgebieten viel zu viel Zeit. „Wenn sie nichts zu tun haben, dann gehen sie eben in den Wald, also müssen wir dafür sorgen, dass die Bauern beschäftigt sind.“ Das ginge am besten, wenn die Bauern einer geregelten Arbeit nachgingen, beispielsweise in den Fabriken. Fabrikarbeiter arbeiten in Vietnam in der Regel sieben Tage die Woche. Da bleibt wirklich keine Zeit, um im Wald Holz zu schlagen oder seltene Tiere zu jagen. Aber mir gefällt der Gedanke nicht, dass die freundlichen Menschen in den Dörfern am Fließband stehen sollen. Das würde ihrer Kultur endgültig den Garaus machen. Die meisten gehören zu ethnischen Minderheiten, wie den Muong, den Thai, den Ede oder Hmong. Sie sprechen zwar alle vietnamesisch, haben aber einen völlig anderen kulturellen Hintergrund als die Kinh, die 80 Prozent der vietnamesischen Bevölkerung ausmachen. Wenn die Minderheiten unter sich sind, sprechen sie ihre eigene Sprache, viele tragen auch im Alltag noch die traditionelle, oftmals selbst gewebte Kleidung. In Hanoi hat bereits der Ausverkauf ihrer Kultur begonnen. Dort bieten etliche Geschäfte traditionelles Kunsthandwerk an. Bei den Minderheiten, die oft keine Vorstellung von dem Wert des Geldes haben, kommt von den Einnahmen vermutlich nicht sehr viel an. Und nun sollen diese Menschen also auch noch in die Fabrik. Irgendwie hat der lange Kampf gegen Wilderei, illegalen Holzhandel und Korruption Tilo Nadler zermürbt. „Es ist letztendlich nicht das Geld, das dem Naturschutz in Vietnam fehlt, sondern das Bewusstsein.“ Er berichtet von einer Naturschutzorganisation, die den Zollbeamten an der Grenze zu China bessere Löhne finanzierte. Die Zöllner bekamen 500 Dollar im Monat. Das ist für vietnamesische Verhältnisse ein gigantisches Einkommen. Die höheren Löhne sollten die Beamten dazu bewegen, den illegalen Tierhandel einzudämmen, anstatt immer nur Bestechungsgelder von den Tierschmugglern zu kassieren. Nach Angaben von Tilo Nadler hat all das so gut wie nichts gebracht: „Den Vietnamesen geht es nicht darum, ein gutes Einkommen zu haben. Ein Vietnamese, der wenig hat, will mehr haben und einer, der viel 472 Vietnam Kristin Raabe hat, will noch mehr haben. Wenn die Entwicklungshelfer den Menschen alternative Einkommensquellen anbieten, dann ist das für die Vietnamesen keine alternative, sondern nur eine zusätzliche Einkommensquelle. Die Dorfbewohner werden weiter im Wald jagen und Holz schlagen, und die Zollbeamten nehmen weiterhin Bestechungsgelder an.“ Wenn das zutrifft, dann wäre die Arbeit von Gabriele Prinz in Pu Luong völlig überflüssig. Irgendetwas muss aber getan werden, wenn die einmalige Natur Vietnams überleben soll. Tilo Nadler kennt da nur eine Vorgehensweise: „Es hilft alles nichts. Wir müssen die Gebiete abriegeln und die bestehenden Gesetze strenger durchsetzen. Dazu brauchen wir mehr und besser ausgebildete Ranger mit einer guten Ausrüstung. Außerdem müssten die Befugnisse der Ranger erweitert werden, damit sie die Wilderer selbst verhaften können.“ Diese Strategie bezeichnen Naturschützer als „Law-Enforcement“1. Sie steht im krassen Gegensatz zum sogenannten „Community based Management“2 oder den „Awareness Programmen“3 von ENV, bei denen mit den Menschen gearbeitet wird, damit sie selbst erkennen, wie schützenswert ihre Natur ist. Aber ein Bewusstsein für Naturschutz zu schaffen, braucht Zeit, und die haben vor allem die seltenen Affen Vietnams nicht mehr. Von den Pandalanguren, den Cat-Ba-Affen und den StumpfnasenTonkin-Affen leben nur noch wenige hundert Tiere. All diese Affen könnten schon in den nächsten Jahren ausgestorben sein. Ich spaziere mit Tilo Nadler noch ein wenig durch die langen Reihen geräumiger Käfige. Die meisten der Tiere darin haben eine schreckliche Geschichte hinter sich. Der deutsche Naturschützer vertritt ihre Interessen nun schon seit mehr als zehn Jahren. Für sie hat er sein Land, seine Familie und seine Freunde hinter sich gelassen. Und trotzdem muss er ständig mit ansehen, wie immer mehr dieser einzigartigen Tiere in der freien Wildbahn aussterben. Tilo Nadler hatte nie geplant ein Zoodirektor zu sein. Aber wenn die Entwicklung so weiter geht wie bisher, dann ist der einzige Ort, an dem Tiere wie der Pandalangur überleben, sein Rettungszentrum im Cuc Phuong Nationalpark. Abgesehen vom Primatenzentrum ist Cuc Phuong ein gutes Beispiel dafür, wie wenig ernst der Naturschutz in Vietnam genommen wird. Mitten durch den Park führt eine asphaltierte Straße. Dadurch können alle Besucher mit Bussen oder geliehenen Motorrädern einfach und schnell zum Zentrum des Nationalparks gelangen. Dort gibt es ein großes Schwimmbad, dessen 1 Rechtsdurchsetzung 2 Naturschutzmanagement auf Gemeindeebene 3 Bildungsmaßnahmen, die ein Bewusstsein für Naturschutz schaffen sollen. 473 Kristin Raabe Vietnam Wasser ziemlich stark mit Algen belastet ist. Außerdem befindet sich dort ein Restaurant, das leicht mehrere hundert Personen bewirten kann. Und das ist auch notwendig, denn beinahe jede Schulklasse in Vietnam macht einmal einen Ausflug in den Cuc Phuong–Park. Aber auch auf Touristen aus Japan oder Hongkong will das Parkmanagement vorbereitet sein. Es gibt an verschiedenen Orten im Park Unterkünfte in allen Preisklassen und natürlich auch Karaoke Bars. Und direkt hinter dem Eingang zum Park heben Bagger gerade einen See aus – als ob es nicht schon genug Mücken gäbe in Cuc Phuong. Auch am Ufer dieses künstlichen Sees entstehen neue Unterkünfte. Die Asiaten, die hier ihre Ferien verbringen werden, mögen es bequem. Deswegen sind die Hauptwege im Cuc Phuong Park wahrscheinlich auch asphaltiert. Immerhin verläuft man sich dann nicht so leicht. Auch mein Fotograf und ich wandern zu den berühmten tausendjährigen Bäumen, und die sind wirklich beeindruckend – jedenfalls, wenn man sich so hinstellt, dass man die betonierten Picknickplätze rundherum nicht sieht. Ich wandere ein bisschen abseits der befestigten Wege und entdecke unmittelbar hinter einem tausendjährigen Baum eine kaum versteckte Müllkippe. Ich fange an Tilo Nadler zu verstehen: Den Vietnamesen scheint der Naturschutz tatsächlich ziemlich egal zu sein. 8. Conservation Cowboys Nach einigen Wochen in der Wildnis bin ich beinah froh wieder in Hanoi zu sein. Die Stadt kommt mir auch schon gar nicht mehr so laut vor. Stattdessen genieße ich die fantastischen und preisgünstigen Restaurants. Zumindest wenn es ums Essen geht, hatten die französischen Kolonialherren einen guten Einfluss auf Vietnam. Keine Frage, in Hanoi lässt es sich gut leben. Vielleicht auch ein Grund, warum die meisten internationalen Entwicklungshilfe- und Naturschutzorganisationen hier ihre Büros haben. In einem zentral gelegenen Altbau hat FFI, Fauna & Flora International, ihr Hauptquartier. FFI ist eine britische Naturschutzorganisation, die in Vietnam sehr aktiv ist, und das liegt an den beiden Conservation Cowboys. „Conservation“ ist der englische Ausdruck für Naturschutz. Den betreiben Robert Primmer und Frank Momberg nach Meinung einiger ihrer Mitarbeiter eben in „CowboyManier“. Solange sie damit erfolgreich sind, soll mir das recht sein. Ich bin den beiden zum ersten Mal begegnet, als sie im Horizon Hotel in Hanoi für das Ökotourismus Projekt in Pu Luong geworben haben. Der deutsche Südostasien-Direktor von FFI, Frank Momberg, ergriff sofort die Gelegenheit, eine deutsche Journalistin für seine Zwecke einzuspannen. Ich habe nichts dagegen, solange ich dadurch auf interessante Themen und 474 Vietnam Kristin Raabe Projekte stoße. Innerhalb von weniger als fünf Minuten entwickelt er sieben Ideen, was ich noch alles machen könnte in Vietnam. „Wie, Du hast nur noch zwei DAT-Kassetten für Deine Interviews. Kein Problem, wir besorgen Dir welche. In Hanoi ist alles möglich. Verschieb schon mal Deinen Flug, hier gibt es noch soviel zu tun.“ Frank Momberg ist eindeutig ein Visionär. Aber das muss man vermutlich auch sein, wenn man als Naturschützer in einem Land wie Vietnam etwas erreichen will. Der deutsche Biologe hat ganz alleine die ersten FFI-Projekte in Vietnam ins Leben gerufen. Über seine Erfahrungen will er mir in einem Interview im FFI-Hauptquartier berichten. Ich will wissen, wie er die Situation in Vietnam einschätzt: Die Vietnamesen haben doch die wahrscheinlich besten Naturschutzgesetze in Asien. Es gibt so viele Naturschutzgebiete und Nationalparks. Ist es nicht ermutigend, soviel Engagement im Land selbst vorzufinden? Frank Momberg sieht das ganz anders: „Sicher, die Naturschutzgesetze in Vietnam sind sehr gut. Nur leider fehlt es an Mitteln und Personal sie auch durchzusetzen. Wirklich erfolgreiche Projekte allein von vietnamesischer Seite gibt es kaum. Und auch ausländische Organisationen haben es schwer, hier überhaupt eine Genehmigung für Projekte zu bekommen. Vietnam ist eben immer noch ein kommunistisches Land. Deswegen arbeiten hier viel weniger Naturschutzorganisationen als in einigen Nachbarländern.“ Letztendlich bestätigen Frank Mombergs Aussagen nur meine bisherigen Beobachtungen im Laufe meiner Reise: „Das größte Problem ist wirklich das Konsumverhalten. Wildtiere sind gerade bei der jetzt neu entstehenden Mittelschicht angesagt – ob nun eingelegt in Reiswein oder als Balsam. Meist wird ihnen eine Wirkung als Aphrodisiaka zugeschrieben. Am besten wäre es wahrscheinlich, wenn man Viagra hier besser vermarkten würde.“ Die meisten Vietnamesen interessieren sich nicht für die einmalige Natur in ihrem Land. Für sie ist ein Langur vor allem ein Stück Fleisch, das sich zu traditioneller chinesischer Medizin verkochen lässt. Bleibt als Ausweg also doch nur die konsequente Abriegelung der Naturschutzgebiete? Ist die Verteidigung seltener Tierarten mit Waffengewalt wirklich die einzige Lösung? Der FFI-Chef sieht die Situation nicht ganz so streng: „Sicher die Mehrzahl der Vietnamesen interessiert sich vor allem für ihr eigenes wirtschaftliches Vorankommen. Aber sie haben auch einen Vorteil: Sie sind sehr stolz und sehr diszipliniert. Wenn es gelingt, in den Vietnamesen den Stolz auf ihre Naturschutzgebiete zu wecken, dann setzen sie auch alles daran, diese Regionen zu schützen.“ Frank Momberg kennt auch ein FFIProjekt, bei dem dieses Konzept bereits erfolgreich war: Die StumpfnasenTonkin-Affen leben im Nordwesten-Vietnams. Ihre Beschützer sind die Dorfbewohner, die am Rande ihrer Wälder leben. Ich muss dieses Projekt unbedingt besuchen. 475 Kristin Raabe Vietnam Aber zunächst bin ich noch mit Robert Primmer verabredet. Als FFIKoordinator für die Primaten kennt er natürlich auch die StumpfnasenTonkin Affen sehr gut. „Bei diesem Projekt konnten wir mit sehr wenig Geld schon in zwei Jahren unglaublich viel erreichen.“ Er verspricht mir, bei den dortigen Behörden alles für meine Anreise zu organisieren. Das Naturschutzgebiet liegt an der Grenze zu China, direkt neben der Provinzhauptstadt Ha Giang. Dort und in anderen Projektgebieten stößt der Tierschützer immer wieder auf ein Problem: „Korruption ist vielleicht das größte Hindernis für den Naturschutz in diesem Land. Dabei wird Korruption hier nicht als Korruption wahrgenommen. Es ist quasi ein normaler Bestandteil des ganzen Geschäfts. Wenn jemand beispielsweise einen Job als Ranger bei der Forstbehörde haben möchte, dann funktioniert das wie folgt: Seine Familie muss Verbindungen zur Forstbehörde haben, dann gibt seine Familie diesem Verwandten oder Bekannten ein Geschenk in Form von Geld. Aber auf diesen Job bewerben sich zehn Leute, und wer immer die engste Beziehung zu dem Forstbeamten hat und wer am meisten Geld rausrückt, bekommt letztendlich die Stelle. 20 Millionen Dong, über 1.000 Dollar kostet ein Job bei der Forstbehörde. Irgendwie muss dieses Geld natürlich wieder reinkommen. Also verkauft ein Ranger das Holz, das er gerade konfisziert hat, wieder zurück an den Holzschmuggler.“ Rob Primmer hat auch in Botswana, Südafrika und Mosambik gearbeitet. In Afrika war er jedoch einen ganz anderen Umgang mit Korruption gewöhnt: „Wenn man ein Projekt in Afrika machen möchte, dann sagt der zuständige Afrikaner einem wahrscheinlich: „O.k., Du willst hier ein Projekt machen, dass so ungefähr 20.000 Dollar kostet. Gut und schön, ich will 5.000 Dollar davon auf meinem Konto sehen.“ In Vietnam läuft das ganz anders. Wenn wir ein Projekt machen, bekommen wir gesagt „wir brauchen einen Lohn für den und ein bisschen für den, ach ja, und der hilft uns auch, also müssen wir ihn auch bezahlen“. Am Ende ist kaum noch etwas übrig. Sie saugen das Geld aus den Projekten heraus. Aber niemand würde das als Korruption bezeichnen. Unsere Kulturen sind so unterschiedlich. Wir hätten keine Chance, würden wir versuchen, die Korruption hier im Lande zu beenden, denn Korruption wird von uns und den Vietnamesen ganz unterschiedlich wahrgenommen. Für die Vietnamesen ist sie ein Bestandteil des Systems, den sie niemals als Korruption bezeichnen würden. Wir müssen uns leider sehr oft diesem Denken anpassen und die Korruption quasi in unsere Projekte einplanen. Für uns ist es Korruption, für die Vietnamesen nicht, so einfach ist das.“ Die Korruption ist in Vietnam also ein großes Problem für den Naturschutz. Allerdings hat Robert Primmer inzwischen auch gelernt, wie er die Sitten im 476 Vietnam Kristin Raabe Lande nutzen kann, um die Interessen des Naturschutzes durchzusetzen: „Oft bringen wir einfach nur einen Ball ins rollen. Wir feiern mit den Menschen, singen dann Lieder über den Wald und erzählen ihnen wie einzigartig der Affe in ihrem Wald ist. Dann fragen wir sie, wie sie diesen Affen retten wollen. Die Menschen entwickeln dann von ganz alleine eine Strategie und stellen Regeln auf. Wir müssen sie nur bei der Durchführung unterstützen. Wenn sich jemand nicht an die selbst aufgestellten Regeln hält, dann verliert er sein Gesicht. Und das will kein Vietnamese.“ Wenn Wilderei und illegaler Holzeinschlag Gesichtsverlust bedeuten, dann hat der Naturschutz in Vietnam eine Chance. Für Robert Primmer war das Leben in Asien eine Umstellung. In seiner Heimat Südafrika musste er keine Rücksicht auf das „Gesicht“ seines Gegenübers nehmen. In Vietnam – wie überall in Asien - sind die Regeln der Höflichkeit jedoch wichtig, wenn man etwas erreichen will. Außerdem dauert es eine Weile mit den örtlichen Hierarchien vertraut zu werden. Das musste Robert Primmer feststellen, als er die zuständigen Ranger des Naturschutzgebietes um Ha Giang davon überzeugen wollte, gegen den illegalen Holzeinschlag vorzugehen. Nach einem Seminar sollten die Beamten in der Praxis zeigen, was sie gelernt hatten. Nachts machte sich Conservation Cowboy Rob zusammen mit einigen Beamten auf zu einer Straße, über die das Holz in der Regel transportiert wurde. Bewaffnet mit Taschenlampen versteckten sich alle im Gebüsch. „Sobald sich irgendein Gefährt näherte, fingen die Kiem lam sofort an viel Lärm zu machen und mit ihren Taschenlampen herumzuwedeln.“ Robert Primmer fand erst allmählich heraus, was vor sich ging. Die Forstbeamten fühlten sich gar nicht befugt, jemanden wegen des illegalen Holzhandels festzuhalten. Erst als Robert Primmer einen Professor für Forstwirtschaft aus Hanoi kommen ließ, der die meisten der Beamten ausgebildet hatte, ließen sie sich von dieser Respektsperson überzeugen. Inzwischen hat sich Robert Primmer daran gewöhnt, dass er manchmal nur auf Umwegen etwas für die seltenen Affen erreichen kann. Seine Ungeduld hat er allerdings nicht verloren. Und die ist auch berechtigt. Denn für die meisten seltenen Affenarten Vietnams ist es bereits fünf vor zwölf. Trotzdem träumt der Tierschützer davon, auch den seltensten Affen der Welt zu retten. Von den östlichen schwarzen Schopfgibbons existieren nur noch gut 20 Tiere im Grenzgebiet zwischen China und Vietnam. Gibbons sind Menschenaffen. Trotzdem ist das Interesse an ihnen bei Wissenschaftlern und Laien gleichermaßen begrenzt. Dabei sind die Tiere nicht nur elegante Kletterkünstler, die sich mit ihren langen Greifarmen geschickt durch das Geäst hoher Bäume hangeln. Sie sind auch hervorragende Sänger. Häufig 477 Kristin Raabe Vietnam singen Weibchen und Männchen im Duett. Das festigt die Paarbeziehung, die oft ein Leben lang andauert. Der Gesang des östlichen schwarzen Schopfgibbons wird in den Wäldern des nordöstlichen Vietnams vermutlich nicht mehr lange zu hören sein. Aber Robert Primmer will alles versuchen, um den Menschenaffen zu retten: „Wenn wir ausreichend Mittel hätten, dann könnten wir den östlichen schwarzen Schopfgibbon tatsächlich retten.“ Am liebsten würde der Naturschützer sofort selbst zu den Gibbons fahren und jeden einzelnen Affen eigenhändig mit der Pistole gegen Wilderer verteidigen. Aber er weiß auch, dass das unmöglich ist. Stattdessen hofft er auf Wissenschaftler, die daran interessiert sind, eine Population zu studieren, die gerade einen so genannten „genetischen Flaschenhals“ durchläuft. Von einem „genetischen Flaschenhals“ sprechen Experten, wenn eine Tierart durch eine Umweltkatastrophe oder eine Seuche sehr plötzlich auf wenige Individuen geschrumpft ist. Die Gene dieser wenigen Individuen stellen dann das einzige Reservoir dar, aus dem sich die Population bei ihrem Wachstum bedienen kann. Ein genetischer Flaschenhals lässt sich auch Generationen später im Genpool einer Tierart nachweisen. Dann sind sich alle Individuen untereinander genetisch sehr ähnlich, da sie alle von wenigen Ahnen abstammen. Von den östlichen schwarzen Schopfgibbons gibt es allerdings nur noch so wenige Tiere, das bereits jetzt die Gefahr von Inzucht besteht. „Nur wenn wir den Lebensraum der Tiere sofort abriegeln und den Tieren so viel Ruhe wie möglich geben, haben wir eine Chance, sie zu retten. Denn dann würden sie wieder anfangen, Nachwuchs zu zeugen und der genetische Flaschenhals blieb auf wenige Jahre beschränkt“, ist sich Robert Primmer ganz sicher. Zu gerne würde ich den seltensten Affen der Welt in seinem Lebensraum besuchen, aber meine Anwesenheit würde die Ruhe der Tiere stören, und das kann ich nicht verantworten. Also beschließe ich, gemeinsam mit dem FFI-Koordinator für Primaten die Stumpfnasen-Tonkin-Affen in Ha Giang zu besuchen. Ob es mir diesmal endlich gelingen wird, einen der seltensten Affen der Welt in freier Wildbahn zu sehen? 9. Auf der Suche nach den Stumpfnasen Ich kann nicht behaupten, man hätte uns nicht gewarnt. Die Straße von Hanoi nach Ha Giang ist eine einzige Schlammpiste. Ohne Vierradantrieb geht hier gar nichts. Der Bus fährt schon seit einigen Tagen nicht mehr. Kurz vor Ha Giang ist unsere Fahrt vorzeitig beendet. Eine Brücke, der einzige Weg zur Provinzhauptstadt Ha Giang, ist eingestürzt. Also setzt unser Fahrer mich und den Fotografen Stephan Fengler samt Gepäck ab. 478 Vietnam Kristin Raabe Da stehen wir nun: mitten im Matsch, als Fremde erkennbar und folglich eine gute Einnahmequelle. Wie sich herausstellt, gibt es eine schwimmende Behelfsbrücke aus Bambus, über die wir den Fluss überqueren können, allerdings nicht ohne einen recht großzügigen Obolus zu entrichten. Am anderen Ufer müssen wir noch eine Weile durch den Schlamm laufen bis wir ein Taxi erreichen, das uns zum Hotel bringt, in dem wir uns mit Robert Primmer treffen. Er hat überraschende Neuigkeiten. In einem benachbarten Hotel hat er einen jungen Gibbon entdeckt, der in einem Vogelkäfig unter erbärmlichen Bedingungen gehalten wird. Die Geschichte dieser Entdeckung sagt einiges darüber aus, wie wenig Vietnamesen über Tierschutz wissen: ,,Ich kam zufällig mit der Hotelbesitzerin ins Gespräch“, berichtet Robert Primmer. „Sie wollte schließlich wissen, was ich beruflich in Vietnam mache. Ich erzählte ihr, dass ich für eine Naturschutzorganisation arbeite. Da wurde die Frau ganz aufgeregt und sagte, sie müsse mir unbedingt etwas Interessantes zeigen. Ganz stolz präsentierte sie mir dann einen geschundenen kleinen Gibbon.“ Offenbar war der Dame nicht klar, dass die Haltung einer bedrohten Tierart in Vietnam verboten ist. Am nächsten Morgen sollten die Kiem Lam von Ha Giang den Gibbon konfiszieren. Das lokale Fernsehen und eine Radiostation wollten einen Bericht darüber machen. Außerdem sollten Stephan und ich das ganze in Ton und Bild festhalten. Als wir am nächsten Morgen bei der Forstbehörde von Ha Giang ankamen, war jedoch alles schon geschehen. Das lokale Fernsehen und die Radiostation hatten auch keine Chance für einen Bericht erhalten. Dabei wäre das eine gute Gelegenheit gewesen, die Bevölkerung über Tierschutz zu informieren. Die 100 Millionen Dong Geldstrafe, die die Hotelbesitzerin nun aufbringen muss, hätten sicherlich abschreckend gewirkt. Aber mit Medienrummel wäre die Aktion für den kleinen Gibbon sicherlich noch stressiger geworden. Völlig verängstigt hockt das abgemagerte Tier in seinem Käfig. Mit großen Augen schaut es ängstlich in die Runde und fängt an zu schreien, sobald jemand eine unbedachte Bewegung macht. Seine Haut ist rissig. Wahrscheinlich hat es nicht genug zu trinken bekommen. Aber auch das Wasser, das Robert Primmer, ihm mit einer Wasserflasche einträufelt, läuft größtenteils daneben. Keine Frage, der kleine Gibbon muss so schnell wie möglich nach Cuc Phuong zu Tilo Nadler. Nur dort kann er gerettet werden. Der FFI-Koordinator für Primaten will noch am selben Tag mit seinem eigenen Jeep zu der gut zehnstündigen Fahrt aufbrechen. Das bedeutet allerdings auch, dass wir alleine nach den Stumpfnasen-Tonkin-Affen suchen müssen. Robert Primmer will uns einen der so genannten „Community Ranger“ zur Seite stellen. In seinem Haus sollen wir übernachten, bevor es dann früh am nächsten Morgen hinauf auf den Berg geht. Dort leben die 479 Kristin Raabe Vietnam Stumpfnasen-Tonkin-Affen in einem nur schwer zugänglichen Waldgebiet. Am Abend erzählt uns unser Gastgeber nach etlichen Gläsern Reisschnaps, wie sich sein Verhältnis zu den Affen im Laufe der Jahre verändert hat: „Früher waren die Affen für uns nur Fleisch. Wir haben sie gejagt, weil wir hungrig waren. Aber jetzt wissen wir, dass diese Affen etwas Besonderes sind. Deswegen gehen wir jetzt auch regelmäßig in den Wald, um aufzupassen, dass auch niemand anders sie jagt oder ihnen die Bäume wegnimmt.“ Ich will wissen, wie es war, als er zum ersten Mal einen Tonkin-Affen gesehen hat: „Oh, es sind sehr schöne Tiere. Sie sind ziemlich groß für einen Affen und haben ein blaues Gesicht. Früher habe ich sie nie gesehen. Sie waren immer oben in den Bäumen und sind geflüchtet sobald sie einen Menschen sahen. Aber jetzt sind Affen und Menschen Freunde. Sie bleiben einfach oben in den Bäumen sitzen und schauen zu uns herab, wenn sie uns sehen. Das ist wirklich ein sehr schönes Erlebnis.“ Die einzigen scharfen Fotos, die es von einem Stumpfnasen-TonkinAffen gibt, stammen von einem Jungtier, das in ziemlich üblem Zustand in Tilo Nadlers Rettungszentrum ankam. Es starb nach wenigen Tagen. Auf den Bildern, die der deutsche Tierschützer von dem Jungtier machte, ist erkennbar, wie schön diese Affenart ist. Das Gesicht ist blau von hellem Fell umgeben. Die Stumpfnasen-Tonkin-Affen sehen ein wenig unnatürlich aus, als wären sie nicht von dieser Welt. Sie ähneln vielleicht am ehesten den Ewoks aus der Star Wars Trilogie. Ohne Frage zählen sie zu den größten Affen Vietnams. Deswegen kann ich sie wahrscheinlich auch dann noch sehen, wenn sie hoch oben in den Bäumen sitzen. Am nächsten Morgen brechen wir früh um sechs Uhr ohne Frühstück auf. Nach einer kurzen Wanderung durch das Dorf beginnt unser Aufstieg. Die Wege sind erstaunlich gut, allerdings geht es konstant bei einer Steigung von 30 bis 45 Grad bergauf. Nach knapp drei Stunden erreichen wir eine kleine Hütte. Das ist also die Forschungsstation von FFI. Der britische Wildlife-Fotograf Terry Whittaker lebt dort gerade. Als wir ankommen, ist er allerdings mit seinem Führer im Wald unterwegs. Nur sein Koch ist da. Er berichtet uns, dass Terry in ein paar Stunden zum Essen zurück sein will. Also machen wir uns auch auf den Weg in den Wald. Dass das Vorankommen so schwierig sein würde, hatte ich allerdings nicht erwartet. Obwohl die Vegetation sehr dicht ist und uns riesige Bäume umgeben, besteht der Untergrund nicht aus Erde. Wir gehen ständig über scharfe Felsen. Sie sind glitschig und von Moos bewachsen. Dabei wird unser Gepäck zu einem Problem. Ich habe ein Reportagegerät mit mehreren Mikrofonen für Tonaufnahmen dabei und Stephan schleppt zwanzig Kilo Kameraausrüstung mit sich herum. Nach gut zwei Stunden bin ich komplett dehydriert und weiß, dass ich eigentlich dringend umkehren müsste, aber 480 Vietnam Kristin Raabe wir haben immer noch keinen Affen gesehen. Also versuche ich von unserem Führer zu erfahren, wie weit es noch bis zu den Stumpfnasen ist. Wenn ich mein Wörterbuch richtig eingesetzt habe, dann lautete seine Antwort wohl: „In diesem Tempo vier Stunden.“ Weitere vier Stunden in dem Wald, das würde bedeuten, dass wir auf jeden Fall auch sechs Stunden für den Rückweg bräuchten. Schweren Herzens kehren wir also um. Als wir endlich wieder bei der Forschungsstation ankommen, die eigentlich eine Hütte ist, ist auch Terry, der britische Wildilfe-Fotograf wieder da. Er hat heute auch noch keine Stumpfnasen-Tonkin Affen gesehen. Dabei will er die ersten Fotos von diesen seltenen Tieren in freier Wildbahn schießen. Das gestaltet sich allerdings schwieriger als erwartet. „Die Tiere sind zwar nicht scheu, aber sie leben soweit oben in den Bäumen, dass ich vom Boden aus keine guten Fotos machen kann. Wir brauchen eine Plattform in den Baumkronen, dann könnte ich wunderbare Bilder von diesen schönen Tieren machen.“ Als er merkt, wie enttäuscht wir sind, dass wir nicht mal aus der Ferne eine Stumpfnase gesehen haben, ist er verwundert: „Hat man euch denn nicht gesagt, dass man die Stumpfnasen jeden Morgen hier von der Hütte aus sehen kann?“ Nein, das hat uns keiner gesagt. Wir hätten einfach ein paar Stunden früher aufbrechen können, und dann gemütlich auf der Bank vor der Hütte Stumpfnasen-Tonkin-Affen in den Baumkronen beobachten können. Das wäre mit Sicherheit weit weniger anstrengend gewesen. Am liebsten würden wir einfach eine Nacht hier oben bleiben. Aber das will unser Führer nicht. Er hat irgendwelche Verpflichtungen und muss dringend zurück. Außerdem ist die winzige Hütte mit dem britischen Fotografen, seinem Führer und seinem Koch bereits voll belegt. Wir haben also keine Wahl und müssen den Abstieg antreten, ohne einen StumpfnasenTonkin-Affen erblickt zu haben. Die schöne Aussicht und der wunderbare Sonnenuntergang entschädigen ein wenig dafür. 10. Fazit „Das Meer ist das Silber und der Wald das Gold Vietnams“, soll Ho Chi Minh einmal gesagt haben. Der Satz lässt eine hohe Wertschätzung dieses politischen Führers für die Natur seines Landes vermuten. Aber er macht auch deutlich, dass Wald und Meer in erster Linie als natürliche Ressourcen gesehen werden, die sich wirtschaftlich ausbeuten lassen, um daraus „Silber“ und „Gold“ zu machen. Ein romantisches Naturerlebnis, wie wir Europäer es kennen, ist den Vietnamesen fremd. Das Wissen ist gering. Auch die Medien in Vietnam ver481 Kristin Raabe Vietnam mitteln keine Informationen über die Biologie des Landes. Die Probleme im Umweltschutz sind erst recht kein Thema. Dabei wären die meisten Vietnamesen stolz auf ihre Natur, wenn sie nur wüssten, welche Schätze sie beherbergt. Aber das Saola-Rind, der Stumpfnasen-Tonkin-Affe, der Vo Quy Fasan und der östliche Schopfgibbon sind den meisten Vietnamesen unbekannt. Dabei hätten diese seltenen Tierarten eine Chance zu überleben, wenn ihre Einmaligkeit ins Bewusstsein der Menschen gelänge. Das Beispiel der Dorfbewohner, die eine eigene Schutztruppe für den Stumpfnasen-Tonkin-Affen ins Leben gerufen haben, beweist das. 11. Nachtrag Inzwischen sind die ersten Touristen im Dorf Koh Muong angekommen. Herr Nec wollte alles richtig machen und ihnen etwas ganz besonderes bieten. Also hat er Hund gekocht. Im Auftrag von FFI hat ein Biologe nun begonnen, die StumpfnasenTonkin-Affen zu untersuchen. Damit er die Tiere aus der Nähe beobachten kann, soll demnächst eine Plattform in den Baumkronen gebaut werden. Auf dem Weltkongress der Primatologen in Turin haben die führenden Affenforscher der Welt erneut eine Liste der 25 am meisten vom Aussterben bedrohten Affenarten der Welt erstellt. Vietnam ist auf dieser Liste so häufig vertreten wie kein anderes Land, insgesamt fünfmal. Auf demselben Kongress hat Tilo Nadler im August 2004 eine Untersuchung vorgestellt, der zufolge die Pandalanguren in zehn Jahren ausgestorben sein werden. Die Studien des deutschen Tierschützers brachten ein weiteres überraschendes Ergebnis: Die Pandalanguren werden in den Naturschutzgebieten stärker bejagt als in ungeschützten Wäldern. In den Nationalparks und in den anderen Schutzgebieten ist die Vegetation dichter, so dass Wilderer schwerer zu entdecken sind. Außerdem gibt es dort viel mehr Wild. Die ungeschützten, wildarmen Gebiete werden von den Jägern gemieden. Dort haben Languren und Gibbons also eher eine Chance, zu überleben. Angesichts solcher Beobachtungen fällt Tilo Nadlers Prognose für die Pandalanguren eher düster aus: „Zukünftige Generationen, werden diesen wunderbaren Affen wahrscheinlich nur noch aus Geschichtsbüchern kennen.“ 482 Astrid Reinberger aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Botswana 24. August bis 15. November 2003 483 Botswana Astrid Reinberger Von Überlebensstrategien im Alltag und der Ankunft in der Informationsgesellschaft Von Astrid Reinberger Botswana vom 24.08. – 15.11.2003 485 Botswana Astrid Reinberger Inhalt 1. Zur Person 488 2. Moderne und Tradition 488 3. „Modimo“ und „Badimo“ – Glaubenssystem in Botswana 490 3.1 „My head is refusing to think“ – Überlebensstrategien im Alltag 492 3.2 Das Tabu – Ritualmorde und ein Gespräch mit Unity Dow 3.3 Lucky crème – ein Besuch beim Heiler 3.4 Healer associations - „modernisation can come“ 3.5 Prävention von Pech und das „Traditional Health Practice Bill“ 3.6 Grau ist alle Theorie 494 497 498 502 504 4. Modernes Botswana – Informationen für alle 4.1 Einen Mausklick vom Rest der Welt entfernt 4.2 Verbreitung des Internets und eine schöne Vision 4.3 Das Internet – ein „weißer Kontinent“ 507 507 509 513 5. Schlussbemerkung 516 6. Dankeschön 518 487 Astrid Reinberger Botswana 1. Zur Person Ich bin 1970 in Rahden, Ostwestfalen, geboren, habe in Köln Deutsch und Geschichte mit 1. Staatsexamen studiert und arbeite seit vielen Jahren als freie Journalistin. Ich habe zunächst für Printmedien geschrieben, dann zunehmend auch für den Rundfunk und hier am liebsten für den WDRHörspielbereich gearbeitet. Anfang 1998 begann mit der „Sendung mit der Maus“ der Einstieg ins Fernsehmachen und die Leidenschaft für das Kinder- und Jugendfernsehen. Seit 2000 bin ich Online-Redakteurin für das Mädchen-Netzwerk www.lizzynet.de vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das Technikwissen an die Zielgruppe vermittelt. Weiterhin arbeite ich als Autorin für verschiedene Fernsehmagazine (ARD Morgenmagazin, wdr Kanzlerbungalow, cosmo tv), für das ZDF sowie die Deutsche Welle und produziere Werbefilme im non-profit-Bereich. 2. Moderne und Tradition Botswana – die „Schweiz Afrikas“ – ist auf der einen Seite hochtechnisiert, zukunftsorientiert, demokratisch – auf der anderen Seite leben nach UN-Angaben von den ca. 1,68 Millionen Einwohnern 50% unterhalb der Armutsgrenze, hiervon sind vor allem zwei Drittel der Landbevölkerung betroffen. Mit der traditionellen Viehzucht lässt sich die Familie nicht mehr ernähren, Förderungen erlangen nur die großen kommerziellen Viehzuchten der Rinderbarone. Botswana zählt daher immer noch zur UN-Kategorie „Least Developed Countries“, da seine Wirtschaftsstruktur auf einem schwankenden Fundament, hauptsächlich dem Diamantensektor, steht und zu wenig diversifiziert ist. Vor allem Krankheit – Botswana ist das Land mit einer der höchsten Aids-Raten der Welt - aber auch Unterbeschäftigung, Arbeitslosigkeit, ein beträchtlicher Druck auf die Reallöhne und die geringe Massenkaufkraft stellen Entwicklungshemmnisse dar. Seit 1995 liegt Botswana, noch vor Brasilien, an der Spitze der Länder mit der größten Einkommensschere: Die oberen zwanzig Prozent verdienen vierundzwanzigmal mehr als das untere Fünftel. Dennoch ist Armut in Botswana kaum sichtbar. Die Gewinne aus der halbstaatlichen Diamantenwirtschaft sind offensichtlich so hoch, dass man Katastrophen abwenden kann - Botswana schaffte mit fast 7% jährlich die weltweit höchste Wirtschaftswachstumsrate im Schnitt der letzten 35 Jahre. Botswana hat in den größeren Städten eine (westliche) Infrastruktur mit Fastfood-Ketten, amerikanischen Modefirmen und südafrikanischen BigBrother-Fernsehstaffeln. Aber es ist eine Infra- 488 Botswana Astrid Reinberger struktur, die nicht wie unsere langsam gewachsen ist, sondern eine, die über das Land rasant „hereingebrochen“ ist. Botswana hat also viele Gesichter, zwei davon habe ich genauer betrachtet. Das erste hat mit einem Bereich zu tun, der den meisten von uns vertraut ist und der die moderne Seite des Landes zeigt: die Verbreitung und der Gebrauch des Internets. Das andere Gesicht konnte ich mir nur aus einer „klimatisierten“ Perspektive heraus anschauen, durch den Zerrspiegel meines eigenen kulturellen Hintergrundes. Das Thema: „traditional beliefs“. Glaubenssysteme ist eine sehr private Angelegenheit und derart in der Kultur verwurzelt, dass man mit dem westlich geprägten Blick zunächst immer nur das exotische „Fremde“ wahrnimmt. Traditional beliefs – da formieren sich in unseren Köpfen fast automatisch Bilder von ekstatischen Tänzen der „Eingeborenen“, von hutzeligen Medizinmännern, die Knochen werfen und dazu auffordern, sich zur Reinigung mit am besten mehrfach benutzten Rasierklingen zu ritzen, um durch die Drainage die innere Reinigung hervorzurufen. Viele der ‚traditional beliefs’ firmieren unseren Vorstellungen nach eindeutig als „Aberglauben“ – aber distanziert betrachtet können Außenstehende eine Religion, die auf der unbefleckten Empfängnis und der symbolischen Verabreichung des Leibes und des Blutes Christi basiert, ebenso als äußerst abergläubisch betiteln. Religion entzieht sich Fakten. Das Glaubenssystem der Batswana, wie sich die Einwohner Botswanas nennen, geht von der Beseeltheit der Dinge aus. Die mystische Vorstellungswelt schlägt sich im täglichen Leben nieder, für den Einzelnen mehr oder weniger, ist aber als allgemeines Phänomen betrachtet bedeutsamer und wirksamer als die christlich-westlichen Glaubensvorstellungen für die meisten von uns. Eine Windhose ist nicht einfach ein Wetterphänomen, sondern ein „Tanz der Hexe“ und ein Zeichen für etwas Böses. Ein Bergzipfel ist zu meiden, er ist nicht nur die geographische Spitze eines Berges, sondern wird von den Batswanern als Ort eines Geistes gefürchtet; eines Geistes, der als Schlange mit Frauenoberleib sein Unwesen treibt. Und man kann nicht einfach morgens aufstehen und sich eines Aids-Test unterziehen - dafür bedarf es eines wie auch immer gearteten Zeichens. Krankheit und Heilung spielen in diesem System eine besondere Rolle. In der Vorstellung vieler Batswana steht jedem Menschen, jeder Familie eine gewisse Portion Glück oder Unglück zu. Hat eine Person von einem „zu viel“, wird sie misstrauisch beäugt, gilt sogar als „bewitched“, verhext, bzw. steht selber in dem Ruf, über „witchcraft“ zu verfügen und wird gemieden. Viele Batswana glauben also, dass jemand „verhext“ sein muss, wenn er plötzlich krank wird oder eines unnatürlichen Todes stirbt. Entweder hat der Kranke oder Verstorbene Unrecht begangen und wurde von seinen Ahnen bestraft, oder böse Mitmenschen haben ihm Geister gesandt, die ihn sei489 Astrid Reinberger Botswana ner Gesundheit beraubten. Ansprechpartner für solche Probleme sind in der Regel traditionelle Heiler, in der Sprache der Batswana „Dingaka“ genannt. 3. „Modimo“ und „Badimo“ – Glaubenssystem in Botswana Dr. James N. Amanze ist ein Fremder in Botswana. Einer der vielen „Expats“, der „Expatriates“, Ausländer, die in Botswana leben. Amanze kommt aus Malawi und lehrt und forscht für das Department of Theology and Religious Studies an der University of Botswana. Will man etwas über die neuere wissenschaftliche Erforschung von traditional beliefs in Botswana erfahren, kommt man an ihm nicht vorbei. Sein Buch „Botswana Handbook of Churches“ von 1994 ist eine einzigartige Sammlung aller Informationen über Kirchen und Kirchenabsplitterungen, die in Botswana praktizieren: Es sind über 215, die er aufführt, nach seiner eigenen Schätzung dürften es mittlerweile über 500 sein. Ein Fremder zu sein, erzählt er mir während meines Interviews in der Uni, sei auch gerade für sein letztes Buch „African Traditional Religions and Culture in Botswana“ eine ziemliche Barriere gewesen: Es sei sehr schwer gewesen, überhaupt jemanden zu einem Interview zu bewegen und zum „Reden“ zu bringen. Die Batswana seien eben äußerst misstrauisch, und Fremden gegenüber sowieso. Christen bilden in Botswana nach Amanzes Schätzung mit einem Anteil von 40 – 45 % der Bevölkerung noch eine Minderheit, wenn auch eine sehr große. Das ist erstaunlich wenig, bedenkt man, wie viele Kirchen es in Botswana gibt und welchen durchschlagenden Erfolg die kirchlichen Missionare Anfang des letzten Jahrhunderts im südlichen Afrika hatten. Allerdings: Es genügen 10 Mitglieder, um nach dem Botswana Society Act von 1972 eine Genehmigung zur Gründung einer „Gemeinde“ zu bekommen. Die meisten dieser Kirchen sind African Independent Churches, d.h. sie haben sich von den großen Kirchen abgespalten und kombinieren christliche und traditionelle Anteile. Die African Independent Churches sind die am schnellsten wachsenden Religionsgemeinschaften der Welt. Amanze meint, dass viele dieser Kirchen auf dem Glauben an traditional healing basieren oder ihnen zumindest der Gedanke des Heilens von körperlichen oder seelischen Wunden innewohnt. Der Glaube an traditionelle Heilvorstellungen ist allgegenwärtig und ein Grundpfeiler der Kultur. Er basiert zum einen auf der Rolle der ancestors, den Vorfahren, auf Setswana „Badimo“ genannt. In der Religion des Tswana-Volkstammes, der die Mehrheit der Batswana ausmacht, gilt der Tod nicht als endgültig. Der Tote lebt in einem anderen Zustand der Existenz weiter und kann mit den Lebenden in Kontakt tre490 Botswana Astrid Reinberger ten. Die Badimo sind unberechenbar und es ist schwer, es ihnen recht zu machen. Zum anderen gibt es „Modimo“, die Gotteinheit, die man durch Rituale besänftigen bzw. beeinflussen kann. Diese Gotteinheit existierte schon lange bevor das Christentum oder der Islam nach Botswana kamen. Modimo ist die Ursache alles Guten und alles Bösen und äußert sich in allen Erscheinungsformen der Natur. Er ist den Dingen immanent, ein Glaube, der sich zum Beispiel auch in der Namensgebung von Kindern widerspiegelt: es gibt Namen wie „Goitseona“, was so viel heißt wie „Modimo weiß es“ oder „Samodimo“: „gehört zu Gott“ oder „Ompiditse“: „Er hat mich gerufen“. Die Namensgebung der Batswana ist ohnehin sehr aussagekräftig und beschreibt häufig ein starkes Gefühl oder sogar einen präsenten Zufall, mit dem die Eltern das Kind assoziieren: so gibt es Namen wie „Spoon“, Esslöffel, oder „Nobody“ oder „Offentse“. In jedem Namen steckt eine Bedeutung, etwas, was man dem Kind auf dem Weg geben will – auch wenn es sich, wie bei „Spoon“, nicht auf den ersten Blick erschließt oder wie bei „Ompiditse“ verheißen soll, dass das Kind sein Leben Gott widmen soll oder von ihm auserwählt ist. Modimo ist – auch wenn er nach 150 Jahren Christianisierung in der Vorstellungswelt vieler Batswana eins geworden ist mit dem Gott der Christen – immer noch ein Gott, den man durch Zeremonien und Opfergaben (wie „Kabelo“ = Geschenke oder „Setlhabelo“ = Opfer) beeinflussen kann. Man tritt zu ihm in Kontakt durch Singen, Händeklatschen, Tanzen, „spirit possession“, Anflehen der Vorfahren als „Mittler“ zu Gott oder viele andere Rituale. Er ist der Ansprechpartner für Nöte jeder Art, er ist das übergeordnete Ganze, während die Ahnen konkreter für die individuellen Krisen oder Krankheiten verantwortlich sind. Modimo ist real und es ist ungeheuer wichtig, bestimmte Regeln zu beachten. Die Allgegenwärtigkeit offenbart sich schon darin, dass man in einer Warteschlange mit jemanden ins Gespräch kommt, belanglos über das Wetter plaudert und gesagt bekommt: „Wir müssen zu Gott beten, aber mit geschlossenen Augen, nicht mit offenen, wie das manche machen, dann wird die Hitze vergehen und der Regen wird kommen. Durch Gott ist alles möglich, man muss nur fest genug glauben.“ Den festen Glauben kann man durch Läuterung beweisen, sie besteht nicht nur aus „high impact“ -Gottesdienst, sondern auch aus Körperreinigung – Bluten, Übergeben, Ausräuchern des Bösen wie der Krankheit. Als Mittler zu Gott fungieren neben den Vorfahren, die folgerichtig einen „direkteren“ Draht zu Modimo haben, auch menschliche Zwischenhändler, eben die „Dingaka“, die traditionellen Heiler mit ihren jeweiligen Schwerpunktfähigkeiten – ob Wahrsagen, Regenmachen oder etwa „nur“ Heilen. Die „Dingaka“ wurden von den Missionaren als böse Hexer bezeichnet, ihre Methoden als abergläubischer Humbug abgetan und bekämpft, ungeachtet der wichtigen Funktion, die die Heiler damals wie heute im sozia491 Astrid Reinberger Botswana len Umfeld der Batswana spielen. Diese Abqualifizierung trägt bis heute Spuren. Fragt man etwa als Europäer einen Einheimischen, den man im Singular Motswana nennt, ob er einen traditional healer aufsucht, wird dieser in der Regel verneinen. Aber ganz offenkundig haben die dingaka nach wie vor Zulauf, Amanze spricht davon, dass jede Tswana Community mindestens einen Heiler hat. Aus diesem Umstand lässt sich erklären, warum viele Kirchen traditional healing und Gottesdienst miteinander kombinieren – es ist eine Möglichkeit, aus der (Geltungs-) Not eine Tugend zu machen: als christlich und somit westlich zu gelten und gleichzeitig der eigenen Tradition treu zu bleiben. 3.1 „My head is refusing to think“ – Überlebensstrategien im Alltag „Meine Beine weigern sich zu gehen“, „Mein Kopf will nicht denken“ – solche Argumentationen bekommt Jes Petersen, der seit 20 Jahren in Botswana lebt, sehr häufig von seinen Angestellten zu hören. Für sie bedeutet es, dass die ancestors oder modimo etwas nicht wollen und dies zeigen, indem sie Beine schwer werden lassen. Das lässt sich nicht einfach abtun, sondern muss ernst genommen werden, sonst gibt es Streit, sagt Petersen. Petersen hat in Botswana schon viel gemacht: Lehrer ausgebildet, an Schul-Rahmenplänen geschrieben, als psychologischer Berater gearbeitet. Seit zwei Jahren unterstützt er seine Ehefrau Kelone bei der Organisation und Durchführung von Kultur-Touren und Safaris in ihr Heimatgebiet, die Kalahari, das trockene Buschland, das es dem ehemaligen Wattführer aus Deutschland ganz besonders angetan hat. Er lebt mit Kelone, die hauptberuflich Uni-Dozentin ist, und seinen Kindern in Molepolele. Die Geschichte und die Kultur der Batswana interessieren Petersen sehr und es gibt wohl kaum einen Deutschen, der so tief in die Kultur des Landes eingetaucht ist. Er erzählt von den sozialen Strukturen des Landes und davon, wie sehr Traditionen gerade im ländlichen Botswana noch eine Rolle spielen. Zum Beispiel habe auch er im letzten Jahr, nach fast 20 Ehejahren, acht Rinder an die Familie seiner Frau gezahlt. Die Zahlung des Brautpreises, in Setswana „Bogadi“ genannt, ist auch heute noch üblich, je nach „Wert“ der Frau beträgt er mindestens sechs Rinder, die etwa 1.000 Pula (200 Euro) das Stück kosten. Die Prozedur der Zahlung von Bogadi wird sehr ernst genommen, die Verteilung der Rinder an bestimmte Personen sowie der Zeitpunkt der Zahlung erfolgt nach strengen Regeln. Oft führt „Bogadi“ zu Konflikten innerhalb und zwischen den Familien, da die Auslegung kulturellen Bedingungen unterliegt und von Stamm zu Stamm unterschiedlich sein kann. Generell wird der Brautpreis als Absicherung der Frau gesehen, die bei einer 492 Botswana Astrid Reinberger Trennung vom Ehemann oder bei dessen Tod durch die Zahlung von Bogadi einen Anspruch auf Unterstützung durch ihre Ursprungsfamilie erworben hat. Die traditionelle Kgotla, die Dorfversammlung, dessen Oberhaupt der Kgosi ist (übrigens gibt es mittlerweile auch weibliche Kgosi), gilt als Ort praktischer Konfliktlösung. Petersen sieht in der Existenz der Kgotla den Grund dafür, dass die Batswana als ein so friedliebendes Volk gelten, das in der Vergangenheit Grenzkonflikte immer durch Verhandlungen löste und auch während der Apartheid trotz der Nähe und Abhängigkeit zu Südafrika immer neutral blieb. Auch der traditional healer habe, so Petersen, eine im Prinzip positive Funktion: Nicht nur da die meisten über fundierte Kenntnisse von Heilpflanzen und -verfahren verfügen, sondern auch da sie tieferen Einblick in Familien- und Dorfstrukturen haben und somit effektive Familien-Konfliktlösungsstrategien entwickeln können. Allerdings, so fügt er hinzu, zeigt die Erfahrung, dass es einigen von ihnen an Kenntnissen, Erfahrungen und an Professionalität mangelt, was zunehmend zu Fehlbehandlungen führt und zur interfamiliären Konfliktverstärkung und sogar -erzeugung. Manchmal führe dies sogar zur Spaltung einer Familie. Dies sei dann nur im Einzelfall notwendig und regulativ, etwa, weil eine Großfamilie zu sehr anwachse und sich dringend, um als Verbund lebensfähig zu bleiben, teilen müsse. Zumindest in der „ersten Instanz“, so Petersen, sei die botswanische Religion auf jeden Fall sehr menschenfreundlich und helfe, das Überleben im Alltag zu gewährleisten. Es gibt auch eine Interpretation dessen, was wir Aberglauben nennen, weil wir es so schwer verstehen können, als eine Regulation der Differenz an Wohlstand und Glück. Niemand soll zuviel von einem haben und wenn, dann soll er etwas davon abgeben und teilen, eine Art „afrikanischer Hyperhumanismus“ (David Signer), der allerdings zum Teil auf einer Neidkultur basiert. Signer formuliert die Unterschiede in einem Artikel in der Schweizer Weltwoche wie folgt, er zitiert das Gespräch mit einem jungen Afrikaner: „Weißt du, warum es in Afrika keine Hochhäuser gibt? Ich verneinte. Er erklärte mir, dass in Europa, wenn jemand ein zweistöckiges Haus baue, sein Nachbar ein Dreistöckiges hinstelle und dessen Nachbar ein Vierstöckiges. Das sei fruchtbarer Neid. In Afrika hingegen sage sich der Nachbar: ‚Bilde dir bloß nichts ein. Du wirst nicht alt werden in deinem Haus.“ Wer zu viel hat und nichts abgibt – der wird bestraft. 493 Astrid Reinberger Botswana 3.2 Das Tabu – Ritualmorde und ein Gespräch mit Unity Dow Abends nicht fegen, weil der Staub die Ahnen stören könnte, nirgendwo Haare liegen lassen, weil jemand, der einem böse gesonnen ist, es für Witchcraft-Zwecke nutzen könnte, den „Thokolosi“, einen arbeitswütigen Zaubergeist, nicht ins Haus lassen, weil er Frauen schwängert – all das sind harmlose Verhaltensregeln oder Vorstellungen, belanglos gegen das, was durch die deutschen Medien in regelmäßigen Abständen als Beispiel für das wilde, unzivilisierte Afrika kolportiert wird. Dies ist auch der Grund, warum es hier angesprochen werden soll. Es geht um Ritualmorde. Die meisten Leute, die ich danach frage, winken ab, und sagen, dass dies überall vielleicht geschieht, aber nicht in Botswana. Und doch erzählt mir z.B. Jes Petersen von einem Vorfall in einem kleinen Dorf bei Gaborone. Vor ein paar Jahren erweiterte ein Geschäftsmann seinen Laden. Er hatte sehr viel Erfolg. Zufällig verschwand in dieser Zeit ein Kind, und alle glaubten sofort, der Geschäftsmann habe sich sein Glück durch einen Ritualmord erkauft. Der Verdächtige kam in Untersuchungshaft – bis man die Leiche des Jungen fand und sich herausstellte, dass er nicht – wie bei solchen Taten üblich - verstümmelt und seiner Geschlechtsteile beraubt war, sondern beim Viehhüten einen epileptischen Anfall bekommen hatte und an Erbrochenem erstickt war. Spätestens seit einem Vorfall 1994 in Moschudi, bei dem die einflussreichen Beschuldigten eines Ritualmordes an einem kleinen Mädchen zunächst freigesprochen wurden und bei dessen Verlauf es sogar zu Ausschreitungen kam, ist die botswanische Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert. Ritualmorde kommen also vor, aber nicht in der Häufigkeit, die durch unsere Medienberichterstattung suggeriert wird und sie sind schon gar nicht gesellschaftlich akzeptiert. Gegenüber Weißen schweigt man jedoch über das Thema. Die Richterin und Autorin Unity Dow engagiert sich dagegen seit langem dafür, dass über diese Tabuthemen gesprochen wird. Selbst auf die Gefahr hin, dass manche Klischees bestätigt werden. Sie will, dass sich die Öffentlichkeit mit dem Thema auseinander setzt, dass man sich zu Teilen seiner Kultur bekennt, andere überwindet. Mit dieser Haltung ist sie auf relativ einsamem Posten. Unbedingt möchte ich daher mit ihr reden – und in der letzten Woche meines Aufenthaltes klappt es schließlich. Dow ist Richterin am Nationalen Gerichtshof, dem wichtigsten Gericht des Landes, und zudem die erste Frau, die jemals so ein Amt bekommen hat. Sie schreibt gerade an ihrem fünften Buch und engagiert sich für Human RightsProjekte. Dow war Gründungsmitglied des „Women and Law in Southern Africa Research Project“ und hat einige Gesetze zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen durchgesetzt. Die Themen, auf die sie aufmerksam machen will, packt sie gerne zwischen zwei Buchdeckel – auch in 494 Botswana Astrid Reinberger Krimiform. Hauptsache, sie erreicht ihre LeserInnen. Ihr letztes Buch ist im Dezember 2003 auch auf Deutsch erschienen, es heißt „Die Beichte“. „Was war der Anlass für dich, „Die Beichte“ zu schreiben?“ Dow: „Es geht ja in dem Buch um einen Ritualmord, um einen Mord, der von dem Glauben motiviert ist, dass man Teile des menschlichen Körpers in einer rituellen Handlung benutzen kann, um das eigene Leben zu verbessern. Zum Beispiel könnte diesem Glauben nach ein Politiker dadurch mehr Stimmen bekommen, ein Direktor eine Gehaltserhöhung, ein Angestellter eine Beförderung… Ich glaube daran nicht, aber viele Menschen in Botswana tun es. Wobei der Glaube, dass so etwas wirken kann, natürlich nicht heißt, dass alle Ritualmorde praktizieren. Auf keinen Fall! Die große Mehrheit verurteilt das absolut! Der Glaube daran, dass man mit einem Bulldozer in die Wand einer Bank fahren und das ganze Geld rauben kann, bedeutet ja noch lange nicht, dass man das tut oder etwa diese Art, sich Reichtum zu verschaffen, gutheißt. Das sind vollkommen unterschiedliche Dinge: etwas glauben und etwas praktizieren.“ „Aber niemand redet öffentlich darüber, darüber, dass er oder sie an die Kraft von Ritualmorden glaubt oder dass es solche Ritualmorde gibt, oder?“ „Also, die Leute erzählen schon, wovon sie gehört haben, aber sie erzählen natürlich nicht, woran sie selber glauben oder ob sie etwa selber zu einem traditional healer gehen. Ich bin sehr engagiert, was Kinder und Kinderrechte anbelangt und möchte Kinder gerne schützen – daher konnte ich es nicht fassen, dass niemand das Thema Ritualmord offen auf den Tisch bringt. Es gibt einige dokumentierte Fälle von Ritualmorden aus den letzten paar Jahren und wie hoch die Dunkelziffer ist - wir wissen es nicht. Gerade heute war wieder ein Artikel in der Zeitung, dass 3 Männer einen Jungen umgebracht haben sollen und man vermutet einen Ritualmord.“ „Passt das nicht – leider – geradezu perfekt in das Klischee vom ‚wilden bösen Afrika‘?“ Dow: „Hm, was ist denn z.B. mit den Kindermorden in Belgien – das heißt ja noch lange nicht, dass alle Belgier schlechte Menschen sind, oder? Das ist wirklich das Besondere an Afrika – wir werden immer beobachtet, kontrolliert, bewertet. Wir stehen immer mit dem Rücken an der Wand, wir können uns nicht mal mehr selbst beurteilen, weil wir so viel Angst haben, dass andere uns nicht richtig finden. Das richtige Maß an Vertrauen, Unabhängigkeit fehlt. Man sollte immer so viel Mut haben, zu sagen: ‚verurteile mich nicht, was ist dein Problem?‘... 495 Astrid Reinberger Botswana Diese Ritualmorde, ja, sie passieren, und für Menschen aus der westlichen Zivilisation sind sie exotisch, bizarr, seltsam – aber seltsame und bizarre Dinge passieren überall auf der Welt. Es ist nicht die Kultur der Belgier Kinder zu vergewaltigen und zu töten – und das würde auch niemand behaupten. Beim Stichwort „Afrika“ heißt es, solche Dinge gehörten zu unserer „Religion“ – und das ist ein Erklärungskonzept, das ja schon das Rückwärtsgerichtetsein mit einbezieht, so nach dem Motto „sie können nicht anders“. Natürlich geht es anders. Auch in Belgien und anderswo.“ „Was erhoffst du dir durch das Schreiben von Büchern?“ Dow: „Ich schreibe nicht, um Leute zu unterhalten. Wenn ich es tue, ist es natürlich gut. Ich schreibe – das gilt für alle meine Bücher – um auf bestimmte Dinge aufmerksam zu machen, um dem Leser etwas zu erzählen – und manchmal muss man den Leser eben auch schocken. Wenn sich die Leute über meine Bücher aufregen, weil ich Dinge aussprechen lasse, die sonst keiner sagt – ist das nicht mein Problem. Ich schreibe nicht, um Probleme zu verursachen, sondern um zu lösen. Ich will, dass die Leute anfangen zu denken.“ „Und wie siehst du die Verantwortlichkeit der healer als Richterin?“ Dow: „Das Problem ist nicht das Gesetz, es würde nichts nützen, die Gesetze zu verschärfen. In diesen Fällen spielt es keine Rolle, ob man ein Heiler ist oder nicht – wenn man an einem Mord beteiligt ist oder jemanden zum Mord auffordert, wird man bestraft. Sicher ist es schwierig, die Beteiligung im Einzelfall nachzuweisen. Bei den tatsächlichen Mördern kann man Spuren überprüfen, Zeugen befragen – aber es ist schwierig, an Beweise zu kommen, dass ein Heiler sie angestiftet hat.“ „Aber wenn man als Mörder die Schuld von sich weisen will?“ Dow: „Es gab einen Fall vor ein paar Monaten, da ist ein Mann überführt worden, dass er einen Menschen vergiftet hat. Der Mörder sagte, er hätte das Gift von einem Heiler bekommen. Der Heiler aber sagt, dass das Medizin war und er gedacht habe, es sei für den Klienten selbst. Er könne auch nichts dafür, wenn jemand mit der dreifachen Dosis jemanden umbringt. Dieser Heiler ist freigekommen. Aber es gibt einige andere, die im Gefängnis sitzen.“ „Was denkst du denn generell über traditional healer?“ Dow: „Hm, es gibt sehr viele gute Kräuterspezialisten unter ihnen, die sich mit Wurzeln und ihren Heilungsmethoden sehr gut auskennen. Und es gibt einige sehr gute Psychologen unter ihnen. Generell habe ich allerdings 496 Botswana Astrid Reinberger ein Problem mit einem Glaubenssystem, das andere verantwortlich macht für die eigene Krankheit oder das eigene Unglück. Wenn du so viel Alkohol trinkst, bis du krank wirst, kannst du dafür nicht jemand anderen verantwortlich machen. Wenn du Aids bekommst, hat dich nicht jemand anders verhext. Du musst selber dein Leben in die Hand nehmen.“ „Wie passen die traditional healer in das ‚moderne‘ Botswana?“ Dow: „Ich glaube nicht, dass sie die Moderne verhindern. Verzögert Religion die Moderne? Wenn man glaubt, dass Jesus vom Grab auferstanden ist – hindert das jemanden, modern zu sein? Ich denke nicht. Traditional beliefs sind nicht anders als irgendein anderer Glaube. Es ist einfach ein grundlegender Glaube, wie alles zusammenpasst. Außerdem ist es ja nicht so, dass, wer an Traditionelles glaubt, nicht das Internet benutzen könnte. Die Modernisierung ist nicht aufzuhalten, Leute wollen immer Veränderung. Meistens spricht man über die Globalisierung im Ganzen, aber wenn man ein Individuum in einem kleinen Dorf betrachtet – natürlich will der Mensch immer ein bisschen mehr, natürlich möchte man Strom, Mobiltelefone und besseres Essen. Es ist einfach, dort einmal hinzufahren und den wunderschönen Sternenhimmel zu bewundern. Aber wenn man dort lebt, will man mehr – und das bedeutet Veränderung. Ich glaube, dass traditional beliefs und Modernität sich überhaupt nicht ausschließen, das existiert einfach nebeneinander.“ 3.3 Lucky crème – ein Besuch beim Heiler Der Geruch ist nicht ungewöhnlich, es riecht nach Vaseline. Der traditional healer, ein alter Mann mit runzeligem Gesicht, schaut sehr ernst, spricht einige Sätze auf Setswana und streicht mir mit zwei Fingern die „Lucky Creme“ auf die Stirn. Damit soll ich – oder wer immer sie bekommt – den ganzen Tag gute Laune haben. Und alle sollen freundlich auf mich reagieren. Die Lucky crème besteht aus verschiedenen Wurzeln: der healer nennt sie Phakwe, Mahtealolwe und Malaladigangwa und zeigt mir dazu eine Packung roter – Vaseline. Also doch. Ich bin beeindruckt, zumindest von der Zeremonie und auch gut gelaunt. Das Arbeitszimmer von Tshinki Molebatsi, dem healer, ist ein Wohnzimmer mit einem Fernseher, einer alten HiFi-Anlage und einem sehr kaputten Sofa. An der Wand hängen Jesus- und Marienbilder. Seine Arbeitsutensilien hat Molebatsi alle in einem großen Sack. Zunächst holt er eine Plastiktüte der Supermarktkette „Payless“ raus, in ihr sind die Knochen, die er auf den Boden wirft. Er zeigt hin und her und blickt so, als erkläre sich alles von selbst. Ratlos blicke ich zu dem 497 Astrid Reinberger Botswana Studenten, der mich begleitet hat, um für mich von Setsuana, der Sprache der Batswana, ins Englische zu übersetzen. Er zuckt die Schultern und murmelt „jedes steht für etwas anderes“. Er nennt lange Namen für Knochen und erklärt Bedeutungszusammenhänge, die jedoch immer anders sind, je nach Person und Wurfausrichtung. Es gibt einen verzierten Knochen, der auf die Familie verweist, interessanterweise besteht dieser aus Rinderknochen, dem liebsten Tier der Batswana. Wenn er bei einer Person in eine bestimmte Richtung zeigt und auch die anderen Knochen eine bestimmte Position haben, kann das etwa bedeuten, dass ein Mann sich von seiner Frau trennen will. Die Frau wird nach Hause gehen und der Mann verschwindet. Molebatsi fertigt auch Medizin für viele spezifische Probleme. Er führt eine, die er „Mokaikai“ nennt. Sie hilft bei Problemen mit der Polizei. Wenn diese dich sucht, musst du mit dem Zauber der Mokaikai dort stehen bleiben, wo du dich gerade befindest und die Polizei wird dich nicht finden. Die Übergänge zwischen Medizin, Symbolträchtigkeit und Wunschdenken sind fließend. Molebatsi erzählt, dass jede Woche etwa vier bis zehn Leute zu ihm nach Gabane, einem kleinen Dorf in der Nähe Gaborones, kommen, um sich beraten zu lassen, die Knochen werfen zu lassen oder sich Medizin abzuholen. Für eine Konsultation nimmt er von 50 Pula bis 700 Pula (von 10 Euro bis 140 Euro), am teuersten sind Beerdigungsbegleitungen, die in Botswana sehr ritualisiert und aufwändig sind. Auf die Frage, wie er seine Berufung gefunden hat, bekomme ich nicht wirklich eine Antwort. Schon sein Vater sei ein healer gewesen und von ihm hätte er alles gelernt, er arbeite sei 1969. Ob er auch Patienten mit Aids kuriere? Ein böser Blick, sogar der Student guckt grimmig – und es folgt eine lange Tirade, nein, er schicke alle ins Princess Marina Hospital nach Gaborone, in die Hauptstadt. Er helfe nur bei den Dingen, bei denen er Macht habe. Mein Besuch ist beendet. 3. 4 Healer associations – „modernisation can come“ Ein paar Tage später treffe ich Peter Mbenge im Cafe Wave, einem relativ neuen Cafe in der Main Mall Gaborones. Relativ neu heißt: es ist tatsächlich erst ein paar Wochen alt. Alle Cafes und Bars in Botswana sind „relativ“ neu, denn die shopping center und malls und mit ihnen die Etablissements, die wie Pilze aus dem Boden schießen, sind nicht älter als 3-4 Jahre. Sie fungieren als Treffpunkte und sind ein Symbol des „western way of life“, dem die wohlhabenderen oder jüngeren Batswana gerne folgen. Sogar, wenn sie Kaffee trinken müssen, was ganz sicher keiner botswanischen Tradition ent498 Botswana Astrid Reinberger spricht. Peter Mbenge trinkt zum ersten Mal in seinem Leben Cappuccino. Sagt er. Mbenge ist Vorsitzender der Botswana Dingaka Association, einer der acht Vereinigungen, zu der sich traditional healer zusammengeschlossen haben. Mbenge wurde im Mai 2003 zum Chairman dieser Vereinigungen gewählt. Seine Aufgabe ist es, mit dem Gesundheitsministerium zu verhandeln und die Interessen der healer zu vertreten. Die neuen Pläne des Gesundheitsministeriums, das Arbeitsfeld der traditional healer zu regulieren, findet er richtig. Es sei höchste Zeit. Und gefährlich, wenn man es nicht tue, denn momentan könne jeder sich healer nennen. Ein Patient habe dann endlich die Handhabe, etwas gegen unsachgemäße Behandlung zu tun. Von solchen „unsachgemäßen Behandlungen“ kann man jeden Tag in den Zeitungen lesen. Mit Schlagzeilen wie dieser aus der Tageszeitung Mmegi: „A diabetic father of four, who lost faith in Western medicine, has lost his leg after being treated by a traditional doctor.“ Der Patient sollte seine Beine über einen Trog mit glühenden Steinen legen. Diese Methode, „Sefutho“ genannt, soll eine Krankheit ausräuchern. Der Mann verbrannte sich jedoch an einem Bein so stark, dass – als er nach einiger Zeit doch in die Klinik gebracht wurde – sein Bein amputiert werden musste. Wie Peter Mbenge tritt auch der Präsident der Dingaka tsa Setso Association, Lesegolame Semathu, energisch gegen solche „healer“ auf und fordert strengere Gesetze, die den Heiler – aber auch den mündigen Patienten – mehr in die Pflicht nehmen. Dass viele der Heiler sich stark machen für eine gesetzliche Regelung verweist auf den Leidensdruck, der die healer verstärkt in den Dunstkreis von Scharlatanerie gebracht hat. Wo die Not wächst, wo sich jeden Tag schätzungsweise 85 Menschen mit HIV infizieren (Quelle: UNDP-Bericht 2002), ist auch viel Bedarf an Hilfe – das machen sich Geschäftemacher zu Nutze, die den Ruf der tradtional healer nachhaltig schädigen, etwa, weil sie behaupten, Aids heilen zu können, Schwangerschaftsabbrüche vornehmen oder gefährliche Praktiken durchführen wie etwa die Reinigung durch Ritzen mit Rasierklingen. Mbenge schätzt, dass der Anteil dieser Scharlatane etwa 25 % ausmachen könnte. Wie viele Heiler es denn insgesamt gäbe, will ich wissen – aber auch da kann Mbenge nur schätzen: „Es gibt meiner Meinung nach etwa 12.000 traditional healer.“ Die Zahl, die African Comprehensive HIV/AIDS Partnerships (ACHAP) ermittelt hat, liegt bei etwa 3.000 bei 1,6 Millionen Einwohnern. ACHAP versucht, die Heiler bei der Aids-Aufklärung stärker mit einzubeziehen. Mbenge meint, dass „Schulkinder“ die Daten gesammelt hätten und dass viele healer eben überhaupt nicht zu erkennen seien. Sie sind nur durch Mundpropaganda bekannt oder haben sich so sehr spezialisiert, etwa nur auf die Heilung von Zähnen oder sie seien, so Mbenge, wie manche healers of songs nur an einem einzelnen Tag berufen. Die meisten Heiler sind Männer 499 Astrid Reinberger Botswana – aber es gebe auch viele weise Frauen unter den Heilern. Mbenge selber ist ein „spirit medium“, also einer der „dingaka tsa dinaka“, ein spirituelles Medium. Er beziehe seine Kraft aus dem Ozean. „Aus dem Ozean?!“ – wie das denn gehen könne, im Binnenland Botswana? Er lacht und sagt: „Ja, vom Ozean.“ Er erzählt, dass er, bevor er Heiler wurde, in Holland und in New York war. Es sei ihm vor allem in New York nicht gut gegangen, er habe ständig ein Geräusch im Ohr gehabt. Die Menschen dort fand er krank und viel zu hektisch, sie hatten eine schlechte Ausstrahlung auf ihn gehabt. Der Ozean habe ihn wieder zurückgebracht und sicherlich werde er einmal in den Ozean entschwinden. Niemand dürfe dann eine Träne weinen, weil er sonst für immer fort sei. Auf jede (Glaubens-) Frage eine Glaubensantwort. Peter Mbenge sagt, er sehe die Beseeltheit der Natur sowie die Zusammenhänge der Konstellationen zwischen Menschen und wiederum zu den Ahnen. Er weist auf die spirituellen Kräfte der Berge hin, wie sie z.B. der „Lovers Rock“ bei Otse im Südenwesten Botswanas besitzt. Dort verschwinden immer wieder Verliebte, deren Liebe nicht akzeptiert wird. Ich frage ihn, wie er bei so viel metaphysischer Kraft von außen die Eigenverantwortlichkeit des Individuums sehe. Der Patient müsse sich natürlich auch richtig verhalten, nur Medizin nehmen allein reiche nicht. Und er schaue sich nicht nur die offensichtliche Wunde eines Menschen an, sondern blicke in den Menschen hinein. Auf meine Bitte einen Fall zu beschreiben, erzählt er mir von einer Mutter, deren Sohn zum Studium nach England gegangen ist und der auf der Suche nach der richtigen Religion zu einer Sekte gelangt sei und sich überhaupt nicht mehr bei seiner Mutter gemeldet habe, sie sogar verleugnet habe. Sie kam verzweifelt zu Mbenge. Er ließ sich ein Foto vom Sohn bringen und beschwor einen Zauber, der sowohl der Mutter wie auch dem Sohn in dieser Angelegenheit helfen sollte. Es habe funktioniert. Die Preise für eine Behandlung sind unterschiedlich, wenn jemand Hilfe brauche, um einen Job zu finden, nehme er zunächst 250 Pula (50 Euro) und wenn derjenige einen Job gefunden habe, noch mal 250 Pula. Ein Kind muss nur 100 Pula bezahlen, manche Patienten mit wenig finanziellem Rückhalt gar nichts – aber wenn sie zu Geld kommen, ist es wichtig, dass sie zu ihm zurückkehren und ihm danken. Wer möchte, dass sein Auto vor Gefahren geschützt wird, muss 700 Pula (140 Euro) zahlen, ein Schutz des Hauses kostet 1.500 Pula (300 Euro). Die Art und Weise der Behandlung kann ganz unterschiedlich sein: Wenn jemand sein Geschäft beleben möchte, kann der traditional healer für ca. 980 Pula an belebte Plätze – wie Bushaltestellen, Krankenhäuser – gehen und Fußabdrücke sammeln, der healer mixt die Fußabdrücke mit Sand und Kräutern und weiht so den Laden. Eine Bar kann man attraktiver machen, indem man sie mit dem Talg oder dem Schwanz einer läufigen Hündin ausstattet. Die physikalische Medizin, mit der sich 500 Botswana Astrid Reinberger die meisten healer bestens auskennen, besteht aus Pflanzen, Kräutern, verschiedenen Pudern, den Knochen von Tieren, Saatgut, Wurzeln, Säften, diversen anderen Flüssigkeiten oder Blättern, Mineralien, Kohle, Asche. Es gibt zudem zahlreiche Behandlungsmethoden, die dingaka therapieren mit Medizin oder Gesprächen ebenso wie mit Massagen, dem Gebrauch von Nadeln oder Dornen oder eben mit diversen Ritualen. Früher sei es nicht wichtig gewesen, sagt Mbenge, Geld für die Behandlung zu nehmen, weil alles im Ort geblieben wäre und die Dorfbewohner sich auf ihre Weise bedankt hätten – mit Hühnern, Ziegen und was auch immer. Die Zeiten hätten sich aber geändert, seine Medizin müsse er oft aus Francistown oder anderen weit entlegenen Orten holen und viel mehr Aufwand betreiben. „Und wie wird man ein spirituelles Medium?“ hake ich nach. „Um ein spirituelles Medium zu werden, kann man 3 Monate oder bis zu 5 Jahren an Training brauchen. Seine Weisheit kommt in der Regel durch ein anderes spirituelles Medium und ein spirituelles Medium weiß immer, wer derjenige ist, der zu ihm kommt. Du kannst nichts vor ihm verheimlichen. Er weiß, ob du aus einem Haus mit einer roten Tür oder einer blauen Tür kommst, er weiß es. Ein spirit medium kann einen Patienten sehen, bevor dieser auftaucht und kann die Medizin für ihn vorbereiten. Jedes spirit medium muss lernen, wie man die Knochen werfen muss, aber ein spirit medium lernt sehr schnell. Wenn sie es am Abend noch nicht können, dann erscheint ihnen nachts der ganze Knochen und ihr Bedeutungszusammenhang – und dann wissen sie, wie es geht. Außerdem musste ich sehr viel tanzen und in den Busch gehen, um die einzelnen Heilkräuter zu lernen.“ Mbenge erläutert die genaueren Unterschiede zwischen den verschiedenen Heilern sowie den spirituellen Mittlern. Seine Klassifizierung findet sich auch in einem Bericht über „Traditional Health Practitioners“ wieder, den das Gesundheitsamt in Auftrag gegeben hat: es gibt die „bone throwers, spiritual healers, Sangomas, ancestral healers, herbalists, traditional birth attendants, blood suckers, eye cleansers, water diviner, therapist, bone mender (Thobega) und die healers of song.“ Das Gesundheitsamt hat mit Hilfe von ACHAP 2003 zwei Workshops zu dem Thema veranstaltet, um mit den Heilern zusammen ein Gesetzespaket zu erarbeiten, das sie zum einen in die Pflicht nimmt und zum anderen schützt. Peter Mbenge ereifert sich wieder: „neben denen, die nur tun, als seien sie healer und nur Schaden verursachen, gibt es noch ein anderes großes Problem – das geistige Eigentum der Heiler ist bisher nicht geschützt. Große Firmen aus Europa kommen und lassen sich unsere Medizin patentieren.“ Als Beispiel nennt er „Devils Craw“, das vor kurzem eine deutsche Firma patentiert habe. Diese „Teufelskralle“, die ihren Namen von ihren scharfen Widerhaken hat, soll Arthritis und Schmerzen bekämpfen. 501 Astrid Reinberger Botswana Ein anderes Beispiel ging vor einiger Zeit auch durch die Medien: Hoodia ist eine Stammsukkulente, die appetithemmende Stoffe enthält. Sie wächst in den Halbwüsten Südafrikas und wird seit Jahrhunderten von Heilern der Khoisan als Appetitzügler und gegen Husten und Erkältungskrankheiten eingesetzt. Die Konzerne Phytopharm und Pfizer hatten Hoodia-Wirkstoffe patentieren lassen, mussten jedoch auf internationalen Druck die San-People an den zu erwartenden Millionengewinne beteiligen und sie als Besitzer des Kaktus anerkennen. Trotz dieser Regulierung scheint es für heimliche Sammler lukrativ zu sein, die Pflanze überall, wo sie noch frei wächst, abzuernten. Zumindest gibt es im Umfeld von Gaborone mehrere völlig ausgeschlachtete und zerstörte Hoodia-Pflanzen. Das „Übereinkommen über die biologische Vielfalt“, das auf der Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992 unterschrieben wurde und Biopiraterie verurteilt, scheint viele Schlupflöcher zu enthalten – auch Peter Mbenge traut internationalen Schutzbestimmungen nicht. Ihm wäre lieber, das Gesundheitsministerium würde sich etwas mehr beeilen und endlich das „Intellectual Property Law and Protection of Tradtional Knowledge holders“ zusammen mit den anderen Punkten verabschieden. Ob er glaube, will ich zum Schluss wissen, dass durch den Vormarsch der westlichen Kultur, ob Cappuccino, Big BrotherFernsehstaffeln oder Internet, der traditonal healer verdrängt würde? Nein, das glaube er nicht. Die Modernisierung könne kommen, sie sei ja schon da und auch er lebe in der modernen Welt. Aber als Traditionalist. Und: „je schneller sich die Welt verändert, desto mehr brauchen die Menschen etwas, mit dem sie sich identifizieren können. Die Leute kommen immer zum traditonal healer, home is home. Außerdem wissen viele Leute, welche Nebenwirkungen Medikamente haben können und auf viele Dinge hat die Schulmedizin ja auch keine Antwort.“ Außerdem bräuchten auch Europäer offensichtlich seine Hilfe, denn über eine befreundete Französin kämen mittlerweile immer mehr zu ihm. 3.5 Die Prävention von Pech und das „Traditional Health Practice Bill“ Bisher gibt es lediglich ein Gesetz aus dem Jahr 1927, das den Umgang mit traditionellen Heilmethoden und allem, was in dessen Randzonen geschieht, regelt. Es entstand also lange vor der Unabhängigkeit von den Briten 1966 und trägt den vielsagenden Titel „witchcraft“. Dieses Gesetz, das man wie alle Gesetzestexte in der Botswana Government Press kaufen kann, enthält schon im Titel die Bewertung der damaligen Kolonialherren und -damen, nämlich als der christlich-biologistischen Weltanschauung gegenüberstehend und damit unterlegen, wenn auch gefährlich. Dieses Gesetz zur 502 Botswana Astrid Reinberger „witchcraft“, zur Hexerei, verbietet einen „witch doctor“ anzustellen oder „Hexenwissen“ weiterzugeben und verbietet, anderen vorzutäuschen mit Hilfe von übernatürlicher Kraft, Zauberei oder Beschwörung die Zukunft vorhersagen oder beeinflussen zu können. Das neue Gesetzespaket soll nun einen Kanon schaffen, an den sich healer und Patienten halten können. Es soll 2004 verabschiedet werden und fußt auf neutraleren Einschätzungen. Es stellt die Fähigkeiten von Heilern nicht in Frage oder zur Diskussion, sondern zollt der Tatsache Tribut, dass die Dingaka nach wie vor enormen Zulauf haben. Ganz sicher möchte man mit diesem Gesetz auch eine nüchterne Betrachtungsweise fördern, die die traditionellen Heilmethoden weniger als spirituell, sondern mehr als geerdet und begründet einstuft. Traditional healing soll nicht mehr in die Nähe von „witchcraft“ gebracht werden. Schließlich ähnelt das traditionelle Medizinsystem in seiner Orientierung den Balancevorstellungen der asiatischen Medizin, die – zum Beispiel – als alternative Medizin weltweit mehr Anerkennung genießt. Auch beim traditional healing liegt der Blickwinkel nicht auf dem Körper als biochemischem Funktionsorgan, die Krankheit ist vielmehr ein Ausdruck von gestörten Gleichgewichten zwischen Lebenden und den Toten. es ist damit nicht allein an ein Individuum und sein Lebensmanagement gebunden, sondern in einem größeren Kontext zu sehen. Die Praktiken von traditional healing werden in der bisherigen Arbeitsvorlage wie folgt definiert (Quelle: Report of the Traditionam Health Practitioners Consultative Workshop, Ministry of Health, August 2003): Diagnosefähigkeiten durch bestimmte rituelle Techniken Heilen verschiedener Krankheiten, z.B. Hautekzeme, Geschwüre Unpässlichkeiten wie Magenbeschwerden, Durchfall Präventivmaßnahmen: Gefahrenvorbeugung, Vorbeugung von Pech Schutz der Familie, des Heims, der Rinderfarm, des Geschäftes das Durchführen von Ritualen bei Promotionen, Arbeitsantritten, Jagdexpeditionen und Bestattungen Regenmachen das Heilen von Frakturen Sachlich zusammengefasst, kann man die traditionellen Heilmethoden wie folgt beschreiben: sie sind psychosozial, beinhalten homöopathische und medizinische Elemente, sowie familien- und gruppentherapeutische und religiöse Anteile. Um die Preisdifferenzen zu minimieren, sollen Höchstpreise vereinbart und die finanzielle Lage des Patienten soll stärker berücksichtigt werden. Auch die Frage der ausländischen healer soll geregelt werden, momentan gibt es ein inoffizielles Arrangement – lokale Heiler befragen die „Fremden“ 503 Astrid Reinberger Botswana und erteilen ihnen ggf. die Erlaubnis zu praktizieren. Was die Ausbildung der Heiler anbelangt, ist der bisherigen Gesetzesvorlage nicht viel zu entnehmen; sie umschreibt lediglich die Wichtigkeit eines Trainings, das mindestens 3 Monaten oder bis zu 3 Jahren dauern sollte. Die Heiler sollen nur praktizieren dürfen, wenn sie sich registrieren lassen, sie sollen sich auch nicht „Doctor“ nennen, sondern „Dingaka“ – und sie dürfen kein Stethoskop tragen oder anderes medizinisches Equipment zur Schau stellen. Zudem zeigt die Vorlage einige bisherige Probleme auf: durch die Registratur sollen die vielen Schwindler auffliegen, solche, die sich nur bereichern wollen und solche, die angeben, durch Geschlechtsverkehr heilen zu können oder Geschlechtsverkehr als Voraussetzung zur Heilung oder als Bezahlung ansehen. Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren dürfen nicht mehr ohne ihre Eltern oder Erziehungsberechtigten behandelt werden; Heiler sollen keine Patienten haben, die unter Drogeneinfluss stehen und sie dürfen keine schädlichen Stoffe wie Methanol, Paraffin, Diesel oder Benzin in ihre Mixturen mischen. Auch ist in Zukunft verboten, Patienten in Gefahr zu bringen – etwa durch das Benutzen von gebrauchten Rasierklingen beim „Ritzen“, durch Überdosierung von Arzneien und übertriebener Körperreinigung – und Schwächung wie durch das rituelle Übergeben. Die Heiler sollen bei schwerwiegenden Krankheiten an einen Arzt oder ein Krankenhaus weiter verweisen, bei Aids-Patienten nicht behaupten, sie könnten den Patienten heilen, sondern offenlegen, nur Symptome kurieren zu können. Zudem wird es Pflicht sein, den Patienten über die Behandlungsmethode aufzuklären, über ihn eine Akte anzulegen und über die Art und Weise der Krankheit zum Schutz des Patienten Stillschweigen zu bewahren. Der Maßnahmenkatalog soll durch den „National Traditional Health Practice Council“ in die Praxis umgesetzt werden und von einem Komitee betreut werden, das sich aus gewählten Stellvertretern der healer associations (wie Peter Mbenge) sowie Vertretern von ACHAP, dem Gesundheitsministerium und Ärzten zusammen setzen soll. Es gibt nur eine Verbindung zum alten Gesetz – im neuen Gesetz findet sich genau wie im alten der Punkt, dass Verleumdungen, Schuldzuweisungen und Hexereibezichtigungen ausdrücklich untersagt sind. Dies hat in der Vergangenheit immer wieder zu Konflikten zwischen Nachbarn, Geschäftspartnern und innerhalb von Familien geführt. 3.6 Grau ist alle Theorie So erfreulich die Tatsache ist, dass man kurz vor der Verabschiedung eines neuen Gesetzes steht, das eines aus dem Jahr 1927 (!) ablöst, so sehr 504 Botswana Astrid Reinberger ist doch zu bezweifeln, ob wirklich alle Heiler erreicht werden und ob sich das Gesetz durchsetzen kann. Ich frage Dr. Patson Mazonde, den Direktor des Gesundheitsamtes, warum das Thema nicht stärker in die Öffentlichkeit getragen wird oder besser: nicht schon lange in die Öffentlichkeit getragen wurde. Dr. Mazonde ist ein besonnener Mensch und ein guter Rhetoriker. Er sagt, dass man sicher im Zuge einer Aufklärungskampagne auf die Gefahren hätte hinweisen können. Aber die Folgen wären katastrophal gewesen. Mit so einer Kampagne hätte man nicht nur die Bevölkerung verunsichert, sondern sich auch die Tür zu den traditionellen Heilern zugeschlagen und die Bemühungen, diese stärker ins Gesundheitssystem zu integrieren, unterlaufen. Seit fast 10 Jahren arbeitet Dr. Mazonde und sein Team mit den Heilern zusammen - und am Anfang hätte es viele Vorbehalte auf beiden Seiten gegeben. Den Besuch beim Heiler hielten viele Batswaner ohnehin eher geheim, es wäre ihnen unangenehm, es offiziell zuzugeben - und Kampagnen hätten diese Sphäre der Heimlichkeit nur vergrößert. Durch diese Politik stärke man die Position der Heiler und hole sie aus dem Dunstkreis der Kriminalität. Dr. Mazonde erklärt weiter: „Das Ziel ist es, langfristig ein Bewusstsein bei den Heilern zu schaffen, dass sie auch von der Regierung als Teil des Gesundheitssystems gesehen werden und dass sie die Einrichtungen des Gesundheitsamtes nutzen können. Die Schulmedizin und die traditionelle Medizin dürfen nicht gegeneinander arbeiten, sondern müssen sich ergänzen – und jede Medizin hat ihre Berechtigung. Wenn beide noch mehr voneinander lernen könnten, wäre es optimal.“ Ob es nicht illusorisch ist, frage ich, zu glauben, man könne alle Heiler dazu bringen, sich registrieren zu lassen, sich an Preistafeln und medizinische Standards zu halten. Sicher wäre es naiv zu sagen, es gäbe keine Probleme, aber immerhin habe man schon viel erreicht, gerade auch, was den Umgang mit Aids anbelangt. Und außerdem: es sei eine Tatsache, dass keine Medizin, weder die traditionelle noch die Schulmedizin, eine Antwort auf Aids habe. Zum Abschluss unseres Gesprächs sagt Dr. Mazonde: „Mit einigen unserer Bräuche oder Glaubenssätze kann ich nichts anfangen. Aber Traditionen gehören zu unserem Volk, wir brauchen sie, um unsere Existenz und das Leben zu verstehen. Jede Kultur ist dynamisch und man muss darauf achten, bei der Veränderung seine Wurzeln nicht zu vergessen. Ein Volk ohne Werte ist ein unglückliches Volk.“ Dass man große Fortschritte in der Zusammenarbeit mit Heilern gemacht hat, bestätigt mir auch Prof. Georgia Rakelmann vom Institut für Soziologie in Giessen. Sie arbeitet seit Jahren an einem Projekt zur Erforschung der sozialen Folgen von Aids und hat in Botswana Hunderte von Interviews mit Heilern und Aidserkrankten geführt. Sie sagt: „Ich habe bei den Interviews 505 Astrid Reinberger Botswana mit healern nicht eine Person getroffen, die nicht über Aids ausreichend informiert war. Alle waren restlos überzeugt davon, dass Patienten, bei denen sie den Eindruck haben, dass Aids eine Rolle spielt, an die Kliniken zu verweisen sind. Und sie selbst befassten sich allenfalls mit den sozialen und physischen Begleiterscheinungen, die bei der rein biomedizinischen Behandlung im öffentlichen Gesundheitswesen zu kurz kommen.“ Die wenigen, die mit der Not der Patienten Kasse machen wollten – das sei ein menschliches Problem, kein Problem der Heiler. Prof. Rakelmann betont, dass mittlerweile die Scheu, über Aids-Erkrankungen zu reden, erheblich abgenommen habe. Sie sagt: „Inzwischen kann man auch in der eigenen Muttersprache Aufklärung bekommen (nicht nur in Englisch), die Sprachbilder sind mittlerweile hochsensibel angepasst, es gebe gruppen- und milieuspezifische Ansprachen - kurzum alles, was der Aufklärungsmarkt hergibt, wird angewendet.“ Aber mit dieser Art von Aufklärung hat man zu spät angefangen, und auch heute dominieren die ABC-Kampagnen, dessen kategorisches und etwas weltfremde A und B sicher dazu führt, dass auch die Parole C nicht mehr glaubhaft wirkt: A steht für Abstain (sei enthaltsam!), B für Be Faithful (sei treu!) und C für Condomize (benutze ein Kondom!). Ob auch bess