Tahiti und Bora Bora (Französisch-Polynesien) – Aufwachsen in der

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Tahiti und Bora Bora (Französisch-Polynesien) – Aufwachsen in der
Reiseberichte
Tahiti und Bora Bora (Französisch-Polynesien)
Tahiti und Bora Bora (Französisch-Polynesien) –
Aufwachsen in der Südsee
Im Südpazifik als Erzieherin arbeiten, dort, wo andere Urlaub machen. Für viele
im kalten Deutschland ist dies ein Traum. Wie sieht aber die Realität für die Kinder
und die Berufserzieherinnen auf den Inseln Tahiti und Bora Bora in FranzösischPolynesien aus?
Kindergarten auf Bora Bora
Der Zyklon »Oli« hat im Jahr 2010 auf der
kleinen polynesischen Insel Bora Bora »ganze Arbeit geleistet«. In nur zwei Tagen richtete er immense Schäden an Gebäuden und
der Natur über und unter Wasser an und versetzte die Bewohner in Angst. Eine Woche
lang waren alle öffentlichen Einrichtungen
geschlossen und mehr als 4 000 Menschen
wurden evakuiert, vor allem Frauen und
Kinder. Als ich die Insel besuche, sind gerade große Aufräum- und umfangreiche Re-
paraturarbeiten im Gange. Die evakuierten
Kinder sind wieder zurück und genießen
die noch verbleibenden freien Wochentage
bis zum Schulbeginn und toben im 29 Grad
Celsius warmen Wasser der Lagune. Bereits
kurz nach dem Frühstück gehen sie mit den
Geschwistern und Freunden an den Strand.
Fast jedes Kind wohnt in fast unmittelbarer
Nähe zum Wasser und alles, was Kinder zum
Spiel im Meer brauchen, ist vorhanden: flache Strände, hohe Absprungstellen, Auslegerkanus und Surfbretter. Das Kinderlachen
Geopolitische Daten
Staatsform: Parlamentarische Demokratie,
autonom­es französisches Überseegebiet
Hauptstadt: Papeete
Einwohnerzahl: 268 000, auf etwa 118 Inseln und
Atolle verteilt
Fläche / Bevölkerungsdichte: 4 170 km² 63 Einwohner pro km²
Amtssprache: Tahitianisch und Französisch
Währung: Cours de France Pacifiqü
(CFP; 1 Euro entsprechen 120 CFP)
Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner:
17 000 US-Dollar
Arbeitslosenquote: 12 Prozent
Geopolitische Besonderheiten: Die Einwohner (Mahoi) haben die französische Staatsbürgerschaft. Seit
2004 hat Französisch-Polynesien einen autonomen Status, aber Frankreich bleibt für die Außen-, Geld-,
innere Sicherheits- und die Justizpolitik zuständig. Die Polynesier sind EU-Bürger. Der Inselstaat lebt
und überlebt durch die großen finanziellen Zuschüssen aus Paris und ist daher eines der reichsten Länder im Süd-Pazifik. Der Tourismus ist der wichtigste Wirtschaftsfaktor. Es müssen allerdings viele Waren
importiert werden. Die Vulkaninseln Tahiti, Bora Bora und viele andere gelten mit ihren weißen Korallenkränzen im türkisfarbenen Meer als Innbegriff von Südseeträumen. Die durchschnittliche Jahrestemperatur liegt bei über 30 Grad Celsius und es herrschen 98 Prozent Luftfeuchtigkeit. Die Entfernung zu
Deutschland beträgt etwa 26 000 km, 24 Flugstunden, (mit 11 Stunden Zeitverschiebung). 63 Prozent der
Bevölkerung sind Mahoi, der Rest ist asiatischer und europäischer Abstammung. Von Frankreich wurde
das Bildungssystem übernommen und ein Inspektor wacht über die Einhaltung von Curricula und Standards an staatlichen Einrichtungen und den Kitas. Die École Maternelle (Kita) ist Teil des Schulsystems.
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Europa
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am Meer verstummt mit dem Schulbeginn
nach den willkommenen Zwangsferien.
Dann sind die Kids erst wieder nach der
Schule, so gegen 16 Uhr, in ihrem Element
anzutreffen. Das Meer ist grundlegender
Teil der polynesischen Kultur. Bereits vor
mehr als tausend Jahren segelten die Polynesier mit ihren hochseetauglichen Auslegerbooten und orientierten sich an den
Sternen, Strömungen, dem Wind, Wetter
und der Wolkenbildung. Dieses alte Wissen
erwerben die Kinder beim Spiel im Meer und
von den Älteren ganz selbstverständlich.
Auch das lebhafte Erzählen der Mythen und
Sagen rund ums Wasser durch Eltern und
Kindergarten hält die Traditionen am Leben.
Kindergarten ist Schule
Der Kindergarten (École Maternelle) in
Französisch-Polynesien ist wie in Zentralfrankreich im schulischen Bildungssystem
verankert. Mit frühestens zweieinhalb Jahren werden die Kinder aufgenommen. Die
Klassen der der École Maternelle sind Einrichtungen des lokalen Gouvernements und
sollen in erster Linie den Eltern die Möglichkeit geben, ihren Beruf auszuüben. Ziel ist es
auch, die Kinder auf die Schule vorzubereiten (Kennenlernen der Sprache / Schriftzeichen, Zahlen und Formen) und besonders
den Kindern aus Familien mit sozialen Prob-
lemen möglichst früh eine umfassende Förderung zu bieten.
Auf Bora Bora liegt der Kindergartenneubau im Schatten der beiden grünen, hoch
aufragenden Felsnadeln Pahia (661 Meter)
und Otemann (727 Meter), die oftmals ein
kleiner Wolkenkranz ziert. Nach dem Zyklon hat sich die Leiterin der École Maternelle
besonders traditionell gekleidet. Auf dem
Kopf trägt sie heute den Haku Lei, einen
traditionelle Blumenkranz, und strahlt viel
Optimismus aus. In dieser Klasse der Jüngsten sind maximal 20 Kinder untergebracht,
während in den Klassen der Drei-, Vier- und
Fünfjährigen bis zu 30 Kinder aufgenommen
werden. Alle Lehrerinnen leiden unter den
Belastungen, die solch große Gruppen mit
sich bringen, und sagen das auch deutlich.
Sie verweisen aber auch darauf, dass auf Bora
Bora die Familien traditionell viele Kinder
haben. Das ist in der polynesischen Kultur
gleichbedeutend mit Reichtum und sozialer
Sicherheit. Zudem fördert der französische
Staat kinderreiche Familien besonders.
Kindergarten auf Tahiti
Nicht viel anders ist die Situation in der
École Maternelle »Tama Nui« (»das besondere Kind«) auf der polynesischen Hauptinsel
Tahiti in der Hauptstadt Papeete. Da Tahiti
wesentlich dichter besiedelt ist als Bora Bora
und der Kindergarten »Tama Nui« zusätz-
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lich noch einen sehr guten Ruf genießt, ist
die Nachfrage nach Kindergartenplätze für
die Jüngsten besonders hoch. Dadurch bedingt sind bis zu 30 Kinder in einer Gruppe.
Die École liegt im Zentrum der Hauptstad ,
unweit des Hafens und des Geschäftszentrums. Um einen offenen Außenspielbereich
mit großen schattenspendenden Bäumen
sind zwölf Gruppenräume, die Verwaltung,
das Musikhaus und die Hausmeisterwohnung angeordnet. Insgesamt werden hier
knapp 300 Kinder beschult. Die Direktorin,
Madame Le’nie Marirai, gibt über ihren Kindergarten bereitwillig Auskunft: Der Tag beginnt um 7.30 Uhr. Bis 11.15 Uhr findet Unterricht statt, dann ist Mittagessenszeit, an die
sich eine große Spielpause anschließt. Von
13.00 bis 15.30 Uhr haben die Kinder weiter
Unterricht.
Gemäß dem tahitianischen Curriculum
gibt es sechs Fächer bzw. Unterrichtsbereiche, denen unterschiedlich viel Zeit gewidmet wird. Die Zahlen in den Klammern
benennen die Minuten pro Woche: 1. Geschichte (540), Geographie (125), Technik
(150), 2. Kunst (150), 3. polynesische Sprache
und Kultur (100), 4. Sprache, Phonologie,
Schreiben, Märchen (540), 5. Sport (125)
und 6. Mathematik (150). In entsprechenden
Mappen werden die Ergebnisse gesammelt
und stehen im Fach der Kinder. So können
sowohl die Lehrer als auch die Eltern die
Lern- und Entwicklungs(fort)schritte ihrer
Kinder nachvollziehen. Die Unterrichtseinheiten sind zwischen 20 und 30 Minuten
lang. Am Nachmittag wird der Sprachunterricht immer mit phonologischen Übungen
und Literatur vertieft. Am Vormittag und
Nachmittag gibt es zwischen den Unterrichtsblöcken mehrere kleine Snackpausen,
danach ist Zähneputzen immer Pflicht. Bevor die Kinder um 15.30 Uhr abgeholt werden, gibt es eine Geschichte – ob erzählt oder
vorgelesen, der Tag endet immer spannend.
Ein Tag in der École Maternelle
»Tama Nui«
Der Tag beginnt wie jeder Unterrichtstag
um 7.30 Uhr mit der »Vivre ensemble«, einer aktuellen Runde, in denen die Kids auf
den Tag eingestimmt werden. Es wird z. B.
nach dem Datum, dem Wochentag, der Jahreszeit, der Anwesenheit und dem aktuellen
Stand der Dinge gefragt.
Für den heutigen Tag haben die Kinder
viel Vorbereitung geleistet, denn es wird das
chinesische Neujahrsfest gefeiert, und dieses Jahr wird im Zeichen des Tigers stehen.
Das Fest haben die Lehrerinnen zum Anlass
genommen, ein Projekt über die Sprache
und Kultur Chinas anzugehen, und heute
werden die Ergebnisse deutlich. Alle Gruppenräume sind entsprechend dekoriert, die
Kinder tragen chinesische Kleidung, es gibt
chinesisches Essen und auch die Lehrerinnen sind in chinesischen Trachten zum Unterricht gekommen: Es ist besonders schön
zu sehen, dass wirklich alle Kinder entsprechend gekleidet sind. Auch die Eltern sind
von den Farben und Kostümen begeistert.
Für das chinesische Neujahrsfest wurden
chinesische Schriftzeichen, Symbole und
etwas über Sprache und Kultur gelernt. So
können sich die Kinder auf Chinesisch »viel
Glück« wünschen, sich galant verbeugen,
mit Stäbchen essen, Lampions basteln und
Schriftzeichen lesen.
Die andere Berufsrolle in der École
Die Klassenleitung liegt in den Händen einer
Lehrerin, Zweitkräfte gibt es ebensowenig
wie Männer. Für den Musikunterricht wird
eine externe Kraft beauftragt. Alle Lehrerinnen haben nach dem Abitur vier Jahre
eine Universität besucht und besitzen die
Lehrerlaubnis für die Altersgruppe von
drei bis zehn Jahren, also Kindergarten und
Grundschule. Das Anfangsgehalt liegt in
Französisch-Polynesien bei umgerechnet
etwa 2 400 Euro und steigt mit den Jahren
der Berufstätigkeit auf über das Doppelte.
Nach 15 Jahren Berufstätigkeit in Vollzeit
kann eine Lehrerin in Pension gehen. Allerdings sind dann die Bezüge so gering, dass
davon niemand leben kann, erst recht nicht
auf Tahiti, wo ein Cappuccino umgerechnet
ca. vier Euro kostet. Eine gute Pension wird
erst mit etwa 30 Jahren Berufstätigkeit erreicht. Die Lehrerinnen arbeiten unter anderem mit dem in Frankreich verbreiteten
Lehrwerk »Programme, Projets, Apprentissages« und nach dem speziellen Curriculum
zur Umsetzung der tahitianischen Kultur
und Sprache. Allerdings fällt das Sprechen
der tahitianischen Sprache allen schwer,
denn bis vor einigen Jahrzehnten war sie von
der französischen Administration verboten.
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Private Kindergärten und Krippen
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Unweit der École Maternelle »Tama Nui«
liegt der private Kindergarten »Calimero«.
Er nimmt Kinder im Alter von zwei bis drei
Jahren auf und hat von 7 bis 17.30 Uhr geöffnet. Etwa 50 Kinder werden hier ganztags
betreut. Ebenfalls in der näheren Umgebung
liegt die Garderie »Baby Sweet«. Sie ist eine
Krippe für Babys und Kleinkinder von zwei
bis 18 Monaten. Sechs Mitarbeiterinnen (sogenannte »Taties«) betreuen in vier Gruppen: sechs Kids im Alter zwischen zwei und
sechs Monaten, sechs Kinder von sechs bis
zwölf Monaten und sechs bis acht Kids im
Alter von zwölf bis 15 Monaten. Nach dieser Zeit wechseln sie in die Garderie »Little
Nemo« und bleiben bis zum dritten Lebensjahr dort, bevor sie in die École Maternelle
aufgenommen werden. Die Betreuungszeit der Kleinstkinder ist von 6.30 Uhr bis
17.30 Uhr täglich. Die Kosten betragen 48 000
CFP (etwa 400 Euro) monatlich.
Bildungssouvenir
Französisch-Polynesien hat das vom »Mutterland« Frankreich einst oktroyierte Bildungssystem weitgehend übernommen. Mit dieser verordneten Übernahme verschwand viel von der polynesischen Kultur,
Tradition und Sprache. Dem, was gemäß Curriculum polynesische Identität schaffen soll, wird viel zu
wenig Zeit und Bedeutung eingeräumt. Dabei sind die sehr gut ausgebildeten Lehrerinnen in der Lage,
ein das polynesische Nationalbewusstsein förderndes und damit Identität stiftendes Curriculum umzusetzen. Die Abhängigkeit von Frankreich muss umfassend abgelegt werden, allerdings ist das mit dem
Verlust von Annehmlichkeiten verbunden.