Das Problem der Simulation

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Das Problem der Simulation
Das Problem der Simulation
am Beispiel der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
und der Tagebücher Thomas Manns
Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors
der Philosophie an der Philosophischen Fakultät
der Universität Rostock
vorgelegt von
Uta Buttkewitz
Rostock, November 2002
1. Gutachter: Prof. Dr. Helmut Lethen, Universität Rostock
2. Gutachter: Prof. Dr. Heinz-Jürgen Staszak, Universität Rostock
3. Gutachter: Prof. Dr. Heinrich Detering, Universität Kiel
Tag der Verteidigung: 9. 7. 2003
1
Prof. Dr. Helmut Lethen danke ich herzlich für die Anregung zu dieser Dissertation und
die Unterstützung bei der erfolgreichen Bewerbung um ein Stipendium der Landesgraduiertenförderung Mecklenburg-Vorpommern.
Während der Arbeit an der Dissertation erhielt ich von Prof. Dr. Lethen immer wieder entscheidende Hinweise und Denkanstöße, die für meine Forschungstätigkeit sehr hilfreich
waren.
2
Inhalt
Einleitung ......................................................................................................................
6
I. Zum wissenschaftlichen Gebrauch der Begriffe Fiktion, Mimesis
und Simulation.......................................................................................................... 10
1. Panorama ....................................................................................................................
2. Mimesis und Fiktion...................................................................................................
3. Fiktionalität.................................................................................................................
3.1 Fiktionalität als Begriff der allgemeinen Ästhetik...............................................
3.2 Fiktionalität in der Literaturtheorie .....................................................................
4. Simulation...................................................................................................................
4.1 Die Simulation als rhetorische Figur im Verhältnis zur Ironie............................
4.2 Roland Barthes’ Begriff des Simulakrums im Verhältnis
zur Simulation von technischen Systemen ..........................................................
5. Neue Forschungsergebnisse in der Diskussion über Simulation................................
5.1 Die Simulation als Theatertheorie .......................................................................
5.2 Die „hyperreale Welt“ und der „symbolische Tausch“ .......................................
5.3 Simulation und Fiktion ........................................................................................
5.4 Neuer Blick auf das Fiktive und Imaginäre durch Wolfgang Iser ......................
6. Der Text aus Sicht des New Historicism ....................................................................
7. Hypothesen .................................................................................................................
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II. Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull .................................................... 48
1. Die Gestalt des Felix Krull als Ergebnis mythologischer und
philosophischer Überlegungen ...................................................................................
2. Neue Forschungsrichtungen .......................................................................................
2.1 Jacobs’ Über-Mythologisierung ..........................................................................
2.2 Die Simulation des Körpers.................................................................................
2.3 Der Roman als Simulation? .................................................................................
3. Verschiedene Ausprägungen der Simulation im Felix Krull .....................................
3.1 Simulation einer ’Körperkatastrophe‘?................................................................
3.2 Schulkrankheit .....................................................................................................
3.3 Rhetorische Simulation........................................................................................
3.4 Literarische Simulation .......................................................................................
4. Hotelszenen ................................................................................................................
4.1 Das Hotel – ein Leben im Schein ........................................................................
4.2 Das Rollenspiel in der Hotelsozietät....................................................................
5. Episodische Simulation ..............................................................................................
5.1 Literarische Inszenierung als Simulakrum ..........................................................
5.2 Professor Kuckuck und Felix im Reich der Allsympathie
und des Scheins ...................................................................................................
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6. Ein Blick in die moralische Welt des Hochstaplers Felix Krull ................................ 95
7. Autobiographie und Authentizität im Felix Krull...................................................... 98
8. Zusammenfassung ...................................................................................................... 101
III. Die Tagebücher Thomas Manns .......................................................................... 106
1. Theoretische Grundlagen zum Tagebuch................................................................... 106
2. Das Widerspiel von Authentizität und Simulation..................................................... 116
3. Das Geheimnis um das Blaubartzimmer.................................................................... 123
4. Kurzer Forschungsbericht zu Thomas Manns Tagebüchern...................................... 130
5. Das Logbuch als verdeckte Simulation...................................................................... 143
6. Simulation als Notwendigkeit zur Aufhebung des
körperlich-geistigen Dualismus ................................................................................. 151
7. Simulation und Dissimulation als Provokation eines
„authentischen Personalstils“ ..................................................................................... 161
8. Die Gleichzeitigkeit von Simulation und Authentizität ............................................. 171
9. Zusammenfassung ...................................................................................................... 183
Schluß ............................................................................................................................ 192
Thesen............................................................................................................................ 196
Literaturverzeichnis..................................................................................................... 204
4
Eine angenehme Erinnerung der gesellige Abend in unserem Garten, bei dem ich den »Segensbetrug« vorlas und eine offenbar tiefe Wirkung damit hervorrief. Immer habe ich bei
solchen Gelegenheiten das Gefühl, zu täuschen und zu blenden, weil ich nicht das Verfehlte, Teigig-Sitzengebliebene biete, sondern eine »schöne Stelle« und jenes verhehle, sodaß
es scheint, das Ganze sei so. Das ist wohl das Betrügerische jeder Probe-Mitteilung. Aber
auch das Präsentierte erweist sich dabei als viel besser und eindrucksvoller als ich schon
längst hatte sehen und glauben können, und der Schluß ist erlaubt, daß auch das Verhehlte
weniger schlecht, in entsprechendem Maße, ist, als ich es sehe.
Thomas Mann: Tagebücher, 20.7. 1933
5
Einleitung
Simulation als eine Kategorie, die als ein Kennzeichen der verstellten und undurchsichtigen gesellschaftlichen Zustände und Entwicklungen gilt, soll in der vorliegenden Studie an
ausgewählten Texten von Thomas Mann untersucht werden. Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull und die Tagebücher sollen als Grundlage für die Beschreibung von
Simulationsprozessen dienen und damit auch Antworten auf die Fragen geben, wie Täuschungsvorgänge in Texten und Texte als Simulationen funktionieren und wie die Leser
das Spiel zwischen Authentizität und Simulation wahrnehmen.
Im ersten Teil der Arbeit werde ich einen Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand zum Begriff der Simulation sowie seine Position innerhalb des Begriffsfeldes
von Fiktion und Mimesis geben. Ausgehend von antiken Konzepten von Mimesis und
Fiktion als wesentliche Komponenten zur Charakterisierung von Dichtung führt der Weg
über die Verwendung der Termini in aktuellen Literaturtheorien bis zu ihren Auswirkungen auf umfassendere Kulturtheorien. Da es in der bisherigen Forschung noch keine
ausführlich angelegte theoretische Abhandlung über den Begriff der Simulation gibt, ist es
notwendig, sich mit den unterschiedlichsten Ansätzen kritisch auseinanderzusetzen und sie
einzuordnen. Diese Arbeit möchte einen Beitrag zur konkreten Bestimmung der Simulation leisten, indem sie versucht, die Kategorie in semantische Felder zu unterteilen und
damit die Vermischung und daraus eventuell resultierende unscharfe Grenzziehungen zwischen einzelnen Auslegungen und Anwendungen des Begriffes zu markieren. Die Basis für
meine theoretischen Erörterungen zur Simulation werden vor allem die Arbeiten von
Roland Barthes, Jean Baudrillard und Wolfgang Iser bilden.
An Manns Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull werde ich die verschiedenen Facetten der Simulation erläutern. Der Roman nimmt im Gesamtwerk von
Thomas Mann insofern eine Sonderstellung ein, als über ihn die unterschiedlichsten Deutungsversuche vorliegen. Die Ausnahmestellung des Felix Krull läßt sich auf mehreren
Ebenen nachweisen. Der Roman provoziert nicht nur voneinander abweichende Interpretationen, sondern verfügt auch über eine außergewöhnliche Entstehungsgeschichte und
einen für Manns Gesamtwerk ungewöhnlichen, durch eine gewisse Leichtigkeit gekennzeichneten Erzählstoff. Um einen möglichst umfassenden Überblick zur Forschungssituation zu gewinnen, ist es notwendig, auch alternative, unkonventionelle, d.h. von den Stan-
6
dardwerken abweichende Deutungsversuche kritisch miteinzubeziehen. Neben Hans
Wyslings umfangreicher Studie Narzißmus und illusionäre Existenzform verwende ich die
Untersuchungen von Jürgen Jacobs, Bernhard J. Dotzler und Gerhard Härle als Basisliteratur für meine Darstellungen, wobei letztere sich ausdrücklich mit dem Thema der Simulation befassen. Während sich Härles Untersuchung dem Gegenstand von der traditionellen,
hermeneutischen Sichtweise nähert, kommt der Neo-Strukturalist Dotzler zu völlig anderen
Ergebnissen. Ziel dieser Gegenüberstellung soll es sein, durch den Vergleich der Analysen,
die unterschiedlichen Gewichtungen festzustellen und die Punkte herauszufinden, welche
die meisten Differenzen aufweisen. Auf dieser Grundlage ist es dann möglich, die Hauptprobleme der Felix-Krull-Forschung differenziert darzustellen und damit die Konzentration
auf die besonderen Merkmale des Romans zu lenken. Isers Darstellungen zum Fiktiven
und Imaginären dienen mir als Schaltstelle zwischen den beiden Positionen, um das Problem als literarisches Phänomen von der anthropologischen Seite zu beleuchten.
Die außergewöhnliche Anlage und Struktur von Manns Tagebüchern, die in starkem
Gegensatz zu seiner Prosa stehen, haben mich dazu veranlaßt, nach Indizien zu suchen, die
es ermöglichen, das Phänomen der Simulation als Element autobiographischen Schreibens
zu begreifen. Ich folge Martin Lindners theoretischen Erörterungen zum Logbuchcharakter
von Manns Tagebüchern, wobei ich nicht der Frage zur literarischen Qualität der Diarien
nachgehe, sondern zu ergründen versuche, welche Effekte dazu verleiten, Manns Tagebücher wie Lindner als ’Fingerabdruck des Wirklichen‘ zu lesen und welche Indizien Zweifel
über die ’Authentizität‘ des Dargestellten bei der Leserin aufkommen lassen. Unter den
Thomas-Mann-Forschern herrscht Uneinigkeit darüber, ob wir den ’wahren‘ Thomas
Mann eher in seinen erzählerischen Texten oder in den Tagebüchern finden können bzw.
ob er sich sowohl in der einen als auch in der anderen Gattung der Technik des Ausbalancierens von Öffentlichkeit und Privatheit bedient. Aus den widersprüchlichen Ansichten
der Rezensenten kann man schließen, daß Manns Diarien einen besonderen Mechanismus
entwickelt haben, der diese unterschiedlichen Lesarten zuläßt. Im Zuge der zunehmend
medialisierten und computerisierten Gesellschaft im sogenannten Zeitalter der Postmoderne gewinnt das Moment des Verdachts ähnlich wie die Simulation eine Kraft, die scheinbar
einen Automatismus in Gang gesetzt hat, der eine Differenzierung zwischen Aufrichtigkeit
und Lüge verwehrt. Der Medientheoretiker Boris Groys untersucht in seiner Studie Unter
Verdacht dieses Phänomen des aktuellen Zeitgeistes. In Kombination mit Helmuth
7
Plessners Theorien zur Künstlichkeit des Menschen versuche ich, den Ursachen des permanenten Zweifels näher zu kommen.
Andreas Kriegenburg, Regisseur am Schauspielhaus Zürich, gibt in einem Gespräch
über das von ihm inszenierte Ibsen-Drama Stützen der Gesellschaft1 eine erstaunlich luzide
Diagnose über die gegenwärtige Funktion des Theaters:
Für uns ist ja das Problem, dass wir diese Läuterung für rundum unglaubwürdig halten. Wir
können diese Läuterung nicht ohne Ironie denken, nicht ohne eine Theaterform, ob das das
Musical ist oder die Farce. Wir können der Läuterung keine Wahrhaftigkeit mehr zugestehen, dafür sind wir vielleicht selber zu verdorben. Und das ist das Problem an diesem
Schluss: Ibsen hat, glaube ich, diese Läuterung für den Konsul Bernick für nötig und auch
für wahrscheinlich gedacht. [...] Das ist, auch durch die Übernahme der Dramaturgie durch
Hollywood, für uns nicht mehr nacherlebbar und fast nur noch als Klischee vorstellbar. Aber
wenn wir dem nachgeben, wird es, glaube ich, sehr unangenehm werden, weil man – auch
als Theater – zu lügen anfängt und sich auf Schablonen und Bildbehauptungen zurückzuziehen beginnt. Damit würde man diesen Figuren – auch dem Theater als lebendigem Apparat –
das Blut entziehen. Welche Lösung wir dafür finden, ist noch offen.2
Kriegenburg lenkt mit seiner Einschätzung über das Theater die Aufmerksamkeit auf die
größere Komplexität unserer Gesellschaft und die Verschiebung von moralischen Kategorien im Gegensatz zu Ibsens Zeit. Dieses Beispiel soll die Schwierigkeiten im Umgang mit
dem Begriff der Simulation verdeutlichen. Einerseits ist vor seiner voreiligen Verwendung
zu warnen – nicht jeder Verdacht ist tatsächlich begründbar. Andererseits offenbart
Kriegenburgs Gebrauch der „Kellermetapher“ den Verdacht, daß es ein Leben unter der
Oberfläche gäbe.
Dieses Dilemma, dem Verdacht einerseits nicht zu entgehen und hinter jeder scheinbar
vordergründigen Aufrichtigkeit ein simulierendes Element zu befürchten, andererseits je-
1
Die Hauptfigur des Stückes, Konsul Bernick, ist ein Verfechter der neuen Technik und initiiert einen Bahnbau. In seinem Haus hat sich eine frömmelnde, klatschsüchtige Damengesellschaft gebildet, die von einem
Vorfall berichtet, der sich vor fünfzehn Jahren ereignet hat. Bernicks Schwager Johann mußte damals die
Stadt verlassen, weil er eine Liebesbeziehung zu einer Schauspielerin unterhalten und Geld von der Mutter
des Konsuls unterschlagen haben soll. Aufgrund von unrechtmäßigen Spekulationen gerät Bernicks Familenbetrieb in finanzielle Schwierigkeiten, für die er jedoch seinen Schwager verantwortlich macht. Nach
familiären Verwirrungen, die schließlich mit der dramatischen Rettung seines Sohnes Olaf enden, gesteht der
Konsul reumütig seine Schuld an den geschäftlichen Mißerfolgen ein und gibt zu, daß er derjenige war, der
ein Verhältnis mit der Schauspielerin hatte und auch für das Verschwinden des Geldes verantwortlich war.
Kriegenburg zeigt die durchrationalisierte Gesellschaft, deren Mitglieder auf ihrer „moralischen Integrität
und Stabilität“ beharren und damit auf ihre Funktion als „Stützen der Gesellschaft“ verweisen. Mit der Verwendung der „Kellermetapher“ gelingt es Kriegenburg, das verkrampfte Rollenverhalten ins Schwanken zu
bringen und es als Simulation zu entlarven.
2
Gespräch mit dem Regisseur Andreas Kriegenburg am 26. 2. 2002. In: Programmheft zum Stück „Stützen
der Gesellschaft“. Hrsg. von der Schauspielhaus Zürich AG. Das Gesellschaftsdrama „Stützen der Gesellschaft“ von Henrik Ibsen feierte am 21. 3. 2002 im Schauspielhaus Zürich seine Premiere.
8
doch selbst diese unsichtbare Lenkung nicht mehr ernstzunehmen, blockiert den Blick hinter die realen Kulissen der Simulation, d. h. es geht nicht darum, die Simulation zu entzaubern, sondern den Ursachen für den Verdacht einer Täuschung auf den Grund zu gehen.
Am Beispiel von Thomas Manns Texten möchte ich versuchen, einen Zusammenhang zwischen dem Simulanten, den ’Opfern‘ sowie den Verdachtsmomenten herzustellen.
9
I. Zum wissenschaftlichen Gebrauch der Begriffe Fiktion, Mimesis und Simulation
1. Panorama
Wenn man versucht, eine auch nur annähernd eindeutige Definition von Fiktion, Mimesis
und Simulation zu erhalten, befindet man sich sehr schnell in einem diffusen Netzwerk von
Theorien, die auf unterschiedlichsten Prämissen basieren. Das liegt zum einen daran, daß
sich die einzelnen Literaturtheorien bewußt voneinander abgrenzen wollen, indem sie die
Termini in verschiedene Bedeutungszusammenhänge setzen. Zum anderen beruht die Konfusion jedoch auch auf der Polysemie der Begriffe und ihren vielen Anwendungsmöglichkeiten außerhalb der Literaturwissenschaft. Es ist also nahezu unmöglich, die Kategorien
scharf voneinander zu trennen, ohne daß dabei wichtige Aspekte aus dem Blickwinkel geraten.
Da einige Literaturtheorien die Begriffstriade Fiktion, Mimesis und Simulation weitestgehend ignorieren, versuche ich durch Gegenüberstellung der Termini eine Verbindungslinie zwischen den einzelnen Elementen aufzuzeigen. Dabei müssen die verschiedenen Anwendungsbereiche vorerst unberücksichtigt bleiben, da sie einen strukturellen Überblick
verwehren würden.
Nur wenige Literaturtheorien beschäftigen sich explizit mit dem Zusammenhang von
Fiktion und Simulation. Es wird also unabdingbar sein, kultur- und medienwissenschaftliche Theorien einzubeziehen, um zumindest einige Möglichkeiten des Begriffsverständnisses offenzulegen und davon ausgehend einen Zusammenhang mit den Literaturtheorien
herzustellen.
Da die Begriffe Mimesis und Fiktion schon in der Poetik der Antike eine Rolle spielten,
sollen diese beiden Problembereiche im Zusammenhang betrachtet werden. Die Kategorie
der Simulation war nur in dem Begriffspaar simulatio-dissimulatio gebräuchlich, d. h. lediglich auf der rhetorischen Ebene. Erst im Strukturalismus Roland Barthes’ fand die Simulation Eingang in die Literaturtheorie und entwickelte sich durch ihre Anwendung in
der Computertechnologie zu einer eigenständigen und relevanten Kategorie in der Ästhetik. Seit den zugespitzten Thesen des französischen Theoretikers Jean Baudrillard wird die
Simulation nicht mehr als unzulänglicher Abbildungsmodus aufgefaßt, sondern bezeichnet
10
die mit der Ausbreitung technischer Medien einhergehende überhandnehmende Macht
verselbständigter Zeichenprozesse.
In diesem Zusammenhang ist es möglich, Simulation und Fiktion gemeinsam zu beleuchten. Mit Hilfe verschiedener Konzepte, die im Rahmen der philosophischen Strömung
entstanden, der man den Namen ’Postmoderne‘ gab, ist es möglich, die Facetten der Problematik von Fiktion und Simulation herauszuarbeiten. Kompliziert ist die Anschlußfähigkeit des Simulationsbegriffs für die Literaturwissenschaft. Dieser Punkt ist noch nicht geklärt, denn in der Textanalyse spielt die Simulation nach wie vor kaum eine Rolle. Ich
möchte versuchen, ausgehend von philosophischen, soziologischen sowie theatertheoretischen Konzepten, Anwendungsmöglichkeiten für die Kategorie der Simulation in der literarischen Textanalyse zu finden, um sie dann im Verlauf der Arbeit an ausgewählten Texten von Thomas Mann aufzuzeigen.
2. Mimesis und Fiktion
Die theoretischen Bestimmungen von Mimesis und Fiktion bilden einen kontinuierlichen
Problemzusammenhang, der sich schon in der Antike in den gegensätzlichen Auffassungen
zur Dichtung von Platon und Aristoteles zeigt. Der antike Mimesisbegriff und der neuzeitliche Fiktionsbegriff, die historisch wichtigsten Kategorien zur Wesensbestimmung der
Dichtung, dienen zur Bezeichnung des ästhetischen Weltbezugs der Dichtung und der „ontologischen Differenz zur historischen Faktizität“.3 Beide Kategorien bezeichnen keine
Opposition in der Hinsicht, daß Mimesis Wirklichkeit imitiert oder sogar nur eine Modifizierung zur Darstellung von Wirklichkeit bildet und auf der anderen Seite die Fiktionalität
als ein Kennzeichen der radikalen Eigenständigkeit von Dichtung in bewußter Abkehr von
der empirischen Wirklichkeit gelten kann.
Die Signifikanz des Problems liegt in der Frage nach dem Spielraum künstlerischer
Gestaltung und nach den Grenzen künstlerischer Freiheit. Platons Kritik an der Kunst richtet sich gegen ihren angeblichen Täuschungscharakter. Da die Mimesis an der Welt der
Erscheinungen, nicht aber an ihren Ideen orientiert bleibe, gilt die Dichtung für Platon nur
3
Harth; Gebhardt: Erkenntnis der Literatur, S. 27.
11
als bloßer Schein.4 Aristoteles verwendet zwar noch nicht den Begriff der Fiktion, liberalisiert aber den Gedanken der Mimesis, indem er auf das begrenzte Recht fiktionaler Konzepte der Dichter verweist. Weiterhin bleibt jedoch der Nachahmungsgrundsatz bestehen,
und die Fiktion gilt lediglich als eine Transformation der Realität.5
Aristoteles schreibt im 9. Kapitel seiner Poetik, der Dichter operiere philosophischer als
der Historiker, weil er mehr auf das Allgemeine und den Zusammenhang hinarbeite.6
Demzufolge komme dem Dichter eine höhere Kompetenz als dem Geschichtsschreiber zu,
weil es seine Aufgabe sei, das Mögliche, was geschehen könnte, darzustellen. Die Idee
einer Autonomie dichterischer Fiktion ist Aristoteles jedoch noch unbekannt. Die Norm
der Wahrscheinlichkeit sowie die Faktizität als Orientierungspunkt bleiben in seinem
Denken fest verankert. Er fordert, daß die dichterischen Wirklichkeiten mit der empirischen Lebenswirklichkeit vermittelt bleiben. Darum dürfe der Künstler das Allgemeine nur
in Übereinstimmung mit der Wahrscheinlichkeit darstellen.
Für Aristoteles existieren zwei positive Bedeutungen dichterischer Erfindungen, die
beide im Zeichen der Rhetorik-Tradition stehen. Zum einen nennt er die häufig in der politischen Rede verwendete „Gleichniserzählung als narrative Entfaltung einer Wahrheit oder
Moral“, die in der Tradition des „rhetorisch-poetischen Beweisverfahrens“ steht. Die andere Bedeutung der dichterischen Erfindung sieht Aristoteles in den Erdichtungen von Fabeln
und Gleichnissen, deren Stoffe Historien und Mythologien entstammen. Hierbei werden
die starren Mimesisbestimmungen des Wahrscheinlichen und Angemessenen gelockert und
die „Dimension einer bedingten Wahrscheinlichkeit eingeführt“.7
Die Nachahmungspoetik hat im wesentlichen weiterhin ihren theoretischen Bezugspunkt bei den aristotelischen Prinzipien, wenn auch die Natur nun nicht mehr wie in der
Antike als „Entelechie [...]“, sondern meist „teleologisch, d. h. als zweckmäßig und vollkommen erschaffene Natur“8 verstanden wird. Der Dichter hat sich an der vernunftgemäßen Gestaltung der Natur zu orientieren und unter diesem Gesichtspunkt eine nachvoll4
Platon: Der Staat. Zehntes Buch: „Die Nachahmungskunst ist also von der Wahrheit weit entfernt. Und
wenn sie alles mögliche zustande bringt, so offenbar deshalb, weil sie nur ein wenig von jeglichem erfaßt,
nämlich sein (äußeres) Bild.“ (S. 429); „Wir stellen also fest, daß von Homer an alle Dichter Nachahmer von
Abbildern der menschlichen Tüchtigkeit sind und der anderen Dinge, von denen sie dichten, daß sie aber die
Wahrheit nicht berühren.“ (S. 433)
5
Aristoteles: Die Poetik. Kap. 9: „Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist
mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln
der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.“ (S. 29)
6
Ebd.
7
Harth; Gebhardt: Erkenntnis der Literatur, S. 28.
12
ziehbare Fabel zu schreiben. In der Regelpoetik zeigt sich zunehmend die Tendenz, die
Aufgabe der Dichtung in dem „Endzweck moralischer Belehrung“ zu betrachten.9 Auch
noch in der Aufklärungspoetik wird die Legitimität der Fiktion an der moralischen Wahrheitsvermittlung durch das dichterische Bild gemessen. Erst in der Genieästhetik kommt es
zu einer Aufwertung des Fiktionsbegriffs. Vor allem durch Gottfried Wilhelm Leibniz erhält die Vorstellung von der möglichen Existenz einer Vielzahl alternativer Welten Auftrieb, wodurch künstlerischen Fiktionen neue Spielräume eröffnet wurden.
Während der Mimesisbegriff im realistisch-humanistischen Zweig der Literaturgeschichte und in realistisch geprägten Literaturtheorien wieder auflebte, fand der Fiktionsbegriff erst in der Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts als Gegenstück zur traditionellen
Kategorie der Mimesis wieder Beachtung. Roman Ingarden versucht, die Literatur als Fiktion aus phänomenologischer und ontologischer Sicht zu rechtfertigen, indem er einen
Aussagesatz in einem literarischen Werk als Urteilssatz versteht, dessen dargestellter
Sachverhalt nicht „rein intentional“, sondern „als ein in einer dem Urteil gegenüber seinsunabhängigen Seinssphäre verwurzelter Sachverhalt“ zu begreifen ist, der „tatsächlich
besteht“.10 Gottfried Gabriel plädiert dagegen dafür, eine Unterscheidung nicht zwischen
„reinen Aussagesätzen“ und „Behauptungssätzen“ vorzunehmen, sondern zwischen
„Sprechhandlungen oder Sprechakten“ zu differenzieren.11 Heinrich Plett und Wolfgang
Iser zufolge kann Fiktionalisierung nicht einseitig als eine Leistung des Autor-Subjekts
begriffen werden, da der „kommunikative Kontext die Referentialität eines Textzeichens
verändern kann“.12 Aleida Assmann beklagt in der Diskussion zur Fiktionstheorie, die zum
größten Teil von der analytischen Sprachphilosophie, der linguistischen Pragmatik und der
Kommunikationstheorie geprägt ist, die mangelnde Berücksichtigung der Historizität bezüglich der Erscheinungsformen literarischer Fiktion.13
Nach Ausführungen von Andreas Kablitz und Gerhard Neumann ist die Eigenschaft
mimetischer Poetik, nämlich die „historisch betrachtet [...] fortschreitende Emanzipation
poetischer Wirklichkeitsdarstellung von der Frage nach ihrem Verhältnis zu dieser Wirk-
8
Ebd.
Ebd.
10
Ingarden: Das literarische Kunstwerk, S. 171.
11
Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S.54.
12
Plett: Textwissenschaft und Textanalyse, S. 101. Vgl. auch Iser: Der Akt des Lesens. Vor allem Kap. IV:
„Interaktion von Text und Leser“, S. 257-355.
13
Assmann: Die Legitimität der Fiktion, S. 12-13.
9
13
lichkeit“14 für die Beurteilung des Simulationsbegriffs, der im Blickfeld der sogenannten
Postmoderne zu einer Parole der zeitgenössischen Wirklichkeitswahrnehmung wurde, von
ausgesprochener Relevanz. Die Simulation hat in unserer Gegenwart beinahe schon den
Status eines Kultbegriffs bekommen, der die gesamte derzeitige Gesellschaftssituation charakterisieren soll und alle Bereiche des Lebens tangiert. Kablitz und Neumann konstatieren, daß unserer Welt der Verlust von Wirklichkeit attestiert wird, an deren Stelle die „Maschinerie einer Produktion von Simulakren“ getreten ist, wodurch der Unterschied zwischen der wahren und der künstlichen Welt verschwindet.15 Rufe diese Erkenntnis bei den
einen tiefe Bestürzung über den zunehmenden Mangel an Wirklichkeit hervor, so sehen die
anderen die Entwicklung der Simulation als einen letzten Schritt zur Erhebung des Menschen über die Natur und zur Herstellung seiner eigenen Wirklichkeit an. Beide Positionen
entspringen jedoch dem Horizont eines ontologischen Denkens, das die Mimesis begründet. Sie leiden unter dem Verdacht, daß Nachahmung eine bloße Kopie der Wirklichkeit
und darum zweitrangig sei. Mimesis scheine minderwertig zu sein, wenn man sie mit origineller Schöpfung vergleicht. Simulation bedeute für die einen eine Perfektionierung der
Mimesis, indem sie Bilder einer Welt kreiert, die sie selbst entwickelt hat. Diese Herstellung einer neuen Welt kann der Simulation aber nur gelingen, indem sie die Differenz zwischen Original und Abbild egalisiert. Für die anderen repräsentiere sie einfach die letzte
Überwindung romantischer Ästhetik und den endgültigen Triumph über die Wirklichkeit.
Neumann und Kablitz bewerten den gegenwärtigen Stellenwert der Simulation folgendermaßen:
Der dramatische Gestus der Gegenwartsanalyse bezieht seinen Impetus bezeichnenderweise
also aus einem Denken, dessen Zuständigkeit zum anderen gerade in Frage gestellt wird. So
bestimmt sich das auch derzeit vieldiskutierte Konzept der Simulation zu wesentlichen Teilen noch immer aus den Differenzen gegenüber jener Kategorie der Mimesis, die dieses tradierte Denken repräsentiert.16
Die enge Relation zwischen Mimesis und Simulation zeige sich vor allem, wenn man nach
dem historischen Profil der Mimesiskategorie selbst fragt. Dann läßt sich nämlich feststellen, daß sich gerade die Aristotelische Poetik nicht auf die ontologischen Regularien zwischen der Wirklichkeit und ihren Abbildern beschränkt, sondern gerade die überlegene Art
14
Kablitz; Neumann: Mimesis und Simulation, S. 12.
Ebd., S. 13.
16
Ebd.
15
14
der Darstellung in der Dichtung, die eben nicht nur den Realitätsgehalt thematisiert, gegenüber der Geschichtsschreibung betont. Die Wirkung der Mimesis beruht laut
Aristoteles auf einer im Menschen verankerten Antriebskraft, nachgeahmte Handlungen
mitzuspielen und sich mit ihnen zu identifizieren, d. h. die Mimesis realisiert sich erst im
Wirklichkeit. Nur durch die Kombination mit imaginativen Mitteln der Sprache wird das
Vergnügen an der poetischen Darstellung erzeugt.
Unter diesem Blickwinkel büßt der Terminus der Simulation etwas von seiner schillernden Aura ein, da nicht nur die Simulation, sondern bereits die Mimesis von einem komplizierten Verhältnis von Wahrheit und Zeichen ausgeht.
3. Fiktionalität
3.1. Fiktionalität als Begriff der allgemeinen Ästhetik
Die Definition der Fiktion im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft bezieht sich
bezeichnenderweise nicht auf die Literatur im engeren Sinne:
Auszugehen ist von dem traditionellen Gegensatz von Fiktion und Wirklichkeit (bzw. Wahrheit), von (ästhetischem) Schein und (außerästhetischem) ’Sein‘. Die Explikation hat also
zunächst negativ zu bestimmen, was Fiktion fehlt, um der ’Wirklichkeit‘ oder ’der Wahrheit‘
gerecht zu werden. [...] Sofern fiktionale Rede keine Ansprüche erhebt, Referenz (Denotation) zu haben, wahr bzw. affirmativ zu sein, ist ihr Sprecher von der Erfüllung entsprechender Kommunikations-Bedingungen freigestellt.17
Wie diese Definition bereits andeutet, finden wir Theorien, die sich explizit und grundlegend mit der Thematik um das Begriffsfeld der Fiktion auseinandersetzen, in erster
Linie auf dem Gebiet der Philosophie und nur marginal im Bereich der Literaturtheorien. Im Zusammenhang mit der Fiktionalität spricht der amerikanische Sprachphilosoph J. R. Searle von Scheinbehauptungen, d. h. der Autor gibt lediglich vor, illokutionäre Akte zu vollziehen. Der Autor äußert demnach Behauptungssätze ohne Vollzug
des Sprechaktes der Behauptung. Aus diesem Ergebnis schlußfolgert Searle, daß der
fiktionale Text eine Erzählung ohne Wahrheitsanspruch ist.18
17
18
Gabriel: Fiktion. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 594-595.
Searle: Ausdruck und Bedeutung, S. 87-90.
15
Eine andere Art der Beschreibung von Fiktion – nämlich aus philosophischer Sicht –
liefert Jürgen H. Petersen. Er spricht die Dichtung von jedem Schein frei, weil sie nicht
vorgibt, Wirkliches als Wirkliches zu behaupten oder Wirklichkeitsaussagen nachzuahmen. Stattdessen liege einfach ein bestimmter Sprachstatus vor, der vom Rezipienten sofort als solcher erkannt und demzufolge als Fiktion anerkannt wird. Laut Petersen sind die
Wirklichkeitsaussagen durch den Anspruch auf Richtigkeit gekennzeichnet, während die
poetischen Aussagen das Moment der Unmittelbarkeit implizieren. Die Wahrheit der poetischen Aussagen schließe real Unmögliches ein bzw. übersteige es noch und präsentiere es
als poetisch seiend, als (poetisch und unmittelbar) wahr. Die Fiktion sei außerdem kein
konstitutives Element von Fiktionalaussagen und könne demzufolge nicht als Kriterium
zur Abgrenzung von diesen gegenüber Realaussagen dienen. Petersen geht von einem doppelten Sprachbewußtsein aus, dem Fiktionalbewußtsein und dem Realbewußtsein, welches
uns in die Lage versetzt, die gleiche Aussage situationsabhängig als real bzw. fiktional
einzustufen. Die Wirklichkeitsaussage bedeutet: „Das Ausgesagte ist wirklich und wirklich
so, wie es gesagt wird“. Im Gegensatz dazu meint die Fiktionalaussage: „Das Ausgesagte
ist“.19 Mit dem Einsatz des „Imaginären“ versucht Wolfgang Iser in seinem Entwurf einer
literarischen Anthropologie zum Fiktiven und Imaginären, eine Verbindung zwischen Realem und Fiktivem herzustellen, worauf im weiteren Verlauf dieser theoretischen Explikationen noch ausführlicher einzugehen sein wird.
Jürgen H. Petersen vermeidet bei der Bestimmung der Fiktionalität innerhalb der Literatur die Unterscheidung zwischen Prosarede und Wortkunst. Wortkunst meint hier die reine
Imagination, die im Gegensatz zur Fiktion wirklich das Charakteristikum der Nichtreferentialität besitzt; zu den nur auf Vorstellung beruhenden literarischen Texte zählen
z. B. Märchen und Legenden.20 Die Imagination beansprucht nicht die Merkmale fiktionalen Sprechens, wozu Petersen die reine Temporalität und reine Lokalität sowie das unmittelbare Sein und die unmittelbare Wahrheit rechnet. Auch Träume, wie sie beispielsweise
Hans Castorp im Schneekapitel des Zauberbergs erlebt, gehören zu dieser Art von Fiktion.
Gerade in Thomas-Mann-Texten sind häufig solche Imaginationen, wie z. B. Aschenbachs
rauschhafter Traum in Venedig und Adrian Leverkühns Zwiegespräch mit Mephisto zu
finden.
19
20
Petersen: Fiktionalität und Ästhetik, S. 35.
Grübel; Grüttemeier; Lethen: Orientierung Literaturwissenschaft, S. 62.
16
Für Aleida Assmann, die die Fiktionalität aus kommunikationstheoretischer Sicht betrachtet, stellt die Fiktion ein System der Realität dar, wobei sie zwischen zwei Modellierungsebenen differenziert. Dem primären Modell, der verbalen Realität, weist sie einen
kollektiven und impliziten Charakter zu, da es „Gemeinbesitz einer Kulturgemeinschaft in
einer bestimmten historischen Epoche“ ist und dieser Gemeinbesitz eine „internalisierte
und unbewußte“ Ausprägung besitzt.21 Das sekundäre Modell, die Fiktion, ist zum einen
individuell, indem es „von einem bewußten und persönlichen Geist geschaffen wurde“,
und es ist explizit, da „es das unbewußte Weltbild in einem Meta-Diskurs verarbeitet“.
Durch diese erklärenden Eigenschaften kann das sekundäre Modell auf das primäre Modell
Einfluß nehmen, „sei es bestätigend oder verfremdend, reflexiv oder verändernd“.22
In den beiden Sichtweisen von Fiktion offenbaren sich sowohl bei Petersen als auch bei
Assmann gravierende Differenzen zwischen Fiktion und Simulation in der Hinsicht, daß in
der Fiktion kein Element der Täuschung vorhanden ist, sondern nur ein bestimmter Redestatus vorliegt, dem keine Täuschungsabsicht zugrunde liegt.
3.2 Fiktionalität in der Literaturtheorie
Es stellt sich jetzt die Frage, wie die Kategorie Fiktion von verschiedensten Literaturtheoretikern in ihr Konzept eingearbeitet wird.
Im Unterschied zu hermeneutisch orientierten Literaturtheorien begreifen die Vertreter
des Strukturalismus und Poststrukturalismus nicht nur die Handlung literarischer Werke als
Fiktion, sondern auch die darin enthaltenen Themen, Ideen, Überzeugungen, d. h. die sogenannten ’Botschaften‘ des Autors.
Der russische Formalist Roman Jakobson zieht keine strenge Trennungslinie zwischen
Literatur und Nicht-Literatur, sondern zwischen der poetischen und anderen Funktionen
der Sprache. Die poetische Funktion lasse sich dadurch charakterisieren, daß das „Prinzip
der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“23 übertragen
werde, z. B. durch Wiederholungen von bestimmten Motiven und Strukturelementen. Er
plädiert für die „Autonomie der ästhetischen Funktion“ und verwirft den „Separatismus der
21
Assmann: Die Legitimität der Fiktion, S. 16.
Ebd., S. 17.
23
Jakobson: Poetik, S. 94.
22
17
Kunst“.24 Jakobson spricht von der „Poetizität“ eines Textes, wenn „das Wort als Wort und
nicht als bloßer Repräsentant von Gegenständen oder als Gefühlsausbruch“ verstanden
wird, da sonst die kognitive bzw. emotive Funktion des Wortes im Vordergrund stehen
würde. Wörter und ihre Bestandteile, ihre Bedeutung sowie ihre äußere und innere Form
seien nicht nur ein „indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit“, sondern erreichten ein
„eigenes Gewicht“ und einen „selbständigen Wert“.25 Die poetische Funktion richte ihre
Aufmerksamkeit eher auf die Materialität der Zeichen als auf die Kommunikation, woraus
die Unabhängigkeit des Zeichens als eigenständiges Wertobjekt resultiere. Explizit ausgedrückt heißt das, die Worte selbst stehen im Blickfeld unserer Aufmerksamkeit und nicht,
was in welcher Situation von wem und zu welchem Zweck gesagt wird.
Diese Auffassung hängt mit dem Einfluß Ferdinand de Saussures zusammen, der komplexe Bedeutungssysteme in Abhängigkeit von der Anerkennung bestimmter Regeln betrachtet, die ihre Rechtfertigung von den Bedürfnissen eines Systems und weniger von
einem direkten oder motivierten Bezug zu einer außersystemischen Realität ableiten.26 Das
bedeutet in diesem Fall, daß die Strukturalisten das Zeichenmodell von de Saussure mit der
der Arbitrarität unterworfenen Relation zwischen Zeichen und Material auf die Literatur
anwenden. Einigen französischen Strukturalisten, wie z. B. Roland Barthes, ist dieses Modell jedoch zu einfach, und sie sehen deshalb das ’Material‘ außerhalb der Realität und
verstehen es als Komplex von Vorstellungen, der sich auf die Gedankenwelt bezieht. Die
arbiträre Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat führt zum erweiterten Fiktionsbegriff in der Hinsicht, daß die aus dieser Arbitrarität entstehenden Bedeutungen in literarischen Texten als Fiktion bezeichnet werden können, als Fiktion deshalb, weil das Zeichenmodell kein festes Gebilde darstellt, sondern die Vorstellung, die durch das Lautbild
provoziert wird, immer wieder aktualisiert wird. Da in de Saussures Zeichenmodell das
Objekt bzw. der Bezug zur außersprachlichen Realität fehlt, nutzen viele Literaturtheoretiker diese Tatsache, indem sie in literarischen Werken eine eigene Zeichenwelt erkennen,
deren Bedeutungen losgelöst von der Außenwelt, also auch vom Autor, bestehen.
Durch Julia Kristeva wird der erweiterte Fiktionsbegriff untermauert, weil sie noch einen Schritt weitergeht und den Zeichen erst in Kombination miteinander ihre Bedeutung
24
Ebd., S. 67.
Ebd., S. 79
26
Vgl. de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft: „Das Wort ’beliebig‘ [...] soll besagen, daß es u n mo tiv ie r t ist, d. h. beliebig im Verhältnis zum Bezeichneten, mit welchem es in Wirklichkeit
keinerlei natürliche Zusammengehörigkeit hat.“ (S. 80)
25
18
zuweist („Il est COMBINATOIRE et en cela CORRÉLATIF: son sens résulte de la combinatoire à laquelle il participe avec les autres signes“.),27 wodurch der literarische Text
sozusagen einer doppelten Fiktionalität unterliegt. Wenn die Zeichen durch Abhängigkeit
voneinander ihre Bedeutung erlangen, dann besitzt dementsprechend auch der üblicherweise nicht-fiktionale Text, der auf die Realität verweist, Merkmale von Fiktionalität. Bei der
Kombination der Zeichen untereinander hat die Wirklichkeit keinen Einfluß, und somit
entsteht auch in nicht-fiktionalen Texten eine Art von Fiktion.
Bei Jacques Derrida, dem führenden Vertreter des Dekonstruktivismus, finden wir die
radikalste Ausprägung des Fiktionsbegriffs. Derrida leugnet die Existenz eines „TextÄußeren“ und eines „transzendentalen Signifikats“, und somit konzentriert sich sein Erkenntnisinteresse auf die Geschlossenheit der Texte.28 Alle anderen strukturalistischen
Richtungen, mit Ausnahme des ontologischen Strukturalismus, bleiben einem Realitätsmodell verhaftet, das nicht durch eine völlige Beziehungslosigkeit zur objektiven Realität
gekennzeichnet ist. Erst Derrida erklärt die Realitätsmodelle zu willkürlichen Fiktionen
und widerspricht damit auch de Saussure, dessen Vorstellung von der Arbitrarität des Zeichens nie die Vorstellung einer fundamentalen Beziehungslosigkeit des Signifikanten zum
„transzendentalen Signifikat“ beinhaltete.
Die Schlüsselkonzepte Derridas, „Schrift“ und „Differenz“, wenden sich gegen die Illusion einer unmittelbar gegebenen und in Sprache vergegenwärtigten Wirklichkeit, gegen
die Illusion der Identität zwischen Signifikant und Signifikat und des Subjekts mit sich
selbst. Die Negierung einer extratextuellen Referenz und damit das Ende der mimetischen
Relationen zwischen Texten und einer objektiven Realität, an deren Stelle ein fiktionales
Weltmodell tritt, führt zu einer Loslösung von Zwangsstrukturen eines vereindeutigenden
Systemdenkens und somit zur „Rückkehr zum diffusen und vieldimensionierten Denken“,29 welches insofern als arbiträr gelten kann, als es sich nicht von objektiven Sinnzusammenhängen oder Wirklichkeitsmodellen überprüfen läßt, sondern diese als Fiktionen
zu enthüllen sucht. Die Abkehr von der Realität führt in der Konsequenz dazu, daß Zeichen
eines Textes immer nur auf andere Zeichen verweisen.
Der Dekonstruktivismus kulminiert in einem vieldimensionalen Denken, das sich keinem Wahrheitsbegriff verschreibt und dessen Parole die ’Offenheit‘ ist. Wenn in Zeichen
27
Kristeva: Le texte du roman, S. 35.
Derrida: Grammatologie, S. 85; 274.
29
Ebd., S. 154.
28
19
und Texten immer Spuren von anderen Texten und Zeichen gegenwärtig sind, dann bedeutet dies, daß der dekonstruktive Interpretationsprozeß immer gleichzeitig Bilder und ihre
Gegenbilder aufdeckt. Der Fiktionsbegriff erreicht bei Derrida den Status einer eigenen
Realität, der die Verortung des Phänomens der Simulation im literarischen Text überflüssig
macht.
Derrida verwendet die Figur des Spiels, um de Saussures Denken der Differenz zwischen Signifikant und Signifikat als „Entgrenzung des Spiels“30 weiterzuführen. „Die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.“31 Wolfgang Iser gründet als Vetreter der Rezeptionsästhetik seinen
Begriff des Spiels ebenfalls auf die Differenz. Auch Iser schreibt dem literarischen Text
keinen unmittelbaren Bezug zur Wirklichkeit zu, sondern bezeichnet das Reale als „Vielfalt der Diskurse“.32 Das Spiel entsteht bei Iser durch das Ineinanderwirken von Realem
und Imaginärem, wobei das Fiktive als Schnittstelle fungiert. Die Fiktion ist nicht der Gegenbegriff zur Realität, sondern läßt sich nur durch Relationen begreifen.
Wichtige Hinweise der poststrukturalistischen Betrachtungsweise zum Begriff der Fiktion finden wir bei dem Dekonstruktivisten Paul de Man. Seine Auffassung von Fiktionalität in Verbindung mit Poetizität hat de Man besonders am Beispiel der Autobiographie
untersucht. Er begreift die Fiktion nicht als Redestatus, sondern bestimmt stattdessen das
„figurative“ Sprechen als Spezifikum der Poesie. Auf der rhetorischen und figurativen
Ebene der Texte versucht er, durch sein dekonstruktivistisches Verfahren Bedeutungsnuancen aufzuzeigen. Dichtung unterscheidet sich seiner Meinung nach von der Sprache des
Alltags nur durch die rhetorische und figurative Sprache.33 Er betont das autonome Potential der Sprache und ihre Eigendynamik in der literarischen Rede als die wichtigsten Kennzeichen der Literarizität. Als stilbildenes Merkmal poetischer Ausdrucksweise hebt er die
Verwendung von Worten in übertragener und uneigentlicher Bedeutung hervor. Außerdem
verunsichere Literarizität das Bemühen der Leser auf der Suche nach dem Subjekt und
seinem Sinn hinter dem Text, wodurch Folgen für den Status und die Interpretation der
Autobiographie entstehen. De Man überlegt, ob wir wirklich mit Gewißheit davon ausgehen können, daß das Leben die Autobiographie beeinflußt und nicht umgekehrt. Er zwei-
30
Pross; Wildgruber: Dekonstruktion. In: Arnold; Detering: Grundzüge der Literaturwissenschaft, S. 417.
Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 424.
32
Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 20.
33
de Man: Allegorien des Lesens, S. 40.
31
20
felt an der bedingungslosen mimetischen Bezogenheit der autobiographischen Redefigur
auf das Referenzobjekt, da die mimetische Relation nur eine mögliche „Art der Figuration
unter anderen“34 sei. Zugleich müsse man die Autobiographie als eine „Lese- oder Verstehensfigur“ begreifen, die allen Texten inhärent ist und damit die Illusion widerlegt, das
Referenzobjekt könne strikt von der Fiktion abgegrenzt sein. De Man wirft die Frage auf,
ob das autobiographische Schreiben wirklich „von der Referenz auf dieselbe Weise abhängt wie ein Photograph von seinem Objekt oder ein (realistisches) Gemälde von seinem
Modell“.35 Daraus schlußfolgert er, daß „die Unterscheidung zwischen Fiktion und Autobiographie also keine Frage des Entweder-Oder zu sein scheint, sondern unentscheidbar“
ist.36 Das Problem der Autobiographie ist bei ihm in der rhetorischen Struktur der Sprache
selbst involviert.
4. Simulation
Der Begriff der Simulation ruft eine Vielzahl von Assoziationen hervor und führt in eine
Konfusion, die sich in literatur- und kulturtheoretischen Nachschlagewerken widerspiegelt.
Es existieren weder eine exakte Definition noch eine klare Unterscheidung zwischen den
diversen Bedeutungsmöglichkeiten der Simulation, da der Begriff aufgrund der rasanten
technologischen Entwicklung, besonders im Bereich der Kommunikationsmedien, einem
steten Wandel unterliegt. Die Differenzierung zwischen folgenden Sichtweisen zum Komplex der Simulation erachte ich für sinnvoll:
1. Simulation als rhetorische Kategorie im semantischen Feld der Ironie
2. Simulation als Teil von Modellierungsprozessen, wie z. B. die Computersimulation
von technischen Systemen
3. Simulakrum als Produkt der strukturalistischen Tätigkeit
4. Simulation als Hyperrealität zur Kennzeichnung der postmodernen Gesellschaft
5. Simulakrum als anthropologische Konstruktion zur Erfüllung des Fiktionsbedürfnisses
des Menschen
34
de Man: Autobiographie als Maskenspiel. In: Die Ideologie des Ästhetischen, S. 133.
Ebd., S. 132.
36
Ebd., S. 133.
35
21
Ich möchte versuchen, einen kurzen Überblick über dieses diffuse Gefüge zum Begriff der
Simulation zu geben sowie Möglichkeiten seiner Verankerung in der Literaturwissenschaft
aufzeigen.
4.1 Die Simulation als rhetorische Figur im Verhältnis zur Ironie
Beim Versuch, die Simulation eindeutig zu bestimmen, stößt man unweigerlich auf den
Begriff der Ironie, der seinen Ursprung in der Antike hat und deshalb auch aus diesem antiken Verständnis heraus erklärt werden kann.
Der Tropus Ironie meint das Gegenteil von dem, was man ausdrücken will, d. h. das gesetzte Wort steht in einer Gegenteil-Beziehung zum ersetzten. Die Bedeutung eines Wortes
wird auf ein konträres Wort übertragen, wodurch man bei der Ironie häufig von einem
Sonderfall der Metapher spricht. Diese allgemein übliche Definition der Ironie vernachlässigt jedoch ihren rhetorischen Ursprung, der eng mit dem Begriffspaar SimulationDissimulation verknüpft ist.
Die Gedankenfigur Ironie unterteilt sich in dissimulatio und simulatio. Beim Gebrauch
der dissimulatio gibt der Redner das Nicht-Verständnis einer fremden Äußerung vor und
verheimlicht dabei sein Wissen. Dabei liegt eine passive Form der Ironie vor, die den Gesprächspartner verführen soll, sich durch weitere Worte bloßzustellen. Der Gebrauch der
simulatio hat die Intention, eine Meinungsübereinstimmung mit dem Gegenüber vorzutäuschen: „Der Simulation eignet also der Charakter des Mimetisch-Schauspielerischen: Die
Maske des Gegenüber dient dazu, die eigene Intention vorzutragen und durchzusetzen.“37
Durch Amplifikation kann sie zur Unglaubwürdigkeit von Personen und Sachen führen.
Die Dissimulation und Simulation lassen sich wiederum nach Heinrich Lausberg in die
„rhetorische“ sowie die „handlungs-taktische“ Ironie untergliedern.38 Die Absicht der rhetorischen Ironie ist es, dem Gegenüber einen gegensätzlichen Sinn verstehen zu geben. Bei
der handlungs-taktischen Ironie auf der anderen Seite dienen Simulation und Dissimulation
als Waffen der Täuschung, um die Endgültigkeit des Mißverständnisses zu untermauern.
Diese Art der Ironie tritt sowohl als versprachlichte Habitualisierung, wie z. B. Höflich-
37
38
Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, S. 94.
Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik, S. 141-142.
22
keitsformen in der Gesellschaft, als auch in ernsthaften Situationen in der literarischen
Mimesis, besonders im Drama, auf.
Von der Antike bis zur Moderne sind Simulation und Dissimulation immer im Zusammenhang betrachtet worden, da sie sich als positiver und negativer Akt komplementär zueinander verhalten. Parodoxerweise sind die beiden Phänomene nur aufgrund dieser Tatsache eindeutig voneinander zu trennen: Beim negativen Akt der Dissimulation wird etwas
Wahres verborgen (So-tun-als-ob-nicht), dagegen täuscht der Simulant etwas Falsches vor
(So-tun-als-ob). Zusätzlich wird verschiedentlich versucht, zwischen den Stärkegraden der
Figuren zu differenzieren. Wolfgang G. Müller konstatiert,
[...] daß die simulatio, z. B. bei den Verstellungskünstlern auf der Bühne, vielfach spektakulärer hervortritt als die dissimulatio und daß der Fiktionalisierungsgrad der Verstellung in der
simulatio in der Regel höher ist als in der dissimulatio. 39
Trotzdem behauptet Müller die Gleichrangigkeit von Dissimulation und Simulation, da sie
in der gesamten Geschichte der Rhetorik von der Antike bis zum 18. Jahrhundert bei der
Redekunst als angewandte Strategien des Verbergens eine wesentliche Rolle spielten. Vor
allem in der höfischen Kultur der Renaissance, als der Höfling sein ganzes gesellschaftliches Verhalten zu einem Kunstwerk stilisierte, war es für ihn nicht nur wichtig, ein Verstellungskünstler zu sein, sondern er mußte auch wiederum die Taktik der Dissimulation
anwenden, um zu vermeiden, als Simulant enttarnt zu werden und den Schein der Natürlichkeit zu wahren.
Im Zusammenhang mit den verschiedenen Bedeutungszuweisungen der Ironie ist es nötig, die griechische Auffassung der Ironie streng von der römischen zu trennen. Im antiken
Griechenland besaß die Ironie ursprünglich einen negativen Beigeschmack, indem sie Verstellung bedeutete. In der griechischen Komödie unterschied man den Eiron (Kleintuer)
und den Alazon (Großtuer). Der Eiron, den man als Dissimulant bezeichnen könnte, verleugnet seine wahre Meinung und seinen wahren Charakter. Im Gegensatz dazu will der
Alazon als Simulant mehr scheinen, als er ist. In Rom wurde die Ironie nicht negativ betrachtet, sondern sie bezog sich auf die Redetechnik und meinte lediglich das Gegenteil des
39
Müller: Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation und verwandte rhetorische Termini. In: Zur Terminologie
der Literaturwissenschaft, S. 196.
23
Gesagten. Seit dem Mittelalter wird die Ironie selten mit den Termini Simulation und Dissimulation in Verbindung gebracht.40
Simulation und Dissimulation können nur dann als ironisch bezeichnet werden, wenn
sie für die Leser oder Hörer als Täuschung durchsichtig sind. Anders ausgedrückt könnte
man auch sagen, sie gehören in das Gebiet der Ironie oder Lüge, je nachdem, ob Ironiesignale vorhanden sind oder nicht.
Es gibt jedoch auch eine Reihe weiterer Figuren mit simulatorischem oder dissimulatorischem Charakter. Dazu zählt zum Beispiel die Affektsimulation, die sich nicht auf echte,
sondern auf vorgetäuschte und simulierte Gefühle gründet, d. h. im Prozeß der Gefühlssimulation findet ein Übergang vom vorgetäuschten zum tatsächlich empfundenen Gefühl
statt. Deutlich in das Gebiet der rhetorischen Simulation gehört die Mimesis. Die Nachahmung von bestimmten Redeweisen einer Person trägt einen persiflierenden und ironischen
Charakter. Eine Sonderform der Mimesis ist die sermocinatio, die reale oder erfundene
Personen durch fiktive Rede charakterisiert und damit simulatorisch wirkt.41
4.2 Roland Barthes’ Begriff des Simulakrums im Verhältnis zur Simulation von
technischen Systemen
In den letzten Jahrzehnten ist der Simulationsbegriff vor allem durch die Computerwissenschaften zu einer viel erörterten Kategorie aufgestiegen und hat in einem Synergieprozeß
auch Eingang in die Literaturwissenschaft, so auch in die Thomas-Mann-Forschung, gefunden. Bernhard J. Dotzler hat mit seiner Untersuchung Der Hochstapler zur Simulation
in Thomas Manns Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull diesen Weg geebnet.
Als erstes gab es jedoch im französischen Strukturalismus, nämlich im Werk von
Roland Barthes, einen Adaptationsversuch des Simulationsbegriffs. Von ihm wird die Simulation ähnlich wie in der Kybernetik42 als ein Prozeß der Modellierung verstanden, bei
40
Ebd., S. 200.
Ebd., vgl. S. 202-204.
42
Ich spreche hier von der Kybernetik, da in der kybernetischen Forschung das Modell ein wichtiges Hilfsmittel zur Untersuchung dynamischer Systeme bildet, um ihre Funktionen, Strukturen und Verhaltensweisen
zu analysieren. Roland Barthes bezieht sich in seinem Aufsatz „Die strukturalistische Tätigkeit“ auf diese
neuen Entwicklungen im Bereich der Informationswissenschaften.
41
24
dem der Text einer experimentellen Veränderung unterworfen wird, so daß etwas ganz
Neues entsteht. Allein die Handlung des Strukturierens „[...] bringt, laut Barthes, etwas
zum Vorschein, was im natürlichen Objekt unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverständlich blieb“.43 Barthes schildert die strukturalistische Tätigkeit als Rekonstruktion und
Arrangement eines Objektes, so daß offensichtlich wird, nach welchen Regeln es funktioniert. Der „strukturale Mensch“ zerlegt das gegebene Objekt und setzt es wieder zusammen, so daß eine Struktur entsteht, die das Simulakrum dieses Objektes darstellt, so
Barthes. Zwischen diesen beiden Gegenständen, dem Text und der strukturalistischen Tätigkeit, bilde sich etwas „Neues [...], das Simulacrum, [...] der dem Objekt zugefügte Intellekt“. Barthes beschreibt den Strukturalismus als Tätigkeit der Nachahmung, wobei er keine Differenzierung zwischen Strukturalismus und Kunst vornimmt. Beide unterstehen einer Mimesis, die auf einer Analogie von Funktionen beruhe.44 Der französische Neomarxist Henri Lefèbvre greift diese Aussagen auf, in der Hoffnung, eine Möglichkeit gefunden
zu haben, einer philosophischen Theorie vollständig entsagen zu können und an deren Stelle die „Praxis“ zu setzen. Der Automat könne den Menschen aus seinem objektiven Abhängigkeitsverhältnis befreien und „die Trennung von Objekt und Subjekt, von Erkennen
und Sein, von Vorstellung und Wirklichkeit“45 aufheben. Er begreift Simulation und Simulakrum als Kennzeichen eines historischen Zustands der Philosophie, in dem die Kategorie
der ’Wahrheit‘ sich in der Analogie eines Objekts und seiner Simulation auflöst:
Dabei muß betont werden, daß das Simulacrum selbst ein Objekt ist, Produkt eines »positiven und imaginativen Aktes« (A. Moles). In diesem Sinne übersteigt es die Begriffe von
Analogie und Ähnlichkeit, wenn es sie auch voraussetzt und enthält. [...] Das Erscheinen
wird Erscheinung des Bestehenden (Wirklichen), ohne im klassischen Sinne Schein zu sein,
Trugbild eines vom Objekt abtrennbaren illusorischen Phänomens. Die Erscheinung ist
effektiv vollzogene Simulierung, und sie kommt dem »Objekt«, dem substanziell existierenden, immer näher. Das Wahre und das Falsche werden durch das Mögliche und das Unmögliche (das Wahrscheinliche und das Unwahrscheinliche) ersetzt. Dabei gibt sich das Mögliche nicht als ein dritter »Wert« zwischen Wahrem und Falschem oder jenseits davon. [...]
Mit der Konstruktion von Simulacren und Automaten, mit der »theoretischen Verwirklichung« annuliert wissenschaftliche Erkenntnis die philosophische Erkenntnistheorie, indem
sie sie überflüssig macht. Sie etabliert sich in einem Bereich, den zu definieren sie selbst
ihren Teil beiträgt: in der Mimesis. 46
43
Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. In: Schiwy: Der französische Strukturalismus, S. 154.
Ebd.
45
Lefèbvre: Metaphilosophie, S. 217.
46
Ebd., S. 216-217.
44
25
Jean Baudrillard schwingt sich daran anschließend zu einer Generalisierung dieses Problems auf, wenn er von der Auflösung der Dichotomie zwischen Realität und Irrealität
spricht und die künstliche Zeichenwelt, das Simulakrum, proklamiert.
Die Schwierigkeit, das kybernetische Simulationsprinzip auf die literarische Textanalyse zu übertragen, so wie es Barthes versucht, besteht darin, daß es in der Literaturwissenschaft in erster Linie um die Rekonstruktion von Entstehung, Struktur und Handlungszusammenhängen innerhalb des Textes geht, der Text aber nicht, wie in den Computerwissenschaften, z. B. einen Parameter für die Modellierung künftiger Prozesse bildet oder als
Experimentierfeld dient, so daß ein ganz neues System bzw. ein Modell mit neuen Parametern entstehen kann.
Sowohl bei Barthes’ strukturalistischer Tätigkeit als auch bei technischen Simulationen
geht es um die Aufdeckung von neuen Funktionsmechanismen. Beide Verfahren bleiben
aufgrund ihres Nachahmungscharakters noch in der Mimesis verankert. Die gravierende
Differenz zwischen beiden Methoden wird jedoch in ihren Ergebnissen sichtbar. Das Simulakrum einer Computersimulation dient dazu, zu testen, ob ein bestimmter technischer
Prozeß in der Realität funktionieren bzw. wie er einschließlich der Erarbeitung neuer Parameter funktionieren würde. Das Simulakrum der strukturalistischen Tätigkeit bleibt dagegen unmittelbar auf den Text bezogen, behält also vollständig seinen mimetischen Charakter.
Hendrik Birus schließt jedoch nicht aus,
[...] daß man werkinterne Sachverhalte – wie etwa die Handlungsführung, Wechsel der Figurenkonstellation oder systematische Verschiebungen der Erzählsituation – mittels dynamischer Modelle darzustellen oder auch das literarische Werk selbst als ein Simulationsgeschehen aufzufassen sucht. Doch mehr als eine allgemeine Orientierung und punktuelle Anregungen wird man hierfür von der aktuellen Diskussion des kybernetischen Simulationsbegriffs in den verschiedensten Disziplinen – von der Festkörperphysik und der Neurophysiologie bis zur Nationalökonomie und Stadtplanung – schwerlich erwarten können.47
Trotzdem brauche man in der Literaturwissenschaft nicht ganz auf den Simulationsbegriff
zu verzichten, allerdings nicht auf dem Weg der Generalisierung der Simulation, wie es der
Poststrukturalist Baudrillard versucht. Er geht mit seiner hypothetischen Definition der
Simulation so weit, daß er sagt, in der „Hyperrealität“ der modernen Konsumgesellschaft
verschmelzen die traditionellen Oppositionen von Ursache und Wirkung, Ursprung und
26
Ziel, Realität und Fiktion sowie Wahrem und Falschem.48 Durch diese Generalisierung und
die damit einhergehende Übertragung der Simulation auf die gesamtgesellschaftliche Situation, nimmt Baudrillard eine Bedeutungsverengung dieses Gedankens vor, was
unweigerlich zu einer Unschärfe in der Begriffsbestimmung der Simulation führt.
Bei einer näheren Betrachtung des reinen kybernetischen Simulationsbegriffs läßt sich
eine Komplexität konstatieren, die weit über die Bedeutung der Vortäuschung und Inszenierung hinausgeht:
Simulation is the process of designing a model of a real or imagined system and conducting
experiments with this model to understand the behavior of the system or to evaluate strategies for its operation. Assumptions are made about this system and mathematical algorithms
[...] and relationships are derived to describe these assumptions – this constitutes a »model«
that can reveal how the system works. 49
Roger D. Smith spricht hier von einem experimentellen Charakter, der der Computersimulation eigen ist. Die Schwierigkeit der Anwendung der Simulation auf die Literatur besteht
darin, daß mit dem Computer sowohl etwas Fiktives als auch etwas Reales simuliert werden kann. Es können also Modelle von real existierenden Dingen entworfen werden, die
lediglich das Ziel einer vereinfachten Darstellung und eines besseren Verstehens haben.
Diesen Prozeß könnte man demzufolge als simulierte Mimesis bezeichnen, die Hendrik
Birus auch bei Thomas Manns Joseph-Romanen entdeckt hat. Bei dieser Art der Entwicklung eines Modells tritt vordergründig das Element der Nachahmung hervor, während die
Simulation ausgeblendet wird. Erstellt man mit Hilfe des Computers jedoch ein Modell
von etwas Imaginärem, rückt die Simulation an die primäre Position, während die Mimesis
lediglich verdeckt wird. Wenn Aleida Assmann der Fiktion einen Modellcharakter zuschreibt und dabei zwei Ebenen der Modellierung unterscheidet, dann entspricht die literarische Fiktion der zweiten Art der Computersimulation, wobei die Mimesis zwar in den
Hintergrund rückt, aber trotzdem präsent bleibt. Mit Assmanns Termini gesprochen bedeutet das, daß sich die Fiktion auf der sekundären Ebene der Modellierung auf die „verbale
Realität“, nicht aber unmittelbar auf die Realiät als „unbewußter Allgemeinbesitz“ bezieht.
In der Literatur würde dementsprechend keine direkte Verbindung zwischen Fiktion und
47
Birus: Thomas Manns Joseph und seine Brüder als simulierte Mimesis. In: Kablitz; Neumann: Mimesis
und Simulation, S. 93.
48
„Die Irrealität ist nicht mehr die eines Traums oder Phantasmas, eines Diesseits oder Jenseits, es ist die
Irrealität einer halluzinierenden Ähnlichkeit des Reden mit sich selbst.“ (Baudrillard: Der symbolische
Tausch mit dem Tod, S. 114)
27
Simulation bestehen, sondern die Mimesis bleibt immer als Zwischenstation bzw. Schaltstelle vorhanden. Daraus müssen nun die Konsequenzen für die Anwendung des Simulationsbegriffs in der Literatur gezogen werden.
Diese kann durch die Verknüpfung von Simulationen technischer Systeme mit dem antiken Verständnis der Mimesis durch Aristoteles erfolgen. Diese beiden Konzepte sind
durch ein kognitives Element verbunden, da sich die Philosophen „ deshalb über den Anblick von Bildern freuen, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen,
was ein jedes sei [...]“.50 Wie oben schon angedeutet, läßt sich im 9. Kapitel der Poetik die
tragische Mimesis als ein Simulationsvorgang begreifen, d. h. als Modellbildung historischer Prozesse, da es ihr nicht genügt, lediglich den Ablauf zu schildern, sondern versucht,
das Mögliche, was passieren könnte, einzubeziehen. Diese kognitive Absicht, die dem
Dichter hier unterstellt wird, impliziert ein fingiertes Tun-als-ob, das einen mimetischen
Charakter durch die Imitation besitzt, aber einen simulierenden durch die Täuschung.
Hierzu Thomas Manns Selbstcharakteristik des Joseph-Romans:
Kein wissenschaftliches Werk also, sondern »fiction« in der eigentlichsten Bedeutung, ein
Werk der Phantasie. Aber wissenschaftlich immerhin in dem Sinn, daß es auf seine fabulierende Art Vorstöße der Erkenntnis wagt, sei es ins Dunkel der Vorzeit oder in die Nacht des
Unbewußten, Erkundungen in die Tiefen der Zeit zurück, oder, was eigentlich dasselbe ist, in
die Tiefen der Seelen hinab. (GW, XIII, S. 164)51
In Dotzlers Studie zur Bedeutung der Simulation in Thomas Manns Romanen Bekenntnisse
des Hochstaplers Felix Krull und Der Zauberberg überwiegt jedoch die negative Konnotation des Begriffes, d. h. er betont den Mimesis-Charakter der Simulation bei Thomas
Mann, wenn er auf den von Barthes erwähnten „Nullzustand“52 der Literatur verweist.
Birus kritisiert Dotzlers „exzessive Verwendung von Motiven und Zitaten“53 der Poststrukturalisten Jean Baudrillard und Friedrich A. Kittler sowie die einfache Übertragung des
kybernetischen Simulationsbegriffs, verbunden mit der von der neuen Technik der Informationsverarbeitung entwickelten Unterscheidung von Architektur und Implementierung,
auf die Literatur.54 Birus bestätigt zwar durchaus Dotzlers logische Deutungsansätze zum
49
Smith: Simulation. In: Encyclopedia of Computer Science, S. 1578.
Aristoteles: Die Poetik, S. 11-13.
51
GW – Gesammelte Werke Thomas Manns in dreizehn Bänden.
52
Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, S. 11.
53
Birus: Thomas Manns Joseph und seine Brüder als simulierte Mimesis, S. 92.
54
Dotzler übernimmt aus der Informationstechnik die Begriffe Architektur und Implementierung. Die
Architektur eines Rechners beinhaltet die Teilbereiche Struktur, Organisation, Implementierung und Leistung
und umfaßt demnach sowohl die Vernetzung der verschiedenen Hardwarekomponenten als auch die
50
28
Felix Krull, spricht ihm aber einen ernstzunehmenden neuen Erkenntniswert ab. Erstaunlicherweise kommt Birus bezüglich der Mannschen Tetralogie Joseph und seine Brüder
letztendlich zum gleichen Ergebnis wie Dotzler: zur simulierten Mimesis.
Auch in Hans Robert Jauss’ Untersuchung zu Molières Komödie Tartuffe gehen Mimesis und Simulation ineinander über:
Mimesis und Simulation verschlingen sich nunmehr auf intrikate Weise. Wo Simulation an
die Stelle der Nachahmung tritt, bleibt auch das Vorbild vom täuschenden Abbild nicht unbetroffen: im Simulakrum wird die Wahrheit des Nachgeahmten aus der Sphäre des Authentischen in die Sphäre des Reproduzierbaren und Vertauschbaren, in unserem Fall: die
›Sprache der Frömmigkeit‹ in den ›jargon de la dévotion‹ gezogen.55
Das parasitäre Verhalten des Heuchlers Tartuffe problematisiert die Ununterscheidbarkeit
von Schein und Sein und die daraus resultierende Verblendung, der die Gesellschaft erliegt. Tartuffe sinniert über die Vollkommenheit des Schöpfers, die sich in den Geschöpfen
widerspiegelt:
Und unsere Sinne werden leicht betört
Von den vollkommenen Schöpfungen des Himmels.
Sein Zauber spiegelt sich in ihresgleichen;
Jedoch an ihnen zeigt er seine Wunder:
Die Schönheit, die er Ihrem Antlitz schenkte
Blendet die Augen und erregt die Herzen;56
Der Hypokrit Tartuffe simuliert seinen christlichen Glauben und rutscht bei dessen Nachahmung von der „Sprache der Frömmigkeit“ in den „jargon de la dévotion“. Das heißt,
nicht der Simulant Tartuffe und mit ihm das Simulakrum werden hier der Kritik ausgesetzt,
sondern in erster Linie das Vorbild der Nachahmung und die getäuschten Personen, die in
logischer Konsequenz dafür mit Lachen bestraft werden. Außerdem wird an dieser Komödie das komplizierte Verhältnis zwischen Simulation und Wahrheit ersichtlich, welche
umfaßt demnach sowohl die Vernetzung der verschiedenen Hardwarekomponenten als auch die Organisation
und Wechselwirkungen innerhalb dieser Komponenten. Die Implementierung bezeichnet die Beschaffenheit
der einzelnen Bausteine, z. B. im System verwendete Schaltkreistechnologien und die Festlegung der Datenbandbreite zwischen Prozessor, Hauptspeicher und Hintergrundspeicher. (Märtin: Rechnerarchitektur, S. 2-5)
Die Differenzierung zwischen Architketur und Implementierung erlaubt nach Meinung von Dotzler die einzig mögliche Unterscheidung von „Schein und Sein im präzisen technischen Sinn“. (Dotzler: Der Hochstapler, S. 26) Dotzler verwendet jedoch nur einen eingeschränkten Architektur-Begriff, da neuere Definitionen
in der Informationstechnik eine umfassendere Sichtweise auf moderne Rechnersysteme zur Grundlage nehmen.
55
Jauss: Der Tartuffe-Skandal im Lichte von Mimesis und Simulation. In: Kablitz; Neumann: Mimesis und
Simulation, S. 133.
56
Molière: Der Tartuffe oder der Betrüger, S. 38.
29
nämlich erst durch das Simulakrum zum Vorschein kommt; d. h. das Nachgeahmte ist
zwar wahr, aber es ist nicht ’authentisch‘.
Die Simulation macht die Wahrheit des Nachgeahmten zu einem Trugbild, das die erborgte
und mißbrauchte Autorität des Glaubens unangreifbar erscheinen und ineins damit die vermeintliche Nachfolge Christi zur bloßen Nachahmung verkommen läßt. [...] Der Fall des
Hypokriten führt vor Augen, wie die Simulation das Exemplarische der Heiligkeit in einen
bloßen »Mechanismus der Nachahmung« verwandelt.57
Wenn also nicht über den Charakter des Hypokriten und die Kunst der Simulation selbst
gelacht wird, dann wird deutlich, daß sich „eine geglückte Simulation dem Verhältnis
wechselseitiger Repräsentation entzieht: sie hebt die Transparenz der Zeichen auf und
macht das vermeintlich Bezeichnete unerkennbar“.58
Die Zeichen unterliegen zwar in der Simulation einer Bedeutungsveränderung, d. h.
Zeichen und Bedeutung sind nicht identisch, jedoch durch das strukturalistische Verfahren
allein wird die Simulation auch nicht sichtbar. Durch die Herstellung von Parallelismen
und Oppositionen auf der Ebene der Zeichen kristallisiert sich allenfalls der mimetische
Charakter heraus; im Beispiel des Tartuffe wäre das die Differenz zwischen der „Sprache
der Frömmigkeit“ und dem „jargon de la dévotion“. Die Verwirrung der Simulation kann
nur durch die Auflösung der „Stimmenvielfalt der Rede“59 im Bachtinschen Sinne
entschlüsselt werden.
5. Neue Forschungsergebnisse in der Diskussion über Simulation
5.1 Die Simulation als Theatertheorie
Andreas Kotte geht in seiner Arbeit Simulation als Problem der Theatertheorie von zwei
Thesen aus, die das gegenwärtige Theater bestimmen. Es gibt zum einen die „Täuschungsthese“, die nur „auf der Folie einer wahren Wirklichkeit funktioniert“, und zum anderen
die Theatermetapher, die diese Möglichkeit bestreitet und für die nur die Aussage: „Das
57
Jauss: Der Tartuffe-Skandal im Lichte von Mimesis und Simulation, S. 134.
Ebd., S. 138.
59
Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 213.
58
30
Leben ist ein Theater“ in Frage kommt.60 Im Zuge der schwindenden Glaubwürdigkeit und
Wahrhaftigkeit der Institutionen befindet sich die Theatermetapher, die eine sehr große
Ähnlichkeit zu Baudrillards Simulationsbegriff aufweist, auf dem Vormarsch. Die Theatertheorie müsse sich aber für eine These entscheiden, so Kotte. Ziel der Simulation sei bei
beiden Ansätzen nicht die physische Ähnlichkeit zur Realität, sondern die Imitation der
psychischen Tätigkeitsstruktur. Dieser Aspekt treffe sowohl auf die Theatermetapher als
auch auf die Täuschungsthese zu.
Zur Überprüfung der Täuschungsthese zieht Kotte Schriften über sogenannte
„Tanzepidemien“ im Mittelalter heran. Besonders in Pestzeiten versammelten sich im
Rheinland und in den Niederlanden Tausende Menschen als Tänzer oder Zuschauer zu den
Veitstänzen, um von ihrem Leiden erlöst zu werden. Die Heilwirkung des Tanzes
interessierte aber nur peripher, denn es war vielmehr ein großes Volksfest, das sich zur
Massenhysterie ausweitete. Niemand wußte, ob sich einer unter den Tänzern befand, der
wirklich an der Pest erkrankt war, so daß schließlich die Ärzte damit beschäftigt waren,
alle Tänzer mit kalten Bädern und Umschlägen von der Tanzwut zu kurieren. Es ist jedoch
höchst unwahrscheinlich, daß alle Leute in diese Massenhysterie verwickelt wurden, da
auch Unterkunft und Beköstigung lockte. Es wird also einen bestimmten Anteil von
Simulanten gegeben haben, die sich von den Kranken durch nichts unterschieden.
Ein weiteres Phänomen aus dem 15. Jahrhundert, auf das Kotte verweist, ist der
Tarentismus in Verbindung mit den sogenannten Taranteltänzen in Apulien. Hierbei
handelt es sich um Tänze, die von Patienten aufgeführt wurden, die von der scheinbar
giftigen Tarantel, einer in Süditalien häufig vorkommenden Spinnenart, gebissen worden
waren. Die Erkrankten litten unter Atemnot und Herzbeschwerden. Die Ärzte verschrieben
Musik und Tanz, damit die Patienten das Gift ausschwitzten. Aus Angst vor den Taranteln
trugen die Bauern auch bei 40 Grad im Schatten eine Art Gamaschen, wodurch ihre
Körpertemperatur nochmals beträchtlich anstieg. Erst im 18. Jahrhundert fand man heraus,
daß der Tarantel-Biß vollkommen ungefährlich ist; und Mitte des 20. Jahrhunderts konnte
erst aufgeklärt werden, daß die „Tarentierten“ einen Hitzeschlag erlitten hatten. Auch bei
diesen Taranteltänzen, die bis zu sechs Tagen anhalten konnten, gab es viele Simulanten,
die einfach dieses Spektakel als großes Volksfest mitfeiern wollten.
60
Kotte: Simulation als Problem der Theatertheorie. In: Forum Modernes Theater 11/1, S. 33.
31
Diese beiden Phänomene als theatrale Grenzfälle geben für Kotte den Ausschlag, an der
Bedeutung der Täuschungsthese für das Theater zu zweifeln:
Wenn äußerlich in seinen Bewegungen der durch Krankheit gezwungene Mensch sich nicht
unterscheiden läßt von demjenigen, der solcherart hervorgehobenes Verhalten nur simuliert,
dann kann die Frage von Täuschung, Verstellung, Betrug und Lüge auch nicht in den Kernbereich der Bestimmung von Theater und Theatralität gehören.61
Kotte verwirft auch den zweiten Teil der Simulationsdefinition, nämlich den Nachahmungsaspekt, der als Theatermetapher auftritt. Wenn man nicht erkennen könne, ob im
theatralen Vorgang ein Modell der Welt erschaffen wird, also Deckungsgleichheit zwischen Theater und Realität besteht, dann kann die Simulation auch in ihrer zweiten Bedeutung nicht zu einer Zentralkategorie avancieren. Kotte fragt sich deshalb, ob der Satz „Das
Leben ist ein Theater“ aufgrund der unterschiedlichen Größe der Systeme nicht eigentlich
umgekehrt werden müßte. Bei der These „Theater ist Leben“ wäre das spektakuläre Paradoxon aufgelöst und Baudrillards Simulationsbegriff würde insofern Rechnung getragen,
als daß das Leben als Teil der Repräsentation ebenfalls als Simulakrum verstanden wird.
Dieses aufgelöste Paradoxon würde zumindest die erwähnten Straßentänze erklären, kann
jedoch in der Theatertheorie nicht nützlich sein, weil die Differenz zwischen Theater und
Leben aufgelöst ist.
Die gemeinsame Grundformel von soziologischen und literaturwissenschaftlichen Ansätzen bezüglich des Theaters faßt Kotte folgendermaßen zusammen: „A agiert als B vor
C“ oder: „A agiert als ob er B wäre vor dem zuschauenden C“.62 Diese Formel basiert natürlich auf einem Unterschied zwischen Theater und Leben, der darin besteht, daß „die
Austauschbarkeit von Menschen und Objekten“ eine Voraussetzung für das Theater darstellt und gleichzeitig von der Gesellschaft abgewiesen wird. Dieses Prinzip der Indifferenz
zwischen Theater und Realität wird innerhalb der Postmoderne-Debatte generalisiert.
„Die Als-ob-These korrespondiert mit der philosophischen Lügen-These und in der
literarischen Tradition mit der These von der fiktionalen als der bestimmenden Welt im
Theater.“63 Tatsächlich könne die Als-ob-These nicht als ein Spezifikum für theatrale Vorgänge gelten, da die meisten Ehebrüche und Lügen im realen Leben die Bedingung der
Simulation erfüllen. Die Simulation geschieht also im Sinne von „Theater ist Leben“ und
61
Ebd., S. 37.
Ebd., S. 40.
63
Ebd., S. 41.
62
32
läßt sich damit auch außerhalb des Theaters nachweisen. Die Als-ob-These sei, so Kotte,
lediglich ein Mittel, um auf die Wechselbeziehung zwischen Theater und Leben zu verweisen. Der Unterschied werde nur durch die „Häufigkeit und Radikalität des Austausches
von Menschen und Objekten im theatralen Vorgang“ und in der „graduellen Steigerung“
offenbar. Das Theater wird nicht durch eine fiktionale Ebene definiert, aber sie kann vorhanden sein. Die Taranteltänze können demnach genauso theatral sein wie ein Schauspieler
als König Lear auf der Bühne, es komme nur auf die „Beschreibung der Hervorhebungsmomente und den Grad der Konsequenzverminderung“ an. 64
Verzichtet die Theatertheorie auf die Als-ob-These, dann müßte man das Theater als
Wirklichkeit auffassen und nicht, als ob es Wirklichkeit wäre. In der Theatersemiotik würde das bedeuten, daß der Schauspieler auf der Bühne die gleichen Zeichen wie im Alltag
verwendet, das Theater also zunächst Leben ist. Die Zeichen des täglichen Lebens werden
jedoch durch die „Radikalität des Austausches von Menschen und Objekten“ modifiziert.
Die anthropologische Relevanz und die soziale Komponente des Theaters rücken demnach
stärker in den Mittelpunkt. Dies wäre sicherlich für den weiten Theaterbegriff, d. h. die
Einbeziehung von Gauklern, Mimen, Akrobaten, hilfreich, würde aber eine Theatertheorie
an sich in Frage stellen.
Wenn das Theater weder Lüge noch Fiktion oder Als-ob, sondern zunächst Leben wäre und
nur so viel Lüge, Fiktion und Als-ob beinhaltete wie jenes auch, brauchte erst jenseits dieses
Sachverhaltes nach definitorischen Einschränkungen gesucht zu werden.65
Gerade im modernen Theater rücken mehr und mehr Aktionen als Möglichkeiten der Realität in den Vordergrund, ohne daß ein entschlüsselbarer Bezug zur Umwelt hergestellt
werden kann. Stattdessen interessieren vielmehr die „rigorose Bildsprache und die präzisen
Bewegungsabläufe“66 und die Differenzen zwischen Rolle und Vorgang.
Diese Verneinung sowohl der Theatermetapher als auch der Täuschungsthese würde,
auf die Literatur übertragen, eine erneute Problematisierung des Fiktionsbegriffs bedeuten,
die sich an Derrida und Baudrillard anlehnt, für die die Indifferenz zwischen Realität und
Fiktion gilt. Für die Theatertheorie würde daraus die Konsequenz erwachsen, daß das
Theater nur noch eine Möglichkeit von Wirklichkeit repräsentieren würde, wobei hier die
64
Ebd., S. 42.
Ebd., S. 42-43.
66
Ebd., S. 43.
65
33
Möglichkeit nicht als Fiktion, sondern als eine Art des Seins verstanden wird,67 d. h. die
Fiktion wird als definitorisches Element für theatrale Vorgänge vollkommen ausgeblendet.
Auch nach Paul de Man wird ein Text nicht durch das Chrakteristikum der Fiktionalität
gekennzeichnet, sondern nur durch die Rhetorizität der Sprache bzw. das figurative Sprechen.
Dieser Fiktionsbegriff kann eventuell in Ansätzen bei der Analyse von Thomas Manns
Tagebüchern, jedoch nicht bei seinen literarischen Texten funktionieren, da die Simulation
als literarische oder theatralische Figur bei der Fiktion im Sinne der Möglichkeit einer
Wirklichkeit einfach überdeckt und aus dem Spiel genommen wird. Diese Fiktionstheorie
ist auch aus der Annahme Kottes zu erklären, daß das Ziel der Simulation in der Nachbildung der psychischen Tätigkeitsstruktur liegt und nicht in der physischen Ähnlichkeit. Aus
dieser Voraussetzung resultiert dann die Unbrauchbarkeit der Täuschungsthese bei den
mittelalterlichen Tanzepidemien, weil die Simulanten in dem Kreis der Tanzwütigen nicht
auszumachen sind. Bei der Simulation müssen demnach beide Bedingungen, sowohl die
physische als auch die psychische Ähnlichkeit, gegeben sein, so wie Dotzler bereits konstatierte, daß „die Simulation die Reproduktion eines Etwas nicht in der Ordnung dessen
Seins, sondern in der Ordnung seiner Wahrnehmung ist“.68 Physikalische bzw. psychische
Nachbildungen bedingen sich gegenseitig und sind nicht streng voneinander zu trennen.
5.2 Die „hyperreale Welt“ und der „symbolische Tausch“
Jean Baudrillard bestimmt als Vertreter der Postmoderne in dieser Theoriedebatte die Simulation nicht mehr als einen Abbildungsmodus, sondern als eine eigenständige Kategorie
zur Bezeichnung der im Zuge der Ausbreitung technischer Medien entstehenden Macht der
Zeichenprozesse. Es existieren nunmehr Zeichenwelten, die keinen Referenten mehr besitzen, sondern nur noch innerhalb der Simulationen agieren und den Zugang zur sinnlichen oder unmittelbaren Wahrnehmung der Welt versperren. Diese künstlichen Zeichenwelten, die Baudrillard Simulakra nennt, unterliegen im Laufe der kulturellen Evolution
67
Ebd.
Dotzler: SIMULATION – simulation – simulation. In: Verstärker von Strömungen, Spannungen und überschreibenden Bewegungen, Nr. 1, S. 12.
68
34
bestimmten strukturellen Änderungen.69 Er unterteilt die Simulakren in drei Ordnungen,
wobei das Simulakrum erster Ordnung die Opposition zum Realen aufrecht erhält und im
nächsten Schritt dann das Simulakrum an die Stelle der Imitation den Vorgang der Produktion und der identischen Reproduktion setzt. Dieses Phänomen des Simulakrums zweiter
Ordnung positioniert Baudrillard in das Zeitalter der industriellen Revolution. Beim Simulakrum dritter Ordnung wird die Repräsentation vollständig von Modellen und Codes verschlungen. Alles ist Teil der Simulation. Es findet eine Hyperrealisierung des Realen statt.
Die Simulation generiert sich aus dem Realen ohne Ursprung oder Realität:
Jegliche Realität wird von der Hyperrealität des Codes und der Simulation aufgesogen. Anstelle des alten Realitätsprinzips beherrscht uns von nun an ein Simulationsprinzip. [...] Es
gibt keine Ideologie mehr, es gibt nur noch Simulakren.70
Die Realität hat jedoch noch immer konkrete Auswirkungen und ist nicht verschwunden;
nur die Formen haben sich geändert. Es hat sich eine Indifferenz zwischen Bedeuteten und
Bedeutetem gebildet. Verschiedene Systeme, beispielsweise das der politischen Ökonomie,
existieren nur noch als Zeichen, als „Als Ob“, und täuschen ihre eigene Realität vor. Hierin
liegt jedoch ein Widerspruch, da Baudrillard mit den Begriffen Realität und Wirklichkeit
operiert, obwohl er doch schon längst mit ihnen abgeschlossen hat.
Baudrillard, der in seiner Theorie des „symbolischen Tausches“ die Austauschbarkeit
des Tauschwerts und Gebrauchswerts erklärt, hält im antihegelianischen Sinne die
Durchbrechung von „Schein und Täuschung dieser schlechten, vergänglichen Welt“71
aufgrund der sich auflösenden Wertsetzungen im postmodernen Zeitalter nicht mehr für
möglich:
Das Zeitalter der Simulation wird überall eröffnet durch die Austauschbarkeit des Schönen
und Häßlichen in der Mode, der Linken und der Rechten in der Politik, des Wahren und
Falschen in allen Botschaften der Medien, des Nützlichen und Unnützen auf der Ebene der
Gegenstände, der Natur und Kultur auf allen Ebenen der Signifikation.72
Für Baudrillard bedeutet das Simulakrum also keine Illusion, die früher oder später an der
Wirklichkeit zerbrechen wird, sondern etwas Irreales, das den Platz des Wirklichen einnimmt und ohne Folgen mit seinem Widerpart ausgewechselt werden kann. Er geht von
der Grundlage aus, daß nach 1968 das Politische und die politische Ideologie keine Rolle
69
Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. München, S. 79.
Ebd., S. 8.
71
Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 22.
72
Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 20-21.
70
35
mehr spielen, weil sich der Tauschwert als Zeichen verselbständigt hat und sämtliche
Gebrauchswerte, d. h. die Wirklichkeit, überdeckt.73
In dieser Situation verschwinden Politik und Ideologie als selbständige Faktoren, weil der
gesamte Bereich der materiellen und kulturellen Gebrauchswertproduktion von der Vermittlung durch den Tauschwert erfaßt und der Abstraktion oder Simulation des Tauschprinzips
überantwortet wird.74
Das Verschwinden der Gegnerschaft macht Baudrillard an der seiner Meinung nach existierenden Konvergenz der Verhaltensweisen zwischen Vertretern verschiedener Gesellschaftsformen (Kommunisten, Sozialisten und Kapitalisten) deutlich. Seiner Meinung nach
werden durch die Vermittlung des Tauschwerts alle Lebensbereiche des Spätkapitalismus
erfaßt, so daß es nahezu unmöglich wird, überhaupt noch einen Gebrauchswert wahrzunehmen. Die moderne Gesellschaft habe sich ihr eigene Wirklichkeit konstruiert. Diese
Feststellung wird jedoch dadurch relativiert, daß selbst die spätkapitalistische Wirtschaft
nicht ohne die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert zu verstehen ist. Seine
radikale These einer existierenden „Hyperrealität“ läßt nämlich auf diese Weise gar nicht
mehr die Chance zu, zwischen Kapitalismus und Sozialismus marxistischer Prägung, dessen Theorie auf der Abgrenzung von Gebrauchs- und Tauschwert beruht, unterscheiden zu
können, wodurch natürlich jede Möglichkeit verwehrt wird, dieses indifferente Wertesystem durch subversive Strategien an der Wirklichkeit zerschellen zu lassen. Die logische
Konsequenz daraus zeigt sich in der apokalyptischen Quintessenz von Baudrillards Überlegungen, die nur in Form des symbolischen Todestausches bzw. des „unmöglichen Tausches“ ihre Bestätigung finden. Nach dem Tod Gottes gebe es für unsere Welt kein Äquivalent mehr, das die virtuelle Welt verifizieren könnte.
Wir werden also die gegebene Welt liquidieren müssen. Wir werden sie zerstören müssen,
indem wir sie durch eine künstliche, durch und durch konstruierte Welt ersetzen, für die wir
niemandem Rechenschaft schulden werden. Daher diese gigantische technische Eleminierung der realen Welt in all ihren Formen. Alles Natürliche wird aufgrund dieser symbolischen Regel der Gegengabe und des unmöglichen Tauschs völlig negiert werden.75
73
Ebd., S. 52-53.
Zima: Moderne – Postmoderne, S. 107-108.
75
Baudrillard: Der unmögliche Tausch, S. 23.
74
36
5.3 Simulation und Fiktion
Im Zuge der postmodernen Simulationsdefinition im Zeichen von Baudrillard besteht eine
Gegensätzlichkeit zwischen Fiktion und Simulation, die der zunehmenden Annäherung
zwischen Fiktion und Realität entspringt. Zwischen Simulation und Fiktion klafft nun eine
Lücke, die ihre Ursache in der von der Simulation geschaffenen Eigenrealität hat. In
Baudrillards Vorstellung der Gesellschaft als totales Simulakrum ist für die Kategorie der
Fiktion kein Platz mehr – sie ist überflüssig geworden. Hierfür dient der Fall des Simulanten als exemplarisch:
Dissimulieren heißt fingieren, etwas, das man hat, nicht zu haben. Simulieren heißt fingieren,
etwas zu haben, was man nicht hat. Das eine verweist auf eine Präsenz, das andere auf eine
Absenz. Doch die Sache ist noch komplizierter, denn simulieren ist nicht gleich fingieren:76
„Jemand, der eine Krankheit fingiert, kann sich einfach ins Bett legen und den Anschein erwecken, er sei krank. Jemand, der eine Krankheit simuliert, erzeugt an sich einige Symptome
dieser Krankheit.“77
Bei der Dissimulation ist das Realitätsprinzip also nach wie vor vorhanden, die Differenz
ist klar und wird lediglich von einer Maske verdeckt. Bei der Simulation bleibt dagegen die
Differenz zwischen Realem und Imaginärem in einem ständigen Schwebezustand. Die
Simulation einer Krankheit bedeutet also nicht die Reproduktion derselben, sondern es ist
ausreichend, wenn die Simulation die Ordnung der Wahrnehmung erfüllt, d. h., für einen
Außenstehenden als Krankheit zu erkennen ist, ohne daß dieser Verdacht schöpft. Diese
Entwicklung der Simulation von der „ontologischen Defizienz zur Präzession“78 bewegt
Baudrillard zu der Feststellung, daß die Simulation als die in Wahrheit „intrikate Kunst“
gelten kann, weil sie die Frage nach dem Wahren untergrabe, während die Dissimulation
noch auf eine ’Wahrheit‘ verweise.79
76
Baudrillard: Agonie des Realen, S. 10.
Dt. Übersetzung in: Baudrillard: Agonie des Realen, S. 10. Ursprünglich in: Littré: Dictionnaire de la langue Française: „Feindre est un peu moins précis que simuler. Celui qui feint une maladie peut simplement se
mettre au lit, et faire croire qu`il est malade. Celui qui simule une maladie, en détermine en soi quelques
symptômes.“ (S. 180)
78
Dotzler: SIMULATION – simulation – simulation, S. 14. Den Terminus Präzession definiert Jean
Baudrillard wie folgt: „ein Terminus aus der Physik, meint in der Mechanik allgemein die ausweichende
Bewegung der Rotationsachse eines Kreisels bei Krafteinwirkung. In der Astronomie bezeichnet Präzession
die Kreisel- oder Taumelbewegung der Erdachse (innerhalb von 26000 Jahren), genauer: die durch diese
Kreiselbewegung verursachte Rücklaufbewegung des Schnittpunkts zwischen Himmelsäquator und Ekliptik
(Erdbahn).“ (Baudrillard: Agonie des Realen, S. 6)
79
„Der entscheidende Wendepunkt liegt beim Übergang von den Zeichen, die etwas dissimulieren, zu den
Zeichen, die dissimulieren, daß es nichts gibt. Erstere verweisen auf eine Theologie der Wahrheit und des
77
37
Um die Loslösung des Fiktionsbegriffs bei Baudrillard deutlich werden zu lassen, sei an
dieser Stelle als Vergleich Gerhard Härle erwähnt, dessen Aufsatz Simulationen der Wahrheit bei der Verhandlung der Simulation in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix
Krull einen wichtigen Platz einnehmen wird. Härle betont beim Simulationsprozeß die
Zusammengehörigkeit körperlicher und geistig-seelischer Phänomene. Demzufolge können Körper und Geist als gegenseitige Projektionsflächen gesehen werden. Der Scheincharakter des Unwillkürlichen, z. B. Krankheit, wird als willkürlich Gewolltes im Scheincharakter der Simulation erkennbar. Die daraus abzuleitende Erkenntnis, daß sich die Simulation selbst als Schein herausstellt, überrascht zunächst, wird jedoch verständlich, wenn
man sich vor Augen führt, daß die Simulation eben nicht an Vernunft und Willkür gebunden ist, sondern in körperlichen und seelischen Zuständen begründet liegt.
Die Differenz zwischen Härle und Baudrillard besteht in den divergierenden Auffassungen des Simulationsbegriffs, die die Grundlage ihrer Untersuchungen bilden. Während
Härle die durchschaubare bzw. durchschaute Simulation beschreibt, bei der die Entkoppelung von der Fiktion noch nicht stattgefunden hat, besteht bei Baudrillard schon die „Hyperrealität“, die auf der Überlappung von Realität und Fiktion basiert. Er versteht die Simulation als einen Gegenbegriff zur Mimesis, als einen Begriff für die Funktion von Zeichenprozessen, bei denen es nicht darum geht, Vorbilder nachzuahmen, sondern Bilder und
Situationen neu entstehen zu lassen, die keinen anderen Bezug zulassen als zum Medium
selbst, das sie hervorgebracht hat:
Nicht erst ihre Vervielfältigung bewirkt, daß sie sich – mit Benjamins Kriterium für den
Effekt technischer Reproduzierbarkeit – aus einem ihnen angestammten Bereich herauslösen: Sie haben keinen. Jedes, schon das erstmals regenerierte Computerbild ist ein Duplikat
seiner selbst, unwirkliches Glied einer ganzen Reihe beliebig häufiger und ganz in sich selbst
verständigter Verwirklichungen.80
Diese Simulationen sind demzufolge gleichzeitig ihr eigenes Abbild. Der von Härle verwendete Simulationsbegriff orientiert sich an den Ausführungen von Platon, wonach das
Simulakrum gleichbedeutend mit dem Scheinbild ist. Es bleibt also bei der Äquivalenz
Geheimnisses (die noch der Ebene der Ideologie angehört); die zweiten begründen das Zeitalter der Simulakra und der Simulation. Hier gibt es keinen GOTT mehr, der die Seinen erkennt, kein JÜNGSTES GERICHT, das Wahre vom Falschen und das Reale von seiner künstlichen Auferstehung trennt, denn alles ist
bereits tot und von vorneherein wieder auferstanden.“ (Baudrillard: Agonie des Realen, S. 15) Vgl. auch
Dotzler: SIMULATION – simulation – simulation, S. 14.
80
Dotzler: SIMULATION – simulation – simulation, S. 2.
38
zwischen Simulation und Fiktion, Simulakrum und Trugbild sowie Simulant und Verstellungskünstler.
5.4 Neuer Blick auf das Fiktive und Imaginäre durch Wolfgang Iser
Wolfgang Iser fragt in seinen Ausführungen zum Fiktiven und Imaginären nach den Funktionen und Praktiken der fiktionalen Zeichenverwendung bei der Modellierung von Wirklichkeit. Die Schlüsselbegriffe, die Iser zur Beschreibung des literarischen Textes als „inszenierten Diskurs“81 verwendet, lauten: Inszenierung, Theatralität und Spiel. Bei der Betrachtung des Textes als „inszenierten Diskurs“ tritt, laut Iser, das performative Moment in
den Vordergrund, d. h. eine Aussage wird nicht als etwas Gegebenes referiert, sondern
generiert sich erst im Vollzug der Äußerung. Das bedeutet auch gleichzeitig eine Wandlung für die traditionelle Theatermetapher, die nicht länger die Abbildung des Szenischen
impliziert, sondern den Akt des In-Szene-Setzens an sich bezeichnet. Es findet keine Abbildung im Sinne des traditionellen Mimesis-Verständnis statt, sondern es vollzieht sich ein
Akt der Übersetzung, der den Charakter eines „Spiels der Differenz“82 annimmt, da es keine teleologische Ausrichtung besitzt, so Iser. Er schließt damit an seine Bestimmungen
zum Akt des Lesens83 an, als Einlassung auf ein offenes Spiel von semantischen Differenzen oder als semantisch indifferente Lust am Text, wie es Barthes in seiner gleichnamigen
Schrift postuliert hat.
Zwischen Iser und Barthes lassen sich in rezeptionsästhetischer Hinsicht auch anderweitige Verbindungslinien ziehen. In seinem Essay Der Tod des Autors beschreibt Barthes das
Schreiben nicht als eine Tätigkeit des Registrierens oder Repräsentierens, sondern begreift
den Akt der Äußerung bereits selbst als Inhalt. Die Schrift bilde ständig Sinn, aber nur, um
ihn wieder aufzulösen. „Die vielfältige Schrift kann nämlich nur entwirrt, nicht entziffert
81
Iser: Das Fiktive und Imaginäre, S. 35.
Ebd., S. 501-504.
83
Iser verwendet für die Beschreibung des sich stetig verändernden Textsinns, der durch die Interaktion zwischen Text und Leser hervorgebracht wird, den Begriff „Aleatorik“: „So mag sich zwar der Sinn fiktionaler
Texte nicht zu den Referenzbedingungen regulativer, und das heißt subjekt-unabhängiger Regeln konstituieren lassen. Dafür aber erlauben seine konstitutiven Bedingungen einen aleatorischen Aufbau der Sinngestalt.
In der Aleatorik sind die Kombinationsmöglichkeiten gegebener Positionen nicht festgelegt [...].“ Der Leser
bestimme den „’Code‘ der aleatorischen Regel“. (Iser: Akt des Lesens, S. 355)
82
39
werden. [...] Der Raum der Schrift kann durchwandert, aber nicht durchstoßen werden.“84
Die Leser seien das Ziel des Textes, und die Literarizität entstehe erst mit der Loslösung
vom Autor. Auch Iser macht die Leser für die Aufdeckung von Leerstellen im Text verantwortlich, wobei er jedoch vom Text mit einer geschlossenen, festen Sinnstruktur ausgeht.
Der literarische Text, den Iser mit der Theatermetapher in Verbindung bringt, besteht
aus mehreren „Akten des Fingierens“,85 welche in Szene gesetzt werden. Zwischen Fiktion
und Realität schaltet Iser das Imaginäre, das hierbei als vermittelnde Instanz auftritt. Realität versteht Iser als eine „Quersumme der imaginären“ und „der aus der kollektiven Imagination einer Kultur gespeisten Vorstellungsbilder und Zeichen, mit denen sich Mitglieder
einer Gesellschaft verständigen“.86 Diese Zeichen und Vorstellungen resultieren aus einer
prädiskursiven Wirklichkeit, die demnach die Voraussetzung für die Entstehung der Realität bildet. Iser unterscheidet zwischen der sozialen Wirklichkeit als konstitutivem Bezugsrahmen menschlichen Wahrnehmens und Denkens sowie dem Gefüge von „imaginären
Institutionen“, wobei jedoch diese beiden Kategorien in keinem mimetischen Verhältnis
zueinander stehen. Die Zeichen, die wir als Realität begreifen, seien lediglich Reaktionen
auf natürliche Erfahrungen und soziale Kräfte, die auf den Menschen einwirken. Man
könnte die Zeichen also als symbolische Antworten auf solche Erfahrungen begreifen, die
stets den Schein einer „ursprünglichen, anfänglichen und irreduziblen Setzung“87 besitzen.
Die Eigenschaft der symbolischen Modelliertheit sei auch kein substantielles Unterscheidungskriterium zwischen Fiktivem und Realem. Der Oppositionsbegriff ist für Iser also
weniger der des Fingierten, der Fiktion, sondern des Imaginären. Das Fiktive bezeichnet er
als Schnittstelle bei der Vermittlung zwischen Realem und Imaginärem, da der Fiktion, im
Gegensatz zur imaginären Produktion, Grenzen gesetzt sind. Während die Imagination
ihren Ursprung in der symbolischen Produktion hat und keine Referenz besitzt, stellt die
Fiktion die Grenze zum Wirklichen dar, d. h. die Realität bleibt als Referenz immer präsent.
Iser definiert das Fiktive als einen produktiven Akt der Übersetzung und als eine diskursive Schnittstelle für das Ineinanderspielen von Imaginärem und Realem, weg vom Ab-
84
Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 191.
Iser: Das Fiktive und Imaginäre, S. 18.
86
Pross: Textspiele. In: Neumann; Pross; Wildgruber: Szenographien, S. 147.
87
Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 602.
85
40
bildmodell. Die Lektüre eines Textes bedeute, die semantischen Anweisungen in imaginäre
Vorstellungsgestalten zu verwandeln. Hierin liege der Unterschied zu Wahrnehmungsobjekten. Bei der Rezeption eines literarischen Textes befinden wir uns in einer ObjektSubjektrelation als einem interaktiven Umgang.
6. Der Text aus Sicht des New Historicism
Ausgehend von Isers Konzept des Fiktiven und Imaginären öffnet sich der Weg zu anderen
postmodernen Richtungen. Innerhalb der neueren Zugänge konzentriere ich mich auf die
diskurstheoretischen Ansätze, in denen die Kategorie der Geschichte eine wichtige Stellung einnimmt und die methodisch an die historische Diskursanalyse Michel Foucaults
anknüpfen. Diesen theoretischen Ansätzen liegt eine Textualisierung des Wirklichkeitsbegriffs zugrunde, wonach die Selbstverständlichkeit der Gesellschaft durch die Texte selbst
hervorgebracht wird und keine Vermittlung mehr zwischen Literatur und Gesellschaft besteht, da es gar keine unabhängig existierende Wirklichkeit gibt. Einer dieser neuen diskursanalytischen Wege wurde von Stephen Greenblatt beschritten, der den sogenannten
New Historicism bzw. Cultural Poetics entscheidend mitbestimmte. In seiner wegweisenden Studie Verhandlungen mit Shakespeare vernetzt er die Texte des englischen Dramatikers mit historischen Quellen des elisabethanischen Zeitalters und versucht auf diese Weise, Shakespeares Texte in ihrem zeitgenössischen Umfeld zu betrachten und die Teilmengen von Text und Text-Äußerem offenzulegen.
Diese textkritische Methode richtet sich vor allem gegen textimmanente und ahistorische Interpretationstechniken. Die Forderung des New Historicism lautet, die literarischen
Werke wieder im geschichtlichen und sozialen Kontext ihrer Entstehungszeit zu betrachten. Der Unterschied zu anderen ideologiekritischen und sozialgeschichtlichen Ansätzen
liegt jedoch in der Ablehnung des ontologischen Geschichtsverständnisses und stattdessen
der Hinwendung zu der Annahme einer kontingenten Geschichte, womit gleichzeitig auch
die Kontingenz der Texte betont wird, die sich als Teil einer sozialen Praxis immer wieder
neu konstituieren. Literarische Texte sind also mit anderen kulturellen Äußerungen verwoben und wirken nebeneinander, was zur Folge hat, daß die Interpreten ihre Aufgabe nicht
mehr darin sehen, einzelne Elemente eines Textes in einen kausalen Zusammenhang zu
41
bringen, sondern die Konzentration auf das Verhältnis zu anderen Texten zu lenken.88 Die
Analyse fragt nach Austauschbeziehungen zwischen kulturellen Äußerungen, die
Greenblatt „Transaktionen“ nennt, die eine sehr große Ähnlichkeit zum Verfahren der Intertextualität aufweisen. Verhaltens- und Sprachformen, Gesten, Rituale sowie kollektive
Erfahrungen fließen in die literarischen Texte als „soziale Energie“89 ein und werden dort
absorbiert und modifiziert. Greenblatts kulturelles Denken ist von der Stimmenvielfalt und
Polyphonie im Sinne Bachtins geprägt, denn das Ziel der Cultural Poetics ist die Aufhebung von Grenzen und Hierarchien und die damit verbundene Suche nach den Ursachen
für das Verschwinden von „Spuren sozialer Zirkulation“.90 Allerdings ist die Literatur nach
Greenblatts Auffassung maßgeblich an der diskursiven Konstituierung von Machtstrukturen beteiligt, da die „kulturellen Transaktionen [...] den großen Werken der Kunst ihre
Macht verleihen“,91 wodurch ein Durchbrechen dieser herrschenden Diskurse faktisch ausgeschlossen wird. Das erinnert an Baudrillards Begriff vom Objekt, dessen Macht das Subjekt hilflos ausgeliefert ist.
Die Gemeinsamkeit zwischen Isers rezeptionstheoretischem Ansatz seiner literarischen
Anthropologie und dem New Historicism liegt in ihrem ähnlichen Verhältnis zur Geschichte begründet. Isers Erklärungen zur Spielstruktur lauten:
Sie prägt dieses Ineinander unterschiedlich aus, und da keine Prägung je eine Bestimmung
des Fiktiven und des Imaginären sowie ihres Zusammenspiels sein kann, ist eine jede von
ihnen auch immer historisch markiert. Das macht den literarischen Text als Spielraum offen
für die Geschichte.92
Sie korrespondieren mit den Prinzipien des New Historicism:
Statt Vereinheitlichung gelten Pluralität und Heterogenität (Literaturgeschichte sollte nicht
nur eine Geschichte, sondern viele Geschichten erzählen), statt linearer Erzählung assoziative Montage, statt der Suche nach einem festen Bedeutungskern ein Spiel mit dem historisch
wie linguistisch bedingten Bedeutungsüberschuß symbolischer Sprache.93
88
Vgl. Wechsel: Sozialgeschichtliche Zugänge. In: Arnold; Detering: Grundzüge der Literaturwissenschaft,
S. 454-456.
89
Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, S. 9.
90
Ebd., S. 14.
91
Ebd., S. 13.
92
Iser: Das Fiktive und Imaginäre, S. 15.
93
Kaes: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne?. In: Baßler: New Historicism, S.
263.
42
Die Rekonstruktion bestimmter Diskurse öffnet den literarischen Text für oberflächlich
nicht sichtbare und mit einem linearen Analyseverfahren nicht zugängliche Bedeutungszusammenhänge:
Subtile Anspielungen auf Vorstellung und Verstellung gewinnen an Resonanz, narrative Motive werden transparent auf symbolische Bräuche und Praktiken hin und theatralische Gesten
nehmen neue vielschichtige Bedeutungen an. Die Rekonstruktion des Diskurses gibt dem literarischen Text auch die ursprünglichen Ambivalenzen, Doppelbödigkeiten und dynamische
Widersprüche zurück.94
Der New Historicism geht von einem dezentrierten und intertextuellen Text aus, der nicht
unabhängig vom Kontext zu betrachten ist, d. h. es esxistiert kein ontologischer Unterschied zwischen Text und Kontext. Mit den Verfahren der Dekonstruktion sollen Brüche
und Risse in scheinbar hermetischen Textstrukturen aufgespürt werden. Die Basis hierfür
ist die von der historischen Diskursanalyse übernommene Grundannahme, daß die literarischen Texte keine geschlossenen Werke darstellen, sondern als Teil kultureller Praktiken
schon selbst als Auslegung der Gesellschaft zu betrachten sind. Greenblatt möchte den
literarischen Text wieder mit „sozialer Energie“ aufladen, indem er die in ihm enthaltenen
„Diskursfäden“95 in ihren ursprünglichen historischen Kontext zurückverfolgt. Dem New
Historicism geht es jedoch nicht nur darum, die Quellen der „Diskursfäden“ aufzuspüren,
sondern auch zu zeigen, wie sie sich im Text widerspiegeln sowie
[...] von einem rekonstruierten historischen Horizont her Fragen zu stellen, auf die der Text
eine Antwort gibt – wobei allerdings ein »Archiv« aus komplexen und diskontinuierlichen
Diskursen ein ganz anderes Kulturmodell voraussetzt als der einheitliche »Erwartungshorizont« der Rezeptionsästhetik.96
Während der literarische Text von Iser als ein Medium verstanden wird, das anthropologisches Wissen vermittelt und als Inszenierung einen imaginären Probespielraum bietet, der
außerhalb der herrschenden Diskurse anzusiedeln ist, ist der literarische Text nach dem
Verständnis des New Historicism Teil der gesellschaftlichen Machtbeziehungen und wäre
damit als Teil eines eventuell vorhandenen Simulakrums zu verstehen. Der Simulationsbegriff könnte dann als eine theatrale Spielfigur innerhalb der Texte aufgespürt werden.
94
Ebd., S. 258.
Baßler: New Historicism, S. 14.
96
Ebd., S. 22.
95
43
Zusammen mit verschiedenen Texten anderer Zeichensysteme ließe sich auf dem Wege
des intertextuellen Analyseverfahrens dann auch eine Kategorie wie die Simulation bezüglich der Thomas-Mann-Texte im Netzwerk der Diskurse verorten. Denn seit dem Zauberberg ist das Verfahren der Intertextualität, die „Heterogenität und historische Buntscheckigkeit der Dokumente“ (GW, XIII, S. 102), für Thomas Manns epische Technik
zunehmend bestimmend geworden und weitete sich im Doktor Faustus sogar zu einer
„Montage-Technik“ (GW, XI, S. 165) aus, die Thomas Mann folgendermaßen beschreibt:
„Wirklichkeit, die sich in Fiktion verwandelt, Fiktion, die das Wirkliche absorbiert, eine
eigentümlich träumerische und reizvolle Vermischung der Sphären.“ (GW, XI, S. 166).
Das erinnert sehr an die „Diskursfäden“, die zwischen Wirklichkeit und Fiktion in beide
Richtungen verlaufen. Dahin tendiert auch eine andere Äußerung Manns zum „Buch der
Bücher“, das ihm als Vorbild für die Bachtinsche „Vielstimmigkeit“ gedient hat:
Sie besteht aus einer Menge sehr verschiedenartiger und unleugbar auch verschiedenwertiger
literarischer Erzeugnisse des Judentums und Urchristentums: Mythen, Sagen, Novellen,
Hymnen und sonstige Dichtungen, historische Berichte, Abhandlungen, Briefe, Spruchsammlungen und Gesetzes-Codices, deren Abfassung oder richtiger deren Niederschrift sich
auf einen sehr langen Zeitraum, vom fünften Jahrhundert vor bis ins zweite Jahrhundert nach
Christi Geburt verteilt. Manche Bestandteile aber reichen ihrem Ursprung nach weit rückwärts über diesen Zeitraum hinaus: es sind Reste und Brocken grauen Altertums, die gleich
gewaltigen Findlingen in dem Buche herumliegen. [...]
Ich sage dies alles, um die Heterogenität und historische Buntscheckigkeit der Dokumente
anzudeuten, aus denen die Bibel sich zusammensetzt. (GW, XIII, S. 201-202)
7. Hypothesen
Die verschiedenen Ebenen des Simulationsbegriffs gehen alle auf das ursprünglich semantische Feld der Simulation in der lateinischen Begriffsgeschichte zurück:
simulatio – Verstellung, Vorwand
simulacrum – Abbild; Scheinbild; Trugbild; Gleichnis
simulator – Nachahmer, Heuchler
Vor allem mit der Herausbildung der Medientechniken erfährt der Simulationsbegriff jedoch eine Bedeutungserweiterung. Mit der Kategorie Simulation wird nun nicht mehr lediglich eine Handlung der Täuschung bezeichnet, sondern zunehmend rückt der Begriff
44
des Modells ins Blickfeld, der zwar weiterhin eine Als-ob-Situation aufrecht erhält, jedoch
aufgrund seiner Selbstreferentialität auf eine eigene Wirklichkeit verweist. Mit der Computersimulation wird ein Prozeß dargestellt, der in der Realität noch gar nicht existiert und
dementsprechend eine eigene Realität kreiert. Auf dieser neuen Darstellungsmöglichkeit
basieren die Simulationskonzepte von Roland Barthes und Jean Baudrillard. Barthes versucht, diese neue Auffassung von Simulation auf sein Konzept der strukturalistischen Tätigkeit zu übertragen, indem er den literarischen Text zerlegt und das anschließende Neuarrangement als etwas „Neues“ bezeichnet, das Simulakrum, der dem „Objekt zugefügte
Intellekt“ durch den Menschen.
Das Konzept der Analogie zwischen Objekt und seinem Simulakrum greift Baudrillard
in seiner These vom Zusammenfallen der Realität mit der Irrealität auf. Er wendet den in
den kybernetischen Wissenschaften gebrauchten Simulationsbegriff auf die Konsum- und
Mediengesellschaft an, in der die Zeichen nur noch auf sich selbst verweisen und somit
einer ständigen Manipulationsgefahr unterliegen. Die Transformation des kybernetischen
Simulationsbegriffs für die Medientheorie ist jedoch irreführend und nicht exakt, wie die
folgende technische Definition des Modells als Hilfskonstruktion für kybernetische Forschungsmethoden verdeutlichen soll:
Ein wichtiges Hilfsmittel der Kybernetik ist das Modell, ein künstlich geschaffenes materielles oder gedankliches System, das die im Hinblick auf eine bestimmte Fragestellung
wichtigen Eigenschaften oder Funktionen eines realen Systems widerspiegelt. Bei der Konstruktion des Modells wird von den für die Fragestellung unwesentlichen Eigenschaften des
realen Systems abstrahiert. Soweit die Eigenschaften des Modells denen des realen Objekts
analog sind, führt es zu neuen Erkenntnissen über das Objektsystem.97
Baudrillard nutzt für seine Thesen die Eigenschaft des Automatismus oder der Selbstregulierung kybernetischer Prozesse, um sie auf die postmoderne Gesellschaft anzuwenden. In
der Kybernetik als technische Wissenschaft wird jedoch bewußt ein Modell analog zur
Realität erstellt, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Simulation hat also bereits hier ihren
typischen Täuschungscharakter verloren und funktioniert quasi wie ein Spiel mit einem
immer neuen Ausgang. Indem Baudrillard diese Art der Simulation auf sein Konzept der
„Hyperrealität“ überträgt, versucht er, den Begriff wieder mit seiner ursprünglichen Bedeutung der Verstellung aufzuladen. Die selbstreferentiellen Zeichen entwickeln bei
97
Gellert: Kleine Enzyklopädie Natur, S. 749-750.
45
Baudrillard jedoch eher eine manipulative Kraft, als daß sie etwas vortäuschen, weil dazu
eine Realität notwendig wäre.
Bei der Betrachtung des literarischen Textes als ein analoges Modell zur Wirklichkeit,
lassen sich eventuell Funktionsmechanismen innerhalb dieses Modells offenlegen, ohne
jedoch konkrete Täuschungen im Text bzw. des Textes zu berücksichtigen. Deshalb werde
ich diese Art der Simulation bei der Analyse der Thomas-Mann-Texte nur am Rande betrachten.
Mit Wolfgang Isers Betrachtung des literarischen Textes als einem „inszenierten Diskurs“, der den Charakter eines Spiels angenommen hat, wobei das Reale mit dem Imaginären korreliert und das Fiktive in einer Vermittlungsposition dazwischen steht, ist es möglich, die Simulation als einen weiteren Bestandteil dieses Modells innerhalb des Textspiels
zu verorten. Iser versucht, ähnlich wie Barthes, das funktionelle System eines literarischen
Textes aufzuzeigen, jedoch nicht auf dem Wege der Zerlegung und des anschließenden
Neuarrangements eines Objektes, sondern durch die Aufdeckung und Sichtbarmachung des
fließenden Übergangs zwischen Realem und Imaginärem von seiten der Leser.
In der literarischen Anthropologie von Iser läßt sich die Simulation einerseits als ein
Akt der Inszenierung, angelehnt an den kybernetischen Simulationsbegriff, verstehen. Der
Abbildungscharakter bleibt dabei erhalten, vermischt sich jedoch mit dem Imaginären –
diesen Vorgang beschreibt Iser mit dem Begriff der „Transformation“.98 Andererseits ermöglicht Isers Modell, die Simulation innerhalb eines literarischen Textes in einer jeweils
dem Text eigenen Prägung zu verstehen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß literarische Texte aus mittelbaren Zeichen und symbolischen Codierungen bestehen, vollzieht
Iser einen Rückgriff auf die Anthropologie. Die mangelnde referentielle Eindeutigkeit und
die verdoppelte Struktur der Zeichen machen sie „als ein Analogon lesbar, für jene Rollenpluralität, als deren Einheit sich der ’Mensch‘ konstituiert“.99 Der Entwurf des Ichs über
imaginäre Konstruktionen, um seiner selbst habhaft zu werden, provoziert die spannende
Frage, wie sich dieser Aspekt in Thomas Manns Tagebüchern äußert.
Mir geht es in meiner Untersuchung nicht darum, die Thomas-Mann-Texte als Simulakrum zu entlarven, das keine Referenz mehr besitzt. Mich interessieren die Mechanismen, nach denen diese derzeit vieldiskutierte Kategorie in Thomas Manns Schriften funktioniert. Ich möchte das kulturelle Muster der Simulation nicht nur als Modellierungspro98
Iser: Das Fiktive und Imaginäre, S. 481.
46
zeß oder als rhetorische Figur analysieren, sondern versuchen, es an den Rändern der Texte
aufzuspüren, wo es als ’geheimer Koordinator‘ des Textspiels funktioniert.
Wodurch läßt sich aber die Simulation entdecken, und wie zeigt sie sich innerhalb der
Fiktion? Diese Frage läßt sich nicht ausschließlich von Zeichen zu Zeichen auf der sprachlichen Ebene eines Textes beantworten, sondern immer nur durch gleichzeitige Betrachtung von anderen Texten. Die Fiktion ist ein Redestatus, wie Jürgen H. Petersen festgestellt hat, d. h. sie besitzt keine speziellen Merkmale, außer, daß sie durch den Prozeß der
Abbildung entstanden ist und fiktive Gegenstände impliziert. Ein Text kann nur die Kraft
der Täuschung aufbringen, indem er Bezug zur ‘Realität‘ nimmt; denn wie soll eine absolute Fiktion uns etwas vorspielen, wenn wir in einem Text mit Zeichen konfrontiert werden, die wir noch nicht kennen?
In dieser Situation scheint es sinnvoll, den Simulationsakt als Täuschungsakt in seinem
rhetorischen Bezugsfeld zu begreifen, der sich von der Mimesis abgrenzt. Nur so erscheint
es mir möglich, vor allem bezüglich der Tagebücher Thomas Manns, die für dieses Diarium spezifischen Wechselwirkungen zwischen Tagebuchschreiber und Leserin hinsichtlich
der Widersprüchlickeit der ’authentischen‘ bzw. simulatorischen Wirkungsweise der Eintragungen herauszufiltern. Speziell bei der Untersuchung der Tagebücher wird es jedoch
notwendig sein, aktuelle Medientheorien, die sich eher dem Inszenierungs-, als dem Simulationsbegriff verpflichtet fühlen, heranzuziehen, um die Gründe für den Verdacht von
Simulation zu erforschen. Die literaturanthropologische Richtung, die Iser einschlägt, wird
dabei bestimmend sein, da sein Ansatz dem aristotelischen Mimesisverständnis verpflichtet
bleibt.
Der Hochstapler Felix Krull liefert eine Beschreibung des Betruges, die auf verblüffende Art und Weise mit der hier theoretisch dargelegten Analyse zur Fiktion und Simulation
übereinstimmt:
Nur der Betrug hat Aussicht auf Erfolg und lebensvolle Wirkung unter den Menschen, der
den Namen des Betruges nicht durchaus verdient, sondern nichts ist, als die Ausstattung einer lebendigen, aber nicht völlig ins Reich des Wirklichen eingetretenen Wahrheit mit denjenigen materiellen Merkmalen, deren sie bedarf, um von der Welt erkannt und gewürdigt zu
werden. (GW, VII, S. 298)
99
Pross: Textspiele, S. 167.
47
II. Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
Möge man ein solches Zeugnis waghalsig finden: die Vernunft
verpflichtet und zwingt dazu, – indem sie selbst freilich sofort danach trachtet, einen Mittelweg zu erspähen und der Alternative von
Betrug und Wirklichkeit, sei es auch nur durch ein Wort, zu entkommen. Gaukelei ist ein solches Wort, dessen Tiefe durch Trübheit undeutlich gemacht wird. Die Begriffe der Realität und des
Truges mischen sich darin, und vielleicht ist das eine Mischung
und Zweideutigkeit mit echtem Lebensrecht, die der Natur weniger
fremd ist als unserem biderben Denken.
Thomas Mann: Okkulte Erlebnisse (1924)
Das vorangegangene theoretische Panorama dient nicht nur als Hintergrund für die nun
beginnende Analyse zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull, sondern es enthält
bereits theoretische Gesichtspunkte, die in der Auseinandersetzung mit dem Felix Krull,
insbesondere mit den Untersuchungen von Bernhard J. Dotzler und Gerhard Härle, gewonnen worden sind. Ich mache jedoch diese erworbenen Konzepte zur Simulation von Dotzler und Härle nicht zur Richtlinie, sondern setze mich auf die Spur von Wolfgang Iser.
Trotzdem werde ich zu Beginn dieser Untersuchung die aktuellen Deutungsansätze von
Hans Wysling, Jürgen Jacobs, Gerhard Härle und Bernhard J. Dotzler vorstellen, um daran
anschließend Isers Konzept der literarischen Anthropologie, ausgehend von diesen Lesarten zur Ausprägung der Simulation in der fiktiven Autobiographie Felix Krulls, zu verorten.
1. Die Gestalt des Felix Krull als Ergebnis mythologischer und philosophischer
Überlegungen
Hans Wysling versucht in seiner umfangreichen Studie zum Felix Krull, den Roman in
erster Linie psychologisch und mythologisch zu erklären. Den Ausgangspunkt seiner
Analyse bildet dabei eine Untersuchung zur Psychologie des Künstlers. Ausgehend von
Friedrich Nietzsche, für den ein Artist eine „Zwischenspezies“ zwischen Elementen des
48
„Neurotisch-Psychiatrischen und des Kriminalistischen“ darstellt, zieht er eine Verbindung
zwischen Künstler und Verbrecher, denen die Außerbürgerlichkeit gemeinsam ist:
Endlich die zunehmende Zivilisation, die zugleich notwendig auch die Zunahme der morbiden Elemente, des Neurotisch-Psy chiatrischen und des Kriminalistischen mit sich
bringt. Eine Zwischenspezies entsteht, der Artist, von der Kriminalität der Tat durch
Willensschwäche und Furchtsamkeit abgetrennt, insgleichen noch nicht reif für das Irrenhaus, aber mit seinen Fühlhörnern in beide Sphären neugierig hineingreifend [...]100
Dementsprechend bedeutet für Wysling die „Wendung ins Kriminelle bei Thomas Mann
mehr als äußere Travestie”.101 Auch der italienische Anthropologe Cesare Lombroso, den
Wysling zur Untermauerung seiner These heranzieht, verweist auf die Zusammengehörigkeit von Kriminalität und Genialität aufgrund von gemeinsamen neurotischen Veranlagungen.102 Daraus erklärt sich Wyslings Erkenntnis, daß der Künstler bei Thomas Mann
verschiedene Standpunkte und Rollen einnimmt, so daß die Grenze zwischen Künstler,
Literat und dem Kriminellen immer fließend ist. Demzufolge verfolgen Manns Romane,
die Wysling als intellektualistisch bezeichnet, einen aufklärerisch-objektiven und psychologischen Perspektivismus.103
Wysling beruft sich auf Schopenhauers Willensmetaphysik und Nietzsches Künstlerpsychologie, die für ihn die Basis bilden, auf der seine ganze Interpretation aufgebaut ist
und worauf er immer wieder zurückkommt. Bezüglich der Theorien dieser beiden Philosophen entwickelt Wysling zehn Komplexe, die als Themen- und Problemkreise das gesamte
Lebenswerk Thomas Manns durchziehen. Die erste goße Kategorie, die fünf Komplexe
umfaßt, nennt sich „Die Welt als Wille”, womit Schopenhauers Theorie gemeint ist, daß
jeder Mensch teil am Weltwillen hat.104 Dieser Weltwillen offenbare sich im Schlaf, im
Traum und in der erotischen Getriebenheit. Durch bewußtes willentliches Agieren könne
sich der Traum verwirklichen und in die Welt der Vorstellung überführt werden. Wysling
bedient sich verschiedener Götter der griechischen Sagenwelt, um Krulls facettenreiche
Psychologie näher zu ergründen:
100
Nietzsche: Der Wille zur Macht, S. 361. Nietzsche äußert sich auch zur Verbindung des Künstlerischen
mit dem Weiblichen: „Wie man heute ’Genie‘ als eine Form der Neurose beurteilen dürfte, so vielleicht auch
die künstlerische Suggestivkraft, – und unsre A r tis te n sind in der Tat den hysterischen Weiblein nur zu
verwandt!!! Das aber spricht gegen ’heute‘, und nicht gegen die ’Künstler‘.“ (S. 287)
101
Wysling: Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 29.
102
Vgl. Lombroso: Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte. vor
allem das Kapitel: Die Graphomanen, S. 219-254.
103
Wysling: Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 32.
104
Schopenhauer: Werke in 5 Bänden. Bd. 1: „Die Welt ist mein Wille.“ (S. 33)
49
- Felix. Glückskind und Götterliebling
- Morpheus. Süßer Schlaf
- Eros. Einheits- und Vermischungssehnsucht
- Narziß. Ich- und Weltliebe
- Prospero. Der Künstler als Magier und Zauberer105
Er erkennt eine Wandlung des Glücksbegriffs bei Thomas Mann. Dieser wandelt sich vom
Glücksbedürftigen, wie es noch bei Tonio Kröger der Fall ist, zum Glücksfähigen, in seiner
extremsten Form bei Felix Krull ausgeprägt. Die Wende setzt laut Wysling um 1904/05
ein, als Thomas Mann sich zunehmend von der Décadence und dem Erkenntnisekel befreit
und sich stattdessen die Naivität erschließt, um sich vom Pessimismus und Nihilismus der
Jugend zu befreien. Glück bedeutet für ihn nun nicht mehr die Verkörperung von anderem
und der Gegenstand der Sehnsucht, sondern ist vom eigenen Ich zu erfahren und zu leisten,
d. h. Selbstfindung, Selbstannahme und Pflicht zur Selbstverwirklichung. Diese Erkenntnis
Thomas Manns war die Voraussetzung für die Darstellung von Krull als Glückskind.
„Glück ist ein Dienst”.106
Weiterhin betrachtet Wysling Felix Krull auch als Morpheus, den Gott des Traumes.
Nietzsche geht davon aus, daß der Mensch im Traum das „Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine”
erfährt und es als „Schein des Scheins” in die Tagwelt hinüberrettet.107 Folglich läßt sich
feststellen, daß Krulls Leben der Verwirklichung seiner Träume von Erhöhung, Vornehmheit und Reichtum entspricht. Wysling bezeichnet Krull als „heimlichen Theaterdirektor
seiner Träume” (GW, IX, S. 487),108 einen Ausdruck, den Thomas Mann im Zusammenhang mit Schopenhauers Traumpsychologie verwendet. Hierin offenbart sich die Theorie
Schopenhauers zur Offenbarung des Willens im Traum.
Eine Schlüsselfigur im Gesamtwerk Manns ist Wysling zufolge die des Narziß. Auch
im Krull ist die Spannung zwischen Narzißmus und Eros, Ich- und Weltliebe ständig präsent. Zwei narzißtische Spielarten lassen sich bei Thomas Mann erkennen, zum einen die
Selbstqual, die beispielsweise Tonio Kröger, Gustav Aschenbach und auch Adrian
Leverkühn als Isoliertheit, Außenseitertum und Homoerotik erfahren. Die andere Art des
Narzißmus zeigt sich in der Selbstliebe, die Felix Krull und auch Joseph als Selbstvergot105
Wysling: Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 67.
Brief vom 23. 12. 1904; Thomas Mann – Heinrich Mann: Briefwechsel 1900-1949, S. 39.
107
Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 38.
106
50
tung erleben und die die Liebe der anderen auf sich zieht. Der Narzißmus wird bei Krull in
vielerlei Hinsicht sichtbar. Seine „androgyn-mignonhafte“ Verfassung bestätigt ihn in seiner narzißtischen Selbstzufriedenheit.109 Die Verschmelzung beider Geschlechter in der
Gestalt des Felix Krull ermöglicht eine sexuelle Autonomie, d. h. er wird von Frauen und
Männern gleichermaßen geliebt. Des weiteren ist bei Felix, ähnlich wie beim Griechengott,
kein Übergang vom Kind zum Manne zu erkennen, wodurch das Erotenhafte seiner Existenz noch stärker zum Tragen kommt. Auch durch die Vermischung von nord- und südländischen Zügen, wie sie bei vielen anderen Figuren in Manns Romanen zu erkennen ist,
erhält Krull den Reiz des Außergewöhnlichen.
Den zweiten großen Komplex, der sich im frühen Krull nachweisen läßt, nennt Wysling
„Die Welt als Vorstellung”.110 Krull empfindet nicht nur die Kunst als Schein, sondern
auch die Welt und das Leben präsentieren sich ihm als Illusion. Durch die Illusionierung
erreicht Felix eine Distanzierung und den Abstand eines Ironikers. Dieser Habitus bewirkt
wiederum eine Überlegenheit durch Erhebung über „Faszination und Lebensängstlichkeit“,111 die jedoch nur als Scheinüberlegenheit bezeichnet werden kann.
Die vermittelnde Aufgabe des Künstlers, seine hermetisch-zauberhafte Rolle als Mittler
zwischen oberer und unterer Welt, zwischen Idee und Erscheinung, Geist und Sinnlichkeit
kommt hier zum Vorschein [...] (GW, IX, S. 534)
Auch Helmut Koopmann weist darauf hin, daß der Künstler der einzige ist, der den Schein
der Welt durchschaut und somit auch die einzige reale Existenz vorstellt. Der Gedanke von
Nietzsche, daß die Wirklichkeit nur bei dem Erkennenden liegt, prägt auch Thomas Manns
Künstlerbegriff, der sich aus dem Gefühl des Auserwähltseins und der damit verbundenen
Selbstherrlichkeit zusammensetzt.
Die Welt ist der Spielball des Künstlers, und wenn auf der einen Seite die erniedrigte, dekadente Sonderlingsexistenz aus der Sicht der Gesellschaft heraus gesehen wird, so sieht er
selbst die Verhältnisse umgekehrt und völlig anders: er ist es, der als eigentlicher Herrscher
der Welt aufzutreten vermag, da sie ihm in ihrer kruden Realität nur untertan sein kann, dabei handelt es sich natürlich nicht um wirkliche Weltbeherrschung, sondern um eine solche
mit Hilfe der Vorstellungen, des Intellekts, des Willens.112
108
Ursprünglich aus: Schopenhauer: Werke in 5 Bänden, Bd. 4, S. 219.
Wysling: Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 95.
110
Ebd., S. 112.
111
Ebd.
112
Koopmann: Thomas-Mann-Handbuch, S. 519-520.
109
51
Krull betrachtet die Welt als Theater und macht sein eigenes Leben zum Schauspiel. Die
Wechselbeziehung zwischen eigenem Ich und der Gesellschaft äußert sich auch in der Idee
der Vertauschbarkeit. Krull ist der Meinung, daß diejenigen, die er als Kellner bedient,
ebenfalls Kellner sein könnten. Damit wird deutlich, daß dem Künstler die Welt und Gesellschaft als etwas Zweifelhaftes und Fragwürdiges erscheinen.
Ich kann mein inneres Verhalten zur Welt, oder zur Gesellschaft, nicht anders als widerspruchsvoll bezeichnen. [...] Es war der Gedanke der Vertauschbarkeit. Den Anzug, die
Aufmachung gewechselt, hätten sehr vielfach die Bedienenden ebensogut Herrschaft sein
und hätte so mancher von denen, welche, die Zigarette im Mundwinkel, in den tiefen Korbstühlen sich rekelten – den Kellner abgeben können. Es war der reine Zufall, daß es sich umgekehrt verhielt – der Zufall des Reichtums; denn eine Aristokratie des Geldes ist eine vertauschbare Zufallsaristokratie. (GW, IX, S.491-492)
Wysling unterscheidet bei Felix Krull verschiedene Ebenen des Rollentausches. Die schauspielerische Verwandlungskunst bedeutet die Verwandlung durch kostümliche Äußerlichkeiten in den Marquis de Venosta. Die psychologische Art des Rollentausches zeigt sich in
Krulls Vermischungsinstinkt, d. h. das erotische Hinüberverlangen in eine andere Existenzform. Die treibende Kraft hierfür ist die von Felix oft beschriebene Einheitssehnsucht. Eine
wichtige Erkenntnis bedeutet für den Pikaro auch die Erfahrung der beweglichen Identität
aller Wesen, oder anders ausgedrückt – die Brüchigkeit des Ichs. Für ihn existiert kein klar
bestimmbares Ich.
Verkleidet also war ich in jedem Fall, und die unmaskierte Wirklichkeit zwischen den beiden
Erscheinungsformen, das Ich-selber-Sein, war nicht bestimmbar, weil tatsächlich nicht vorhanden. (GW, IX, S. 498)
Ebenfalls in der schon oben erwähnten Traumpsychologie Schopenhauers, die sich in
Krulls kindlichen Erhöhungsträumen widerspiegelt, offenbart sich eine spezifische Ebene
des Rollentausches.
Durch dieses Rollendasein erleidet Krull, wie Wysling bemerkt, einen Identitätsverlust,
der aber von ihm mit bewußtem Willen herbeigeführt wird; denn erotische Selbsterfüllung
erhält er nur durch Selbstentäußerung. Die Rollenwechsel stellen keine bloßen Nachahmungen dar, sondern müssen, nach Schopenhauers Theorie, als abenteuerliche Willensleistungen angesehen werden. Sie können nicht als Betrug bezeichnet werden, sondern als
Schöpfung. Der Logik zufolge vollzieht Felix Krull also nicht nur gekonnte, sondern vor
52
allen Dingen auch wissende Simulation. Diese eben geschilderten Aspekte des Rollenwechsels lassen sich an dem folgenden Zitat von Felix nachvollziehen:
[...] allein die Erregung des Augenblicks, die abenteuerliche Willensleistung, die ich auf
mich genommen hatte; eine Art Trunkenheit, erzeugt durch die inbrünstige Vertiefung in
meine Rolle als Kranker, durch ein Spiel auf meiner eigenen Natur, das jeden Augenblick
durchaus meisterhaft sein mußte, um nicht der Lächerlichkeit zu verfallen; eine gewisse Verzückung, die, zugleich Anspannung und Abspannung, erforderlich war, damit etwas Unwirkliches für mich und die anderen zur Wirklichkeit werde: diese Einflüsse brachten eine solche
Erhöhung und Steigerung meines Wesens, meiner gesamten organischen Tätigkeit hervor,
daß der Sanitätsrat sie tatsächlich von seinem Fieberthermometer ablesen konnte. (GW, IX,
S. 305)
Seine scheinhafte Existenz ist durch keine Konkretisierung geprägt, so daß er zur Beziehungslosigkeit verdammt ist. Felix ist ein glückhaftes Wesen, das sich durch konflikt- und
schicksalsloses Überspielen von Widerständen und durch heitere Überlegenheit auszeichnet.
Den späten Krull beschreibt Wysling als Übergang vom Individuellen zum Sozialen und
Mythisch-Typischen. Schopenhauers Willensmetaphysik und Nietzsches Psychologie bleiben jedoch als Konstanten vorhanden. Im späten Krull erkennt Wysling eine Annäherung
an den Bereich des Politischen, eine stärkere Hinwendung zu Goethe, die Adaptation der
Freudschen Psychologie sowie die Entdeckung des Hermes-Mythologems.113 Die imaginativen Energien kämen nicht mehr primär aus dem Radikalismus der Künstlerpsychologie,
sondern aus der Idee des Götterspiels. Außerdem stehe jetzt nicht mehr die Durchleuchtung von Thomas Manns prekärem Künstlertum im Vordergrund, sondern die Erkenntnis
menschlicher Möglichkeiten und Grenzen allgemein. Diese Veränderungen ließen sich
auch erzähltechnisch beweisen. Der Wortschatz werde historisch und geographisch ausgeweitet und ein langsameres Erzähltempo setze ein. Außerdem erreiche der Roman durch
die Einflechtung langer und großer Gespräche eine stärkere Entepisierung und verkünde
damit das utopische Ziel der universellen Humanität und Menschheitsversöhnung.
113
Wysling: Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 195.
53
2. Neue Forschungsrichtungen
2.1 Jacobs’ Über-Mythologisierung
Die bisher referierten Forschungstendenzen sind neuerdings einer elementaren Kritik unteworfen worden. Jürgen Jacobs wendet sich in seinem Aufsatz Der Liftboy als Psychopompos? diametral gegen die ’Über-Mythologisierung’ und Psychologisierung von
Wyslings Ausführungen zu den Bekenntnissen. Die „mythische Postfiguration“ von Krull
als Hermes, Faust, Felix, Eros, Narziß usw. sowie die Reminszenzen an Mephisto, Zeus,
Goethe, Freud, Schopenhauer, Nietzsche und Thomas Mann selbst führen nach Ansicht
von Jacobs zur Aufhebung der Form der Parodie von Krulls pikaresker Lebensgeschichte
nach dem Muster des Bildungsromans.114 Er widerspricht auch vehement Wyslings These,
welche besagt, daß Krull eine Allegorie der utopischen und damit überpolitischen Existenz
sei und Gesellschaftskritik im Namen der Freiheitsutopie übe. Jacobs betont im Gegenteil
Krulls Anpassung an die Realität, die sich darin äußert, daß die Täuschung und der Betrug
als Mittel zur Sicherung der Gunst der Welt für die Erhaltung des Lebens notwendig sind.
Auf die Frage des Generaldirektors des Hotels, ob Felix Krull Sozialist sei, antwortet er:
„Nicht doch, Herr Generaldirektor! Ich finde die Gesellschaft reizend, so wie sie ist, und
brenne darauf, ihre Gunst zu gewinnen. Ich meine nur, wenn man seine Sache kann, sollte
man es gar nicht fertigbringen, darin zu pfuschen, auch wenn es nicht so sehr darauf ankommt.” (GW, IX, S. 417)
„Krulls hochtrabendes Räsonieren“115 stehe im Kontrast zu seinem zweifelhaften Lebensgang, wodurch die Komik der Sprachmischung aus „Goethe und Gartenlaube”116 entstehe.
Diese Nuancen der Erzählweise und Widersprüchlichkeit der Hochstaplerfigur würden bei
der Annahme der „Hermes-Mythe” als Schlüsselsymbol verlorengehen.
Ganz ohne Zweifel sind in den nach 1951 entstandenen Teilen des Romans mythologische
Motive im Spiel, aber sie bilden kein geschlossenes Sinnsystem, zu dessen allegorischer Bebilderung das Werk im ganzen dienen sollte. Vielmehr haben die mythologischen Anspielungen nur die Funktion epischen Spielmaterials.117
114
Jacobs: Der Liftboy als Psycopompos?. In: Euphorion 88/2, S. 236.
Ebd., S. 239.
116
Hermsdorf: Thomas Manns Schelme, S. 61.
117
Jacobs: Der Liftboy als Psychopompos?, S. 240-241.
115
54
Außerdem ist seiner Meinung nach auch kein deutlicher Bruch zwischen frühem und spätem Krull erkennbar und demzufolge der von den Interpreten behauptete Konzeptionswandel für ihn nicht einleuchtend. Durch die gelehrten Assoziationen werde die farbig erzählte
pikareske Lebensgeschichte einfach überdeckt und vernachlässigt.
Der Deutungsversuch von Jacobs weg vom Mythologischen und Psychologischen, hin
zu einer näheren Betrachtung der humoristischen Komponente des Romans ist von durchaus befreiender Wirkung. Er verwirft den ganzen Bildungsballast und setzt sich stattdessen
für eine größere Betonung des Pikaresken ein. Jacobs begreift Bildung im Krull als Spielmaterial und Element der Hochstapelei. Man könnte sagen, daß er damit die Interpreten
selbst, die die Bekenntnisse mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie Manns andere Romane
hinsichtlich einer tieferen Bedeutung sowohl auf philosophischer als auch auf psychologischer Ebene untersuchen, als Hochstapler versteht. Immer wieder ist in Thomas Manns
Briefen von seiner Angst die Rede, den parodistischen Stil nicht beibehalten zu können
und ins „Faustische“ zu verfallen.
Nach dem »Faustus« hatte Ichs abgeschworen, je wieder noch einen großen Roman zu
schreiben. Nun tu Ichs doch – und habe mir damit etwas aufgehalst, dessen Anforderungen
an Laune und Erfindung wahrscheinlich über meine Jahre gehen. Wenn wenigstens nicht die
verdammte Neigung wäre, alles und jedes, selbst etwas so Närrisches, ins »Faustische« ausarten zu lassen und eine Wanderung durchs Unendliche daraus zu machen!118
Diese Art und Weise, in der sich Thomas Mann häufiger äußerte, manifestiert die These,
daß er den faustischen Charakter des Erkennens der Welt, wie er besonders im letzten
Drittel des Buches, welches sich mit Professor Kuckuck beschäftigt, zum Ausdruck
kommt, nicht bewußt einbringen wollte. Auch die mythologischen Komponenten, denen
Wysling so immense Bedeutung beimißt, scheinen bei Mann eher eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben, wie folgender Auszug aus einem Brief an Fritz Strich vom 19. 10.
1954 verdeutlicht:
Ein für mich merkwürdiges Zusammentreffen ist das gleichzeitige Erscheinen eines Buches
»Der göttliche Schelm« (Rhein-Verlag), wovon Kerényi den mythologischen und Jung den
psychologischen Teil geschrieben hat. Ich war sehr sonderbar berührt. Weiß Gott, daß ich
mir nicht bewußt war, einen hermetischen Roman anzulegen, als ich vor einigen 40 Jahren
118
Brief an Theodor W. Adorno vom 9. 1. 1952. Adorno: Briefe und Briefwechsel: Theodor W. Adorno –
Thomas Mann. Briefwechsel 1943-1955, S. 96.
55
mit dem »Krull« begann. Erst bei der späten Fortsetzung haben sich, wohl durch die Nähe
des »Joseph«, solche Assoziationen unwillkürlich hineingeschlichen.119
Das ist eine Notiz, mit der man die Theorie von Jürgen Jacobs stützen könnte.
Am Ende bleibt die Frage, in welche Richtungen sich die Deutungen zukünftig bewegen
werden. Koopmann wirft die berechtigte Frage auf, ob wirklich die zeitlose Fixierung auf
mythologische Figuren der Auslöser des Schreibens gewesen sein mag oder ob nicht auch
Existenzerfahrungen wie die des Exils eine Rolle gespielt haben könnten.120
2.2 Die Simulation des Körpers
Der Künstler als eine Existenzform, die erst im Schein ihre Wahrhaftigkeit gewinnt – das
ist eine Grundthematik, die in mehr oder minder abgewandelter Form alle Erzählungen
Thomas Manns beherrscht, so auch den Felix Krull.
Die Erzählweise des Romans werde, laut Gerhard Härle, von der Aufhebung der moralischen Konfrontation von Wahrheit und Schein getragen. Anders ausgedrückt könnte man
auch sagen, daß die Verwandlung der „rigorosen Antinomie in ein Oszillieren von Ästhetik
und Moral”121 die Begriffe in einen Schwebezustand rücken soll.
Härle definiert den Terminus Simulation als Vortäuschung eines Zustandes, wobei eine
seelische Verfassung, wie z. B. Angst, in einen verbergenden bzw. offenbarenden Körperausdruck verlagert wird. Seiner Meinung nach ist die Simulation keine Frage der Charakterstärke oder -schwäche, sondern eine Folge der geringen Anerkennung der Gesellschaft
von rein seelisch-geistigen Leiden des Menschen. Wenn eine manifeste Krankheit ausbleibe, könne die Enttäuschung über den Körper durch die Vortäuschung einer Krankheit
kompensiert werden, da der Körper gegenüber der Seele eine größere Widerstandskraft
aufweist. Genau dieses gegensätzliche Verhältnis zwischen Körper und Seele beschreibt
Felix nach seiner gelungenen Vortäuschung eines Brechkrampfes, um der Schule zu entgehen:
119
Thomas Mann: Selbstkommentare: „Königliche Hoheit“ und „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix
Krull“, S. 144.
120
Koopmann: Thomas-Mann-Handbuch, S. 531.
121
Härle: Simulationen der Wahrheit. In: Härle: „Heimsuchung und süßes Gift“, S. 64.
56
Aber der Körper ist zäh und stumpfsinnig dauerhaft, er hält aus, wenn die Seele sich längst
nach Mitleid und milder Pflege sehnt, er gibt die alarmierenden und handgreiflichen Erscheinungen nicht her, die jedem die Möglichkeit eigenen Jammers vor Augen rücken und
der Welt mit fürchterlicher Stimme ins Gewissen reden. Und nun hatte ich sie hergestellt,
diese Erscheinungen, und sie zu so voller Wirkung geführt, als sie nur immer hätten ausüben
können, wenn sie ohne mein Zutun hervorgetreten wären. Ich hatte die Natur verbessert,
einen Traum verwirklicht, – und wer je aus dem Nichts, aus der bloßen inneren Kenntnis und
Anschauung der Dinge, kurz: aus der Phantasie, unter kühner Einsetzung seiner Person eine
zwingende, wirksame Wirklichkeit zu schaffen vermochte, der kennt die wundersame und
träumerische Zufriedenheit, mit der ich damals von meiner Schöpfung ausruhte. (GW, IX, S.
301-302)
Hier wird schon sehr viel über die Ursachen und die Wirkung von Simulation gesagt. Felix
unterstreicht die Zähigkeit des Körpers, der nicht im Einklang mit der Seele steht. Dann,
wenn der Geist schon längst aufgegeben hat, und der Mensch sich aufgrund seines kranken
Geistes elend fühlt, sendet der Körper immer noch keine Zeichen aus, daß zwischen Seele
und Körper eine Disharmonie besteht. Demzufolge erachtet es Felix für notwendig, eine
körperliche Krankheit zu simulieren, um seinen wirklichen Geisteszustand ans Tageslicht
zu bringen. Sein Wille sagt ihm in diesem Moment, daß er keine Notwendigkeit darin
sieht, zur Schule zu gehen; diese Wirklichkeitsschaffung war ihm ein dringendes Bedürfnis
und bringt ihm tiefste innere Zufriedenheit. Es geht hierbei nicht um einen moralischen
Wert und Sinn, sondern schlicht nur um das Wahrheitsmoment. Es spielt keine Rolle, ob es
nun als moralisch verwerflich gelten muß, die Schule zu schwänzen, eine Krankheit der
Mutter gegenüber vorzutäuschen, den Oberstabsarzt bei der Musterung zu betrügen oder
letztendlich überhaupt seine ganzen Bekenntnisse als unmoralisch einzustufen sind. Wichtig ist nur, daß ein „guter Wille” dahintersteckt, dem eine höhere Wahrheit zugrunde liegt.
Felix Krull kann sich, darauf hat die Forschung hingewiesen, auf Kant berufen: „Es ist
überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne
Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“.122 Der „gute
Wille” erlaubt positive Bestimmungen des Scheins, um zu verhindern, daß der Schein
betrüge. Felix rechtfertigt die Simulation mit folgenden Worten:
Zwischendurch aber geschah es nicht selten, daß ich an Schultagen für krank zu Hause und
im Bette blieb, und zwar, wie ich schon zu verstehen gab, nicht ohne innere Berechtigung.
[...] Ein wohlschaffender Knabe, dem es, von leicht verlaufenen Kinderkrankheiten abgesehen, nie ernstlich am Leibe fehlte, übte ich gleichwohl nicht grobe Verstellung, wenn ich
mich eines Morgens entschloß, den Tag, der mir mit Angst und Bedrückung drohte, als Patient zu verbringen. Wozu denn auch wohl hätte ich mich dieser Mühen unterziehen sollen, da
122
Kant: Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. VII, S. 18.
57
ich mich doch im Besitz eines Mittels wußte, die Macht meiner geistigen Zwingherren beliebig lahmzulegen? Nein, jene oben gekennzeichnete, bis zum Schmerzhaften gesteigerte
Schwellung und Spannung, die sich, ein Erzeugnis gewisser Gedankengänge, damals so oft
meiner Natur bemächtigte, brachte, zusammen mit meinem Abscheu vor den Mißhelligkeiten der Tagesfron, einen Zustand hervor, der meinen Vorspiegelungen einen Grund von solider Wahrheit verlieh und mir zwanglos die Ausdrucksmittel an die Hand gab, die nötig waren, um Arzt und Hausgenossen zu Besorgnis und Schonung zu stimmen. (GW, IX, S. 297298)
Mit vollem Ernst, der uns Lesern gerade aufgrund seiner scheinbar paradoxen Verbindung
mit der Feststellung des gerechtfertigten Schuleschwänzens als Ironie entgegentritt, schildert Felix seine Empfindungen von Angst und Bedrohung, die die tägliche Schulpflicht bei
ihm auslöst. Die Ironie, die in der übersteigerten Verteidigung der Simulation besteht, löst
bei den Lesern Lachen aus und erhält damit auch gleichzeitig eine komische Seite. Schon
vorher verglich er in seinen Bekenntnissen die Schule mit seinem langjährigen Aufenthalt
im Zuchthaus, so daß es ihn schon recht früh dazu bewog, „dem Schuldienst nicht nur an
Sonn- und Feiertagen zu entkommen” (GW, IX, S. 296). Als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, fragt er sich, warum er diesen Zwängen nicht zu entgehen versuchen sollte, wenn er doch die Möglichkeiten dazu beherrschte. Hier liegt der wesentliche
Unterschied zum tragischen Ende von Hanno Buddenbrook. Auch bei ihm zeigt sich die
Verbindung zwischen Schulmisere und schwacher körperlicher Konstitution. Er stirbt nur
scheinbar an Typhus, in Wahrheit zerbricht er am Verlust seines Lebenssinnes und an der
Angst vor den Forderungen des Alltags. Doch ihm bleibt nur das Mittel der Selbstvernichtung, um der Wirklichkeit Ausdruck zu verleihen – zur Simulation fehlt ihm die nötige
Kraft.
In Krulls Theorie über die Täuschung und den Betrug scheinen die Worte Nietzsches
hindurch, die besagen, daß es „nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil sei, dass Wahrheit
mehr werth ist als Schein [...]”.123 Am Ende seiner Bekenntnisse beschreibt Felix noch
einmal im Gespräch mit Zouzou die Bedeutung, die der Schein für ihn hat: „[...] aber wo
bliebe das Leben und jegliche Freude, ohne die ja kein Leben ist, wenn der Schein nichts
mehr gälte und die Sinnenweide der Oberfläche” (GW, IX, S. 633)? Was wäre denn auch
die Kunst ohne Illusion? Auch diese Frage hat sich Thomas Mann häufig gestellt.
Härle betont die Zusammengehörigkeit körperlicher und geistig-seelischer Phänomene.
Demzufolge können Körper und Geist als gegenseitige Projektionsflächen verstanden wer123
Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 53.
58
den. Eine Krankheit, die den Anschein des Unwillkürlichen in sich birgt, werde durch den
Scheincharakter der Simulation als etwas willkürlich Gewolltes erfahrbar. Härle macht
jedoch gleichzeitig darauf aufmerksam, daß die Simulation wiederum selbst als Schein zu
begreifen ist, da sie im Fall des Hochstaplers Felix Krull eben nicht das Ergebnis von Vernunft und Willkür darstellt, sondern von körperlichen und seelischen Zuständen beeinflußt
wird.
In der Musterungsszene des Krull stellt sich uns der klassische Fall der Krankheitssimulation dar. Den großen Raum, den der Erzähler dieser Szene beigemessen hat, unterstreicht
die immense Bedeutung dieser Episode, die in dem Roman sicherlich eine Schlüsselfunktion inne hat. Die Szene verdeutlicht, welche extremen Anstrengungen Felix nicht nur
während seines ‚Auftrittes’, sondern auch in der Vorbereitungsphase aufbringen muß, um
die Simulation in vollkommener Perfektion ausüben zu können.
Meine Spannung war schmerzhaft, mein Herz hämmerte ohne Takt, und ich glaube wohl,
daß das Blut mir aus dem Antlitz gewichen war. (GW, IX, S. 355)
Ich war ohne Besinnung während dieses unter so harten Bedingungen überaus langwierigen
Zeitraumes, zum wenigsten ohne Erinnerung an meine Umgebung und Zuschauerschaft,
welche mir gegenwärtig zu halten die Strenge meines Zustandes mich völlig hinderte. (GW,
IX, S. 367)
Die These von Härle, daß sich die Simulation selbst als Schein erweist, findet sich zum
einen darin bestätigt, daß sich Felix nach seiner erfolgreich gelösten Aufgabe vollkommen
ermattet fühlt. Des weiteren ist es sehr interessant, daß sich Krull bei der Beschreibung
seines vorgetäuschten epileptischen Anfalls nie in die aktive Rolle drängt, stattdessen nur
davon spricht, was sein Körper mit ihm macht.
Mein übriger Körper verhielt sich inzwischen nicht ruhend, obgleich ich aufrecht an meiner
Stelle blieb. Mein Kopf rollte umher und drehte sich mehrmals fast ins Genick, nicht anders,
als sei der Leibhaftige im Begriff, mir den Hals zu brechen; meine Schultern und Arme
schienen aus den Gelenken gewunden zu werden, meine Hüften verbogen sich, meine Knie
kehrten sich gegeneinander, mein Bauch höhlte sich aus, indes meine Rippen die Haut zersprengen zu wollen schienen [...] (GW, IX, S. 367)
Felix hat scheinbar keinen Einfluß auf seinen Körper, d. h. die Simulation besitzt nur einen
Scheincharakter. Sie ist zwar insofern von Vernunft und Willkür abhängig, als, um mit
Schopenhauer zu sprechen, Krulls Wille durch bewußtes willentliches Agieren in die Welt
der Vorstellung überführt werden kann. Jedoch diese Gebundenheit der Simulation an
Vernunft und Willkür resultiert wiederum aus einem bestimmten seelischen Zustand. Eine
59
merkwürdige Bemerkung, der nachweislich von den meisten Interpreten keine Beachtung
geschenkt wurde, stammt vom Unterbefehlshaber, der dem Oberstabsarzt bei der Musterung assistierte. Nachdem Felix ausgemustert wurde, sagt er beiläufig zu ihm:
„Schade”, sagte er, indem er mir zusah; „schade um Sie, Krull, oder wie Sie sich schreiben!
Sie sind ein properer Kerl, Sie hätten es zu was bringen können beim Militär. Das sieht man
jedem gleich an, ob er es zu was bringen kann bei uns. Schade um Sie; Sie haben das Zeug
auf den ersten Blick, Sie gäben gewiß einen feinen Soldaten ab. Und wer weiß, ob sie nicht
Feldwebel hätten werden können, wenn sie kapituliert hätten!” (GW, IX, S. 371)
Wie läßt sich diese Aussage deuten? Kann man sie als ironische Bemerkung des Erzählers
der Bekenntnisse erklären, der Felix’ scheinbare Perfektion mit einem Augenzwinkern
kommentiert, indem er den Unterbefehlshaber mit seiner Ansicht, daß Felix prinzipiell für
den Militärdienst geeignet sei, bewußt oder unbewußt die Simulation durchschauen läßt?
Oder beinhalten die Worte lediglich trockene humoreske Züge, die den ganzen Roman
durchziehen?
Härle betont außerdem die Doppeldeutigkeit der Simulation bei Thomas Mann. Zum einen sei die Simulation aus der „existentiellen Störung des männlichen Körperschemas“,
aus der sexuellen Identität heraus wahrhaftig. Auf der anderen Seite werde das Motiv der
Homosexualität wechselseitig sichtbar und unsichtbar, wie in der eindeutig gleichgeschlechtlichen Szene, in welcher der schottische Lord Nectan Kilmarnock um Felix’ Gunst
wirbt. Auch Schimmelpreesters Kostümierungen des jungen Knaben lassen sich durchaus
als erotische Faszination des älteren Mannes für den Jungen verstehen, ähnlich der Beziehung zwischen Gustav Aschenbach und Tadzio. Diese Doppeldeutigkeit wiederum bewirke bei der Leserin die Täuschung. Härle vermutet hinter diesem Doppelschema von Simulation und Wahrheit ein mögliches subtiles Kalkül einer homosexuellen Existenz, in dem
Thomas Manns Leben und Konflikte transparent werden.124
Aus den eben dargestellten Überlegungen folgt die von Härle außerordentlich wichtige
Feststellung, daß das Ich kein geschlossenes, sondern stets ein brüchiges Wesen verkörpert. Auch die Lebensform des Felix Krull, seine überhöhte und idealisierte Körperlichkeit,
biete keine Lösung der „narzißtischen Wunde“,125 sondern fungiere lediglich als Umkehrbild der anderen Figuren Thomas Manns.
124
125
Härle: Simulationen der Wahrheit, S. 84.
Ebd., S. 72.
60
Werden diese uns in ihrer Verletztheit durch ihre Körperdefekte unmittelbar verächtlich oder
mitleidenswert, so besticht und verführt Felix Krull von vornherein durch seine androgyne
Perfektion, die uns erst auf den zweiten Blick als Überkompensation eines verborgenen Defekts, der Angst und des Ekels vor dem Verfall des Körpers, verständlich werden kann. Der
Körper in seiner trivialen Endlichkeit – das eben ist der sexuelle Körper, der die Spannung
von Lust und Diszipilin, von objekthafter Hingabe und subjekthafter Selbstbehauptung auszuhalten hat. In ihm drückt sich, wie Hans Wysling überzeugend darlegt, Thomas Manns
eigene Ambivalenz aus, seine Liebe zum Leben und sein Lebensekel.126
Krulls Verletzbarkeit sieht Härle beispielsweise in den Gedanken, die Felix während der
Musterung bewegen:
„Siehest du, hörst und fühlst du denn nicht, daß ich ein feiner und besonderer Jüngling bin,
der unter freundlich gesittetem Außenwesen tiefe Wunden verbirgt, welche das feindliche
Leben ihm schlug”, fragt der Blick des examinierten Felix den Oberstabsarzt. (GW, IX, S.
361)
Der Erzähler läßt die Leserin glauben, daß Krull sich verstellt und schauspielert. Härle
stellt jedoch die berechtigte Frage, ob nicht gerade darin die Verstellung des Erzählers
sichtbar wird, um der Figur keine Blöße zu geben und seine Defekte zu verdecken. Felix
selbst betont, daß Lüge und Heuchelei von Empfindungen sofort erkannt werden, wenn die
nachgeahmten Gefühle nicht der Wirklichkeit entsprechen. Diese Erkenntnis scheint mir
für weitere Überlegungen der vorliegenden Untersuchung sehr wesentlich zu sein. Gerade
die „Überkompensation eines verborgenen Defekts” läßt sich an mehreren Beispielen aus
den Bekenntnissen aufzeigen, wie die spätere eingehendere Analyse noch deutlich machen
wird.
Härle stimmt Wysling hinsichtlich Manns ambivalenter Haltung zum Leben zu, widerspricht ihm jedoch, indem er auch Felix genauso wie die anderen Gestalten aus dem Werk
von Mann als einen Helden ansieht, der mit der illusionären Existenzform und dem
Scheinsein kämpfen muß. Wyslings Auffassung zufolge bleibt Krull gerade dieser Kampf
erspart.
126
Ebd., S. 72-73.
61
2.3 Der Roman als Simulation ?
Die Betrachtung der Simulation auf der körperlichen und sexuellen Ebene bedeutet nur
eine mögliche Sichtweise. Eine andere Perspektive auf das Problem der Simulation rückt
durch den Neo-Strukturalisten Bernhard J. Dotzler näher ins Blickfeld. Seine Analyse beruht auf philosophischen, soziologischen, semiotischen und Medientheorien. Als Basis
seiner Untersuchung dienen ihm Schriften von Friedrich A. Kittler und Jean Baudrillard.
Dotzlers Ausgangsthese fußt in erster Linie auf der Haupterkenntnis Kittlers in seiner
Untersuchung Aufschreibesysteme 1800/1900, die besagt, daß um das Jahr 1800 Buchstaben zur Erzeugung von Literatur genutzt wurden, die Halluzinationen wie Filme hervorrufen und aus welcher philosophische Erkenntnisse gewonnen werden können. „Mit der
Dichtung der Goethezeit beginnt, daß Literatur sich verwirklicht, indem sie sich gleichzeitig als Literatur signalisiert”.127 Um 1900 setzt im Zuge der Technik (z. B. die Erfindung
von Grammophon und Film) eine Veränderung im Aufschreibesystem ein, die dadurch
gekennzeichnet ist, daß die Schrift jetzt nur noch ausschließlich zum Zweck der Literatur
und der Psychoanalyse Verwendung findet. Daraus ergibt sich in letzter Konsequenz
schließlich auch, wie beispielsweise Erich Auerbach und Roland Barthes feststellen, daß
die Literatur nur noch in Zitaten und Wiederholungen aufgeht und sich in einem sogenannten „Nullzustand” befindet und zum „Objekt“128 geworden ist:
Die neue, neutrale Schreibweise steht inmitten dieser Schreie und Urteile, ohne an ihnen teilzunehmen, sie besteht gerade aus deren Abwesenheit; doch diese Abwesenheit ist vollständig, sie birgt keinen Zufluchtsort und kein Geheimnis. Man kann also nicht sagen, daß diese
Schreibweise unempfindlich und gefühllos sei, sie ist nur unschuldig. Es handelt sich darum,
über Literatur hinauszugehen, indem man sich einer Art Basis-Sprache anvertraut, die von
den lebendigen Sprachen ebenso weit entfernt ist wie von der eigentlichen Literatursprache.129
Nach Michel Foucault hat die Literatur den Zustand erreicht, in welchem sie „nichts anderes mehr zu sagen hat als sich selbst, nichts anderes zu tun hat, als im Glanz ihres Seins zu
glitzern”.130 Dotzler zufolge existiert in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull
kein Widerspruch zwischen Form und Inhalt, den Hochstapeleien Krulls und seiner vollendeten Schreibkunst, sondern die Identität des Betrügers geht mit dem Betrug seiner Erzäh127
Dotzler: Der Hochstapler, S. 15.
Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, S. 89.
129
Ebd., S. 11-12.
128
62
lung eine Synthese ein. Der Betrug behaupte eine Differenz, die nicht vorhanden ist, indem
er sich als Dichtung gibt. Er kommt deshalb zu dem vernichtenden Urteil, daß „die Bekenntnisse Krulls, die der eigenen Vorgabe zum Trotz das Wort so sehr pflegen, nicht mehr
und nicht weniger als ein Nullsummenspiel der Literatur”131 seien, da kein Mehrwert von
Sinn erzeugt werde. In einem Aufschreibesystem, das von klassisch-romantischer Poesie
weit entfernt ist, versuche Thomas Mann zu bestehen, indem er die Dichtung inszeniert
und ihr damit jedoch gleichzeitig eine Absage erteilt. Auch die klassische Kategorie des
Bildungsromans, der die Buddenbrooks zugeordnet werden, gehört laut Dotzler der Vergangenheit an und erlebt ihre Renaissance nur in der Parodie, getreu der Devise von Baudrillard: „[...] jedes Ereignis findet einmal historisch statt, um dann in parodistischer Form
wiederzukehren”.132
Im Zuge der neuen kulturellen Entwicklung verändert sich laut Dotzler auch das Abbildungsproblem in der Art, daß die Abbildungen nicht mehr Darstellung durch Nachahmung
sein können, sondern „Simulation statt Mimesis” sind. Nach Dotzlers Ansicht bedeutet die
Absage an die Mimesiskategorie und stattdessen die Hinwendung zu Simulationen und
Simulakren jedoch keineswegs den Verlust der Realität. Es stelle sich deshalb die Frage,
wo und wie die Literatur sich simuliert. An Thomas Manns Werken lasse sich die Ordnung
der Simulakren sehr gut ablesen:
Einer, der die Erfahrung des fin de siècle ebenso teilt wie er von der imitatio Goethes als
Schaffensprinzip nicht lassen will, ist bekanntlich Thomas Mann. Der Niedergang Des Dichters heißt ihm die Chance, den leer gewordenen Platz zu besetzen, und das Problem, worin
solche imitatio überhaupt noch bestehen könne. [...] An der Schwelle zur nächsten Stufe der
Simulakren, die durch den Einbruch der neuen Medientechniken bestimmt ist, sucht Thomas
Mann seinen Bestand, indem er in der Bezugnahme auf Goethe oder die Vergangenheit
zugleich den zeitgenössischen Vorgaben zu entsprechen versucht.133
Die Lösung dieses Problems liegt nach Dotzlers Meinung in der „offenkundigen Simulation der Dichtung mit den anderen Mitteln der neuen Literatur”.134 Thomas Mann implementiere sich zwar ins Aufschreibesystem von 1900, „weil es nicht tun der Nichtexistenz
im Zeitgenössischen gleichkäme”, aber trotzdem versuche er dabei die Architektur der
130
Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 366.
Dotzler: Der Hochstapler, S. 41.
132
Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 62.
133
Dotzler: Der Hochstapler, S. 23.
134
Ebd., S. 23.
131
63
Dichtung zu simulieren bzw. zu imitieren.135 Unter Architektur versteht Dotzler das System Dichtung. Thomas Manns Implementierung ins zeitgenössische Aufschreibesystem
bedeutet für Dotzler, daß er aktuelle Diskurse oder Moden wie z. B. die Betonung der
technischen Niederlegung von Schrift, Elemente von Detektiv- bzw. Kriminalromanen
oder die Wechselbeziehungen von Schreiben und Wahnsinn berücksichtigt. Diese
„Schnittstellen“ offenbaren die Simulation. Genauso wie ein Jahrhundert vorher vermögen
Manns Texte, die von der philosophisch dominierten Literaturwissenschaft erwarteten
Antworten zu geben. Im Mittelpunkt steht die Wirklichkeitserfahrung und die Ausweisung
der Dichtung als Medium der Wahrheitsfindung, um „existentielle Scheinhaftigkeit durch
ästhetischen Schein zu enthüllen“.136 Diese Kunst wird vielleicht am unmittelbarsten in den
Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull verkörpert.
Die prekäre Situation, in der Sprache der Literatur die Wahrheit seines Lebens erzählen
zu wollen, werde allein durch den Trug selber oder die Simulation gelöst, so Dotzler. Deshalb bezeichne Krull auch schon die Vollendung im Betrug als die Wahrheit seiner Bekenntnisse:
Was aber meine natürliche Begabung für gute Form betrifft, so konnte ich ihrer, wie mein
ganzes trügerisches Leben beweist, von jeher nur allzu sicher sein und glaube mich auch bei
diesem schriftlichen Auftreten unbedingt darauf verlassen zu können. Übrigens bin ich entschlossen, bei meinen Aufzeichnungen mit dem vollendetsten Freimut vorzugehen und weder den Vorwurf der Eitelkeit noch den der Schamlosigkeit dabei zu scheuen. Welcher moralische Wert und Sinn wäre auch wohl Bekenntnissen zuzusprechen, die unter einem anderen
Gesichtspunkt als demjenigen der Wahrhaftigkeit abgefaßt wären! (GW, IX, S. 266)
Felix, der selbst ein „personifiziertes Simulakrum”137 darstellt, gibt auch den Bericht seines
Simulanten-Daseins als reine Simulation. Den Lesern bleibe es verschlossen, ob der Betrug
die Wahrheit über die Autobiographie oder die Autobiographie die Wahrheit über allen
Betrug ist.
Bereits das erste Buch der Bekenntnisse ist nach Auffassung von Dotzler durch die
Doppeldeutigkeit der Simulation gekennzeichnet; zum einen spiele die Technik der Niederschrift eine Rolle, gleichzeitig komme aber auch der Schein der Dichtung zum Ausdruck:
135
Ebd., S. 39.
Anton: Die Romankunst Thomas Manns, S. 48.
137
Dotzler: Der Hochstapler, S. 42.
136
64
Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Muße und Zurückgezogenheit – gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (so daß ich wohl nur in sehr kleinen Etappen und unter
häufigem Ausruhen werde vorwärtsschreiten können), indem ich mich also anschicke, meine
Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen
Papier anzuvertrauen, beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung und Schule denn auch gewachsen bin. Allein da alles, was ich
mitzuteilen habe, sich aus meinen eigensten und unmittelbarsten Erfahrungen, Irrtümern und
Leidenschaften zusammensetzt und ich also meinen Stoff vollkommen beherrsche, so könnte
jener Zweifel höchstens den mir zu Gebote stehenden Takt und Anstand des Ausdrucks
betreffen, und in diesen Dingen geben regelmäßige und wohlbeendete Studien nach meiner
Meinung weit weniger den Ausschlag als natürliche Begabung und eine gute Kinderstube.
(GW, IX, S. 265)
Dotzler macht darauf aufmerksam, daß „diese Kinderstube wenig mit dem mutterzentrierten Zuhause der Dichtung gemein hat”,138 im Gegenteil die Beziehung zur Mutter keinen
zentralen Platz in Krulls Leben einnimmt. Im Widerspruch zu den Bedingungen der Dichtung herrsche das Vergessen statt der Erinnerung, ist doch auch immer die Rede von
„Schlummer und Halbschlummer” in „zehn-, zwölf-, ja vierzehnstündiger Versunkenheit”
(GW, VII, S. 270). Von seiner Mutter spricht Felix im weiteren Bericht seines Lebens kein
einziges Wort mehr. Ebenfalls der Begriff „Bekenntnisse” berge laut Dotzler eine Doppeldeutigkeit in sich. So kann er zum einen als Aussage oder Geständnis die Enthüllung vergangener Ereignisse oder aber auch als Erwartung zukünftiger verstanden werden.
Dotzler kommt zu der erstaunlichen Erkenntnis, daß die Simulation im rein technischen
Sinn hinsichtlich ihrer Funktionsweise und deren Analyse jenseits aller Intention steht und
schließt damit an Ausführungen Baudrillards an, daß erst die Dissimulation des ’Nichts‘
die Wahrnehmung der Simulation gestattet:
Erst die Dissimulation bringt sie ins Spiel, und mit ihr all ihre Fallen oder: den Selbstbetrug.
Er allein produziert den „Simulakrum-Effekt”, der auch seinen Erfinder nicht wissen läßt, zu
welchem Ende das ganze Spiel führt. Denn ob der Roman die dichterische Parodie von Literatur oder die literarische Simulation von Dichtung ist, macht nach Inhalt und Form kaum
einen Unterschied. Erst wenn man die Parodie oder Simulation, die er ist, auf ihre Implementierung hin analysiert, gerät sein offenbares Geheimnis in den Blick. Es sind die Ränder, die
seine Beschaffenheit verraten.139
Das heißt, erst die einzelnen bewußten Verheimlichungen und Vortäuschungen im Roman,
wie z. B. die Musterungsszene, der Rollentausch mit Marquis de Venosta, das Violinenspiel als achtjähriger Knabe oder auch die Fälschung der väterlichen Unterschrift, machen
die Simulation als ganzes im Roman sichtbar. Die verschiedenen Betrügereien im Buch der
138
Ebd., S. 43.
65
Kindheit bilden nur die Voraussetzung für die letztendliche Simulation im großen Rahmen,
die im Rollentausch mit Venosta besteht und gleichzeitig Krulls kindliche Erhöhungsträume widerspiegelt. Dann macht es auch, wie Dotzler richtig anmerkt, keinen Unterschied,
„ob der Roman die dichterische Parodie von Literatur oder die literarische Simulation von
Dichtung” ist. In diesem Zusammenhang nennt er zwei Aspekte, die seiner Meinung nach
die Ursache für die Existenz der Bekenntnisse Krulls darstellen: „Schule und Wahnsinn”.
Was die Schule betrifft, habe sich Ende des 18. Jahrhunderts eine grundlegende Veränderung vollzogen. Der Deutschaufsatz stand nun im Mittelpunkt der gymnasialen Schulbildung, wobei im Deutschunterricht jedoch nicht mehr das Verstehen von Dichterworten
gelehrt wurde, sondern in erster Linie das „selbst Wörter machen” ins Zentrum rückte.
Wichtiger als die Behandlung des Schreibens waren beispielsweise die Aufzeichnungen
eines fiebernden Schülers über sein Fieber als freies Aufsatzthema, was richtungsweisend
für die Wertigkeit und Aussagekraft von Literatur ist, denn auch diese nähert sich der Devise „ich schreibe und ich deliriere”.140
„Romangeistesstörungen” spielen demnach in einem Niemandsland, das weder von unmittelbar zugänglichen Seelenwahrheiten noch von kontrollierten Experimenten beglaubigt
wird. Sein Name ist Simulakrum. Schriftsteller, die simulieren, psychiatrisch informiert zu
sein, beschreiben Personen, die psychiatrisch einfach Simulanten sind. Die referenzlose
Simulation löst die alte Verbindung von Wahnsinn und Krankheit auf, um eine ganz andere
herzustellen: die Verbindung von Wahnsinn und Schreiben.141
Kittler kritisiert hier die referenzlose Simulation, die keineswegs die Funktion einer Wiederherstellung der romantischen Nähe zwischen Künstlern und Wahnsinnigen hat und somit auch keinen Gegenpol zum Bildungsbürgertum entstehen läßt. Die psychophysischen
Phänomene besäßen in der literarischen Simulation keine Referenz, zumal sie meistens
ohne Sinn sind. Konsequenterweise verliere die Literatur damit ihre klassischen Merkmale,
unmittelbar aus der Natur und Seele zu schöpfen sowie philosophische und der Erkenntnis
der Welt dienende Impulse zu geben. Stattdessen werde sie zu „Sekundärliteratur im strikten Wortsinn” und sei vom „allgemein Menschlichen” getrennt.142
Die Dichtung galt als veraltet, indem das Fach Deutsch ins Zentrum allen Unterrichts
gerückt worden ist. Wer dennoch wie Felix Krull den Anspruch erhebt, Dichtung zu
vollbringen, und sei es auch nur dem Schein nach, der muß sich selbst zum Jenseits der
139
Ebd., S. 50.
Ebd., S. 50-52.
141
Kittler: Aufschreibesysteme, S. 314.
142
Ebd., S. 314.
140
66
bringen, und sei es auch nur dem Schein nach, der muß sich selbst zum Jenseits der Schule
machen. In diesem Sinn liest Dotzler den Hochstapler-Roman als Produkt des zeitgenössischen Schreibens. Der Wahnsinn werde simuliert, als vorgetäuschte Dichtung und Flucht
in die Krankheit, so daß das eigene Schreiben nicht vom Wahnsinn erfaßt werden kann.
Die bravouröse Täuschung bei der Musterung bedeutet nicht nur „die Überwindung der
letzten Barriere vor dem Eintritt ins neue und große Leben” als „endgültige Probe auf
Krulls Überlistungskünste”, sondern spiegelt nach Dotzlers Ansicht gleichzeitig auch das
Erzählprinzip des Romans wider, welches aus einer gleichmäßigen Abwägung zwischen
Geheimhaltung und Mitteilung besteht.143 Damit der Roman nicht selbst als „Simulakrum
von Wahnsinn”144 betitelt werden muß, erzählt dieser selbst schon die „Simulation als Simulation”, was Härle auch schon im kleineren Rahmen auf der körperlich-geistigen Ebene
verdeutlichte. Interessant ist, daß der Arzt bei der Musterung Felix ein Leiden an „sogenannten Äquivalenten” bescheinigt, was Dotzler als Zustand eines Textes auslegt, „der sich
an der Gleichung von Literatur und Dichtung versucht”.145
Während Dotzler die Bekenntnisse unter dem Aspekt der referenzlosen Simulation, d. h.
ohne die Probleme des Erzählers oder speziell des Körpers des Erzählers zu berücksichtigen, betrachtet, versucht Härle die Simulation gerade im Hinblick auf die Veränderungen
des Körpers zu erklären, die wiederum durch den Zustand der Seele hevorgerufen werden.
Dabei spielt das autobiographische Element eine wichtige Rolle, da für Härles Untersuchung u. a. die Ausprägung der Homosexualität bei Thomas Mann eine Ausgangsbasis
bildet, um die Scheinhaftigkeit von Felix Krull daraufhin näher zu beleuchten.
3. Verschiedene Ausprägungen der Simulation im Felix Krull
3.1 Simulation einer ’Körperkatastrophe‘?
Wenn der Mensch lacht oder weint, befindet er sich laut Helmuth Plessner in einem
desorganisierten Verhältnis zu seinem Körper. In bestimmten Situationen gibt es keine
’sinn-volle‘ Möglichkeit zu reagieren, der Körper kapituliert, und der Mensch verfällt ins
Lachen oder Weinen. Die Ursache hierfür sieht Plessner in einer Doppelrolle, mit der sich
143
Dotzler: Der Hochstapler, S. 53.
Kittler: Aufschreibesysteme, S. 311.
145
Dotzler: Der Hochstapler, S. 53.
144
67
oder Weinen. Die Ursache hierfür sieht Plessner in einer Doppelrolle, mit der sich der
Mensch arrangieren muß: Er hat einen Leib und ist zugleich Körper, d. h. er muß versuchen, die Kontrolle über seinen Körper zu bewahren, ist aber nicht unter allen Umständen
dazu in der Lage, weil der Lachende bzw. Weinende ‚aus der Rolle fällt‘, indem er die
Selbstbeherrschung verliert. Obwohl die Leib-Seele-Einheit aufgelöst ist, weiß der Mensch
in dieser Grenzreaktion noch eine Antwort und verliert nicht den Kopf. Der Körper kapituliert, aber nicht die Person.146
Die eruptiven Ausdrucksweisen des Lachens und Weinens sind durch ihre Undurchsichtigkeit gekennzeichnet, da sie keine symbolische Ausprägung zeigen. Auch im Zusammenhang mit der Simulation kann man nur eingeschränkt von Transparenz sprechen. Aufgrund der Ausführungen Härles zur Simulation als Schein, lassen sich sehr schnell Parallelen zu den beiden anderen Ausdrucksmöglichkeiten feststellen. Für Härle bedeutet die Simulation ebenfalls eine zwanghafte Reaktion, die durch ein gestörtes Verhältnis zwischen
Geist und Körper hervorgerufen wird. Da die Seele schwächer als der Leib sei, müsse der
Körper das seelische Leiden in Form der Simulation kompensieren, z. B. in der Vortäuschung einer Krankheit. Auf den ersten Blick scheint Felix Krull in negativer Hinsicht einen epileptischen Anfall zu simulieren, um dem Militärdienst zu entgehen. Härle definiert
diese Art der Vortäuschung jedoch als eine positive Reaktion, da ein „guter Wille“ dahinter
verborgen liegt und die Simulation Ausdruck seines wahrhaftigen Empfindens ist. Diese
Wahrhaftigkeit findet ihre Bestätigung darin, daß sie wie das Lachen einen eruptiven Charakter besitzt. Nur Gefühle, die sich entlang der Grenze zwischen Sinn und Nicht-Sinn
bewegen, bewirken nach Plessner den kurzzeitigen Verlust der Gewalt über den Körper. In
der Musterungsepisode wird deutlich, daß sich auch Felix in einer Doppelrolle befindet,
die Plessner als „exzentrische Position“147 bestimmt. Er findet sich in einer Situation wieder, die ihm bewußt macht, daß er seinen Körper als Instrument benutzen kann. Felix Krull
hat sich zwar auf sein Täuschungsvorhaben bei der Musterung akribisch vorbereitet, aber
trotzdem überfällt es ihn plötzlich, da er sich die ganze Zeit vor seinem Eintreten in das
146
Vgl. Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens. In: Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 276.
147
Ebd., S. 236. Vgl. auch Plessner: Die Sphäre des Menschen. In: Gesammelte Schriften Bd. IV: „Ihm ist
der Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer
Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch seiner Natur. Er lebt diesseits und jenseits des Bruches, als
Seele und als Körper und als die psycho-physisch neutrale Einheit dieser Sphären. Die Einheit überdeckt
jedoch nicht den Doppelaspekt, sie läßt ihn nicht aus sich hervorgehen, sie ist nicht das den Gegensatz versöhnende Dritte, das in die entgegengesetzten Sphären überleitet, sie bildet keine selbständige Sphäre.“
68
Sitzungszimmer in äußerster Anspannung befand, die sich irgendwann lösen mußte. Im
Gegensatz zum Lachen, das den Betroffenen völlig unvorbereitet befällt, bedarf es zu einer
erfolgreichen Simulation einer langwierigen Konzentrationsphase. Trotz dieser offensichtlichen Differenz sind Felix’ Täuschungsmanöver, ebenso wie das Lachen oder Weinen, als
eine eruptive und zwanghafte Ausdrucksäußerung zu begreifen. Die Ursache hierfür liegt
in der von Härle erwähnten Verbergung eines „Defekts“, der Körper und Geist in eine
Desorganisation bringt. Diese Zerstörung der Ordnung wird durch eine Konfrontation mit
einem Konflikt hervorgerufen, dem man nicht mehr nur mit emotionalen Ausdrucksgebärden begegnen kann. Beim Lachen besteht eine Verbindung zwischen dem Lachenden und
einer bestimmten Situation, die jedoch gleichzeitig als ein Widerstand fungiert: „Bestimmungen wie Ambivalenz, Mehrdeutigkeit, Mehrsinnigkeit, Sinnüberkreuzung sind auf
diesen Antagonismus zwischen Bindung und Unbeantwortbarkeit bezogen“.148
Krulls Rollenwechsel zeigen ihn permanent in ambivalenten und mehrdeutigen Situationen, so daß eine Simulation notwendig scheint, um den körperlich-geistigen Dualismus
aufzuheben. Der eruptive Ausbruch des epileptischen Anfalls, dessen Ursache für Härle in
Felix’ seelischen Wunden zu suchen ist, könnte jedoch auch eine ’wahre‘ Simulation anzeigen, d. h. die bewußte Täuschung der Musterungskommission bedeuten. In beiden Fällen wird eine ’Körperkatastrophe‘ simuliert, jedoch unter verschiedenen Vorzeichen. Nach
Härles Ansicht provoziert ein „verborgener Defekt“ den plötzlichen Ausbruch, der sich
durch Felix’ intensives Studium von medizinischen Abhandlungen über die Symptome der
epileptischen Krankheit ankündigt. In diesem Fall würde die Simulation ein zwanghaftes
Verhalten darstellen, das keine symbolische Ausprägung besitzt, d. h. die Entwicklung der
’Körperkatastrophe‘ äußerlich nicht zu erkennen ist. Bei einer ’reinen‘ Simulation steht
dagegen der Abbildungsprozeß zur Herstellung einer Ähnlichkeitsbeziehung zur Realität
im Vordergrund, während die Bezugnahme zur psychischen Struktur des Simulierten ausgeblendet wird bzw. in den Hintergrund gerät.
Der Oberstabsarzt E. Heller verfaßte im Jahre 1890 eine Abhandlung zur Behandlung
von Simulationen, worin er sich besonders mit den Simulanten bei der Musterung für den
Militärdienst beschäftigte. Darin konstatiert er, daß Wechsel und Widerspruch in den Angaben und im Verhalten des angeblich Kranken zur Entlarvung des Simulanten führen.
Diese Unregelmäßigkeiten treten besonders bei „ [...] entzündlichen und nach Verlet(S. 365)
69
zungen entstandenen Leiden, sowie angebliche Fehler der Sinnesorgane“149 auf. Gleichfalls bemerkt er, daß eine Simulation vorliegt, wenn der Patient nach der Vortäuschung des
epileptischen Anfalls sofort wieder ansprechbar ist und vollkommen aufgeräumt wirkt.
Diesen Hinweis beherzigt Felix nicht, weshalb der Unterbefehlshaber auch seine Simulation erkannt hat. Auf Grund des überfallartigen Eintretens des Anfalls, konnte Felix das
Spiel jedoch gewinnen. Nach den Untersuchungen Hellers zufolge müßte Felix’ Motto der
freien Willensbestimmung als reine Fiktion bezeichnet werden. Bei einer „einzelnen That
wirken die angesammelten Vorstellungsmassen in unserem Gehirn, zu denen im Moment
der Entscheidung der Mensch nichts hinzuthun oder wegnehmen kann, bestimmend“.150
Heller widerspricht auch den „Specialärzten“, „dass Simulation von Geisteskrankheit bei
einem geistig ganz Gesunden gar nicht vorkomme. Wie bequem wäre es für die Herren
Hallunken, wenn alle Gerichtsärzte diese Ansicht theilten!“151
3.2 Schulkrankheit
Die Diagnose der Schulkrankheit bei Felix durch den Sanitätsrat Düsing ist exemplarisch
für den Umgang des Autors mit seinen Lesern. Der Erzähler gibt ihnen keine Chance, die
Simulation zu durchschauen. Entweder er fällt auf Felix herein, ähnlich wie seine Mutter
und Doktor Düsing, oder er läßt sich auf das Spiel ein. Wenn die Leser starr und phantasielos bleiben, verfallen sie genauso der Lächerlichkeit wie Düsing.
Sanitätsrat Düsing, den Felix als „dumm und streberisch“ bezeichnet und der seinen Titel nur durch persönliche Bekanntschaften erworben hat, ließ den einflußreichen und wohlsituierten Patienten eine bessere Behandlung zukommen und war deshalb auch Hausarzt
bei der Familie des Schaumweinfabrikanten. Durch seine „plumpe Lebensklugheit“ erkannte der Arzt durchaus Felix’ Simulation und wollte mit ihm gemeinsame Sache machen. Felix kam ihm jedoch keinen Schritt entgegen, so daß er gezwungen war, mit Hilfe
der Schulmedizin Felix’ Fieber, Migräne und Brechkrämpfe einer Krankheit zuzuordnen
148
Plessner: Lachen und Weinen, S. 328.
Heller: Simulationen und ihre Behandlung, S. 6.
150
Ebd., S. 57.
151
Ebd., S. 56.
149
70
und dementsprechend eine Behandlung vorzuschlagen. Felix beklagt die Phantasielosigkeit
der Mediziner, wodurch sie äußerst leicht zu täuschen seien:
Selbstverständlich macht der ärztliche Berufsstand von anderen keine Ausnahme darin, daß
seine Angehörigen ihrer überwiegenden Mehrzahl nach gewöhnliche Hohlköpfe sind, bereit,
zu sehen, was nicht da ist, und zu leugnen, was auf der Hand liegt. Jeder ungelehrte Kenner
und Liebhaber des Leibes meistert sie im Wissen um seine feineren Geheimnisse und führt
sie mit Leichtigkeit an der Nase herum. Der Katarrh der Luftwege, den man mir zusprach,
war von mir gar nicht vorgesehen und nicht einmal andeutungsweise in meine Darstellung
aufgenommen. Da ich den Sanitätsrat aber einmal gezwungen hatte, seine ordinäre Annahme, ich sei »schulkrank«, fallenzulassen, so wußte er nichts Besseres, als daß ich die
Grippe haben müsse, und um diese Bestimmung aufrechterhalten zu können, verlangte er,
daß ich Hustenreiz verspürte, und behauptete, daß meine Mandeln geschwollen seien, was
ebensowenig der Fall war. (GW, IX, S. 304-305)
Die Leserin hofft ebenfalls, daß ihr Felix entgegenkommt und seine Simulation offen darlegt. Stattdessen besteht Felix darauf, daß die Leserin mitarbeitet, und somit wird es ihr
überlassen, wie weit sie mitspielt. Sie kann sich bei Felix’ Ausführungen nicht mehr sicher
sein, wobei es sich innerhalb der Realität des Textes um Imaginationen des Hochstaplers
handelt und wie sich nicht simulierte Handlungen des Simulanten zu erkennen geben. Laut
Jürgen H. Petersen fungiert Fiktionalität lediglich als ein Redestatus, d. h. wenn dieser
Kontrakt zwischen Leserin und Autor hergestellt ist, verfügt die Leserin zwar über das
Wissen, daß es sich um einen fiktionalen Text handelt, behandelt ihn aber trotzdem als eine
realistische Möglichkeit. Felix Krull verunsichert die Leserin also nicht nur durch die
scheinbare Authentizität seiner Bekenntnisse, sondern auch durch sein unendliches Spielen.
Aber nicht nur das rhetorische Schema von simulatio-dissimulatio mit Bedeutung der
Vortäuschung, sondern auch die Baudrillardsche Simulationstheorie in Form einer Neuschöpfung finden wir im Felix Krull.
Ich hatte die Natur verbessert, einen Traum verwirklicht, - und wer je aus dem Nichts, aus
der bloßen inneren Kenntnis und Anschauung der Dinge, eine zwingende, wirksame Wirklichkeit zu schaffen vermochte, der kennt die wundersame und träumerische Zufriedenheit,
mit der ich damals von meiner Schöpfung ausruhte. (GW, IX, S. 302)
Selbstverständlich bleibt hier wieder die Simulation mit der Mimesis verbunden, da Felix
die Verbesserung der Natur nicht aus dem Nichts erschaffen hat, sondern nur unter Voraussetzung der „Kenntnis und Anschauung der Dinge“. Während Baudrillard die Simulation auf der Ebene des inflationären Zeichengebrauchs betrachtet, bezieht sich Felix’
71
Schöpfung auf Schopenhauers Willensmetaphysik und Traumpsychologie. Aber kann man
überhaupt noch von Simulation sprechen, wenn Felix seinen Traum in die Wirklichkeit
hinüberrettet, oder ist es nicht vielmehr nur der freie Wille, der hierbei zu Tage tritt? Die
Verwirklichung des Traumes kann nicht als eine Simulation gelten, sondern nur der Weg
dorthin wird von Täuschungen begleitet.
E. Heller vergleicht die Simulanten mit Schauspielern:
Die Verbrecher suchen sich meistens in recht drastischer Weise als Geisteskranke zu produciren. Hatten sie Gelegenheit, einen Geisteskranken zu beobachten, so copiren sie denselben
zuweilen mit vielem Geschick. In der grossen Mehrzahl der Fälle aber ist ihr Benehmen in
Folge der Unkenntniss der wirklichen Symptome ein solches, dass sie von dem erfahrenen
Irrenarzt bald als Betrüger erkannt werden, denn sie stellen die Geisteskrankheit gewöhnlich
so dar, wie es der Schauspieler auf der Bühne thut und wie sie sich der Laie vorzustellen
pflegt, d. h. sie übertreiben sichtlich die einzelnen Symptome, sie glauben nicht unsinnig genug erscheinen zu können.152
Neben der Übertreibung nennt Heller vor allen Dingen die „Inconsequenz“, die zur Entlarvung der Simulanten führt. Da die Vortäuschung einer Krankheit sehr schwer durchzuhalten sei, fallen die ’Patienten‘ bei längerer Beobachtung häufig aus der Rolle. Das wäre
dann eine entgegengesetzte Reaktion zu Plessners Lachtheorie, wonach der Lachende aus
der Rolle fällt und dann wieder seine alte Rolle spielt. Der Mensch wird vom Lachen überfallen, wenn er auf einen plötzlichen Widerstand stößt. Bemerkt der Simulant, daß er keinen Glauben findet, kann er seine Täuschungsstrategie nicht durchhalten und fällt in sein
altes Rollenschema zurück. In diesem Fall kann man natürlich nicht von einem eruptiven
Anfall bzw. der Simulation einer ’Körperkatastrophe‘ sprechen, da die Krankheitssymptome über einen längeren Zeitraum vorgetäuscht und dem angeblichen Leidenszustand ständig neu angepaßt werden müssen.
3.3 Rhetorische Simulation
Wie läßt sich Felix’ Simulation auf der rhetorischen Ebene erkennen? Er verwendet sowohl die simulatorische als auch dissimulatorische Ironie, d. h. er täuscht etwas NichtVorhandenes vor, verbirgt aber auch bestimmte Tatsachen. Gegenüber Miss Eleanore
Twentyman verheimlicht Felix seine eigenen Überzeugungen, wenn er ihre Liebe zu ihm
72
zu beschwichtigen sucht, indem er sie auf das „gesellschaftliche Naturgesetz“ (GW, IX, S.
487) hinweist, das es ihr verbietet, an einen Kellner ihr Herz zu verschenken. Er grenzt
sich also bewußt von der jungen Engländerin ab, um seinen Weg als Simulant weiter zu
verfolgen. Die Befähigung zur Simulation erfordert ein „Ich“,
das souverän Grenzen zieht und sich durch seine spezielle Befähigung zur doppelten Negation aus dem Einerlei der Kommunikation heraushebt. Im komplizierten Verfahren der
Simulation entsteht durch die auffällige Redefigur der doppelten Negation und die
Schmucklosigkeit der lakonischen Sprache ein unverwechselbar „authentischer Personalstil“
[...]153
Das „intuitive und selbstverständliche Wissen um Pluralität und persönliches Andersseinkönnen“ führt immer auch zur „Ironisierung des personalen Seinkönnens“.154
Wenn man sich die Begegnung zwischen Felix (Armand) und der jungen Miss Eleanore
Twentyman noch einmal detaillierter vor Augen führt, wird das ironische Spiel deutlich.
Felix verbirgt in Gegenwart der jungen Engländerin, daß ihm ihr Werben durchaus
schmeichelt. Er muß die Strategie der Dissimulation anwenden, die in das Gebiet der
„handlungs-taktischen“ Ironie hineinreicht, um Miss Twentyman zu täuschen und die Höflichkeitsform zu wahren. Da bei Felix’ Äußerung jedoch keine Ironiesignale gesetzt werden, erkennt sein Gegenüber die Ironie nicht, bleibt unwissend und versteht die Erklärungen als ’wahrhaftige Rede‘. Während die Dissimulation eingesetzt wird, folgt gleichzeitig auch die Simulation, da im Moment der Verheimlichung der eigenen Überzeugung logischerweise auch eine falsche Überzeugung vorgetäuscht wird. Es besteht jedoch ein Unterschied, ob die Dissimulation der Simulation vorangeht oder umgekehrt. Felix’ Intention
impliziert in erster Linie die Strategie der Dissimulation, indem er zu Eleanore sagt:
Ich habe Ihnen doch so herzlich vor Augen gehalten, wie unnatürlich es ist für die Tochter
eines durch Reichtum hochgestellten Elternpaars wie Mr. und Mrs. Twentyman, sich in den
ersten besten Kellnerburschen zu vernarren. Es ist die reine Verirrung, und sollte sie auch
ihrer Natur und Anlage entsprechen, so müssen Sie sie doch um des gesellschaftlichen Naturgesetzes willen überwinden. (GW, IX, S. 487)
Nur für Eleanore bleibt das Ironiesignal unsichtbar. Würde Felix jedoch in mimetischschauspielerischer Weise ihre Liebeserklärung imitieren, wäre die Ironie durchsichtig und
die Simulation rückte an die erste Stelle. Das Ziel bleibt in beiden Fällen stets das gleiche,
152
Ebd., S. 46.
Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 176.
154
Oesterreich: Fundamentalrhetorik, S. 138.
153
73
nämlich Eleanore von ihrem Fehlverhalten zu überzeugen, und dazu ist „der Schein der
lebensweltzugehörigen und inartifiziell gewonnenen Authentizität notwendig“.155 Der
Schein der Authentizität ist es, der die Ironiesignale verdeckt. Auf Grund der vielen Rollenwechsel von Felix wird man als Leserin in ein Chaos getrieben, das scheinbar keine
Entschlüsselung des Rätsels zuläßt. Wir wissen aber trotzdem, daß es sich um Simulation
handelt, weil Felix Krull nur simuliert. Er, der von sich selbst sagt, daß bei ihm die „unmaskierte Wirklichkeit“ und damit das „Ich-selber-Sein“156 nicht vorhanden ist, befindet
sich in einer permanenten Rollenexistenz, die ihm, ähnlich einem Schauspieler, die Übersteigerung der Realität ermöglicht. Der Unterschied zum Schauspieler besteht lediglich
darin, daß der Hochstapler sich in der ’Wirklichkeit‘ bewegt und somit das Rollendasein
ein Doppelungscharakter trägt, welcher dann die Simulation im eigentlichen Sinne bewirkt.
3.4 Literarische Simulation
Dadurch, daß die Simulation im Felix Krull selbst thematisiert wird, ist es schwierig, von
der Simulation als Literarizität stiftendes Element abzusehen. Sie muß aber vorhanden
sein, da wir es sonst ’lediglich‘ mit einer intellektuellen Kriminal- bzw. Hochstaplergeschichte zu tun hätten. Erst durch die komplizierte Einbindung der verschiedenen Täuschungsstrategien in Form von Ironie und Simulation entsteht ein komplexes Geflecht aus
Kriminalerzählung, Autobiographie, Memoiren, Bildungsroman sowie ironisch-humoristischem Roman.
Während in einem ’einfachen‘ literarischen fiktionalen Text die Dissimulation vorherrscht, wobei das Realitätsprinzip bestehen bleibt, d. h. die Differenz zwischen Realem
und Imaginärem klar erkennbar ist und lediglich von der Maske der Fiktion verdeckt wird,
befindet sich in einem ’Simulationsroman‘ die Differenz zwischen Realität und Imagination in einem steten Schwebezustand. In einem ’Fiktionsroman‘ dominiert der „Akt des
Fingierens“,157 der laut Iser für die Darstellung bzw. Abbildung der Realität als Zeichen
prägend ist und das Imaginäre in scheinbar reales Geschehen überführt. Simulation existiert hier nur als Modell der Realität, um eine vereinfachte Darstellung der Wirklichkeit zu
155
Ebd.
Vgl. oben, S. 51.
157
Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 18.
156
74
repräsentieren, die von Platon als Mimesis mit Täuschungscharakter verstanden wurde.
Aristoteles, der später die Mimesis liberalisierte und den Dichter höher bewertete als den
Geschichtsschreiber, da er die Möglichkeiten beschrieb, was geschehen könnte, also über
die bloße Abbildung hinausging, betrachtete die Texte der Dichter als Transformation der
Realität, als Fiktion, was mit Isers „Überführung der Realität zum Zeichen“158 übereinstimmt.
In den Bekenntnissen wird die wiederholte Realität, die im „Akt des Fingierens“ als Zeichen auftritt, nicht einfach abgebildet und mit Imaginationen kombiniert, sondern sie wird
zusätzlich problematisiert und deshalb im Zuge der Fiktionalisierung auch gleichzeitig
simuliert, um im Spiel die Täuschungen aufzudecken. Nach der Irrealisierung der lebensweltlichen Realität zum Zeichen sowie der Überführung des Imaginären in bestimmte
Vorstellungen findet eine dritte Grenzüberschreitung statt, bei der wechselweise plötzlich
die Vorstellungen als virtualisierte Realität erscheinen können oder die Realität durch ihre
Zeichenhaftigkeit als bloße Imagination enttarnt wird. Wie anders ließe sich sonst folgende
Szene im Zug nach Paris, in dem es zu einer sonderbaren Begegnung zwischen dem
Schaffner und Felix kommt, deuten:
„Nach Paris?“ fragte er, obgleich mein Reiseziel ja klar und deutlich war.
„Ja, Herr Inspektor“, antwortete ich und nickte ihm herzlich zu. „Dahin geht es mit mir.“
„Was wollen Sie denn da?“ getraute er sich weiter zu fragen.
„Ja, denken Sie“, erwiderte ich, „auf Grund von Empfehlungen soll ich mich dort im HotelGewerbe betätigen.“
„Schau, schau!“ sagte er. „Na, viel Glück!“
„Viel Glück auch Ihnen, Herr Oberkontrolleur“, gab ich zurück. „Und bitte, grüßen Sie Ihre
Frau und die Kinder!“
„Ja, danke – nanu!“ lachte er bestürzt, in sonderbarer Wortverbindung, und beeilte sich weiterzukommen, strauchelte und stolperte aber etwas dabei, obgleich am Boden gar kein Anstoß vorhanden war; so sehr hatte die Menschlichkeit ihn aus dem Tritt gebracht. – (GW,
VII, S. 387)
Beide, sowohl Bediensteter als auch Gast, sind aus dem „Tritt“ gekommen. Das konventionelle, der Realität zugeschriebene Verhalten des ’Haltungbewahrens‘ verschmilzt mit
einem diffusen und überfallartigen Ausbruch von Menschlichkeit auf beiden Seiten, der
eben nicht wirklich scheinen kann, da sofort wieder die Ordnung hergestellt und die Maske
aufgesetzt wird, um der Lächerlichkeit zu entgehen, die jedoch gerade durch das überstürzte Wiederherstellen des körperlich-seelischen Gleichgewichts provoziert wird. Im Zug, in
158
Ebd., S. 22.
75
dem, ähnlich wie in der Hotelhalle des St. Albany, eine referenzlose Atmosphäre herrscht,
mit dem Unterschied, daß die Passagiere des Zuges ein gemeinsames Ziel vor sich haben,
während die Hotelgäste schon an ihrem Ziel angekommen sind, ereignet sich die dritte
Grenzüberschreitung. Die Szenerie fungiert nicht als simulierte Mimesis, sondern realisiert
die imaginären Gedanken der Figur Felix Krull auf eine Weise, daß für die Leserin die
Simulation undurchschaubar bleibt, da beide Figuren maskenlos erscheinen, indem sie sich
ihrer Rollen entledigen und sich ’nackt‘ gegenübertreten. Sie gewinnen dadurch ungewohnt menschliche Züge, die aber wiederum auch nur auf einem Rollenwechsel beruhen.
Der Schaffner schlüpft aus seiner Rolle des Bediensteten ebenso wie Felix einen kurzen
Moment seinen hochstaplerischen Habitus verliert und den Kontrolleur nicht nur als
„dienstliche Marionette“ betrachtet, sondern sich für seinen menschlichen Hintergrund
interessiert. Felix Krull beobachtete vorher den Schaffner und sinnierte über seine Lebensumstände, als er einen Ehering an seinem Finger sah. Felix reflektiert über das Rollenverhalten in der Beziehung zwischen Fahrgast und Kontrolleur:
Aber ich mußte mich stellen, als ob mir der Gedanke an seine menschlichen Bewandtnisse
völlig fernliege, und jede Erkundigung danach, die verraten hätte, daß ich ihn nicht nur als
dienstliche Marionette betrachtete, wäre höchst unangebracht gewesen. [...] Die Richtigkeit
meines Fahrscheins war alles, was ihn anging von meiner ebenfalls marionettenhaften
Passagierperson, und was aus mir wurde, wenn dieser Schein abgelaufen und mir abgenommen war, darüber hatte er toten Auges hinwegzublicken.
Etwas seltsam Unnatürliches und eigentlich Künstliches liegt ja in diesem Gebaren, obgleich
man zugeben muß, daß es fortwährend und nach allen Seiten zu weit führen würde, davon
abzuweichen, ja daß schon leichte Durchbrechungen meist Verlegenheit zeitigten. (GW, VII,
S. 387)
Felix’ Gesichtsverlust stellt sich jedoch lediglich als scheinbar heraus, da er die Situation
vollständig im Griff hat. Er benutzt den Beamten nur als Testperson, um sein Gedankenspiel sofort experimentell in die Tat umzusetzen.
Diese Szene verdeutlicht die Undurchsichtigkeit des Spiels. Iser erteilt genauso wie
Dotzler der Mimesis eine Absage und rückt stattdessen die Performanz in den Vordergrund, d. h. er versteht den Text nicht mehr als Repräsentation, sondern als Inszenierung
von etwas Imaginärem. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß sich der Akt des Lesens zwischen zwei Grenzwerten einordnen läßt, zwischen Verstehen und „Lust am Text“, so
Caroline Pross.159 Dotzlers Hauptaugenmerk bei der Herangehensweise zum Felix Krull
159
Pross: Textspiele, S. 161.
76
liegt jedoch auf der simulierten Mimesis, d. h. der Kommentar eines Kommentars. Das
Imaginäre spielt bei ihm keine Rolle, weil es seiner Meinung nach gar nicht vorhanden ist.
Iser zufolge müsse der literarische Text selbst ein Medium darstellen, das aus sich selbst
heraus anthropologisches Wissen weitergibt und keine Mittlerrolle zwischen Realität und
Leserin einnimmt. Dotzler beschäftigt sich kaum inhaltlich mit dem Felix Krull, sondern
begreift die Simulation des Textes als Prinzip der Subjektkonstitution und als etablierendes
Prinzip moderner Kultur. Die Bekenntnisse sind für ihn ein Beispiel für die Absage an die
Mimesis und stattdessen die Hinwendung zur Simulation, die durch die Dissimulation verursacht wird. Die verschiedenen Täuschungsstrategien läßt er dabei außer acht und beurteilt nur das Ergebnis: den Simulakrum-Effekt.
Für Härle impliziert der Simulationsakt die Funktion, die moralische Konfrontation von
Wahrheit und Schein aufzubrechen und stattdessen einen Schwebezustand zu erzeugen,
den Iser als „Textspiel“ bezeichnet. Während Härle jedoch die Simulation bis zu ihrem
Ursprung zurückverfolgt und diesen in Felix’ „verborgenen Defekten“ findet, schließt Iser
diese Möglichkeit für sein Textspiel aus:
Das freie Spielen muß daher gegen ein Beenden spielen und das Instrumentelle gegen sein
Zerspieltwerden. Dieses Spiel der Differenz, obzwar vom Fingieren eröffnet, ist durch das
Fingieren nicht mehr zu beherrschen; es kann daher nur ausgespielt werden.160
4. Hotelszenen
4.1 Das Hotel – ein Leben im Schein
Die übliche Szenerie, in der Hochstaplerfiguren auftreten, und derer sich auch Thomas
Mann bedient, spielt sich im Hotel ab. Dieser Ort drängt sich der Hochstapler-Thematik
geradezu auf, da dort die Gesellschaft verkehrt, die den Hochstapler zum Leben erweckt
und ihm zum Erfolg verhilft. Das Hotel, welches Siegfried Kracauer als eine „Scheinwelt”
beschreibt, die sich aus einem „unwirklichen Gemenge der unterschiedslosen Atome”161
zusammensetzt, ist vor allem durch Anonymität gekennzeichnet. Das Verweilen der Menschen im Hotel ist nicht zweckbestimmt, sondern befriedigt nur die eigene Genußsucht. Es
160
161
Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 408.
Kracauer: Das Ornament der Masse, S. 164.
77
entsteht eine provisorische Gesellschaft, die sich per Zufall zusammenfindet und aus welcher, wie in einem Spiel, ständig Figuren ausscheiden und die entstandenen Lücken mit
neuen ’Spielern’ wieder aufgefüllt werden. Das Leben in der Hotelhalle wird durch keinerlei Spannung aufrecht erhalten, sondern erfährt hier die Realisierung des Schönen als ihre
Isolierung des Ästhetischen sowie ihrer Inhaltslosigkeit, wie sie Kant definiert hat.162 Kracauer begreift den Aufenthalt im Hotel als eine grundlose Ablösung vom Alltag, welche
dazu führt, daß die Figuren auf eine Leere treffen würden, wenn sie mehr als nur Bezugspunkte darstellten, d. h. wenn sie als Hotelgemeinschaft für sich einen übergeordneten Sinn
entwickeln müßten.
Der untätig Umhersitzenden bemächtigt sich ein interesseloses Wohlgefallen an der sich
selbst erzeugenden Welt, deren Zweckmäßigkeit man empfindet, ohne die Vorstellung eines
Zweckes mit ihr zu verbinden.163
Hieraus erklärt sich auch die Thomas Mann häufig von Kritikern bezüglich des Felix Krull
vorgeworfene Kälte des Romans. Diese resultiert aus der Hotel-Sozietät, die auf keinem
Gemeinsinn, sondern im Gegenteil auf Gesellschaftsgliedern beruht, deren Individualität
das Merkmal der Unantastbarkeit kennzeichnet. Nach Ansicht des Rezensenten der
Esslinger Zeitung, Josef Mühlberger, ist das Motiv der Kälte im Krull in dem Maße immanent, als in dem Roman kein Herz schlage und der Geist „ein kaltes, oft tödliches Licht”
ausstrahle. Er sagt weiterhin:
Aber nach Satire und Ironie müßte ein Rest bleiben, der nicht antastbar und zerstörbar ist. Er
ist nicht vorhanden. Und das macht das brilliant gemachte Buch in einem hintergründigen
Sinne trostlos.164
Mühlberger hat mit seiner Analyse vollkommen recht, wenn man die einzelnen Figuren
einschließlich Felix einer näheren Betrachtung unterzieht. Alle auftretenden Personen besitzen das Merkmal der Verschwommenheit, sie blicken der Leserin nicht klar ins Auge,
sie haben alle etwas zu verbergen und offenbaren sich nicht. Hier tritt wieder das Moment
der Simulation ins Blickfeld, die besonders der Hotel-Aristokratie anhaftet. Diane Houpflé,
Lord Kilmarnock, Miss Twentyman, Zouzou – sie alle führen ein Leben im Schein, das
162
„Schön ist das, was in der bloßen Beurteilung (also nicht vermittelst der Empfindung des Sinnes nach
einem Begriffe des Verstandes) gefällt. Hieraus folgt von selbst, daß es ohne alles Interesse gefallen müsse.“
In: Kant: Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. 10, S. 193.
163
Kracauer: Das Ornament der Masse, S. 161.
164
Mühlberger: Der Salto mortale ins Nichts. In: Esslinger Zeitung 84, Nr. 282, 3. 12. 1954.
78
ihnen eine Schutzhülle gegen die zu starke Nähe bietet. Das entspricht Plessners Anthropologie, die besagt, daß sich der Mensch durch eine Maske „verallgemeinert und objektiviert,
hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne jedoch völlig als Person
zu verschwinden.”165 Ihm bleibt also nur der Weg, in eine Rolle zu schlüpfen. So erklärt
sich auch der logische Satz von Nietzsche: „Jeder tiefe Geist braucht eine Maske [...].”166
Die Maske, die uns vor Bloßstellungen bewahrt, ist für das gesellschaftliche Leben unbedingt notwendig. Legt der Mensch diese Maske ab, würde er der Lächerlichkeit preisgegeben. In dem Augenblick, in welchem Diane Houpflé sich Felix vollkommen in die Arme
begibt und ihn als das „Meisterwerk der Schöpfung“ (GW, VII, S. 444) ansieht, wenn Lord
Kilmarnock Felix die Adoption anbietet oder wenn Eleanore Twentyman ihm ihre große
Liebe gesteht – in diesen Situationen entledigen sie sich ihrer Maske und ihrer Rolle und
geben sich dadurch der Lächerlichkeit preis. Durch diesen Vorgang entsteht die für diesen
Roman typische Komik, die das dekadente Bildungsbürgertum schonungslos entlarvt. Felix Krull, auf der anderen Seite, nimmt niemals seine Maske ab und bietet somit auch keine
Angriffsfläche, durch welche sein kriminelles Handeln aufgedeckt werden könnte.
Auch Vicki Baum blickt in ihrem in den ’Goldenen zwanziger Jahren‘ erschienenen
Roman Menschen im Hotel hinter die Kulissen der Hotel-Szenerie und zeichnet die Konturen der Persönlichkeitsstrukturen der in den ’Grand Hotels‘ verweilenden Menschen akribisch nach. In dem beschriebenen Hotel lebt der Baron Gaigern, ein außerordentlich eleganter, schöner und höflicher Mensch, der von den anderen Gästen sowie dem Personal
des Hotels geachtet und gemocht wird. Ähnlich wie bei Felix Krull erscheint den Leuten
nicht nur sein Äußeres perfekt, sondern er verfügt auch über gutes Benehmen sowie eine
hervorragende Bildung, über ein großes Schlafbedürfnis und begibt sich häufig in wechselnde Liebesabenteuer, da die Frauen ihm zu Füßen liegen. Er besitzt alle typischen Eigenschaften eines Hochstaplers:
Es roch nach Lavendel und guter Zigarette. Knapp hinter dem Geruch her kam ein Mensch
durch die Halle, der so beschaffen war, daß sich viele nach ihm umsahen. Die Klub- und
Korbstühle in seinem Fahrwasser belebten sich. Das wächserne Fräulein am Zeitungsstand
ächelte. Der Mensch lächelte auch, ohne erkennbaren Grund, nur einfach aus Vergnügen an
sich selber, so schien es.167
165
Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. In: Gesammelte Schriften,
Bd. V, S. 82.
166
Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 58.
167
Baum: Menschen im Hotel, S. 8.
79
Er macht sehr viele Bekanntschaften im Hotel, hilft mit Briefmarken aus, gibt Ratschläge für
Fernflüge, nimmt alte Damen in seinem Auto mit, macht den Vierten beim Bridge und kennt
sich in den Weinbeständen des Hotels aus. Am rechten Zeigefinger trägt er einen Siegelring
aus Lapislazuli mit dem Gaigernschen Wappen, einem Falken über Wellen. Abends, wenn er
sich ins Bett legt, redet er mit seinem Kissen, und zwar auf bayrisch. Grüß Gott, sagt er etwa,
guten Abend, du bist gut, du bist mein liebes Bett, brav bist du. Er schläft ganz schnell ein,
und niemals stört er Nachbarn durch unziemliches Schnarchen, Gurgeln und Stiefelwerfen.
Sein Chauffeur erzählt im Kuriersaal unten, daß der Baron ein ganz anständiger Mensch sei,
aber ziemlich einfältig. Aber auch ein Baron Gaigern wohnt hinter Doppeltüren, auch er hat
seine Geheimnisse und Hintergründigkeiten . . . 168
Gaigern erfüllt demzufolge alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere als Hochstapler. Aber stimmt das wirklich? Er besitzt ein kindlich ausgelassenes Gemüt, das ihn bei
jedem zum Sympathieträger werden läßt. Er macht jedoch einen folgenschweren Fehler,
der zur Vernachlässigung seines Hochstaplertums und schließlich durch eine Aufeinanderfolge von unglücklichen Zufällen zu seinem Tod führt. Sein ’Abstieg’, der gleichzeitig
einen moralischen Aufstieg bedeutet, wird durch eine wirkliche, tiefe Liebe zu der Tänzerin Grusinskaja eingeleitet. Gaigern hat, wovor Walter Serner in seinem Handbrevier für
Hochstapler ausdrücklich warnt, seine Maske verloren. Serner äußert sich über die Gefahr
einer Festlegung auf nur eine Rolle:
Bist du in einen falschen Schein geraten, so bekämpfe ihn dadurch, daß du in einen anderen
falschen Schein dich begibst [...]169
Es wird in der Welt regiert, indem Komödie gespielt wird. IN DIESEM ZEICHEN ALLEIN
WIRD GESIEGT. Drum kämpfe nie um etwas. Spiele dich – VOR.170
Dadurch, daß Gaigern zu sehr er selbst wird, ist es ihm unmöglich, sein Leben im Schein
fortzusetzen. Seine Liebe zu der um einige Jahre älteren Frau macht ihn schwach und
zahm. Er empfindet plötzlich Mitleid mit dem armen todkranken Buchhalter Kringelein,
dem er gerade noch Geld stehlen wollte und sich dann rührend um ihn kümmert, als dieser
einen durch die Krankheit bedingten Schwächeanfall bekommt, der mit starken Schmerzen
verbunden ist. Felix Krull, auf der anderen Seite, verliert nie seine Maske, wahrt immer die
Contenance, so daß er nie in Situationen gerät, die ihn als Simulant entlarven könnten. Im
Gegensatz zu Gaigern können wir bei Felix nie bis in sein ’tiefstes Inneres‘ vordringen.
Die Leserin kann nie mit Bestimmtheit sagen, ob es sich bei diesem gutaussehenden, gebildeten Hochstapler um einen kalten, herzlosen und unberechenbaren Schmarotzer handelt
168
Ebd., S. 78-79.
Serner: Letzte Lockerung, S. 108, Nr. 245.
170
Ebd., S. 76, Nr. 47.
169
80
oder ob man ihn dagegen als einen feinsinnigen und sensiblen Künstler betrachten kann,
der sich nur durch ein Leben im Schein in der Lage sieht, sich mit der Welt zu arrangieren
sowie, wie es bereits Härle formulierte, seine „narzißtische Wunde” zu verbergen.
4.2 Das Rollenspiel in der Hotelsozietät
An dieser Stelle möchte ich mich auf ein Spiel einlassen, indem ich Isers Theorie des InSzene-Setzens auf die Hotelsozietät übertrage. Wie oben bereits angedeutet, steht laut Iser
beim literarischen Text nicht der Abbildungscharakter im Vordergrund, sondern der Akt
des In-Szene-Setzens. Der literarische Text bildet das Ergebnis von „Akten des Fingierens“, wobei Iser zwischen Selektion und Kombination unterscheidet. Im ersten Schritt
wird das „lebensweltliche Zeichenmaterial“ aus seinen pragmatischen Geltungszusammenhängen herausgelöst, seine reguläre Bedeutung wird virtualisiert. Anschließend wird
das Zeichenmaterial in einem kombinatorischen Akt zu neuen Bezüglichkeiten und Verweisungen zusammengefügt.171 Die ursprünglichen Bedeutungen der lebensweltlichen Zeichen bleiben nur als ’folienhafte‘ Bezugsrealität gegenwärtig. Demzufolge kann man sagen, daß die Zeichen im Fiktiven verdoppelt wiederkehren. Da in literarischen Texten das
außertextuelle Material neu verwoben wird, besitzt der Text nicht nur einen repräsentativen
Charakter. Wenn der fiktionale Text als
Transformation seiner Referenzwelten verläuft, dann entsteht etwas, das aus diesen nicht ableitbar ist. Folglich kann keine der Referenzwelten Gegenstand der Darstellung sein, so daß
sich der Text nicht in der Repräsentation vorgegebener Gegenständlichkeit erschöpft.172
Der Text nimmt den Charakter eines Spiels an. Im Spiel sind ausgetauschte Mitteilungen
oder Signale nicht auf die Referenzwelt bezogen, und das mit den Signalen Bezeichnete ist
nur im Spiel existent; das vorgegebene Reale wird neu arrangiert und so ungedacht Fiktives hervorgebracht. Die Äußerungen in literarischen Texten beruhen nicht auf Abbildlichkeit, verzichten aber dennoch nicht auf Darstellbarkeit und Gegenständlichkeit, wodurch das „Spiel der Differenz“ entsteht.173 Der Schauspieler verleiht dem Sinn eines Textes in seiner Imagination Gestalt und entbindet ihn so in der Vorstellung aus seiner Virtu171
172
Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 18-51.
Ebd., S. 481.
81
alität. Er muß sich demnach selbst irrealisieren und seinen Körper als neutrales Instrument
betrachten, um real erscheinen zu können.174 In gleichem Maße wie die Akteure auf der
Bühne müssen auch die Leser eines literarischen Textes das Zeichenmaterial in ihrer Vorstellung ’zum Leben erwecken‘, indem sie gedanklich die reale Sphäre verlassen, um dann
wiederum den Bezug zur Realität herzustellen.
Hierbei lassen sich Parallelen zwischen dem Spiel innerhalb eines literarischen Textes
sowie des Hotellebens und den ständigen Rollenwechseln von Felix feststellen. Professor
Kuckuck attestiert Felix Krull, daß sein Leben aus dem Nichts entspringt. Wenn der Akt
des In-Szenes-Setzens auf der Bühne oder im literarischen Text auch nicht dem Nichts
entstammt, so ist es doch auf jeden Fall ein Akt der Übersetzung. Bei seinem Rollentausch
bildet Felix ebenfalls keine andere Identität ab, sondern er irrealisiert sich selbst und transferiert dann die jeweilige Rolle in sein eigenes Ich.
Auch in der Hotelhalle des St. Albany verläuft das Leben nicht zweckgerichtet, sondern
läßt neue Bedeutungsrelationen entstehen, die das Resultat des Ineinandergreifens von Realem und Imaginärem sind. Dadurch entsteht ein fiktives Spiel, das aufgrund der Einbindung in einen literarischen Text einen Doppelungscharakter erhält und eine dirigierende
Funktion besitzt, die den Kontrakt zwischen Autor und Lesern bzw. zwischen Hotelhalle
und Hotelgästen signalisiert. Die Gäste betreten das Foyer und wissen, daß sie sich innerhalb eines „inszenierten Diskurses“175 bewegen. Wie in einem literarischen Text, so funktionieren auch hier die lebensweltlich pragmatischen Grundsätze nur unter Einschränkungen. Die Referenz der Hotelhalle besteht in der Erwartungshaltung der Gäste, die der
Erwartungshaltung der Leser bei der Lektüre eines literarischen Textes entspricht. Vor der
Rezeption eines Buches befinden sich die Leser im Bereich des Ungewissen. Die Erwartungshaltung basiert auf der Vorstellung von verschiedenen Möglichkeiten, die im Text
auftreten könnten. Das alltägliche Leben der Hotelgäste vom St. Albany, Madame
Houpflé, Lord Kilmarnock und Miss Twentyman, läßt eine Referenz vermissen, und paradoxerweise versuchen sie gerade diese in der scheinbar referenzlosen Atmosphäre der Hotelhalle zu finden. Die Erwartung ist der einzige Zweck, dem die genannten Personen ihr
Dasein widmen. Ein literarischer Text verursacht bei der Leserin eine Erwartungshaltung,
die sich im Spiel wechselweise auflöst und wieder erneuert. Aber worin bestehen genau die
173
Ebd., S. 502.
Ebd., S. 44.
175
Ebd., S. 35.
174
82
Gemeinsamkeiten zwischen einem literarischen Text und einer Hotelhalle? Mit Iser finden
wir einen Verbindungspunkt in der Anthropologie.
Als Doppelgänger seiner selbst ist der Mensch allenfalls das Differential seiner Rollen, die
sich gegeneinander vertauschen und wechselseitig umprägen lassen. Rollen sind dann weder
Charaktermasken noch Tarnungen, um ein Selbst mit einer herrschenden Pragmatik zu vermitteln, sondern, die Möglichkeit, immer auch das andere der jeweiligen Rolle zu sein. Man
selbst zu sein hieß dann, sich doppeln zu können.176
Diese Negation von Rollen als Kontrollinstanz für menschliches Verhalten im Sinne der
Dissimulation entspricht Plessners Maskentheorie. Wer sich in der Öffentlichkeit mit
„nackter Ehrlichkeit“177 präsentiert, verdirbt das Spiel. Laut Plessner befindet sich der
Mensch nur in diesem Spiel der Rollenverdoppelung in der Lage, seine Freiheit auszuleben. Er versteht die Maskiertheit des öffentlichen Menschen als notwendige Äußerung des
in ihm verankerten Spieltriebes.178 Die Künstlichkeit der Individuen liegt demnach nicht in
dem auf sie ausgeübten Druck der Gesellschaft begründet, sondern ist notwendig, um eine
Distanzierung des Menschen zu sich selbst zu erreichen, die wiederum Voraussetzung für
die Einheit von Körper und Geist ist. Dieser Gedanke steht in krassem Gegensatz zu dem
Gemeinplatz in Soziologie und Philosophie: „Soziale Rollen sind ein Zwang, der auf den
Einzelnen ausgeübt wird – mag dieser als eine Fessel seiner privaten Wünsche oder als ein
Halt, der ihm Sicherheit gibt, erlebt werden.“179 Während Plessner also das Rollendasein
als dem Menschen inhärent begreift, bezeichnet Dahrendorf dieses generell als eine Notwendigkeit, die von außen für den Menschen festgesetzt wird.
Hinter Plessners Feststellung, daß der Mensch hinter seiner Maske zwar unsichtbar
wird, aber nicht völlig als Person verschwindet, verbirgt sich die Annahme, daß er in der
Rolle zwar wahr, jedoch nicht ’authentisch‘ ist. Die Person wirkt täuschend echt – die Simulation funktioniert. Aber warum steht Plessner auf dem Standpunkt, daß die Maske für
den Menschen eine Lebensnotwendigkeit darstellt? Um diese Frage zu beantworten, begeben wir uns wieder in die Hotelhalle des Saint James and Albany zurück.
Würden die Gäste die Hotelhalle unmaskiert betreten, bräche die Inszenierung und die
ganze Scheinkonstruktion zusammen. Das Spiel der Differenz träte an die Stelle des Spiels
der Indifferenz, d. h. die Grenzen zwischen Realität, Fiktion und Imagination würden
176
Ebd., S. 149.
Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, S. 83.
178
Vgl. ebd., S. 94.
177
83
sichtbar. Da das Hotel jedoch bereits eine eigene Welt repräsentiert, ähnlich wie der literarische Text, würden in der Hotelhalle plötzlich eigentlich real unmögliche Handlungen
passieren.
Nichts ist der Mensch „als“ Mensch von sich aus, wenn er, wie in den Gesellschaften modernen Gepräges, fähig und willens ist, diese Rolle und damit die Rolle des Mitmenschen zu
spielen: nicht blutgebunden, nicht traditionsgebunden, nicht einmal von Natur frei. Er ist nur,
wozu er sich macht und versteht. Als seine Möglichkeit gibt er sich erst sein Wesen kraft der
Verdoppelung in einer Rollenfigur, mit der er sich zu identifizieren versucht.180
Es scheint, als ob sich hier philosophische Anthropologie und naturwissenschaftliche Paläontologie treffen. Hören wir Professor Kuckuck:
Und er sprach mir von dem Riesenschauplatz dieses Festes, dem Weltall, diesem sterblichen
Kinde des ewigen Nichts, angefüllt mit materiellen Körpern ohne Zahl, Meteoren, Monden,
Kometen, Nebeln, Abermillionen von Sternen, die aufeinander bezogen, zueinander geordnet
waren durch die Wirksamkeit ihrer Gravitationsfelder zu Haufen, Wolken, Milchstraßen und
Übersystemen von Milchstraßen, deren jede aus Unmengen flammender Sonnen, drehend
umlaufender Planeten, Massen verdünnten Gases und kalten Trümmerfeldern von Eisen,
Stein und kosmischem Staube bestehe . . . (GW, IX, S. 543)
Das Nichts mutiert nur zum Sein, indem es „angefüllt“ wird. Befände sich in der Hotelhalle ein Nichts, wenn die Menschen im Hotel keine Haltung bewahren würden und sich nicht
in ’geordneten Bahnen‘ verhielten? Das Spiel des Hotellebens würde als Simulation enttarnt werden und einer plötzlichen Leere weichen. Die Simulation scheint also tatsächlich,
wie uns Härle anschaulich an der Musterungsszene vorgeführt hat, zwar bewußt und willentlich gesteuert zu werden, jedoch dieses bewußte Agieren beruht auf seelischkörperlichen Zusammenhängen, welche nicht dem menschlichen Einfluß unterliegen. Der
Geist ist schwächer als der Leib und demzufolge der Ausweg in die Simulation logisch.
Wenn man sich die Hotelhalle demnach als ein Spielbrett vorstellt, auf dem die Figuren
sich zwar in scheinbar ungeordneter Folge, aber doch gewissen Spielregeln verpflichtet,
bewegen, wird man an eine Komödie erinnert, in der die Schauspieler in angeblich verwirrender Manier auf der Bühne ein ständiges „Kippen“ provozieren, wodurch die Zuschauer
in regelmäßiges Lachen verfallen. Für Iser stellt das Lachen ein „Kipp-Phänomen“181 dar,
das aus einer Kettenreaktion von sich einander widersprechenden Handlungen resultiert.
Zusammengeschlossene Positionen negieren sich gegenseitig, brechen wechselseitig zu179
180
Dahrendorf: Homo sociologicus, S. 36.
Plessner: Soziale Rolle und menschliche Natur. In: Gesammelte Schriften, Bd. X, S. 240.
84
sammen, woraus eine Instabilität komischer Verhältnisse entsteht und schließlich als Entlarvungseffekt des Komischen ein ständiges Umkippen stattfindet. Die Übersichtlichkeit
und Zuordnung der Personen sind verschwunden. Die Referenz ist vernichtet, und die
Überforderung sowie Verblüffung der Leser löst sich im Lachen. Die Überforderung des
kognitiven bzw. emotiven Vermögens, das Lachen aufzufangen, kann durch verschiedene
Formen des Komischen (z. B. Satire, Ironie, Humor) gemildert werden.182 Natürlich fallen
die Hotelgäste nicht von einer ’Körperkatastrophe‘ in die nächste, aber die von Felix beschriebene „Zufallsaristokratie“ egalisiert Unterschiede zwischen den aneinander vorbeiwandelnden Menschen in den Hotelgängen. Gäste, Kellner, Liftboys, Rezeptionspersonal –
sie alle kreisen auf einer Bühne umeinander. Die Aristokraten könnten ebenfalls die Rolle
der Kellner übernehmen, wodurch das Hotelleben in keiner Weise beeinflußt würde – das
ist das Prinzip der Komödie, in der es um die Darstellung von Typen geht.
Im Hotel Saint James and Albany ist auch dieses wechselseitige Zusammenbrechen von
Positionen wahrzunehmen. Nicht die vornehme Familie Twentyman wird von dem niedriggestellten Kellner angehimmelt, sondern Mrs., Miss und Mr. Twentyman schwärmen für
Felix. Hierin zeigt sich eine Spielart der Komödie, nämlich die überraschende Umkehr der
Erwartungshaltung der Leser. Ursprünglich entwarf Thomas Mann eine Szenerie, in der
jedes einzelne Familienmitglied der Twentymans nacheinander ihre Liebe gegenüber dem
Kellner Armand (Felix) offenbaren und sich deswegen gegenseitig zur Rede stellen, da sie
nacheinander die ’Bühne‘ betreten und also jeweils den anderen in flagranti ertappen. Mr.
Twentyman steht als letzter vor Armand und bietet ihm für seine Verschwiegenheit ein
Goldstück:
„Keep it, keep it, you are fond of good tips, aren’t you? That’s a human weakness like any
other and it seems to harmonize quite well with my own weakness for good-looking
youngsters of which I make no secret, at least not to somebody I just gave two Napoléons to.
You follow? Of course, at home in Birmingham you have to repress your feelings, it’s a very
provincial, narrow-minded place, you know. But here we are in Paris, thank God, and you’ve
been around quite a bit, I take it. As a matter of fact, I should like us to have dinner together
in town some evening and have fun, a lot of it afterwards. How’s that?“ (GW, XIII, S. 24-25)
Armand lehnt Mr. Twentymans Angebot dankend ab, versichert ihn jedoch seiner Diskretion für alle drei Twentymans und empfiehlt ihm, sich doch lieber mit seiner Familie zu
181
182
Iser: Das Komische: ein Kipp-Phänomen. In: Preisendanz; Warning: Das Komische, S. 398-402.
Ebd., S. 399-401.
85
„vereinigen“, „[...] um in würdiger Ernüchterung mit den Damen zusammenzusitzen in
Ihrem Zimmer“. (GW, XIII, S. 25)
Die hier verwendete Repetition ist ein Stilmittel der Komödie. Des weiteren sorgt die
Demaskierung der reichen Familie Twentyman aus Birmingham, hervorgerufen durch die
Umkehrung der Positionen, für eine Kollision mit der Erwartungshaltung der Leserin. Was
Mr. Twentyman nur andeutete, daß er sich nämlich zu Hause in Birmingham stark zusammennehmen müsse und er in Paris doch seinen Gefühlen freien Lauf lassen könne, erinnert
an Plessners Theorie, daß der Mensch auf die Maske angewiesen und ohne sie ein Nichts
sei. ’Nichts‘ meint in diesem Fall die beliebige Austauschbarkeit der Figuren, die durch
ihre mangelnde Unterscheidbarkeit möglich wird. Nur unter den Bedingungen, die in einer
Hotelhalle herrschen, kann sich die Simulation gänzlich entfalten und stagniert nicht im
Stadium der Maskierung. Das Hotelleben außerhalb der Alltagswelt, in welcher das Leben
immer durch eine Referenzbezogenheit gekennzeichnet ist, vollzieht sich unter ähnlich
fiktiven Umständen wie das Leben auf der Bühne oder im literarischen Text. Nicht, daß in
der alltäglichen Welt die Simulation nicht stattfindet, weil die starre Maske davorsitzt; in
der sogenannten fiktiven Umgebung sind die Grenzen jedoch fließend, was ein ständiges
Umkippen von Situationen bewirkt.
5. Episodische Simulation
5.1 Literarische Inszenierung als Simulakrum
Wolfgang Isers anthropologisch begründeter Inszenierungsbegriff, der auf der angenommenen Fiktionsbedürftigkeit des Menschen basiert, findet im Felix Krull in geradezu
exemplarischer Weise seine Bestätigung. Iser geht davon aus, daß ein literarischer Text
menschliche Unverfügbarkeiten darstellt und damit als Kompensation für das natürliche
Fiktionsbedürfnis des Menschen dient. Die „exzentrische Position des Menschen“, d. h.
sein Außersichsein, verlangt, laut Iser, nach einer Darstellung von Nicht-Gegenständlichem, die nur durch „Spielvariationen“ realisiert werden könne.183
183
Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 504-505.
86
Daraus folgt: die Inszenierung der Literatur veranschaulicht die ungeheuere Plastizität des
Menschen, der gerade deshalb, weil er keine bestimmte Natur zu haben scheint, sich zu einer
unvordenklichen Gestaltenfülle seiner kulturellen Prägung zu verfielfältigen vermag.184
Der „inszenierte Diskurs“ impliziere das, was der „Wißbarkeit und Erfahrung“ verschlossen bleibt und kann damit als ein anthropologischer Modus gelten, der auf einer Stufe mit
Wissen und Erfahrung zu betrachten sei. Bei der Inszenierung von „Evidenzerfahrungen“,185 wozu Iser beispielsweise die Liebe zählt, gehe es nicht um die Figuration des
Gegenteils von Wirklichkeit, sondern um das Aufzeigen von Alternativen zum unmittelbar
zugänglichen Wissen. Inszenierungen modellieren also nicht nur das Unverfügbare, sondern beziehen sich auch auf Gewißheiten.
Das läßt uns allerdings die exzentrische Position des Menschen in einem etwas anderen Licht
erscheinen. Sich nicht gegenwärtig zu sein ist dann nur eine der Inszenierungsnotwendigkeiten, die in der Veranschaulichung von Gewißheit dem gegenteiligen Impuls entspringt, sich
gegenübertreten zu wollen.186
Sowohl die Alternativen zu Evidenzerfahrungen als auch die Darstellung von Unverfügbarem begreift Iser als Simulakra, die eine Existenz vortäuschen, ohne jedoch über die Tatsächlichkeit der Nicht-Existenz zu täuschen. Dem Charakter der willkürlichen Konstruiertheit entgehe das Simulakrum deshalb, weil die „Inszenierung der Infrastruktur von Darstellung – dem Spiel – entspringt“.187 Die dem Simulakrum vorausliegenden Szenarien bleiben
jedoch in der Inszenierung als negative Schablone eingeschrieben, wodurch in den literarischen Text ein Abdruck der Geschichte hineingetragen werde.
Die Notwendigkeit zur Inszenierung bleibt für Iser von einer diskursiv nicht auflösbaren
Duplizität beherrscht. Er fragt sich deshalb:
Gestattet die Inszenierung, wenigstens in der Vorstellung ein ek-statisches Leben zu führen,
indem der Mensch heraustritt aus dem, worin er ist, um sich das zu erschließen, was ihm
sonst verwehrt bleibt? Oder spiegelt sich in der Inszenierung der Mensch als die immer
schon aufgebrochene »holophrase«, um unentwegt durch die Möglichkeiten seines Andersseins zu sich selbst zu sprechen [...]?188
184
Ebd., S. 505.
Ebd., S. 508.
186
Ebd., S. 510.
187
Ebd., S. 511.
188
Ebd., S. 515.
185
87
Die theoretischen Explikationen zur Inszenierung als anthropologisches Muster spiegeln
genau die Thematik in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull wieder. Die Alternativen zu Evidenzerfahrungen im Leben oder die Vorstellung von Unverfügbarem wird
im Hochstaplerroman auf dem Wege der Verdoppelung dargestellt, da Felix Krull als personifiziertes Simulakrum diese Alternativen bzw. das der Leserin Verschlossene, die Imaginationen, auf fiktionaler Ebene realisiert. Mit dem Begriff des Simulakrums meint Iser
den literarischen Text, der ein scheinbares Abbild von Handlungen und Vorgängen aus der
Realität repräsentiert. Gleichzeitig macht Iser jedoch deutlich, daß das sogenannte Simulakrum niemals auf eine ’authentische‘ Spur verweisen kann, da es in keinem Fall ein Abbild darstellt, auch kein täuschendes. In logischer Konsequenz widersetzt sich jedoch der
literarische Text dann der Kategorisierung in den Bereich des Simulakrums, weil ein Prozeß der Simulation immer eine Täuschung impliziert. Wenn jedoch ein Text nichts vortäuscht, dann wird nichts simuliert, und demzufolge kann sich auch kein Simulakrum bilden. Das Phänomen des Simulakrums entsteht Iser zufolge nicht durch den Akt der Inszenierung, sondern entwickelt seine Wirkung erst im Spiel innerhalb des Textes. Iser verwendet demnach den Begriff des Simulakrums synonym mit der Inszenierung oder dem
Akt der Übersetzung.
Der individuelle Simulationsakt eines literarischen Textes, wie im Beispiel des Felix
Krull, versteckt sich in Isers Beschreibung des interaktiven Spiels zwischen Text und Lesern, die sich selbst, wie Schauspieler, irrealisieren müssen, um die Imaginationen in eine
eigene Wirklichkeit zu überführen. Auf einer parallelen Ebene innerhalb des Textes findet
durch das ständige Ineinanderspielen und die darauffolgende Ablösung von Realem und
Imaginärem ein weiteres spielerisches Szenario statt. Um die anthropologische Kraft der
Simulation im Felix Krull zu aktivieren, müssen wir also beide Ebenen betrachten. Zum
einen wird das Fiktionsbedürfnis der Leser durch die Erzählungen des Hochstaplers auf
doppelte Art und Weise befriedigt, da sich Felix auch immer wieder selbst irrealisiert, um
in eine neue Rolle zu schlüpfen. Über imaginäre Konstruktionen des brüchigen Ichs, d. h.
in der Rollenvielfalt, spielt Felix den Lesern vor, daß er nie ganz bei sich ist, sich also immer in einer „exzentrischen Position“ befindet und sich über neue Rollenangebote immer
neu definiert. Der Leserin wird, überträgt man Isers Theorie auf Felix’ fiktive Bekenntnisse, der Leseakt selbst vorgeführt. Sie muß das simulatorische Verhalten des Betrügers
mitspielen, um eine Distanz zu sich selbst aufzubauen und bei der Lektüre souverän zu
88
bleiben. Die Leserin wird dadurch zur Teilnehmerin eines Spiels, das sich durch episodische Täuschungen des Hochstaplers immer neu aktualisiert und der Mitspielerin also zum
wiederholten Male Imaginationsvermögen abverlangt, das er versucht, mit seiner individuellen Realität in Einklang zu bringen. Durch den Doppelungscharakter der simulatorischen
Ausprägung von Krulls Bekenntnissen, sowohl durch das Simulakrum in Gestalt der literarischen Inszenierung als auch den Simulanten Felix Krull, verliert sich die Leserin in einem Irrgarten von Lügen und Täuschungen. Sie durchschaut nur die Simulationen des Augenblicks oder der Episode, sieht sich jedoch außerstande, im Spiel ans Ziel zu kommen.
Die Begegnung zwischen Professor Kuckuck und Felix soll dieses Problem verdeutlichen.
5.2 Professor Kuckuck und Felix im Reich der Allsympathie und des Scheins
Wie aus dem Nichts, erscheint plötzlich Professor Kuckuck auf der Bildfläche des Romans. Dieses Nichts besitzt gleichzeitig eine symbolische Bedeutung nicht nur für den
Paläontologen Kuckuck, sondern auch für das Leben von Felix Krull. Der Wissenschaftler
Kuckuck erforscht das Leben auf der Erde, seinen Ursprung, seine Beschaffenheit sowie
das ganze Universum, wobei er zu der Erkenntnis kommt, daß das Leben dem Nichts entspringt: „Es hat nicht eine, sondern drei Urzeugungen gegeben: Das Entspringen des Seins
aus dem Nichts, die Erweckung des Lebens aus dem Sein und die Geburt des Menschen“
(GW, IX, S. 542). In Felix’ Haltung entlarvt sich sein ästhetischer Schein als das Nichts,
d. h. die Tatsache, daß seine ganze Existenz nur auf purem Schein beruht, führt zur ernüchternden Schlußfolgerung, daß sein Dasein dem Nichts entspricht.189
Ist Felix Krull ein Künstler? Thomas Mann parodiert in Krull am Anfang den Künstler
der Décadence nach dem Wagner-Typus. Er wächst in einer genußsüchtigen Bohème zwischen Bürgertum und Künstlertum, abgetrennt von den Instituten des wirklichen Lebens,
der Schule, dem Militär, dem Beruf sowie Freunden und Mitschülern auf. Daß Krulls
Werk, seine Selbstinszenierung, mit seinem Leben gleichzusetzen ist, kann man als das
Grundübel des dekadenten Künstlers ansehen. Krull ist ein Wirkungskünstler, der auf der
Basis der übernatürlichen Wirkung seines Äußeren durch Simulation von Sprachkenntnissen, Imitation von aristokratischem Habitus sowie Repetition von gehörten wissen189
Vgl. Arendt: Der Schelm als Widerspruch und Selbstkritik des Bürgertums, S. 108.
89
schaftlichen Erkenntnissen sein Leben gestaltet. Felix trennt sich jedoch vom strengen
Humanismus des Adrian Leverkühn, indem er nicht den Anspruch einer moralischen
Weltdeutung erhebt, sondern die Welt nur noch als ästhetischen Schein genießt. Im Doktor
Faustus wird „die tragische Heillosigkeit des bürgerlichen Künstlers zum Paradigma des
bürgerlichen Zeitalters”190 erklärt:
An einem Werk ist viel Schein, man könnte weitergehen und sagen, daß es scheinhaft ist in
sich selbst, als »Werk«. [...] Es ist ja Arbeit, Kunstarbeit zum Zweck des Scheins – und nun
fragt es sich, ob bei dem heutigen Stande unseres Bewußtseins, unserer Erkenntnis, unseres
Wahrheitssinnes dieses Spiel noch erlaubt, noch geistig möglich, noch ernst zu nehmen ist,
ob das Werk als solches, das selbstgenügsam und harmonisch in sich geschlossene Gebilde,
noch in irgendeiner legitimen Relation steht zu der völligen Unsicherheit, Problematik und
Harmonielosigkeit unserer gesellschaftlichen Zustände, ob nicht aller Schein, auch der
schönste, und gerade der schönste, heute zur Lüge geworden ist. [...] »Das Werk! Es ist
Trug. Es ist etwas, wovon der Bürger möchte, es gäbe das noch. Es ist gegen die Wahrheit
und gegen den Ernst. Echt und ernst ist allein das ganz Kurze, der höchst konsistente
musikalische Augenblick . . .« (GW, VI, S. 241)
Diese Gedanken vom Erzähler Zeitblom sowie von Adrian Leverkühn geben einen Vorausblick auf den Felix Krull. Zum einen gibt der Erzähler zu, daß selbst das Kunstwerk an
sich schon Schein ist, was auch Rückschlüsse auf den Zusammenhang von autobiographischem und gleichzeitig simulierendem Schreiben bei der Arbeit Thomas Manns am Felix
Krull zuläßt und am Ende noch einmal erörtert werden soll. Zum anderen stellt Zeitblom
hier das Werk als solches in Frage, ob es in seinem Scheincharakter und in seiner harmonischen Geschlossenheit unter den gesellschaftlichen Umständen überhaupt noch als moralisch vertretbar gelten kann. Das Werk, das sich durch die Simulation seiner Einheit, des
Unmittelbaren und Organischen als Ganzes präsentiert, ist im wahrsten Sinne des Wortes
als ein Kunstprodukt zu verstehen, womit sich wieder der Kreis zum Schein des Scheins
schließt. Das Werk hat sich schon so weit von der Wirklichkeit entfernt, daß es für
Leverkühn nur noch „Trug” darstellt. Nur noch der kurze Moment kann seiner Meinung
nach Wahrheit offenbaren. Dieser Ausspruch schließt den Bogen zu Professor Kuckuck,
der ebenfalls das Episodische als das einzige Sein im ganzen Nichts ansieht:
Ich hätte das Menschlichste ausgesprochen mit dem Wort, es nähme mich ein für das Leben,
daß es nur eine Episode sei. Fern davon nämlich, daß Vergänglichkeit entwerte, sei gerade
sie es, die allem Dasein Wert, Würde und Liebenswürdigkeit verleihe. Nur das Episodische,
nur was einen Anfang habe und ein Ende, sei interessant und errege Sympathie, beseelt wie
190
Hermsdorf: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren Erster Teil. In: Das erzählerische
Werk Thomas Manns, S. 428.
90
es sei von Vergänglichkeit. So sei aber alles - das ganze kosmische Sein sei beseelt von Vergänglichkeit, und ewig, unbeseelt darum und unwert der Sympathie, sei nur das Nichts, aus
dem es hervorgerufen worden zu seiner Lust und Last. (GW, IX, S. 547)
Damit wird das Leben Felix Krulls, welches nur aus Episoden besteht, gerechtfertigt. Somit läßt der letzte Roman Thomas Manns die Vermutung zu, daß er die Feststellung
Leverkühns ernst genommen und die Bekenntnisse, der Zeitgeschichte entsprechend, nur
noch aus sympathischen Augenblicken zusammengesetzt hat.
Die Komik des Kuckucksgesprächs liegt darin, daß es bei Felix ins Leere führt. Er greift
einige Phrasen daraus auf, um damit später bei Zouzou oder dem König Anklang zu finden, aber man gewinnt den Eindruck, daß er die Äußerungen des Professors nicht ernst
nimmt oder seine triviale Ehrlichkeit bzw. seinen Glauben an die Allsympathie belächelt.
Dadurch entwickelt sich die Rede Kuckucks zu einer Parodie auf andere ’Reden an die
Menschheit’, wie die von Naphta, Settembrini, Leverkühn. Inwiefern läßt sich der
Kuckuck-Vortrag mit dem Begriff der Simulation, des Scheins in Verbindung bringen?
Die Vermutung liegt nahe, daß die vom Wissenschaftler erzählte Menschheitsgeschichte
eine Metapher des Künstlerlebens darstellt, wenn Kuckuck beispielsweise sagt: „Das Organische selbst kenne die klare Grenze nicht zwischen seinen Arten” (GW, IX, S. 545).
Auch zwischen Bürger und Künstler läßt sich keine klare Trennungslinie ziehen.
Unser Menschenhirn, unser Leib und Gebein – Mosaiken seien sie derselben Elementarteilchen, aus denen Sterne und Sternstaub, die dunklen, getriebenen Dunstwolken des interstellaren Raumes beständen. Das Leben, hervorgerufen aus dem Sein, wie dieses einst aus
dem Nichts, – das Leben, diese Blüte des Seins, – es habe alle Grundstoffe mit der unbelebten Natur gemein, – nicht einen einzigen habe es aufzuweisen, der nur ihm gehöre. Man
könne nicht sagen, daß es sich unzweideutig gegen das bloße Sein, das unbelebte, absetze.
Die Grenze zwischen ihm und dem Unbelebten sei fließend. [...] Im Schein- und Halbleben
der flüssigen Kristalle spiele augenfällig das eine Naturreich ins andre hinüber. Immer, wenn
die Natur uns gaukelnd im Unorganischen das Organische vortäusche, wie in den Schwefel-,
den Eisblumen, wolle sie uns lehren, daß sie nur eines sei. (GW, IX, S. 545)
Die „Mosaiken” stehen für die vielen einzelnen Elemente, aus denen ein Kunstwerk aufgebaut ist. Es gibt keinen eindeutigen Unterschied zwischen Organischem und Unorganischem; d. h. wenn Felix Krull sich als Marquis de Venosta ausgibt, simuliert er zwar den
aristokratischen Habitus, zeigt damit jedoch gleichzeitig, daß auch diese Seite ein Teil von
ihm ist – Schein des Scheins.
Professor Kuckuck versucht als Repräsentant des Bildungsbürgertums und gleichzeitig
als väterlicher Ermahner, Felix sein Leben im Schein auf bildliche Art und Weise, mit der
91
Schöpfungsgeschichte des Universums, offenzulegen. Felix führt sich sein Leben aus dem
Nichts jedoch nicht bewußt vor Augen, sondern imitiert stattdessen den Wissenschaftler,
indem er Kuckucks Tochter Zouzou ebenfalls durch einen ausgiebigen Vortrag den „Kopf
zurechtsetzen” (GW, IX, S. 638) möchte. Mit dieser langen Rede kehrt Felix an den Ausgangspunkt seiner Ausführungen zurück, indem er nochmals ein Plädoyer für den schönen
Schein hält.
Weil dies tückische Verschen den Glauben zerstören will an Schönheit, Form, Bild und
Traum, an jedwede Erscheinung, die natürlich, wie es im Worte liegt, Schein und Traum ist,
aber wo bliebe das Leben und jegliche Freude, ohne die ja kein Leben ist, wenn der Schein
nichts mehr gälte und die Sinnenweide der Oberfläche? (GW, IX, S.633)
Felix erzählt von der Liebe als dem Sinnbild der Allsympathie und parodiert damit auch
die Sprache von Goethes Wilhelm Meister. Zouzou begegnet seinem Werben jedoch mit
einer nüchternen, frigiden Aufdeckung seiner Scheinhaftigkeit:
„Patatípatatà!“ machte sie. „Umsponnen und verwoben und der liebliche Blumenkuß! Alles
nur Süßholzgeraspel, um uns in euere Bubenlasterhaftigkeit hineinzuschwatzen! Pfui, der
Kuß, der gar zarte Austausch! Er macht den Anfang, den rechten Anfang, mais oui, denn
eigentlich ist er das Ganze schon, toute la lyre, und gleich das Schlimmste davon, denn warum? Weil es die Haut ist, was euere Liebe im Sinn hat, des Körpers bloße Haut, und die
Haut der Lippen ist allerdings zart, dahinter ist gleich das Blut, so zart ist sie, und daher das
poetische Sichfinden der Lippenpaare – die wollen auch sonst überallhin in ihrer Zartheit,
und worauf ihr aus seid, das ist, mit uns zu liegen nackt, Haut an Haut, und uns das absurde
Vergnügen zu lehren, wie ein armer Mensch des anderen dunstige Oberfläche abkostet mit
Lippen und Händen, ohne daß sie sich schämten der kläglichen Lächerlichkeit ihres Treibens
und dabei bedächten, was ihnen gleich das Spiel verdürbe und was ich einmal als Verschen
gelesen habe in einem geistlichen Buch:
›Der Mensch, wie schön er sei, wie schmuck und blank,
Ist innen doch Gekrös’ nur und Gestank‹“ (GW, IX, S. 632-633)
Dotzler entdeckt in der Entgegnung Zouzous auf Felix’ Redeschwall eine Entlarvung der
puren Phrasenhaftigkeit von Krulls Worten ohne rechten Inhalt. Die Rede komme ans Ende, weil eine Frau ihren Strom unterbricht.
Die parodistische Zersetzung des Bildungsromans besteht nicht – wie so oft und meist im
Blick auch auf eines Castorps Orientierungslosigkeit vermutet – in der Auflösung überkommener Legitimationszusammenhänge, sondern weit oberflächlicher im Frauen Lieben
wie Sprachen Sprechen.191
191
Dotzler: Der Hochstapler, S. 143.
92
Die Direktheit, mit der die Tochter des Paläontologen Felix nach seiner phantastischen
Rede auf den Boden der Realität zurückholt, könnte, um die Überlegungen Dotzlers weiterzuführen, ein Beweis für die Simulation sein, auf der Krulls ganzes Leben beruht. Konsequenterweise müßte man dann sowohl die Reden von Zouzou als auch von Kuckuck als
ironischen Widerpart zu Felix Krull verstehen. Die Ironie durchstößt die maskierende
Oberfläche des Hochstaplers, macht ihn transparent und wirkungsloser.
Die Tatsache, daß Zouzou schließlich doch noch Felix’ Verführungskünsten erliegt,
bestätigt jedoch nur seine Behauptung, daß die „Welt ohne Schein nichts mehr gälte”. Der
Mensch benötigt ihn, um in das Reich der Allsympathie einzutauchen. Zouzous Ansichten
über die zwischenmenschliche Liebe ähneln den Äußerungen ihres Vaters, wenn dieser
Felix darauf aufmerksam macht, daß er nicht vergessen solle, daß der „vollschlanke Frauenarm”, der ihn umschließt, „nichts anderes ist als der Krallenflügel des Urvogels und die
Brustflosse des Fisches” (GW, IX, S. 541). Felix, der sich dieses schönen Scheins des vollschlanken Frauenarmes und der Liebe zwischen zwei Menschen selbstverständlich im klaren ist, äußert indirekt Kritik am Pessimismus Schopenhauers, die den Erkenntnisekel impliziert. Krull setzt ein Zeichen für die ästhetische Weisheit und gegen die Erkenntnis, die
den Menschen in keiner Weise hilfreich sein kann.
Für Wysling stellt das Integrationsproblem der Kuckucksepisode keine Schwierigkeit
dar, da er in dieser einen Figur des Professor Kuckuck Schopenhauer, Nietzsche, Wagner,
Freud und Goethe vereinigt sieht, die Wyslings Meinung zufolge im ganzen Roman ständig präsent sind. Indem er allen vorkommenden Personen im Felix Krull jeweils einen
Platz in der olympischen Götterfamilie einräumt, in der Felix die Rolle des Hermes und
Kuckuck die des Göttervaters Zeus übernimmt, stellt sich die Frage nach der Bedeutung
des Gesprächs nicht mehr. Wenn Wysling jedoch gleichzeitig diese Begegnung als Selbstgespräch von Thomas Mann identifiziert,192 kristallisiert sich damit insofern ein Widerspruch heraus, als diese Deutung im Gegensatz zur mythologischen auf einer ganz anderen
Ebene stattfindet. Sie würde eher der Parodie eines Bildungsromans näher kommen. Genau
diese Tatsache liefert den Grund für das Vorhandensein der Kuckucksepisode. Auf die
Leserin wirkt die Szene auf den ersten Blick irritierend und konzeptionell brüchig; jedoch
wenn man den Roman als eine Art Parodie auf den Bildungsroman versteht, wie es
Thomas Mann selbst mehrmals ausdrücklich getan hat, dann ist das Gespräch unabdingbar
93
und erhält plötzlich einen vollkommen logischen Platz. Es bedeutet keine Unterbrechung
der durchheiterten Handlung, da es genauso wie Krulls äußere Verkleidung, sprachliche
Nachahmungen usw. als Element der Darstellung von Krulls Simulantentum und der ironischen Betrachtung des Bildungsbürgers zu verstehen ist. Es wird nur eine Ebenenverlagerung vorgenommen, von der kriminellen, betrügerischen zur geistig intellektuellen Ebene.
Hierbei ist der Inhalt der Rede des Paläontologen zweitrangig, in erster Linie ist die Einbindung der Episode innerhalb der ganzen Handlung entscheidend.
Der Versuch der vollständigen Entschlüsselung des Kuckuckgesprächs ist immer zum
Scheitern verurteilt, weil es bezüglich der Entstehung und Entwicklung des Erdenlebens
viele Allgemeinplätze enthält und damit seine Glaubwürdigkeit einbüßt. Genau dieses
hochtrabende Räsonieren Kuckucks über ’Gott und die Welt’, das geschwollen wirkt und
dem Bildungsbürgertum entsprechend unter dem Humanitätsgedanken und dem Einfluß
der Aufklärung eine positive moralische Weltanschauung vermittelt, travestiert der Roman.
Das Simulantentum Felix Krulls deckt die Scheinhaftigkeit des Bildungsbürgertums auf,
indem es für Felix ein Leichtes ist, durch einfaches ’Nachplappern’ gebildet zu erscheinen.
Diese Interpretation des Kuckucksgesprächs geht mit Dotzlers Theorie der referenzlosen
Simulation einher, wonach Kuckucks Vortrag dem klassischen Muster des Bildungsromans
folgt, d. h. über Natur und Seele philosophiert, jedoch bei Felix auf keine ehrliche Resonanz stößt. Krull fällt ein vernichtendes Urteil über die Erkenntnisse Kuckucks, indem er
sie lediglich für seinen eigenen Vorteil nutzt, um bei anderen Bekanntschaften damit zu
glänzen – dafür taugen sie allemal –, womit er sie aber gleichzeitig zum „Nullsummenspiel”193 degradiert.
Thomas Mann läßt den moralisierenden Serenus Zeitblom hinter sich, parodiert den
ganzen Bildungsballast im Kuckucksgespräch und sympathisiert stattdessen mit dem erfrischenden Simulanten Felix Krull, der in der Allsympathie schwebt. Bezeichnenderweise
geht Leverkühn an seiner revolutionären Kunst zugrunde, während Felix sich in der Welt
zurechtfindet. Felix Krull verkörpert den utopischen Künstler, der Thomas Mann immer zu
sein wünschte, in harmonischem Einklang mit dem Leben. Natürlich offenbaren sich auch
bei Felix hinter der Maske seelische Verletzungen, die er in seiner Kindheit durch Isolation
erfahren hat und nun mit seiner hochstaplerischen Lebensweise kompensiert. Aber Felix
192
Vgl. Wysling: Wer ist Professor Kuckuck?. In: Sprecher; Bernini: Hans Wysling. Ausgewählte Aufsätze:
1963-1995, S. 309.
193
Vgl. oben, S. 62.
94
schlägt nicht den Weg der anderen Künstlerfiguren von Mann ein, die an dem Versuch,
Kunst und Leben in die Balance zu bringen, zugrunde gehen, sondern er geht in die Offensive, die in seinem speziellen Fall das Hochstaplertum bedeutet.
6. Ein Blick in die moralische Welt des Hochstaplers Felix Krull
Die scheinheilige Moral und die „edlen Sitten“, Symbole des im Niedergang begriffenen
Bildungsbürgertums, repräsentieren für Felix Krull den verzweifelten Versuch der Aristokratie des Geldes, sich von den „Grob- und Niedriggeborenen“ (GW, IX, S. 611) abzuheben und bieten für ihn somit Anlaß, diesen Habitus zu widerlegen und zu parodieren. Folgendermaßen verteidigt Felix seine Darstellung der „großen Freude“, die er mit seiner
Amme Genofeva erlebt, wenn dabei der edle Stil und die „Schicklichkeit“ nicht verletzt
wird:
Vielmehr bin ich gewillt, in den folgenden Zeilen den eingangs dieser Aufzeichnungen zugesicherten Freimut sorgfältig mit jener Mäßigung und jenem Ernst zu verbinden, den Moral
und Schicklichkeit diktieren. [...] Es ist gerade, als ob es sich um den simpelsten, lächerlichsten Gegenstand von der Welt handelte, wenn man die Leute so witzeln und jökeln hört, während doch das strikte Gegenteil der Fall ist, und von diesen Dingen in einem frechen, liederlich tändelnden Tone reden, die wichtigste und geheimnisvollste Angelegenheit der Natur
und des Lebens dem Gewieher des Pöbels überantworten hieße. (GW, IX, S. 311)
Felix kann sich dabei im Einvernehmen mit Nietzsche fühlen: „[...] es ist ein Grundglaube
aller Aristokraten, dass das gemeine Volk lügnerisch ist. „Wir Wahrhaftigen“ – so nannten
sich im alten Griechenland die Adeligen“.194
Sein Tun sieht Felix als moralisch gerechtfertigt an, vor allem, weil er sich als Auserwählter fühlt und sich innerlich gegen die „unnatürliche Gleichstellung“ auflehnt. Felix
stellt den Schein über das Sein, was aber nicht heißen muß, daß Felix seine Mitmenschen
betrügt. Kant sagt in seiner Pragmatischen Anthropologie dazu:
Aber den Betrüger in uns selbst, die Neigung zu betrügen, ist wiederum Rückkehr zum Gehorsam unter das Gesetz der Tugend und nicht Betrug, sondern schuldlose Täuschung unserer selbst.195
194
195
Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 209.
Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 67.
95
Das würde bedeuten, daß Felix Krull sich lediglich dem Tugendzwang der Gesellschaft
verpflichtet fühlt und deshalb unbeabsichtigt einer Selbsttäuschung unterliegt. Da ihm alle
Personen, die er im Laufe seines Lebens trifft, sofort ergeben sind, würde das Kants These
bestätigen, daß die in der Gesellschaft erzwungenen Tugenden die Verinnerlichung eines
ehrlichen, authentischen und moralisches Verhaltens fördern können. Da in den Bekenntnissen kein Gegenspieler auftritt, der dem Anspruch auf Wahrheit gerecht werden kann,
wird die Verwirrung noch verstärkt. Die Felix umgebende Gesellschaft ist ebenfalls dem
Schein verfallen.
Authentizität ist unsichtbar, sichtbar ist immer nur der Schein. Felix bleibt auch in der
Maske souverän. Die Täuschungen, die er vollführt, sind untrennbar mit seinem
Hochstaplertum verbunden und können unter diesem eingeschränkten Blickwinkel nicht
zur Simulation gerechnet werden, da sie innerhalb der Rolle des Hochstaplers als ’authentisch‘ gelten können. ’Authentisch‘ sein heißt auch, in seinen Handlungen keinen äußerlichen Zwängen zu unterliegen. Das bedeutet aber wiederum auch, sich freiwillig dem
Zwang zu unterwerfen, den Kant als „praktische Necessitation“ beschreibt. Wird eine Person durch „motiva objective moventia, durch Bewegungsgründe der Vernunft mit seiner
größten Freiheit ohne allen Antrieb“196 gezwungen, können wir von moralischem Zwang
sprechen. So schreibt Kant in seiner Vorlesung über Ethik:
Die Freiheit wächst mit dem Grade der Moralität. [...] Je mehr einer sich selbst zwingen
kann, desto freier ist er. Je weniger er darf von anderen gezwungen werden, desto innerlich
freier ist er. Je mehr sich einer übt zu zwingen, desto mehr wird er frei.197
Deshalb sind Verstellungen oder geglückte Täuschungen für die Beurteilung von Authentizität irrelevant. Felix Krull verhält sich wie der Kluge Weltmann bei Balthasar Gracián,
dem spanischen Moralisten aus dem 17. Jahrhundert. Sein Handeln beruht auf Souveränität
und auf der Befähigung, über das ihm Verfügbare zu herrschen. Er paßt sich der Gesellschaft an, läßt sich jedoch nicht zu sehr von ihr vereinnahmen, indem er mit der Kunst der
Verstellung die Welt des Scheins zu seinen eigenen Gunsten manipuliert. Er zeigt uns nur
sein Äußeres, die Höflichkeit, die Rolle – den Schein. Felix erscheint den Lesern als Simulant, da ihm seine Liebesabenteuer mit Rosza und Madame Houpflé nicht schaden oder
ihm gar seine Maske entreißen, die vielleicht gar nicht vorhanden ist? Nach Gracián er196
197
Kant: Eine Vorlesung über Ethik, S. 41.
Ebd., S. 40-41.
96
reicht der Weltmann Souveränität, indem er seine Unbeherrschtheit diszipliniert und nie
aus der Fassung gerät:
Ein großer Punkt der Klugheit, nie sich zu entrüsten. Es zeigt einen ganzen Mann von großem Herzen an: denn alles Große ist schwer zu bewegen. Die Affekte sind die krankhaften
Säfte der Seele, und an jedem Übermaße derselben erkrankt die Klugheit: steigt gar das Übel
bis zum Munde hinaus, so läuft die Ehre Gefahr. Man sei daher so ganz Herr über sich und
so groß, daß weder im größten Glück noch im größten Unglück man die Blöße einer Entrüstung gebe, vielmehr, als über jene erhaben, Bewunderung gebiete.198
Felix Krull ähnelt aber auch dem „honnête homme“, der von La Rochefoucauld, einem der
wichtigsten Aphoristiker in der europäischen Moralistik, geprägt wurde. Im Gegensatz zu
Gracián lehrt der französische Moralist nicht die permanente Verstellung als Überlebensstrategie, sondern empfiehlt eine Balance zwischen Offenheit und Diskretion, d. h. eine
Verbindung von Aufrichtigkeit und Diplomatie. In der Offenheit zeigt sich nach
La Rochefoucauld die Schwäche, die jedoch den Weg zur Liebe bereitet. Die Diskretion
dagegen zeuge von Stärke und Disziplin und bewahrt vor Spott und Lächerlichkeit. Dotzler
beschreibt das Erzählprinzip der Bekenntnisse ebenfalls als ein Zusammenspiel von „Mitteilung und Geheimhaltung“. Diese Sichtweise läßt jedoch Felix’ Simulationen unberücksichtigt. Hieran wird offenbar, daß Felix wohl doch eher dem Handorakel von Grácian
folgt, denn La Rochefoucauld negiert die Täuschung und bestimmt den Betrug und Selbstbetrug als Grund des Sozialen, als Urkräfte der Eigenliebe. Die scheinbaren Tugenden
seien nur verkleidete Laster:
Die Laster mengen sich in das Zusammenspiel der Tugenden wie die Gifte in das System der
Heilmittel. Die Klugheit vereinigt und mildert sie und bedient sich ihrer mit Nutzen gegen
die Übel des Lebens.199
In den Maximen und Reflexionen von La Rochefoucauld zeigen sich erste moralische
Zweifel, die an der Kritk am perfekten künstlichen Verhalten in der Sphäre des Hofes sowie der stärkeren Hinwendung zur Aufrichtigkeit in Verbindung mit Disziplin und Taktik
sichtbar werden.
Eine Tagebuchnotiz von Thomas Mann aus dem Jahr 1951 zeigt seine Befürchtungen,
daß Felix zu sehr immoralische Züge annehmen könnte.
198
199
Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, S. 29.
La Rochefoucauld: Maximen und Reflexionen, S. 27.
97
Besorgnis, daß Krull dem »Immoralisten« zu nahe kommt. Die innere Haupttendenz geht ja
doch auf ein Leben in Einsamkeit und Verschwiegenheit, beglänztes Leiden. Nur keine ausgedachte Welt wie im »Schlaraffenland«. (Tb, 22. 7. 1951)200
Thomas Mann war sich also selbst dieser Problematik bewußt. Er wollte verhindern, daß
der Habitus des leidenden Künstlers von der glänzenden Erscheinung des Hochstaplers
überlagert wird. Während die Helden der anderen Erzählungen als Künstler meistens direkte Konflikte mit dem Leben austragen müssen, schlängelt sich Felix durchs Leben, indem
er mit seiner Freundlichkeit und positiven Ausstrahlung alle Menschen auf seine Seite ziehen kann. Die Konflikte jedoch, die andere Figuren wie Adrian Leverkühn, Thomas
Buddenbrook oder Tonio Kröger direkt aussprechen und mit anderen diskutieren, löst Felix
Krull mit seiner Lebensweise des ästhetischen Scheins und der Simulation. Das bedeutet,
daß die Problematik die gleiche bleibt und sich nur ihre Darstellungsweise ändert.
7. Autobiographie und Authentizität im Felix Krull
Die Betrachtung des Autobiographieproblems in den Bekenntnissen ist untrennbar mit den
Begriffen Simulation und Authentizität verbunden. Vordergründig kommt es nach den
Kriterien von Philippe Lejeune zu keinem Abschluß des „autobiographischen Paktes“, da
der Name des Autors nicht mit dem Namen der Hauptfigur des Textes übereinstimmt.
Lejeune differenziert zwischen dem „autobiographischen“ und dem „romanesken Pakt“.
Der „romaneske Pakt“ wird hergestellt, wenn die Figur einen anderen Namen als der Autor
besitzt und auch „implizit auf der Ebene der Verbindung Autor – Erzähler“ der „autobiographische Pakt“ nicht abgeschlossen werden kann. Sowohl der Titel des Hochstaplerromans als auch die parodierende Form, in der der Erzähler zu Beginn die Gründe für das
Schreiben seiner Bekenntnisse darlegt und ihre Wahrhaftigkeit betont, verwehren den
Abschluß des „autobiographischen Paktes“.201 Auch unser außertextuelles Wissen, die grotesken Erlebnisse und der spielerische Umgang mit der Form im Felix Krull legen der Leserin nahe, daß sie es mit einer fiktiven Autobiographie zu tun hat. Jedoch, sind das genug
Beweise für einen Roman in Form einer fiktiven Autobiographie? Die scheinbare Unwahrscheinlichkeit der Geschehnisse sowie die Form lassen uns nur eine Fiktion erahnen. Kön200
Thomas Mann: Tagebücher. Im laufenden Text zitiert mit der Sigle Tb.
98
nen uns also textuelle Elemente endgültigen Aufschluß über die Art der Authentizität der
Hochstapler-Memoiren geben?
Jean Starobinski begreift den autobiographischen Stil nicht als Form, sondern als Abweichung. Die Untersuchung der Form könne nicht als Kriterium für die ’Echtheit‘ der
Autobiographie herangezogen werden, da sie beim Rezipienten häufig einen fiktiven Eindruck hervorrufen könne. Starobinski konstatiert deshalb in der Autobiographie die Kollision eines aktuellen und eines vergangenen Ichs, wodurch die typisch autobiographische
Spannung erzeugt wird. Der „Stil als Abweichung“ zeigt sich demnach sowohl auf zeitlicher als auch auf persönlicher Ebene. 202
Bei Felix entwickelt sich jedoch im Verlauf des Romans keine Differenz zwischen dem
vergangenen und dem gegenwärtigen Ich. Die Leserin wird in ein abenteuerliches Verwirrspiel einbezogen, das bei ihr Zweifel über das autobiographische Schreiben aufkommen
lassen. Auf der ersten Seite von Felix’ Bekenntnissen scheint sich die Paradoxie der autobiographischen Gattung zu bewahrheiten. So spricht Felix am Anfang noch davon, daß er
seine Lebensgeschichte „in völliger Muße und Zurückgezogenheit“ sowohl „müde, sehr
müde“ niederschreibt. Das erzählende Ich kommentiert das erzählte Ich, wenn das erstere
„Irrtümer und Leidenschaften“ gesteht, aus denen sich sein Leben zusammensetzt. Jedoch
schon auf der nächsten Seite der Geständnisse des Hochstaplers existiert die Ich-Spaltung
nicht mehr und wir finden eine völlig veränderte Erzählsituation vor. Statt des Erzählerkommentars und der Reflexion eines Bekehrten und Enttäuschten tritt uns nun eine ungebrochene Schauspielerexistenz entgegen, die den Betrug und eine permanente Selbstanpreisung fortführt. Felix bezeichnet sein Leben als trügerisch und unterstellt seinen Bekenntnissen gleichzeitig einen moralischen Wert, da er sie „unter dem Gesichtspunkt der
Wahrhaftigkeit“ verfaßt habe.
Für Starobinski ist das Subjekt daher nur in der Abweichung verortbar, welche durch
die Schreibfeder künstlich hergestellt wird, d. h. nur der Schreibakt selbst kann als ’authentisch‘ gelten. Die Tatsache, daß Felix im Verlauf seiner Bekenntnisse die Leser wiederholt
an seine aktuelle Schreibsituation erinnert, können wir als ein Hinweis auf den Versuch
werten, die ’Authentizität‘ seines Berichtes zu bekräftigen. Stetig den Adressaten im Blick,
begründet der Erzähler das Übergehen bestimmter Ereignisse, mutmaßt über die Gedanken
seiner Leser oder schwört sie nochmals auf die moralische Integrität seiner Erlebnisse ein.
201
Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 232-233.
99
Zu Beginn des zweiten Buches eröffnet Felix seiner Leserschaft das Geständnis, daß er
seine Lebensbeichte auch im Hinblick auf den erhofften Beifall verfaßt und im Wetteifer
mit den Schriftstellern um die Gunst des Publikums in den „besten Häusern“ buhlt.
[...] so kann ich mich der freudigen Hoffnung nicht verschließen, daß meine Eröffnungen,
sollten sie auch von den Fabeln der Romanschreiber in Hinsicht auf gröbere Aufregung und
Befriedigung der gemeinen Neugier in den Schatten gestellt werden, ihnen dafür durch eine
gewisse feine Eindringlichkeit und edle Wahrhaftigkeit desto sicherer den Rang ablaufen
werden. (GW, IX, S. 323)
Felix suggeriert mit diesen Bemerkungen die Echtheit seines Berichtes. Da er jedoch am
Anfang von seinem „trügerischen Leben“ spricht, das er aber unter dem Aspekt der Wahrhaftigkeit Revue passieren lasse, schleicht sich bei der Leserin der Verdacht ein, daß auch
seine vermeintliche Autobiographie unter dem Zeichen des Betruges steht.
Es besteht eine Symmetrie zwischen Erzählen und Erleben, wobei jeglicher moralische
Anspruch, den Felix erhebt, verlorengeht. Als Immoralist befindet er sich jenseits von Gut
und Böse. Die Leser werden in eine Welt geführt, in welcher sie nicht mehr zwischen
Wahrheit und Betrug, Simulation und Authentizität, Moral und Scheinhaftigkeit unterscheiden kann.
In Meyers Kleines Konversationslexikon von 1908 können wir unter dem Stichwort Authentie folgendes lesen:
Authentie (Authentizität, griech.-lat.), Echtheit einer Nachricht, einer Schrift, einer Urkunde. Authentisch, echt, glaubwürdig; bei einer Urkunde: von dem herstammend, den der
äußere Anschein als den Urheber aufweist. Authentisieren, beglaubigen. Authentische
Interpretation, die vom Urheber einer Vorschrift, insbes. vom Gesetzgeber selbst, ausgehende Auslegung ihres Inhalts.203
Wichtig erscheint mir hierbei die Definition der Authentizität aus dem Blickwinkel des
Betrachters, der allein die Entscheidung über die Echtheit eines Objektes fällt. Bei der Urkunde heißt es, daß sie von dem stammt, den der „äußere Anschein als Urheber aufweist“.
Hierin zeigt sich bereits die Widersprüchlichkeit, wenn man von Authentizität spricht. Sie
stellt auf der einen Seite einen Gegenpol zum Schein dar, findet aber gleichzeitig ihre Bestätigung nur durch den äußeren Anschein. Der Akt des ’Authentisierens‘ impliziert in
dieser Definition zwar nur den juristischen Vorgang der Bestätigung des für echt befunde202
203
Starobinski: Der Stil der Autobiographie. In: Niggl: Die Autobiographie, S. 203-207.
Meyers Kleines Konversations-Lexikon in sechs Bänden. Bd. 1., S. 486.
100
nen Dokuments und wird damit Teil des machtbestimmten „Obrigkeitsjargons“.204 Trotzdem offenbart auch dieser rechtliche Hergang die Problematik des diffizilen Authentizitätsbegriffs. Es ist die Rede von Glaubwürdigkeit, Beglaubigung und Auslegung – alles
vage Begriffe, die selbst einer Interpretation bedürfen. Demnach entscheidet die Leserin
für sich selbst, inwieweit sie sich in das „Textspiel“ verstrickt und ob sie die Bekenntnisse
als Roman oder als Autobiographie lesen möchte.
8. Zusammenfassung
Die neueren Forschungsansätze von Jürgen Jacobs, Bernhard J. Dotzler und Gerhard Härle
zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull offenbaren eine Gemeinsamkeit: Sie
distanzieren sich von bisherigen Deutungsversuchen, indem sie in den Blickpunkt ihres
Interesses nicht ausschließlich die altbekannte Thomas-Mann-Problematik des Verhältnisses zwischen Kunst und Leben ins Licht des Dreiergestirns Nietzsche – Schopenhauer –
Wagner stellen, sondern auf die Besonderheiten dieses Schelmenromans eingehen.
Jacobs verwirft den Bildungsballast und wendet sich diametral gegen die Interpretationen,
die sich ausschließlich auf die mythologischen und psychologischen Elemente konzentrieren, wie z. B. Hans Wyslings Untersuchung Narzißmus und illusionäre Existenzform.
Stattdessen betont Jacobs die Komik des Textes und entlarvt die Interpreten als Opfer der
Simulationen des Hochstaplers. Felix’ Täuschungen versteht er als ein Mittel, sich die
Gunst der Gesellschaft zu sichern, die für die Erhaltung des Lebens notwendig ist.
Dotzler hat sich zur Aufgabe gemacht, die von Jean Baudrillard historisch entwickelten
Stufen der Simulakren auf die Entwicklung der Literatur zu übertragen. Es geht ihm nicht
darum, vergangene Texte der heutigen Erfahrung anzupassen. Als Ausgangspunkt dient
ihm die Dichtung von 1800. Von diesem Zeitpunkt an signalisiert die Literatur nach
Dotzler ihre Selbstreflexivität. Der moderne Stoff des Hochstaplerromans mit seinen wechselnden Identitäten steht, laut Dotzler, im Kontrast zur erzählten Lebensgeschichte „mit
kaum einem ernst zu nehmenden Zweifel an Fug und Recht“.205 Schon auf der ersten Seite
manifestiere sich das ambivalente Verhältnis zwischen der Technik der Literatur und dem
204
Vgl. Lethen: Versionen des Authentischen. In: Böhme; Scherpe: Literatur und Kulturwissenschaften, S.
210.
205
Dotzler: Der Hochstapler, S. 40.
101
dem Schein der Dichtung. Dotzler begreift die Simulation als Notwendigkeit, um ein
Gleichgewicht zwischen Literatur und Dichtung zu erreichen.
Dotzlers Simulationsverständnis auf der Grundlage von Baudrillards Entwicklungsstufen der Simulakren sowie Härles begrenzter Simulationsbegriff im engen Rahmen von
Vortäuschung und Verbergung führen zu keiner hinreichenden Betrachtung des Simulationsproblems und lassen wichtige Komponenten der Bekenntnisse außer acht. Wenn
Dotzler den Hochstaplerroman als eine Parodie des klassischen Bildungsromans beschreibt
und von Simulation statt Mimesis spricht, da Thomas Mann das zeitgenössisch aktuelle
Genre des Kriminalromans wählt, bleiben die konkreten Simulationsakte im Roman unberücksichtigt. Dotzler attestiert dem Felix Krull keinen Mehrwert von Sinn, fragt jedoch
auch nicht nach den Ursachen und Konsequenzen der Verstellungen des Hochstaplers. Seine Perspektive verharrt in der Betrachtung von Dichtung als Simulakrum.
Härle kehrt dagegen in seiner hermeneutischen Analyse unmittelbar zur Figur Felix
Krull zurück und begründet die sich komplementär zueinander verhaltenden Täuschungsstrategien mit dem Zweck der Verschleierung der homoerotischen Neigungen des Autors
Thomas Mann. Obwohl auch Härle von sich auflösenden Grenzen zwischen Wahrheit und
Lüge, Wirklichkeit und Fiktion, Maskierung und Simulation ausgeht, bleibt er in seiner
Untersuchung dem einheitlichen Subjekt verhaftet, das aufgrund eines „verborgenen Defektes“ zu Simulationen gezwungen wird, um dem Verlangen seiner Seele durch die Körpersprache Ausdruck zu verleihen. Diese These erlaubt eine Anschlußmöglichkeit an
Helmuth Plessners paradoxe Maxime der natürlichen Künstlichkeit des Menschen, die ihn
dazu bestimmt, künstliche Konstruktionen zu gebrauchen, um ihm ein Überleben in der
Zivilisation zu sichern.
Sowohl Dotzler als auch Härle fragen nicht nach den Funktionsmechanismen von Simulationen im literarischen Text. Wie verändert sich unsere Wahrnehmung des Textes als
Folge des Einsatzes verschiedener Täuschungsmanöver?
Mit dem Versuch Dotzlers, die von Baudrillard entwickelte Ordnung der Simulakren
auf die Literatur zu übertragen, exemplarisch vorgeführt am Felix Krull und dem Zauberberg, gelingt es ihm, die Bekenntnisse in die dritte Stufe der Simulakren einzuordnen, da
sie nur noch auf sich selbst verweisen, und damit auch die Literatur als Teil des kulturellen
Entwicklungsprozesses von der Abbildung zur Simulation zu beschreiben. Den Hochstapler als personifiziertes Simulakrum identifiziert Dotzler als einzig mögliche Form, um
102
Dichtung zu simulieren, sich jedoch gleichzeitig auch in das zeitgenössische Aufschreibesystem zu integrieren.
Wolfgang Isers „Spiel der Differenz“ ermöglicht es, Dotzlers und Härles Ansichten als
jeweils verschiedene Möglichkeiten des Simulationsspiels zu begreifen. Iser versteht den
literarischen Text als „anthropologischen Modus“, der selbst schon anthropologisches Wissen impliziert. Als Simulakrum reagiert der Text auf die Brüchigkeit der menschlichen
Identität und die damit verbundene Inszenierungsnotwendigkeit. Diese Lesart der Simulation gestattet es, die exzentrische Position im Felix Krull zu untersuchen und das Rollenspiel der Hotelsozietät im Hotel St. James and Albany zu analysieren. Die Hotelgäste haben ihre Rolle als Funktionsträger der Gesellschaft abgelegt und lassen sich nun von dem
Hochstapler Felix Krull verführen und betrügen. Der Simulant Felix Krull fungiert als einzige Instanz, der sich seiner exzentrischen Position bewuß ist und repräsentiert somit das
Medium, das die Differenz sichtbar macht und das Betrugsbedürfnis von Madame
Houpflé, Miss Eleanore Twentyman sowie der Familie Kuckuck entlarvt. Felix trägt die
unterschiedlichsten Masken und simuliert mehrere Identitäten, wobei nach Härle und
Plessner die einzelnen Rollen alle Teil eines souveränen Ichs sind, die Simulation damit
also selbst nur als Schein zu begreifen ist. Strenggenommen geht Felix’ Verhalten über die
exzentrische Position hinaus, da bei ihm der Bruch innerhalb des Doppelaspektes von Rollenträger und Rollenfigur, d. h. öffentlicher und privater Sphäre, aufgehoben ist. Der
Mensch hat zwar die Möglichkeit, so Plessner, sich dieser Duplizität gewahr zu werden
und sie auch wieder zu vergessen – die Rollenvielfalt kann jedoch nur mit dem Menschen
zusammengedacht werden.206 Iser bestimmt die exzentrische Position Menschen als initiierendes Moment für das Bedürfnis der Darstellung von etwas Imaginärem. Felix Krull lebt
diese Sehnsucht aus und transferiert sie in ’reales‘ Geschehen.
Bei jedem Täuschungsakt Krulls ist ein Hinweis darauf zu finden, daß sich der Getäuschte willentlich und wissentlich betrügen läßt. Der Hausarzt Doktor Düsing fordert
Felix mit einem „Blinzeln von seiner Seite“ auf, sich ihm als „schulkrank“ zu präsentieren.
Felix ist ihm jedoch nie „das kleinste Schrittchen entgegengekommen“ (GW, IX, S. 303).
Nach der Musterung verabschiedet der Unterbefehlshaber Felix mit den Worten: „Und wer
weiß, ob sie nicht Feldwebel hätten werden können, wenn sie kapituliert hätten“ (GW, IX,
S. 371). Madame Houplé befiehlt Armand, ihren Schmuck zu stehlen: „Ach, wieviel kost206
Vgl. Plessner: Soziale Rolle und menschliche Natur, S. 235.
103
barer ist mir der Dieb als das Gestohlene! [...] Fort, stiehl dich entschlüpfend weg von
meiner Seite, schleiche, finde und nimm. Es ist mein Liebeswunsch ...“ (GW, IX, S. 449).
Verstellungen oder geglückte Täuschungen sind für die Beurteilung des ’authentischen‘
Verhaltens von Felix irrelevant. Authentizität ist unsichtbar, transparent ist immer nur der
Schein. Sie kann nur aus der Perspektive des Adressaten betrachtet werden, für den nicht
die Ordnung des Seins, sondern der Wahrnehmung entscheidend ist. Felix manipuliert mit
Leichtigkeit die Welt zu seinen Gunsten, die sich bewußt von ihm in die Irre führen läßt
und es genießt. Die Hotelgäste interessiert es nicht, ob Felix simuliert – entscheidend ist
für sie der Schein, der auf sie wohltuend wirkt.
Härles Darstellung der Körperreaktionen im Verhältnis zur Simulation läßt sich im
Rückgriff auf die französischen Moralisten, auf Kant und Nietzsche als eine Aufwertung
des Scheins verstehen, die Plessners Eintreten für das Rollendasein und gegen den „Aufrichtigkeitskult“ entspricht. Der Simulationsakt impliziert für ihn die Funktion, die moralische Konfrontation von Wahrheit und Schein aufzubrechen und stattdessen einen Schwebezustand zu erzeugen, den Iser als „Textspiel“ bezeichnet. Während Härle jedoch die Simulation bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgt und ihn in Felix’ schlummernden Wunden
findet, schließt Iser die teleologische Deutung für sein „Spiel der Differenz“ aus. Deutlich
wird diese Tatsache im Gespräch zwischen Felix und Professor Kuckuck während der
Fahrt mit der Eisenbahn nach Lissabon. Während der Paläontologe ganz ernsthaft versucht,
dem angeblichen Marquis de Venosta zu erklären, daß sein Leben dem Nichts entspringt
und der schöne „vollschlanke Frauenarm“ nichts anderes sei als der „Krallenflügel eines
Urvogels“ und ihm damit die Scheinhaftigkeit seines Lebens vor Augen führt, entlarvt
wiederum Felix diese Rede als Schein, indem er Kuckucks intellektuelle Phrasen aufgreift,
um damit später erfolgreich den König zu beeindrucken. Nur das „Episodische“, so
Kuckuck, kann sich dem Schein widersetzen und dem Vorwurf des Betruges entgehen.
Damit rechtfertigt er indirekt Krulls Simulationen als wahrhaftige Episoden. Der Text fungiert hier als anthropologisches Medium, das nicht einfach anthropologisches Wissen in
literarische Imaginationen übersetzt, sondern anthropologisches Wissen durch das Zusammenspiel des „Fiktiven und Imaginären“ produziert.
Die Betrachtung des Autobiographieproblems in den Bekenntnissen ist untrennbar mit
den Begriffen Simulation und Authentizität verbunden. Der Witz der Hochstapeleien Felix
Krulls liegt in der vollständigen Identität des Betrügers mit dem Betrug seiner Erzählung,
104
weshalb es laut Dotzler für die Leserin unmöglich wird zu entscheiden, ob sie es mit einer
simulierten Autobiographie oder mit einer autobiographischen Simulation zu tun hat. Für
Jean Starobinski ist das Subjekt nur in der Abweichung verortbar, die durch die Schreibfeder künstlich produziert wird. Bei der Analyse der Tagebücher wird dieses Problem der
’Authentizität‘ des Schreibaktes eine wesentliche Rolle spielen. Nachdem das Subjekt im
Spiel der Simulation untergegangen ist, stellt sich die Frage nach seiner Funktion im Tagebuch.
105
III. Die Tagebücher von Thomas Mann
Um vollständig zu leben, hätte er, so meine ich dann, neben dem
politischen Weltwerk etwa ein geheimes und ganz wahrhaftiges
Tagebuch führen müssen – ich weiß nicht, ob ich mich verständlich mache.
Thomas Mann: Wie stehen wir heute zu Richard Wagner? (1927)
1. Theoretische Grundlagen zum Tagebuch
Das Zitat Thomas Manns aus dem kleinen Aufsatz Wie stehen wir heute zu Richard
Wagner? (GW, X, S. 893-896) läßt erste Rückschlüsse auf sein Verhältnis zur Aufrichtigkeit im Tagebuch zu. Die Tatsache, daß er von Richard Wagner zur Komplettierung seines
Lebenswerks ein geheimes Tagebuch erwartet hätte, könnte ein Signal dafür sein, daß er
auch für sein eigenes Tagebuch den Anspruch der Wahrhaftigkeit erhoben hat, wenn nicht
die vage Zusatzbemerkung über die Ernsthaftigkeit dieses Anspruches wieder Zweifel aufkommen ließe. Der weitere Hinweis, den das Zitat gibt, bezieht sich auf den Stellenwert,
den Thomas Mann dem Tagebuch beimißt. Ohne die tägliche Niederschrift der privaten,
intimen Bekenntnisse kann das Künstlerleben nicht als vollständig gelten. Die bewußte
Entscheidung, ein Tagebuch aufgrund seiner Funktion als Lebensergänzung zu führen,
verdeutlicht Manns Vorstellung vom Leben als Kunstwerk. Ob Thomas Manns Tagebücher die im erwähnten Zitat angelegte Auffassung eines diaristischen Konstruktes bestätigen, versucht die folgende Untersuchung zu erörtern.
Bei der Betrachtung von Thomas Manns Tagebüchern werden wir mit Texten konfrontiert, die einen extremen Unterschied zum Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix
Krull aufweisen. Während das Subjekt in den Hochstapler-Memoiren im Widerspiel der
Simulationen untergegangen ist, scheint es im Tagebuch Dreh- und Angelpunkt zu sein.
Was zwingt das autobiographische Schreiben zurück zum Subjekt? Gibt es überhaupt einen Grund für die Rückkehr zum Subjekt?
Am Beginn einer theoretischen Erörterung zum Tagebuch stellt sich die Frage, ob es ein
besonderes Genre der Literatur ist oder unter die Kategorie des Nichtliterarischen fällt.
Martin Lindner geht in seiner Untersuchung zur deutschsprachigen Tagebuch-Literatur von
106
1950 bis 1980 davon aus, daß der Tagebuchschreiber seine Welt sprachlich neu erschafft
und damit eine Synthese zwischen „objektiver Normalsprache“ und „subjektiver Literatursprache“ entsteht. Diesem Aspekt, der lange in den Hintergrund gedrängt wurde, möchte
Lindner wieder größere Geltung verschaffen.
Das wesentliche Merkmal eines Tagebuchs zeigt sich laut Lindner im rhetorischen Anspruch auf Authentizität, der nicht mit dem tatsächlichen Wahrheitsgehalt zu verwechseln
ist. Die umständliche Bekräftigung der Authentizität durch den das Tagebuch umgebenden
Paratext, wozu die Datierung, die Ortsangabe, Anmerkungen des Herausgebers usw. gehören, bestätige die Annahme, daß sich die ’Authentizität‘ im Tagebuch nicht von selbst versteht. Im Stil von diaristischen207 Schriften liegt für Lindner der Ansatzpunkt der Erschließung ihrer Literarizität. Im Gegensatz zur Literatur in ihrer konventionellen Bedeutung
rücke der Stil in Tagebüchern jedoch an die sekundäre Stelle. Die wichtigste Aussage des
literarischen Textes liegt dagegen für Lindner im „künstlich erzeugten sprachlichen Geflecht von Verweisungen“,208 das gegenüber der wirklichen Welt der Normalsprache eine
relative Eigenständigkeit gewonnen hat. Aus konsequenter textanalytischer Sicht gebe es
jedoch keinen Unterschied zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten, abgesehen vom Authentizitätspostulat, das durch den „diaristischen Pakt“, eine Formel, die sich
anlehnt an den „autobiographischen Pakt“ von Lejeune,209 statuiert wird. Die Leserin, die
durch die jeweils herrschenden soziokulturellen Normen geprägt ist, entscheide selbst über
Literarizität oder Nicht-Literarizität. Bestätigt wird die rezeptionsästhetische Sichtweise
durch die Historizität der Tagebücher. Diarien aus dem 18. Jahrhundert, aus der Zeit der
Empfindsamkeit, wirken wie Fiktion und bedürfen der gleichen Interpretation wie fiktionale Texte, d. h. mit dem Voranschreiten der Zeit schwindet der ’authentische Effekt‘
der Tagebücher.
Lindner spricht von einer festen Bedeutung, die durch den mitgedachten zeitgenössischen ’impliziten Leser‘ mit seinem Wissens- und Erfahrungshorizont über Literatur und
Tagebuch statuiert wird und als Hintergrund des Textes fungiert. Lindner meint hier nicht
207
Die Bezeichnung diaristisch ist synonym zu dem in älteren Forschungsarbeiten (Börner, Jurgensen) verwendeten diarisch zu verstehen. Das Wort diarisch wird in keinem der mir bekannten Wörterbücher nachgewiesen. diaristisch: Nachweis in: Schulz; Basler: Deutsches Fremdwörterbuch, Bd. 4, S. 516-518.
208
Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 3.
209
Vgl. oben, S. 97.
107
die von Iser geprägte Textfunktion des „impliziten Lesers“,210 der als ein idealtypischer
Rezeptionsakt jedem Text inhärent ist. Aufgrund der dem Text anhaftenden Bedeutung
müsse sich die Leserin bemühen, den Tagebuchtext zuerst als Sprachspiel und semantisches Geflecht zu begreifen und den soziokulturellen Hintergrund auszuklammern. Lindner
versteht den Tagebucheintrag weniger als Ausdruck eines Subjekts, sondern vielmehr als
einen Abdruck oder eine Spur. Seine Unsicherheit hinsichtlich der Literarizität der Tagebücher und der Bewertung der Authentizität als ontologische Setzung oder als konstruierte
Figur, die während der Rezeption entsteht, zeigt sich in der folgenden Äußerung:
Gerade die ’authentische‘ Tagebuch-Literatur zeigt jedoch, daß es ’die Wirklichkeit‘ nicht
gibt. Sie ist ein Konstrukt, das jeder mündliche oder schriftliche Text (und übrigens auch
jede nichtsprachliche Zeichenfolge) teilweise bekräftigt und teilweise transformiert. Wie das
im einzelnen funktioniert, läßt sich am Beispiel der Tagebuch-Literatur besonders gut studieren, d. h. einer literarischen Form, die gerade auf der Betonung ihrer ’Wirklichkeitsnähe‘ und
der Ableugnung ihrer Literarität beruht. Darum sind die Tagebücher, die im profansten Klartext gehalten sind, am schwierigsten zu analysieren. Gerade hier verfallen bislang auch die
wissenschaftlichen Tagebuchleser, trotz allen theoretischen Erkenntnissen über das ’literarische Ich‘, unwillkürlich dem Sog des Faktischen bzw. dem monotonen Singsang der Authentizitätsrhetorik.211
Um der Gefahr der unreflektierten ’authentischen‘ Rezeption der Tagebücher zu entgehen,
schlägt Lindner vor, jeden Tagebuchtext zunächst einmal als autonomen Text mit eigenen,
spezifischen Merkmalen zu lesen, um aufgrund dieser Analyse verifizierbare Eigenschaften für alle Tagebücher zu entwickeln.212 Er benennt drei Punkte, die eine Tagebuchdefinition beinhalten müsse:
1. Text als Grundlage – Erfassung konkreter Textmerkmale und textinterner Funktionen
2. Berücksichtigung aller Texte, die auf normalsprachlicher Ebene als diaristisch bezeichnet werden können, unabhängig von eventuell nicht vorhandenen philosophischästhetischen Aussagen
3. Berücksichtigung aller empirischer Varianten der Tagebuch-Literatur (Logbuch, subjektives Journal, Werktagebuch, Reisetagebuch u. a.)213
210
Vgl. Iser: Der Akt des Lesens; vor allem die Ausführungen zum Kapitel „Leserkonzepte und das Konzept
des impliziten Lesers“, S. 50-67.
211
Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 36.
212
Lindner spricht konkret von der Betrachtung der Tagebücher als „empirische Textsorte“ im Gegensatz zu
anderen „normativ-ästhetischen Gattungen“. Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 8.
108
Außerdem differenziert Lindner zwischen „literarischem Tagebuch“ im engeren Sinne und
der weiter gefaßten Definition der „Tagebuch-Literatur“ als Textsorte und Abgrenzung
verschiedener diaristischer Schreibweisen. Das „literarische Tagebuch“ problematisiere die
Tagebuchform an sich und sei durch eine bewußte oder unbewußte Verwendung von innovativen Schreibweisen gekennzeichnet. Als Beispiele nennt Lindner hier die Tagebücher
von Franz Kafka und Klaus Mann, wobei die Gründe für die Einordnung von Klaus Manns
Tagebüchern in die literarische Abteilung nicht klar ersichtlich werden. Lindner spricht
hier lediglich rein intuitiv von Selbstergründungsprozessen,214 die Klaus Mann immer wieder auf unterschiedlichste Art und Weise literarisch fixiere. Diese nicht ganz unberechtigte
Lesart in Beziehung auf Klaus Manns Diarien werde ich zu einem späteren Zeitpunkt noch
einmal aufgreifen. Zur „Tagebuch-Literatur“ im weiteren Sinne zählt Lindner dagegen die
Aufzeichnungen von Robert Musil und Thomas Mann.
Das diaristische Ich begreift Lindner als eine literarische Konstruktion, bei der die
Wirklichkeit in Sprache transformiert und durch sie erst hervorgebracht wird. Der „diaristische Pakt“ wird durch den Paratext, in erster Linie durch die Orts- und Datumsangaben der
einzelnen Einträge, geschlossen. Das Tagebuch bestehe nicht aus Wirklichkeitspartikeln,
sondern in erster Linie aus Buchstaben mit eigenen Regeln und Gesetzen, und deshalb
müsse die wissenschaftliche Leserin den Fehler vermeiden, durch die „Projektion ihrer
eigenen Subjektivität“ nur zu intuitiven Ergebnissen zu kommen.215 Ein eventueller „Verfälschungsprozeß“ bzw. eine literarische Konstruktion sei durch einen psychologischen
Authentizitätsbegriff korrigierbar.216 Wenn die dargestellte Welt schon nicht ’authentisch‘
sei, dann seien es zumindest die „Eitelkeiten und Verdrängungen, die sich darin manifestieren“.217 Das schreibende Subjekt kann man Lindner zufolge also nur zwischen den Zeilen finden, d. h. im Nichtgeschriebenen. Hier gerät Lindners strukturalistische Denkweise,
indem für ihn das Tagebuch in erster Linie aus Buchstaben und Wörtern besteht, die miteinander in Beziehung treten, ins Schwanken. An anderer Stelle gesteht er dann dem Tagebuch auch einen „Akt hermeneutischer Interpretation“ zu, der „zusätzliche, nichtliteraturwissenschaftliche Annahmen erfordert“ und zu einem „hypothetischen Gesamt-
213
Ebd., S. 8-9.
Ebd., S. 32.
215
Ebd., S. 5.
216
Ebd., S. 34-35.
217
Ebd., S. 35.
214
109
bild“ verhelfen kann, „in das Subjekt, Welt und Sprache integriert sind.“218 Demnach spiegelt sich das Subjekt in seinen diaristischen Aufzeichnungen nicht wider, sondern diese
repräsentieren lediglich einen kleinen folienhaften Ausschnitt des Subjekts, deren Analyse
der intersubjektiven Sprach- und Denkstrukturen erst die Begegnung mit der fremden Subjektivität ermöglicht. Die Mitthematisierung des Schreibaktes stellt für Lindner ein eigenes
Untersuchungsfeld dar. Er arbeitet mehrere Kriterien für die Definition des Tagebuchs heraus, denen alle der ’Effekt der Authentizität‘ als „normalsprachliches Gattungsmerkmal“
inhärent ist:
1. klar voneinander abgesetzte Textteile
2. ohne direkten Adressat
3. explizite oder implizite Datierung und chronologische Ordnung
4. Verweis auf außertextuelle Wirklichkeit
5. Identifizierung des schreibenden Subjekts mit dem Autor durch den „diaristischen
Pakt“219
Weiterhin unterteilt er den diaristischen Raum in die Sphäre des Subjekts und die Sphäre
der dargestellten Welt. Der Tagebuchtext unterscheide sich in der dargestellten Welt nicht
von einer Ich-Erzählung, bis auf den Authentizitätsanspruch des diaristischen Paktes. Er
differenziert zwischen drei Varianten, eine Tagebuchaussage zu analysieren:
1. die objektive Wirklichkeit der dargestellten Welt
2. die subjektive Wirklichkeit des solipstischen Subjekts
3. der Text als semantischer Raum220
Im Tagebuch zählt Lindner zur Objektivität Äußerungen über die soziale Außenwelt und
die Identität des Subjekts, die Dingwelt und Natur, die Kultur sowie die objektivierte Innenwelt des Subjekts.
Lindner nimmt innerhalb der Tagebücher eine Dreiteilung vor, die an historische
Paradigmen angelehnt ist, je nach der Art und Weise, wie sie die Darstellung der ’Welt‘
und des ’Subjekts‘ erzeugen. Er unterscheidet zwischen „Logbuch“, „subjektivem Journal“
218
Ebd., S. 36.
Ebd., S. 11.
220
Ebd., S. 35.
219
110
des ’Subjekts‘ erzeugen. Er unterscheidet zwischen „Logbuch“, „subjektivem Journal“
sowie „diaristischen Aufzeichnungen“. Während das Logbuch auf das Tagebuch eines
Schiffskapitäns zurückzuführen sei, finde das subjektive Journal seinen Ausgangspunkt im
18. Jahrhundert, als das Subjekt in das Zentrum des kulturellen und gesellschaftlichen Interesses rückte. Im Gegensatz zum Logbuch steht beim subjektiven Journal die Wahrhaftigkeit des Subjekts im Blickpunkt:
Dabei folgt das subjektive Journal allein durch die Verwendung der Schriftsprache verdeckten kulturellen Mustern der Selbstergründung, die den ’wahrhaftigen‘ subjektiven Monolog strukturieren und objektivieren.221
Lindner beschreibt das subjektive Journal als eine „Textspirale“, da jeder Eintrag auf den
vorangegangenen zurückgreift und sich das schreibende Subjekt durch bewußte Verwendung einer literarischen Sprache einer ständigen Selbstkontrolle unterwirft. Den Beginn
der diaristischen Aufzeichnungen setzt Lindner etwa in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Von diesem Zeitpunkt an häufen sich fragmentarische Aufzeichnungen, die den Prozeß des Schreibens thematisieren, der sich als eine Art „objektiver Subjektivität“222 realisiert. Die diaristischen Aufzeichnungen werden von Lindner als ein „quasi-poetisches Bedeutungsgewebe, das sich auf eine abstrakte Textinstanz, gleichsam einen semantischen
Knotenpunkt beziehen läßt“,223 bezeichnet. Selten lasse sich jedoch ein Tagebuch vollständig einer einzigen Schreibweise zuordnen; in den meisten Fällen werde sie durch andere
unterbrochen. Den verschiedenen Schreibtypen ordnet Lindner zwei Kontexte zu, zum
einen die Eintragung selbst und zum anderen alle anderen Sätze, die sich thematisch ähneln
und sozusagen ein eigenes literarisches Feld bilden. Bei Überschneidungen von diversen
Schreibweisen entwerfe das Diarium ein Subjekt, das als Funktionsträger mehrerer Bereiche, z. B. des Literaturbetriebs, als Staatsbürger oder auch als Familienmitglied, verschiedene Welten in sich vereint.
Bezüglich der Literarizität unterscheidet Lindner zwischen drei Ebenen. Das Logbuch
gehört in seiner Gliederung zur Ebene des sachlichen, referentiellen Normaltextes, dessen
Urheber sich durch keinen besonderen Stil auszeichnet. Die semiliterarische Ebene wird in
erster Linie durch stilistische und narrative Strukturen bestimmt; eine typische Form dafür
ist die Reiseerzählung. Die dritte Ebene ist die eigentlich literarische und wird zum Bei221
222
Ebd., S. 23.
Ebd., S. 25.
111
spiel durch das Tagebuchgedicht repräsentiert. Manfred Jurgensen faßt diese Selbststilisierung des diaristischen Ichs als ein „Frühstadium des Fiktionalisierungsprozesses“ auf. Dieser Vorgang ist dadurch gekennzeichnet, daß sich „[...] das diaristische Ich als reflektiverfundene Gestalt, als fiktional-literarisches Gegenüber des sich selbst lesenden Ich-Autors
offenbart“.224
Thomas Manns Tagebücher ordnet Lindner in die Reihe der Logbücher ein, deshalb
werde ich mich dieser Art am ausführlichsten widmen. Das Logbuch, das seinen Anfang
als nüchternes Schiffstagebuch eines Kapitäns nahm, dient immer der Registrierung eines
geschlossenen Systems. „Logbuch“ ist ein Begriff aus der Seefahrt, wobei das ’Log‘ ursprünglich einen Fahrtgeschwindigkeitsmesser bezeichnete, und im Logbuch folglich alle
relevanten Daten für die jeweilige Fahrt vom Kapitän aufgezeichnet werden. Sehr häufig
tauchen in der Tagebuch-Forschung Aufzeichnungen von Teilnehmern verschiedener Expeditionen auf, die als Prototypen der Logbücher bezeichnet werden können. Dazu gehören
zum Beispiel die diaristischen Notizen von Fridtjof Nansen, der von 1893 bis 1896 die
norwegische Polarexpedition leitete:
Montag, 23. Oktober, 1893
Noch immer in meiner Höhle. Heute ist die Wassertiefe um 10 Meter geringer als gestern.
Die Leine weist nach Südwest, was bedeutet, das wir nordostwärts treiben. Scott-Hansen hat
die Messungen vom 19. Oktober ausgewertet und festgestellt, daß wir 10 Minuten weiter
nach Norden gelangt sein und uns auf 78° 15´ nördlicher Breite befinden müssen. Endlich
also macht sich, da sich der Wind gelegt hat, die nordwärts gehende Strömung bemerkbar.225
Das zentrale System des Logbuchs kann laut Lindner auch ein Garten, ein Haushalt, ein
soziopolitisches System oder aber, wie im Fall Thomas Mann, das psychophysische System des Subjekts selbst sein. Das Ego von Mann stehe dabei im Zentrum der Welt. Den
geographischen Raum identifiziert Linder mit der Literatur und dem Kulturbetrieb, und
Mann zeichne demgemäß alles auf, was die Funktion des Systems „Thomas Mann“ beeinflußt.226
Unwohl, Darmempfindlichkeit. Verstimmt, angegriffen, müde. Diät. Schrieb morgens die
Kino-Episode zu Ende und ging etwas spazieren. Schlief nachmittags. Schrieb nach Madrid
und Paris wegen Übersetzungen. Die Nummer der N. Fr. Pr., worin »Süßer Schlaf« erschie-
223
Ebd., S. 36.
Jurgensen: Das fiktionale Ich, S. 5-7.
225
Nansen: In Nacht und Eis, S. 100.
226
Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 19.
224
112
nen, scheint endlich ausfindig gemacht. In London scheinen die Dinge sich zu arrangieren.
(Tb, 7. 3. 1921)
In der Beschreibung von Lindner dient das Logbuch der täglichen Buchführung und wird
durch eine rigorose Auswahl der täglichen „chaotischen Datenmenge“ bestimmt. Die Einträge beziehen sich auf ein relativ stabiles Gerüst, das für das Funktionieren des jeweiligen
Systems relevant scheint. Das federführende Ich verhalte sich distanziert zu den aufgezeichneten Sachverhalten, so daß keine Thematisierung des Wahrheits-Problems stattfindet, da die Wahrheit durch die „Objektivität der Maßstäbe und Meßmethoden“227 garantiert
scheint. Das bedeutet jedoch keineswegs die Relativierung der Authentizitätsfrage, wie
später noch zu zeigen sein wird.
Im Mittelpunkt meiner Analysen soll die Wahrnehmung der ’Authentizität‘ aus dem
Blickwinkel der Leser stehen, d. h. es geht, um bei Lindners Einteilung zu bleiben, um das
Problem der „subjektiven Wahrhaftigkeit“. Bei dieser Frage spielt das Öffentlichkeitskriterium eine entscheidende Rolle. In den Tagebüchern vermischen sich Privatheit und Öffentlichkeit zumeist und sind nicht klar voneinander zu trennen. Ein Diarium kann vom Verfasser autorisiert, trotzdem aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sein. Die Tagebücher
Thomas Manns wurden von ihm selbst autorisiert und für die Öffentlichkeit zwanzig Jahre
nach seinem Tod freigegeben, obwohl er sich zwischendurch immer wieder mit dem Gedanken ihrer Vernichtung beschäftigte und dieses Vorhaben auch teilweise in die Tat umsetzte. Die verwischten Grenzen machen es unmöglich, über den Grad ihrer einkalkulierten
Öffentlichkeit zu entscheiden, und somit bringen sie das verlockende und geheimnisvolle
Moment des Verdachts ins Spiel. Er tritt in dem Moment auf, in dem die objektiven Untersuchungsmethoden an Grenzen stoßen, die nur mit subjektiven Vermutungen zu durchbrechen sind. Dabei ist die Frage des Ziels eminent wichtig: Möchte ich Antworten aus der
Geschichte der Subjektkonzeptionen, auf die Frage nach der soziokulturellen Situation und
auf literaturpsychologische Fragen nach der Biographie des Tagebuchverfassers finden,
oder gebe ich mich mit der Analyse des Schreibaktes und des semantischen Raumes zufrieden. Lindner plädiert für eine Untersuchung des „textanalytischen Fundaments“, wozu
die „Analyse des referentiellen Bildes von der ’Welt‘ und vom ’Selbst‘“ sowie die „Analyse der eigentlich ’literarischen‘ Dimension des Textes“ gehört, und darauf aufbauend lassen sich dann die Fragen rund um das Subjekt und seine ihn umgebende soziale Situation
227
Ebd., S. 21.
113
beantworten.228 Anders ausgedrückt: Nach der Analyse der textuellen Auffälligkeiten verringert sich der Verdacht, da man soziokulturelle und biographische Fragen aus dem semantischen Textgefüge erklären kann.
Die Verklammerung von objektiver Wahrheit und subjektiver Wahrhaftigkeit bestätigt
Lindners Betrachtung des Tagebuchs als archäologisches Relikt, dessen eigentliche Bedeutung erst rekonstruiert werden muß. Die wissenschaftliche Leserin müsse bemüht sein,
[...] jeden Tagebuchtext nicht als Projektionsfläche der eigenen Subjektivität aufzufassen,
sondern als gleichsam archäologisches Zeugnis einer fremden Kultur, als brüchigen, unvollständigen Fund, der erst im Verlauf der Rekonstruktion seine eigentliche Bedeutung preisgibt.229
Den Gedanken des archäologischen Reliktes läßt Lindner im Laufe seiner Untersuchung
zwar wieder fallen, jedoch bleibt er zwischen den Zeilen, wenn von literarischer Konstruktion die Rede ist, ständig präsent. Die künstliche Erzeugung der Authentizität durch die
Leserin erfolgt durch Verklärung und Rekonstruktion der objektiven Wirklichkeit der dargestellten Welt, die nur künstlich und konstruiert sein kann und die dargestellte Welt entfremdet, indem sie in eine neue Wirklichkeit eingepasst wird. Gewissermaßen findet hierbei ein doppelter Simulationsvorgang statt, da ja bereits die vom Subjekt dargestellte Wirklichkeit einen fiktiven Charakter gegenüber der „prädiskursiven Wirklichkeit“230 besitzt,
sowohl die Wirklichkeit des Subjekts selbst als auch die Wirklichkeit der repräsentierten
Welt. Die Wirklichkeit des Textes können wir als ein Konstrukt begreifen, das sich durch
Transformation und Filterung gebildet hat.
Das Tagebuch bildet den Extremfall einer offenen literarischen Form mit Prozeßcharakter, denn jede einzelne Eintragung kann durch die nächste widerlegt werden. Lindner betont die Sonderstellung des Tagebuchs als literarische Form. Es stellt keinen repräsentativen Ausschnitt einer ’wirklichen‘ Welt dar wie ein „Gebrauchstext“, bildet aber auch keine
autonome Sprach- und Textwelt wie ein ’literarischer Text‘. Der Eindruck der ’Authentizität‘ steige, je weniger der Übersetzungsprozeß offensichtlich ist, d. h. ein Verfremdungseffekt von der Leserin wahrgenommen wird. Thomas Manns Logbuch stellt dabei den speziellen Fall eines fast geschlossenen Systems dar, da er fast lückenlos täglich bis auf einzelne Ausnahmen seine Eintragungen vorgenommen hat. Interessant sind die Äußerungen
228
Ebd., S. 8.
Ebd., S. 4.
230
Vgl. oben, S. 39.
229
114
Lindners zum Schichtmodell in bezug auf die Rekonstruktion des Kontextes, das sich aus
dem allgemeinen Weltbild der jeweiligen Kultur, aus einer „textspezifisch aktualisierten
und modifizierten Variante dieses Weltbilds“ sowie dem „idiosynkratischen Weltbild des
schreibenden Subjekts“ zusammensetzt.231 Die Schwierigkeit manifestiert sich darin, daß
die einzelnen Einträge einerseits nur vor der Folie des mehrschichtigen Kontextes zu verstehen sind, andererseits sich der komplexe Kontext wiederum nur aus der Gesamtheit der
einzelnen Einträge ergibt. Die Lösung dieses Problems findet Lindner in der Figur des
„Ureintrags“, den er als „eine fiktive ’vollständige Eintragung‘“ definiert, „die alle
Wirklichkeits- und Aussageebenen umfaßt, die im Text vorkommen und die gleichbleibenden Strukturen seiner ’Welt‘ ausmachen“.232 Hierbei unterscheidet er nochmal zwischen „text- bzw. kulturspezifischem Ureintrag“. Diese hermeneutische Analyse der Tagebucheinträge birgt die Schwierigkeit, daß sie versucht, aus dem Text heraus die Ureinträge
zu rekonstruieren, dem sie doch eigentlich vorausgehen sollten. Lindner ist bemüht, dieses
Problem zu umgehen, indem er die täglichen Einträge sowohl im synchronischen als auch
im diachronischen Zusammenhang betrachtet, wodurch der zirkuläre Verstehensprozeß
gesichert werden soll. Es wäre jedoch zu überlegen, inwiefern der hermeneutische Zirkel
hier greift, da der Verfasser im Verlauf des Diariums subjektiven Veränderungen unterliegt, die es bei fiktionalen Texten sicherlich auch gibt, die jedoch aufgrund ihrer Homogenität nicht zum Tragen kommen. Während der fiktionale Text in der Regel eine geschlossene Konzeption aufweist, bewirkt der fragmentarische Charakter des Tagebuchs eine
ständige Selbstreflexion des schreibenden Subjekts, wodurch folglich das synchrone Gesamtbild keine starre semantische Struktur verkörpert. Ebenso reicht es nicht, wenn man
diesem textspezifischen „Ureintrag“ eine kulturelle Basis zur Seite stellt, die im jeweiligen
zeitgeschichtlichen Horizont ihre Aktualität besitzt. Thomas Manns Tagebücher besitzen
eine kompakte Logbuchstruktur, deren sprachliche Zeichen zwar zu entschlüsseln sind,
jedoch die vollständige Rekonstruktion der ursprünglichen Dynamik des „Ureintrags“
bleibt der Leserin verschlossen. Es fehlt die Projektionsfläche der dargestellten Handlungen wie in fiktionalen Texten. Nur typologische Methoden, die auf der Herstellung von
Analogien basieren, können Licht ins Dunkel bringen. Lindner spricht hinsichtlich der Tagebuchanalyse von Verbindungslinien, die man zwischen den einzelnen Schreibweisen
innerhalb eines Diariums ziehen müsse.
231
Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 38.
115
Allerdings scheint es mir wichtig zu sein, die Tagebücher im Gesamthorizont des literarischen Werkes des jeweiligen Autors zu betrachten und dadurch Parallelitäten bzw. Diskontinuitäten ausfindig zu machen, die dann innerhalb der synchronen und diachronen Betrachtung der Texte verortet werden müssen. Da Thomas Manns Tagebücher beispielsweise einen Großteil seines literarischen Werkes begleiten, sind alle Verschiebungen in der
Subjektkonstitution darin implizit und bilden den scheinbar ’authentischen‘ Gegenpart zu
den fiktionalen Texten.
2. Das Widerspiel von Authentizität und Simulation
Aus den vorangegangenen Bemerkungen wird bereits ersichtlich, wie hoch der Anteil der
spekulativen Deutungsversuche in der Tagebuch-Forschung ist. Um dem Tagebuch einen
Weg aus dem unbefriedigenden Raum des Verdachts und der Vermutungen zu bahnen,
möchte ich einen neuen Gedanken in die Diskussion einbringen, der in der bisherigen Forschung kaum Beachtung gefunden hat. Dieser Gedanke bezieht sich auf die Figuren des
Simulakrums und der Mimesis, die ein Wechselspiel auf der Bühne des Tagebuchs vollführen. Die sich aus dieser Annahme entwickelnde Frage zielt auf die Verdoppelung der
Simulation, wie ich sie bereits im Felix Krull nachgewiesen habe. Der Hochstapler fungiert
in seinen Memoiren als sein eigener Doppelgänger. Er vollzieht nicht von einem einheitlichen Ich ausgehend seine Täuschungen, sondern diese sind wiederum so in die ständigen
Rollenwechsel involviert, daß sie offensichtlich gar nicht als Simulationen aufzufassen
sind. Stattdessen ist die Simulation durch das Bewußtsein einer pluralen Identität der Figur
inhärent. Die literarische Simulation, die in den Bekenntnissen als Kipp-Phänomen funktioniert, wobei sich zusammengeschlossene Positionen wechselseitig negieren, erzeugt das
ständige Umkippen von Situationen, wodurch dann der Entlarvungseffekt des Komischen
erzeugt wird. Nun sind diaristische Schriften nicht durch eine vordergründige Referenzlosigkeit wie im fiktionalen Text gekennzeichnet, sondern der unmittelbare Bezug zur Wirklichkeit ist ständig präsent. Der Simulakrum-Effekt, und das ist der entscheidende Punkt,
setzt hier schon auf der ersten Ebene ein. Die Bühne muß nicht erst durch die Fiktion geschaffen werden, sondern mit dem ersten Satz bewegt sich der Autor schon auf ihr. Er ist
232
Ebd.
116
bereits der Schauspieler, nicht die von ihm erfundenen Figuren, und dementsprechend ist
er es auch, auf den sich der Demaskierungseffekt durch die sich stetig ändernden Positionen auswirkt. Mit dem Ergreifen der Feder verabschiedet sich der Autor bereits und verbirgt sich hinter der Maske des Erzählers, der das diaristische Ich dirigiert und überwacht.
Im gleichen Maße wie der Schauspieler muß sich das schreibende Subjekt irrealisieren und
den Text als ein anthropologisches Spielfeld der Rollenvielfalt begreifen, um eine Distanz
und ein neutrales Verhältnis zu sich selbst aufzubauen.233 Nur dann besteht für ihn die
Möglichkeit, real bzw. ’authentisch‘ zu erscheinen. Die Simulation als die Figur, welche
die Literarizität des Tagebuchs mitbestimmt, fungiert meiner Auffassung nach als das tragende Element der diaristischen Schriften, da es sich erst im Moment der Literarisierung
des Tagebuchs herauskristallisiert, d. h. wenn die eigene Wirklichkeit des Tagebuchs nicht
als Fiktion, aber als Möglichkeit begriffen wird. Wenn wir die Tagebücher dagegen als
darstellungsfreie Schriften rezipieren und ihre Authentizität als ontologische Setzung voraussetzen, spielt die Simulation keine Rolle, und wir erhalten ein verzerrtes Bild über den
von Lindner beschriebenen „semantischen Raum“.
Claus Vogelgesang schreibt in seiner Studie zum Tagebuch,
[...] daß die Beschreibung des Lebens im Tagebuch Theatralisierung dieses Lebens ist,
Transponierung aus der Realität auf eine Art Bühne, die das Zuschauen, zumindest das
eigene, ermöglicht.234
Der Autor ist laut Vogelgesang also nicht nur sein eigener Zuschauer, sondern er übernimmt simultan auch die Rolle des Schauspielers. Dabei liegt der Widerspruch nicht unbedingt in der Parallelität der beiden Rollen, des Akteurs auf der Bühne sowie des Beobachters, sondern in der Tatsache, daß er der Zuschauer seines eigenen Schauspiels ist. Das
Tagebuch dient ihm nicht nur zur Selbstreflexion im Moment des Schreibens, sondern
kann ihm beim Wiederlesen eine andere Wirklichkeit präsentieren als die, in welcher er
sich gerade befindet.
Wie oben bereits festgestellt, wird die Welt des Tagebuchs durch den „diaristischen
Pakt“ als ’authentisch‘ verstanden. Lindner unterscheidet zwei Arten von ’Authentizität‘.
Sie kann zum einen im Hinblick auf die Wahrheit im Sinne von Richtigkeit verstanden
werden. Etwas als ’authentisch‘ zu bezeichnen würde dann heißen, die Daten der darge233
234
Vgl. oben Ausführungen zu Wolfgang Iser, S. 80-81.
Vogelgesang: Das Tagebuch. In: Weissenberger: Prosakunst ohne Erzählen, S. 196.
117
stellten Wirklichkeit auf ihre Wahrheit geprüft zu haben. Zum anderen kann ’Authentizität‘
im Tagebuch mit Wahrhaftigkeit gleichgesetzt werden. In diesem Fall nimmt die Leserin
an, daß der Verfasser des Tagebuchs seine subjektive Weltsicht „möglichst bruchlos“ in
die schriftliche Form übersetzt hat.
Die Problematik der ’Authentizität‘ im Tagebuch liegt für Lindner jedoch im Paradoxon, daß sie erst literarisch erzeugt werden muß und in einen komplizierten Paratext eingebettet ist. Ähnlich wie in der Autobiographie, kann auch in diaristischen Schriften der Stil
als „Sichtblende“235 fungieren und somit Authentizität simulieren. Auch die starre Struktur
eines Logbuchs mit der scheinbaren Objektivität eines Protokolls kann ein literarisches
Konstrukt sein. Gerade ein festes Raster unterliegt viel eher der Gefahr eines künstlichen
Gebildes, das einer Demaskierung des schreibenden Subjekts vorbeugen soll. Es bildet
gewissermaßen eine Schutzhülle, die ein sicheres Terrain umgibt, auf dem sich das schreibende Subjekt gefahrlos bewegen kann, solange das Logbuch nicht in ein subjektives Journal umkippt, in dem der Diarist seine Distanziertheit kurzzeitig aufgibt und das subjektive
Fühlen und die persönlichen Eindrücke mit dem Schreibprozeß eine Synthese eingehen,
die keinen Raum mehr für die Differenzierung zwischen der Schilderung von objektiven
Sachverhalten und subjektivem Erlebnis zuläßt. Diese Bruchstellen sind es, die den Blick
unter die mediale Zeichenoberfläche zu lenken scheinen und so der Leserin die Öffnung
eines kleinen Spalts in den „submedialen Raum“236 gestatten. Wenn jedoch ’Authentizität‘
erst, wie Lindner sagt, „durch Textaussagen und Textmerkmale“ hergestellt wird, wäre
„jedes Tagebuch literarisch“. Das Tagebuch-Ich ließe sich nicht mehr in einen literarischen
und einen ’authentischen‘ Teil zerlegen, sondern wird ebenso wie die im Text dargestellte
Wirklichkeit zu einer „genuin literarische Konstruktion“.237 Das Wort „genuin“ nimmt für
mich hier eine Schlüsselposition ein. Es bringt das Dilemma der ’authentischen‘ TagebuchLiteratur auf den Punkt. Während des Schreibens konstruiert der Verfasser seine Gedanken, fügt sie in das festgesetzte Raster des Logbuchs ein und modelliert damit jeden
Tag aufs Neue seine Wirklichkeit. Als Leser können wir die ’Authentizität‘ demnach nicht
nur im Nicht-Gesagten, sondern vor allem in der Negation oder auch in der Dissimulation
des Abwesenden vermuten. Unter der Dissimulation von etwas Abwesendem verstehe ich
einen Prozeß der Filterung, der dem Tagebuchschreiben vorausgeht und auf die Wirklich235
Starobinski: Der Stil der Autobiographie, S. 201.
Groys: Unter Verdacht, S. 27.
237
Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 44.
236
118
keit, den sogenannten „Ureintrag“, vor dem Tagebuch verweist. Das Abwesende bezeichnet die Sichtweise der Leser, nicht des Diaristen. Lindner beschreibt die Probleme, die bei
der Rekonstruktion der sprachlichen Nachbildung des Tages auftreten können:
Die inhaltlichen Schwierigkeiten (die repräsentative Faktenauswahl; das Aufspüren von Verdrängungen) rücken ebenso ins Blickfeld wie die sprachlichen Schwierigkeiten (die Sprache
bildet objektive Sachverhalte nicht einfach ab, sondern rekonstruiert sie; der authentische
Ausdruck der Subjektivität wird durch sprachliche Fertigteile geformt).238
Wenn man also, wie Lindner hier, höhere Maßstäbe an die Frage der Authentizität, außerhalb von oberflächlicher Wahrheit oder Wahrhaftigkeit, anlegt, dann kommt es in letzter
Konsequenz zur Aufhebung der ’Authentizität‘. Sie droht, im Meer eines Systems von
Signifikaten und Signifikanten zu verschwimmen und unterzugehen.
Christian Strub hat in seiner Trockenen Rede über mögliche Ordnungen der Authentizität diese Gefahr erkannt und das ’Authentische‘ als etwas Dargestelltes definiert, das durch
die Art der Darstellung als nicht Dargestelltes präsentiert wird, d. h. wenn die Vermittlung
verdeckt wird.239 Mit dieser Definition entgeht Strub dem Problem, ob es in der Frage der
Authentizität einen unmittelbaren Bezug zwischen dem ’Ich‘ und der ’Welt‘ geben darf. Er
geht nämlich gerade davon aus, daß bei jeder Darstellung ein Medium zwischen das
Darstellungsunabhängige und das Darstellende tritt. Meine Untersuchungen zu den Tagebüchern von Thomas Mann werden sich vor allem auf die Frage über die Beschaffenheit
dieses Mediums konzentrieren. Die Spannung dieser Frage liegt für mich jedoch nicht darin, die Modi der Wahrnehmung von ’Authentizität‘ zu analysieren, sondern dieses Medium zu konkretisieren. Ich frage also nicht danach, warum wir die Tagebucheinträge als
’authentische‘ Aussagen lesen, denn die Antwort auf diese Frage liegt bereits im „diaristischen Pakt“ begründet. Meine Aufmerksamkeit soll dem Zweifel an der ’authentischen‘
Darstellung gelten, der dann auftritt, „[...] wenn unter dem Bewußtsein der prinzipiell mimetischen Differenz zwischen Darstellung und Dargestelltem“240 die Darstellungstransparenz nicht gegeben ist. Was bildet die Vermittlungsinstanz zwischen dem ’Ich‘ und der
’Welt‘? Gibt es dieses Medium überhaupt, oder wird jede ’authentische‘ Darstellung von
vornherein ein Opfer der Simulation? Da die ’Authentizität‘ in der Darstellung selbst nicht
238
Ebd., S. 46.
Strub: Trockene Rede über mögliche Ordnungen der Authentizität. In: Berg; Hügel; Kurzenberger: Authentizität als Darstellungsform, S. 9.
240
Ebd., S. 10.
239
119
offenkundig ist, legt der Konstruktionscharakter nahe, daß sie nur ein „bloßer Schein im
Sinn eines ideologischen oder rhetorischen Effekts“241 ist.
Boris Groys unterscheidet in seinem Buch Unter Verdacht zwischen freiwilliger und erzwungener Aufrichtigkeit, wobei nur die freiwillige Aufrichtigkeit seiner Meinung nach
simulationsverdächtig ist, da der „Effekt der Aufrichtigkeit“ durch das „Subjekt des submedialen Raumes strategisch eingesetzt“ werden muß, um sich vor den bedrohenden
Blicken der Anderen zu schützen. Der Verdacht spiegelt sich in der Aufrichtigkeit wider,
so Groys; „das Innere“ ist der „auf mich gerichtete Verdacht“.242 Der Verdacht ist also
nicht die Folge von ’Authentizität‘, sondern die scheinbare Aufrichtigkeit ist die Reaktion
auf den auf das Subjekt gelenkten Verdacht. Das Subjekt fühlt sich jedoch nicht von den
Anderen beobachtet und setzt daraufhin die Strategie der Aufrichtigkeit ein, sondern das
„Subjekt des submedialen Raumes“ wendet quasi vorbeugend diesen Effekt an, um die
mediale Zeichenoberfläche geschlossen zu halten. Bei der Produktion von Aufrichtigkeit
verschieben sich die Zeichen in einen fremden Kontext, was Starobinski in seiner Autobigraphie-Studie als „Stil der Abweichung“243 bezeichnet und die ’authentische‘ Wahrnehmung einer Autobiographie fördert. Der Eindruck der Aufrichtigkeit wird demnach
durch die Kombination von fremden Zeichen mit dem eigenen Kontext erzeugt, wodurch
die „Wahrheit des Ausnahmefalls“244 entsteht, wie es Groys beschreibt. Meiner Meinung
nach wäre es deutlicher, in diesem Fall von einer Durchbrechung der Regelhaftigkeit und
des Automatismus zu sprechen, da der „Ausnahmefall“ immer eine gewisse Einmaligkeit
konnotiert, was aber keineswegs richtig sein muß. Die Wahrheit des Submedialen bzw. des
Ausnahmefalls tritt nach Groys immer dann auf, wenn wir das Gefühl haben, daß sie von
der Außenwelt erzwungen worden ist. Der „Effekt der Aufrichtigkeit“ könne vom „Subjekt
des submedialen Raumes“ künstlich hergestellt werden, was aber nicht bedeute, daß „dieser Effekt bloß simuliert wäre und in der Realität nicht stattfinden würde“:
Das Phänomen der Aufrichtigkeit ist nichts anderes als ein bestimmtes Verhältnis der Zeichen zu ihrem Kontext. Immer, wenn dieses Verhältnis etabliert wird und seine Funktion,
den Verdacht des Betrachters zu bestätigen und somit abzuwehren, erfüllt, findet der Effekt
der Aufrichtigkeit statt – unabhängig davon, wie dieser Effekt jeweils erzeugt wird.245
241
Ebd., S. 14.
Groys: Unter Verdacht, S. 78-79.
243
Starobinski: Der Stil der Autobiographie, S. 202.
244
Groys: Unter Verdacht, S. 101-116.
245
Ebd., S. 79.
242
120
Werden wir mit einem scheinbar freiwillig geäußerten Geständnis konfrontiert, neigen wir
schnell zur Erhebung des Vorwurfs der Simulation. Da das Tagebuch quasi als Prototyp
einer nicht erzwungenen Preisgabe des schreibenden Subjekts gilt, hätten wir es also mit
einer Inszenierung oder einer Simulation von Authentizität zu tun.
Es ist unvermeidlich, den aus diesen theoretischen Überlegungen entstandenen Teufelskreis zu verlassen, um wissenschaftlich überprüfbare Ergebnisse bei der Analyse von Tagebüchern zu erzielen. Die Fragen der Aufrichtigkeit, des „submedialen Raumes“, des
Verdachts, der Simulation sind geprägt von Paradoxa, die sich gegenseitig bedingen. Der
Verdacht einer Existenz des „submedialen Raumes“ impliziert die Möglichkeit der Simulation von Aufrichtigkeit, da in diesem Moment das „submediale Subjekt“ dissimuliert wird.
Wenn der Blick des anderen das Hervortreten des „submedialen Subjekts“, des ’Inneren‘,
provoziert, kann das zum einen eine Maskierung vor dem „bösen Blick des Anderen bedeuten“.246 Andererseits spricht Groys von der Wahrheit des „submedialen Raumes“, die
sich aber schon wieder in dem Moment relativiert, wenn dieses innere Subjekt eine Bühne
benötigt, auf der es das Phänomen der Aufrichtigkeit inszeniert. Strub hat bereits deutlich
darauf hingewiesen, daß der Authentizitätsbegriff hoffnungslos in der Falle des Widerspruchs gefangen bliebe, wenn man nicht das Vorhandensein einer Vermittlungsinstanz
akzeptiert.
Die beherrschende Frage meiner Untersuchung wird sich also vor allem mit dem Moment des Erscheinens des „submedialen Raumes“ beschäftigen und in diesem Zusammenhang auch um das Problem der Initiierung dieses Verdachtsmoments kreisen. Wie will man
die freiwilligen Geständnisse im Tagebuch auf Simulation überprüfen – ein scheinbar zum
Scheitern verurteiltes Unternehmen. Die obigen Ausführungen haben jedoch gezeigt, daß
die Simulation aufgrund der sprachlichen Konstruktion der Sachverhalte eines Tages
durchaus ihre Ausprägungen im Tagebuch findet, sowohl auf der Ebene der Literarizität
als auch in Form eines spezifischen Effekts, der sich durch die typische Struktur von
Thomas Manns Tagebüchern herausbildet. Dabei werde ich mich auch auf die Äußerungen
von Plessner stützen, die besagen, daß sich der Mensch in der Maske versteckt und unsichtbar wird, aber nicht völlig als Person verschwindet. Groys bestätigt diese Behauptungen, indem er die Aufrichtigkeit als Maskierung bzw. Dissimulation beschreibt. In seinem vielzitierten Text Grenzen der Gemeinschaft beschwört Plessner die Distanz als den
246
Ebd., S. 78.
121
wichtigsten Verhaltenskodex im Habitus des Menschen der bürgerlichen Gesellschaft. Der
Mensch übernimmt im privaten und öffentlichen Bereich jeweils getrennte Rollen, die ihm
ein Leben des Ausbalancierens ermöglichen. Als Funktionsträger in der öffentlichen Gesellschaft spielt er eine Rolle, die ihm als Schutz vor Entblößung und Lächerlichkeit dienen
soll. Im Gegensatz zur Gemeinschaft, in der es keine Beschränkungen der Aufrichtigkeit
und der geheimen Triebe und Wünsche gibt, verlangt die bürgerliche Gesellschaft nach
einem gebremsten Verhalten, das die zwischenmenschlichen Beziehungen überwacht. Der
Verdacht liegt nahe, daß der Tagebuchschreiber Thomas Mann mit der objektivierenden
Schreibweise des Logbuches, die er für seine täglichen Aufzeichnungen gewählt hat, genau
diesem auf Ausgleich bedachten Plessnerschen Typus, der sich selbst mit Hilfe von künstlichen Mechanismen irrealisiert, indem er maskiert anderen Menschen gegenübertritt, entspricht. Bei Verlassen dieses sicheren Terrains besteht die Gefahr, dem Gelächter der anderen ausgesetzt zu sein:
Gesundheit gebessert. Arbeitete glatter und lustiger. Zur Stadt, in weißen Hosen, um Besorgungen: Pillen, ein Halsband für Bauschan, ein paar Federhalter. – Schlief in der Nacht nervös und mochte frühe nicht mehr, ich glaube aus Freude über die Teppiche. (Tb, 17. 9. 1918)
Die Diskrepanz zwischen dem Bewußtsein eines öffentlichen Repräsentanten, das durch
die starre Logbuchstruktur abgesichert scheint und den plötzlich auftretenden Rissen, die
einen Einblick in das private Rollendasein des Schriftstellers gewähren, unterstreicht die
Vermutung. Die unfreiwillige Komik der „Freude über die Teppiche“ entsteht genau aus
dieser Differenz, die wiederum durch die ungewohnte Aufrichtigkeit entsteht. Der gesellschaftsgeprägte Mensch, dem das zur Norm erhobene Verhalten der Balance antrainiert
wurde, kann sich dieser lächerlichen Wirkung nicht erwehren, da es nicht der Verhaltensnorm entspricht, in der Öffentlichkeit seine Maske zu verlieren. Nun sehen wir uns hier
jedoch der Textsorte Tagebuch gegenüber, die sich im Schnittpunkt befindet, an dem sich
Privatheit und Öffentlichkeit treffen. Mit der Autorisierung der Tagebücher durch den Verfasser sind die Diarien zwar für die Öffentlichkeit freigegeben, was jedoch nicht heißt, daß
sie auch während des Schreibens für die Allgemeinheit bestimmt waren. Plessner beschreibt dieses schillernde Zusammenspiel der repräsentativen Rolle und dem ’geheimen‘
Privatmenschen:
Der natürliche Zauber des Erscheinungscharakters einer Psyche mit seiner seltsam widersprechenden Wirkung, lockend und abweisend in einem, ruft unsere Realitätstendenz, die
122
wissen will, wie der Mensch eigentlich ist, und unsere Illusionstendenz, die scheu vor dem
Geheimnis uns fernhält, gleichmäßig wach.247
Das komplizierte Gefüge von schreibendem Subjekt und dem dargestellten Ich läßt sich
nicht allein durch eine textimmanente Analyse entwirren, sondern es verlangt auch die
Einbeziehung typologischer Methoden, wie es Lindner mit der Existenz verschiedener
Schreibweisen, die jeweils eine eigene literarische Dimension bzw. Typologie bilden, angedeutet hat. Durch die rein literarische Betrachtung von Tagebüchern wird erst recht der
Verdacht genährt, daß die verbergende Schreibweise des Verfassers entlarvt werden muß.
Die Fokussierung auf interessante, sensationelle, scheinbar dem Bild des schreibenden
Subjekts widersprechende Aussagen sind, wie Lindner schon hervorgehoben hat, einer
objektiven Analyse in keiner Weise förderlich. Trotzdem darf nicht vergessen werden, daß
es sich bei Tagebüchern um intime Texte handelt, in denen der Autor keine Gesetzmäßigkeiten einer bestimmten Gattung befolgen muß, also auch keine Rücksicht auf eine mögliche Aufdeckung von autobiographischen Details zu nehmen braucht wie in fiktionalen
Texten. Bezüglich Thomas Mann stellt sich dann aber die berechtigte Frage, warum man
sich als Leserin des Eindrucks nicht erwehren kann, daß sich die Persönlichkeit Thomas
Manns in seinen Romanen viel eher offenbart als in den scheinbar ’authentischen‘ Schriften. Ist es nicht möglich, daß die Diarien erst den Verdacht bestätigen, den die Romane und
Erzählungen bei den Lesern provoziert haben?
Die folgenden Ausführungen über Michael Maars Untersuchung zu Thomas Manns Tagebüchern sollen diese Problematik verdeutlichen.
3. Das Geheimnis um das Blaubartzimmer
Was nun geschah, war etwas so Unverständliches und Infames, daß ich mich weigere, es
ausführlich zu erzählen.
Thomas Mann
Dieses Zitat, das auf der Rückseite des Umschlags von Michael Maars Buch Das Blaubartzimmer steht, verdeutlicht nicht nur die Schwierigkeit dieser Studie, sondern vor allem die
paradoxe Problematik der ’Authentizität‘ von Tagebüchern. Das Zitat stammt eben nicht
247
Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, S. 85.
123
aus einem von Thomas Manns Tagebüchern, wie es die Leserin auf den ersten Blick verstehen würde, sondern es ist die Äußerung des Erzählers der Geschichte von Tobias
Mindernickel, die in Maars Untersuchung eine zentrale Rolle spielt. Thomas Mann ist der
Autor dieser kleinen Erzählung, aber nicht der Erzähler – eine Unterscheidung, die zu den
Grundregeln in der Literaturwissenschaft zählt. Selbstverständlich weiß Maar das. Er erwähnt es auch im Laufe seiner Ausführungen, unterläuft aber ständig diese Tatsache. Dieses Dilemma, aus dem sich Maar nicht befreien kann, wird dieser spannenden, in der Art
eines Kriminalfalls verfaßten Schrift zum Verhängnis.
Maars Hypothese lautet vereinfacht: Thomas Manns Werk wurde von einem blutigen
Ereignis beeinflußt, das 1896 in Neapel stattgefunden hat und an dem der Schriftsteller in
irgendeiner Art und Weise beteiligt war.
Den Ausgangspunkt für diese Spekulation findet Maar in mehreren Eintragungen in
Manns Tagebüchern aus der Zeit, als Thomas Mann unfreiwillig ins Exil gehen mußte. Im
Februar 1933 brach er zusammen mit seiner Frau Katia zu einer Vortragsreise auf, an die
sich ein zweiwöchiger Aufenthalt in Arosa anschließen sollte. Dort erreichte sie die Nachricht von den nationalsozialistischen Hetzkampagnen gegen ihn, so daß eine Rückkehr
nach München ausgeschlossen war. Golo wurde beauftragt, die Tagebücher aus dem Haus
in der Poschingerstraße zu holen und sie in die Schweiz zu schicken. Der Chauffeur der
Familie Mann, Hans Holzner, der sich inzwischen den Nazis angeschlossen hatte, übergab
den Koffer mit den Tagebüchern zwar der Bahn, erstattete aber Meldung bei der Polizei, da
er im Koffer politische Schriften vermutete. Schließlich gelang es jedoch dem Rechtsanwalt Dr. Heins, der Polizei den Koffer wieder abzuhandeln, so daß ihn Thomas Mann nach
einer langen Odyssee nach mehreren Wochen am 19. Mai 1933 doch noch glücklich in
Empfang nehmen konnte. Die besagten Tagebuchaufzeichnungen stammen sämtlich aus
der Zeit der Ungewißheit über den Verbleib des Koffers.
Meine Befürchtungen gelten jetzt in erster Linie u. fast ausschließlich diesem Anschlage gegen die Geheimnisse meines Lebens. Sie sind schwer und tief. Furchtbares, ja Tötliches kann
geschehen. (Tb, 30. 4. 1933)
Ich konnte nicht schlafen bis 3 Uhr, gequält von Altem u. namentlich von der Affaire des
Koffers, hinter der mörderische Tücke lauert. (Tb, 2. 5. 1933)
Bedeutende u. tiefe Erleichterung. Das Gefühl, einer großen, ja unaussprechlichen Gefahr
entgangen zu sein, die vielleicht keinen Augenblick bestanden hat. (Tb, 2. 5. 1933)
124
Hinter diesen Äußerungen wähnt Maar ein Geheimnis, das von so schrecklicher Art sein
müsse, daß es Thomas Mann bei seiner Aufdeckung in den Selbstmord treiben würde. Das
Wort „Tötliches“ interpretiert Maar als Suizidabsicht. Diesen äußerst vagen Lesarten von
Maar werde ich mich weder anschließen noch ihnen meine eigene Ansicht gegenüberstellen, um nicht ebenfalls in den Sog der subjektiven Deutungen zu geraten.
Die zweite Basis der Vermutungen sucht Maar in den Aussagen von Erika Mann und in
Thomas Manns Briefen an seinen Freund Otto Grautoff. Erika Mann gab Maar den Impuls
für den Titel seines Buches: „Waren sie ’kompromittant‘, diese braven Schulhefte? Mag
immerhin sein. Kein Lebensbau ohne ’Blaubartzimmer‘.“248 An Otto Grautoff schreibt
Thomas Mann 1896, daß einige Händler in Neapel einen „auffordern, sie zu angeblich
’sehr schönen‘ Mädchen zu begleiten, und nicht nur zu Mädchen . . .“249
Entgegen der vorherrschenden Meinung in der Thomas-Mann-Forschung verbergen
sich nach Maars Ansicht hinter diesen mehrdeutigen Äußerungen nicht nur homoerotische
Abenteuer, sondern sie müssen mit einem blutigen Verbrechen verbunden sein. Maar sieht
sich vor allem durch Manns literarisches Werk, deren Analyse den Hauptteil seiner Studie
bildet, in seinen Annahmen bestätigt. Die Durchgängigkeit der Motivkette Mord – Blut –
Schuld – Inzest – Homoerotik, die Maar in vielen Erzählungen und Romanen Thomas
Manns nachweist, ist äußerst frappierend und stellt die eigentliche Leistung dieser Arbeit
dar. Der Leserin läuft ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie mit den blutigen Details in den Erzählungen konfrontiert wird, die vor dem Hintergrund von Maars Hypothese
plötzlich scheinbar enträtselt werden. Die Leserin ist schon geneigt, nach soviel Schuld
und Blut dem Autor zuzustimmen und ihr Bild von Thomas Mann revidieren zu müssen,
wenn sich nicht nach der Lektüre mehrere Zweifel einstellen würden.
Maar verfolgt die Blutspur in einer Reihe von Erzählungen, die nach dem zweiten Neapel-Aufenthalt Thomas Manns entstanden sind und alle um das Thema der Demütigung
eines Außenseiters kreisen. Während der kleine Herr Friedemann noch die Gewalt gegen
sich selbst richtet, erkennt Maar in den nachfolgenden Erzählungen eine Veränderung: die
Gedemütigten wenden nun Gewalt gegen ihre Peiniger an. Tobias Mindernickel, ein einsamer, scheinbar gutherziger Mann, kümmert sich um seinen Hund Esau aufopferungsvoll,
quält ihn jedoch grausam, wenn dieser fröhlich im Zimmer spielt. In diesen Momenten
steigt Wut über sein eigenes erbärmliches Dasein auf und seine Eifersucht richtet sich ge248
Erika Mann: Mein Vater, der Zauberer, S. 364.
125
gen das unschuldige Tier, das sorglos herumtollt. Schließlich tötet er Esau mit dem Messer
und bedauert klagend seinen leidenden Hund:
Allein Esau lag da und röchelte. Seine getrübten und fragenden Augen waren voll Verständnislosigkeit, Unschuld und Klage auf seinen Herrn gerichtet, – und dann streckte er ein wenig seine Beine und starb.
Tobias aber verharrte unbeweglich in seiner Stellung. Er hatte das Gesicht auf Esaus Körper
gelegt und weinte bitterlich. (GW, VIII, S. 150-151)
Ob später dann Christian Buddenbrook Zeuge eines Mordes wird, Tonio Kröger Lisaweta
von seinen wollüstigen Abenteuern im Süden erzählt, Gustav Aschenbach von blutigen
Orgien des Dionysios träumt, Hans Castorp im Schneesturm eine Vision über einen
Kindsmord ereilt, Joseph Opfer einer Gruppenvergewaltigung wird, Adrian Leverkühn
seinen Freund Rudolf Schwerdtfeger in den Tod treibt, Felix Krull seine Bekenntnisse mit
dem „Blutspiel“ des Stierkampfes beendet und Grigorß den Bruch des Inzesttabus siebzehn
Jahre auf einem Stein sühnen muß – die Blutspur zieht sich laut Maar durch Thomas
Manns Gesamtwerk.
Eines von Maars Hauptargumenten lautet: Warum sollte Thomas Mann plötzlich vor
der Veröffentlichung der Tagebücher durch die Nationalsozialisten panische Angst haben,
wenn er seine Neigung in literarischer Form schon längst zugegeben hat? Karl Werner
Böhm weist in seiner umfangreichen Studie zu Thomas Manns Homosexualität überzeugend nach, daß bis auf zwei zeitgenössische Rezensenten die Novelle Tod in Venedig, die
Maar als coming out versteht, von den damaligen Lesern lediglich als Bekenntnis des
Künstlers Thomas Mann verstanden wurde. Daran ändert auch ein offener Brief an den
Grafen Hermann Keyserling, der 1925 als Essay mit dem Titel Über die Ehe (GW, X, S.
191-207) veröffentlicht wird, nichts. In diesem spricht Thomas Mann zwar offen über den
Ästhetizismus der Homoerotik, wird darin jedoch in keiner Stelle persönlich, so Böhm:
Obwohl sich Thomas Mann nie wieder so häufig und grundsätzlich zur Frage der gleichgeschlechtlichen Liebe geäußert hat wie unter den libertären zeitklimatischen Bedingungen der
20er Jahre [...] – beginnt mit diesen kein eigentlich neues Kapitel in der Geschichte des
Themas Thomas Mann und Homosexualität. Sein forciertes öffentliches Sprechen über
Homosexualität war kein ’coming out‘ im heutigen Sinne. Der Essayist und Redner Thomas
Mann wahrt die Haltung des Unbetroffenen, der sich nichts Menschliches fremd sein läßt
und dem, so mochte es wenigstens dem Außenstehenden damals erscheinen, als Autor einer
’einschlägigen‘ Novelle und Vater eines als ’dekadent‘ verschrieenen Sohnes ein gewisses
249
Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff 1894-1901 und Ida Boy-Ed 1903-1928, S. 81.
126
’Anrecht‘ auf die Behandlung gerade dieses ’Gegenstandes‘ zukam, ohne deshalb sofort mit
ihm identifiziert zu werden.250
Die endgültige Bestätigung von Manns homoerotischen Neigungen liegt erst mit der Publikation seiner Tagebücher vor. Nur mit Kenntnis der diaristischen Schriften ist es Maar
möglich, sein literarisches Werk, die Essays und Briefe in dieser Richtung zu deuten.
Maar geht bei seiner Untersuchung der Tagebücher unreflektiert von ihrer Authentizität
und Nicht-Literarizität aus und projiziert seine eigene Subjektivität in Manns Aussagen.
Seine Hypothesen beruhen aber nicht auf der Rezeption des Tagebuchs als darstellungsfreie Notizen, als die er sie normalerweise behandelt, sondern auf den daraus abgeleiteten
Mutmaßungen, und damit unterliegen sie einer doppelten Konstruktion. Maar wird bei
seinem kriminologischen Vorgehen nicht von der „Lust am Text“ getrieben, sondern von
der ’Lust am Verdacht‘. Mit diesem perfekt dissimulierenden Spiel gelingt es Maar, die
Leser zum Mitspielen zu überzeugen, so daß diese gar nicht die Täuschung wahrnehmen,
in die hinein sie sich verstricken. Da in der Gattung des Tagebuchs die objektive Wahrheit
mit der subjektiven Wahrhaftigkeit kombiniert wird, stößt auch Maar in seiner Untersuchung unweigerlich an eine Grenze, die durch den plötzlichen Verdacht entsteht und nicht
überwunden werden kann. Er versucht jedoch diese Mauer zu durchbrechen, indem er seine subjektiven Spekulationen, die er aus Manns Tagebucheintragungen gewinnt, mit der
objektiven Wahrheit der dargestellten Welt konfrontiert. Natürlich ist sich der Autor bewußt, daß er sich auf sehr dünnem Eis bewegt:
Hierüber keine Täuschung: wir schwimmen in einem Meer von Unsicherheiten, zwischen
Riffen und Schlünden der Über- und Unterschätzung; mit einigen Inselchen erhöhter Plausibilität. Ein solches Fleckchen halbwegs festen Bodens ist die Vermutung, daß es sich bei der
traumatisierenden Tat um ein Vergehen auf dem Gebiet der Wollust gehandelt haben muß
und daß ein bloßer Prostituiertenbesuch nicht ausreichen würde, um die heiße Schuld und die
Blutspur zu erklären. Alles Genauere ist, wie im Falle Swidrigailows [Held aus der Erzählung Raskolnikow von Dostojewski (Anmerkung: U. B.)], der mehr oder weniger willigen
Phantasie des Lesers überlassen.251
Während Maar noch zugibt, sich auf schwankendem Terrain zu befinden, ist nach zwei
Zeilen schon wieder die widersprüchliche Formulierung zu lesen, daß sich die „Vermutung
auf halbwegs festen Boden“ gründet und demnach ein sexuelles Abenteuer allein nicht
Thomas Manns Schuld klären könne. Die Spuren des fiktiven Verbrechens werden endgül250
251
Böhm: Zwischen Selbstzucht und Verlangen, S. 23.
Maar: Das Blaubartzimmer, S. 106.
127
tig verwischt, wenn Maar schreibt: „Ein Gewöll, in der Tat, das sich durchs Werk zieht,
seit T. M. den armen Esau erstach“.252 Tobias Mindernickel tötete in der gleichnamigen
Erzählung seinen Hund Esau. Indem Maar die Initialen T. M. verwendet, läßt er die Leser
ins Grübeln kommen und manipuliert sie so, daß sie die Abkürzung zuerst mit der Person
Thomas Mann assoziieren. Diese kleinen Tricks entlarven das Spiel, in welchem die Leserin wie eine Kugel in einem Flipper-Automaten hin- und hergeschoben wird, damit sie ja
nicht aus der Partie aussteigt und der Verdacht aufrecht erhalten wird.
Plötzlich befinden wir uns in einem Labyrinth, in dem wir nicht mehr zwischen Tatsachen und lediglich subjektiven Vermutungen differenzieren können und uns dadurch als
Leser unmerklich in Maars Spiel verstricken und den Verdacht nicht mehr als solchen erkennen. Maar verwendet zwar quellenkritische Methoden, um seine Verdächtigungen aufzulösen und in objektive Wahrheiten zu verwandeln, bleibt mit dieser Strategie aber nur an
der Oberfläche. Er setzt fiktionale Texte mit autobiographischen Schriften in Beziehung,
vergleicht sie jedoch nicht auf der gleichen Ebene, d. h. er läßt die Problematik der Literarizität und Authentizität unberücksichtigt. Wenn verschiedene Textgattungen kombiniert
werden, ohne dabei diese Differenz zu beachten, erhält man als Ergebnis ein verzerrtes
Bild. Mit der von Maar nicht näher problematisierten Korrelation von Zitaten aus Tagebüchern, Briefen und Notizbüchern mit fiktionalen Texten unterstellt Maar den scheinbar
authentischen Spuren entweder das Merkmal der Literarizität oder schreibt den Romanen
und Erzählungen autobiographische Züge zu, je nachdem, wie es gerade am besten zum
Verdacht paßt. Wenn man jedoch zwischen Authentizität und Literarizität ohne vorherige
Erklärung hin- und herspringt, kann ein Verdacht weder bestätigt noch unterhöhlt werden.
Wenn wir also aus Tagebuchäußerungen Thomas Manns Rückschlüsse auf seine privaten Geheimnisse ziehen möchten, dann ist das nicht mit Hilfe von Sätzen aus seinen fiktionalen Texten durchführbar, sondern muß im Rahmen der autobiographischen Schriften
bleiben. Das rein literarische Werk bildet lediglich ein Arsenal von Äußerungen desselben
Autors, ohne jedoch in irgendeiner Relation zu den diaristischen Texten stehen zu müssen.
Die fiktionalen Texte können nur dann als Stützpfeiler für das autorbezogene Material dienen, wenn, wie es Maar voraussetzt, den literarischen Schriften autobiographische Inhalte
unterstellt werden:
252
Ebd., S. 89.
128
Eine mögliche Folgerung wäre, Rückschlüsse von der Fiktion aufs Erlebte prinzipiell zu verbieten. Der Preis für dieses Verbot ist jedoch nicht gering. Nicht nur widerspricht es jeder
Leseerfahrung, jeder Intuition und dem common sense, den sich die Theoretiker des Verbots
mit derselben Strenge vom Leibe halten, mit der sie seine Übertretung als Biographismus abtun. Das große Verbot deckt auch einen Ameisenhaufen kleiner interessanter Unterschiede
zu. Und es ändert nichts daran, daß es Fälle gibt, in denen Autoren mit verschiedenen Kniffs
versuchen, die Kluft zu überspielen.253
Ohne methodischen Abschluß bleiben jedoch Vermutungen Vermutungen und jedem Verdacht haftet die Subjektivität an.
Der kriminologische Charakter von Maars Untersuchung liegt darin verborgen, daß er
das Medium, welches die Darstellungstransparenz verschleiert, ignoriert. Indem er Manns
diaristische Notizen als ’authentisch‘ rezipiert, bleibt der Filterungsvorgang beim Übergang vom ’Ich‘ zur ’Welt‘ unter der Oberfläche. Jede ’authentische‘ Darstellung impliziert
auch immer einen Prozeß der Simulation, der sich dadurch bemerkbar macht, daß sie immer nur einen Ausschnitt des Darstellungsunabhängigen repräsentiert bzw. transparent
macht. Indem Maar diesen simulatorischen Akt nicht beachtet, konstruiert er subjektiv die
Bedeutung der scheinbar ’authentischen‘ Darstellung. Hier schließt sich die Frage an, inwieweit es überhaupt möglich ist, der Simulationsfalle zu entgehen? Ist sie nicht immer
durch das von Iser bezeichnete „Kipp-Phänomen“ gekennzeichnet, wobei eine Aussage
durch die darauffolgende schon wieder negiert oder relativiert werden kann?254
Maar hat uns zwei Erzählungen vorenthalten, die vor dem Neapel-Aufenthalt entstanden
sind. Die kleine Prosaskizze Vision, die Thomas Mann 1893 verfaßte, beschreibt die einer
„Vergewaltigungsphantasie“255 eines Verliebten, die sich in Form eines Blickes zeigt:
Aber schwer und mit grausamer Wollust lastet mein Blick, wie damals. Lastet auf der Hand,
in der bebend der Kampf mit der Liebe, der Sieg der Liebe pulsiert . . . wie damals . . . wie
damals . . . (GW, VIII, S. 10)
In der kleinen Geschichte Gefallen, die ein Jahr später entstand, erzählt die Hauptfigur
Dr. Selten innerhalb einer Diskussionsrunde über die Emanzipation der Frau von seiner
großen Liebe in seiner Studentenzeit. Er verliebt sich in die junge Schauspielerin Irma
Weltner und ertappt sie eines Tages dabei, wie sie sich einem älteren Mann für Geld hingibt. Seine Enttäuschung darüber verwandelt sich wie in der Vision in Rachegedanken:
253
Ebd., S. 122.
Vgl. oben, S. 83-84.
255
Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, S. 60.
254
129
Da stürzte er sich auf sie und bedeckte sie mit wahnsinnigen, grausamen, geißelnden Küssen,
und es klang, wie wenn in seinem stammelnden ›O du . . . du . . .!!‹ seine ganze Liebe verzweiflungsvoll gegen furchtbare, widerstrebende Gefühle rang.
Vielleicht, daß er es schon aus diesen Küssen lernte, daß für ihn fortan die Liebe im Haß sei
und die Wollust in wilder Rache; vielleicht, daß da später noch eins zum anderen kam. Er
weiß es selber nicht. (GW, VIII, S. 40)
In beiden Erzählungen empfindet der Held Liebe und Verliebtsein als Demütigung und
Vernichtung, die durch Enttäuschungen hervorgerufen werden. Schon in diesen frühen
dichterischen Versuchen kippt die Lust in Rache um und wendet sich gegen die Peinigerin,
auch wenn sie in beiden Fällen noch keinen blutigen Ausgang nimmt. Das für Thomas
Mann charakteristische Verführungsmotiv, das Klaus Mann in seinem Tagebuch so treffend beschreibt, zeichnet sich jedoch bereits hier klar ab: „Verführungsmotiv: Romantik –
Musik – Wagner – Venedig – Tod – ’Sympathie mit dem Abgrund‘ – Päderastie. Verdrängung der Päderastie als Ursache dieses Motivs“ (Tb, KM, 4. 4. 1933).256
Diese Beispiele können in keiner Weise den Verdacht entschärfen, verdeutlichen jedoch, wie schnell durch die Verfahren der Simulation bzw. Dissimulation die Spuren plötzlich in eine andere Richtung gelenkt werden können. Maar erreicht mit dem Mittel der Dissimulation eine Verschleierung seiner Indizien, erliegt jedoch in gleicher Weise der von
Thomas Mann in seinen Tagebüchern simulierten Wirklichkeit des Subjekts und seinem
Verhältnis zur simulierten objektiven Wirklichkeit der dargestellten Welt.
4. Kurzer Forschungsbericht zu Thomas Manns Tagebüchern
Welcher Grund bewegte Thomas Mann zu diesem diaristischen Mammutwerk, in dem er
mit Akribie fast lückenlos den „fliegenden Tag“ (Tb, 11. 2. 1934) an sich vorbeiziehen
läßt? Diese Frage, die sich nicht zwangsläufig bei der Betrachtung der Diarien anderer Autoren stellt, bildet bis heute ausnahmslos das Zentralproblem in den wissenschaftlichen
Arbeiten zu Thomas Manns Tagebüchern. Das Rätsel liegt im Gegensatz ihrer Schreibweise zur Sprache von Manns erzählerischem Werk begründet. Der Meister der ständig präsenten Ironie verwendet in den Tagebüchern eine Sprache, die scheinbar völlig Mannuntypisch ist und keinen Wiedererkennungswert besitzt. Lediglich die gleichbleibende
256
Klaus Mann: Tagebücher. Bd. 1-6. Im folgenden Text zitiert mit den Siglen Tb, KM.
130
Struktur der Einträge, entsprechend der Geschehnisse mit leichten Modifikationen und
Abweichungen versehen, kristallisiert sich als Besonderheit des Stils heraus. Demzufolge
spielt die Sprache in den meisten Kommentaren zu den Tagebüchern nur eine untergeordnete Rolle, da sich keiner der Autoren richtig festlegt. Spricht ein Rezensent von der Virtuosität der Sprache, wird diese vom nächsten rigoros in Zweifel gezogen. In ähnlicher
Weise gehen die Meinungen bezüglich des wissenschaftlichen Wertes des Kompendiums
auseinander. Während die einen ihren Wert in erster Linie als Ergänzungsmaterial für die
Interpretationen des literarischen Werks sehen, betont die andere Gruppe der Forscher ihre
einzigartige Stellung innerhalb des Mannschen Gesamtwerks und schreibt ihnen einen literarischen Charakter zu.
Die gegensätzlichen Lesarten der diaristischen Schriften Thomas Manns liegen meines
Erachtens darin begründet, daß sich die Tagebücher nicht nur von den Romanen und Erzählungen in extremer Art und Weise unterscheiden, sondern sich auch inhaltlich und
sprachlich von den Essays, Briefen, Notizbüchern und anderen Dokumenten abgrenzen. Es
fällt auf, daß sich die Rezensenten davor scheuen, ihre Aufmerksamkeit auf die unspektakuläre und triviale Sprache in den schriftlichen Zeugnissen des Dichters zu lenken, stattdessen jedoch ihre Authentizität, Direktheit, Offenheit und überraschende Deutlichkeit
hervorheben. Während sie auf der einen Seite die Echtheit der ’Bekenntnisse‘ beschwören,
konstatieren sie im nächsten Moment, daß wir es wohl hier trotzdem nicht mit dem ’wahren‘ Thomas Mann zu tun hätten, da der Schreiber der Tagebücher bemüht sei, einer Enthüllung auch gleich wieder ein Geheimnis folgen zu lassen, um das Gleichgewicht und den
gewohnten Rhythmus wiederherzustellen. Hierin zeigt sich das Dilemma, in dem die
Thomas-Mann-Forscher stecken: Die plurale Persönlichkeit, die aus seinen fiktionalen
Texten bekannt ist, und die dann in der Literaturwissenschaft in die Kategorien der Künstler-Bürger-Problematik, Schopenhauers Willensmetaphysik und Weltlillusionismus,
Nietzsches Künstlerpsychologie, der Goethe-Imitatio und Homosexualität mit ihrer Überhöhung ins Metaphysische sowie den körperlichen und seelischen Defekten der Außenseiterfiguren eingeordnet wird, begegnet uns in den Tagebüchern auf einer anderen Ebene,
und zwar im Gewand der ’wahrhaftigen‘ Rede. Die Tatsache, daß es sich hierbei jedoch
um keine skandalträchtigen Geständnisse handelt, sondern lediglich um Bestätigungen der
bereits vermuteten Ausprägungen der vielschichtigen Leiden Thomas Manns, punktuell
131
mit kleinen Banalitäten verstärkt, die bei einigen Rezensenten peinliche Berührungen auslösen, macht es äußerst kompliziert, mit den Tagebüchern zu arbeiten.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung des ersten Bandes der Tagebücher im Jahr 1975
erschienen einige Rezensionen, die sich vor allem mit den trivialen und pikanten Details
beschäftigten: „Entzücken an Eissi“.257 Sie folgten damit der damaligen Stimmung in bezug auf Thomas Mann. Schon mit dem Erscheinen der Briefe an Otto Grautoff und Ida
Boy-Ed betrieben einige deutsche Schriftsteller und Literaturwissenschaftler den Denkmalsturz des großen deutschen Repräsentanten, indem sie sich über seine Egomanie und seine
Kleinkariertheit mokierten. Nach dieser ersten ’Schockphase‘ wurden im Zuge der Publikationen der weiteren Bände die Untersuchungen differenzierter, und sie entfernten sich
zunehmend von der einseitigen Betrachtung bezüglich des narzißtischen Habitus Thomas
Manns. Stattdessen stellten sie sein seelisches Leiden als bürgerlicher Künstler in den Mittelpunkt ihrer Analysen, indem sie aus den Tagebüchern ein Subjekt konstruierten, das sich
der Einheit von Leben und Werk bewußt ist, sich als letzter Repräsentant der deutschen
Kultur fühlt, und dem sein Diarium aufgrund dieser großen Verantwortung, die schwer auf
ihm lastete, als ein Ort der seelischen Entlastungen von den ihm auferlegten Zwängen
dient. Im Folgenden möchte ich versuchen, die wichtigsten Positionen der Kommentare
zum diaristischen Konvolut gegenüberzustellen.
Der zentrale Begriff, um den Hans Mayers Rezensionen der ersten drei veröffentlichten
Bände von 1977-1979 kreisen, ist der des Dualismus von Leben und Schreiben im Werk
und im Tagebuch. In den diaristischen Schriften zeige sich ein Dualismus zwischen Alltagsleid und schöpferischer Arbeit, wobei uns Thomas Manns Leiden und Größe in dreifacher Ausprägung gegenübertrete: als zweifelnder und kranker Mensch, als objektivierender
Tagebuchschreiber sowie als unerschütterlichen in Sorge und Labilität weiterschreibender
Thomas Mann. Mayer sieht im „erbarmungslosen Urteil Thomas Manns über Thomas
Mann“258 den Blick des anderen bereits durch das eigene Augenpaar repräsentiert, d. h. der
Tagebuchschreiber lebt und deutet sich gleichzeitig. Die Aufzeichnungen ab 1933 seien
frei von jeglichen Gefühlsumschwüngen: „Man kannte sich aus mit sich selbst“,259 obwohl
auch diese Tagebücher einen unvertrauten Thomas Mann zeigen. Gleichzeitig bestätigen
257
So lautete die Überschrift der Rezension im Spiegel. Entzücken an Eissi. In: Der Spiegel, 3. September
1979, S. 238-241.
258
Mayer: Thomas Mann, S. 453.
259
Ebd., S. 458
132
sie jedoch die innere Einheit des Werks, auch wenn die Themen und Motive der literarischen Texte nicht direkt, sondern nur latent auftauchen. Das Tagebuch offenbare nur das
Ergebnis von Überlegungen bezüglich der literarischen Stoffe, nicht die Überlegungen
selbst. Hans Mayer betont den immensen literarischen Wert der Tagebuchaufzeichnungen:
Es könnte sein, daß Thomas Manns Tagebücher, wenn sie einmal vollständig ediert sind,
durchaus gleichberechtigt neben dem Gesamtwerk des Erzählers und Essayisten ihren Rang
behaupten dürfen. [...] Man wird also wiederum an Ironie denken müssen, wenn die letztwillige Anordnung über das Schicksal der Tagebücher ausdrücklich vermerkt, es handele
sich hier um Papiere »ohne literarischen Wert«. Das ist grundfalsch. Kaum einmal in seinen
Erzählwerken, gewiß nicht in seinen bewußt stilisierten und »vermittelten« Briefen, schreibt
Thomas Mann so eindringlich und genau wie jeweils am Morgen, wenn das vergangene
Tagewerk mit aller Lust und Unlust erinnert wird, und jeweils auch bewertet.260
Insgesamt wirkt der „Zauberer“ in seinen Diarien laut Mayer wie ein „Entzauberer“, dessen Mitteilungen von unendlicher Einsamkeit und fehlender Liebe geprägt sind. Als sein
eigener Doppelgänger verzichte Thomas Mann auf alle Stilisierung, wodurch mangelnde
Selbstliebe und Sympathie gegenüber anderen Menschen sichtbar werden. „Thomas Mann
möchte aufrichtig sein und ist es auf seine Art“.261
Weit entfernt, den Schlüssel zum Geheimnis von Thomas Mann zu bieten, sondern
selbst in hohem Grade interpretationsbedürftig – so betrachtet Ronald Speirs die Tagebücher in seinem Aufsatz Aus dem Leben eines Taugenichts. Er geht davon aus, daß Mann
seine Aufzeichnungen seit der Emigration 1933 wahrscheinlich im Hinblick auf eine Veröffentlichung dieser geschrieben hat, da z. B. sein Essay Leiden an Deutschland zum großen Teil auf den Diarien aus dieser Zeit basiert. In den Blättern von 1918-21 befinde sich
der unterdrückte Teil der Lebensdokumentation. Die Spannungen zwischen der Pflicht zur
Repräsentation auf der einen und der Privatheit auf der anderen Seite haben wohl das ständige Schwanken bezüglich der Veröffentlichung der Tagebücher provoziert. Da sich
Manns Drang zur Offenheit dialektisch zu seiner Neigung zur Selbstverheimlichung verhalte, werde der Leserin dieselbe geistige Interpretationsarbeit abverlangt wie bei den literarischen Werken. Das eigene Leben, das Thomas Mann in seinen Werken seziert hat,
mußte im Tagebuch durch Selbstgefälligkeit und Schuldverdrängung wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Mit dieser Ansicht widerspricht Speirs Mayers Auffassung vom
„bösen Blick des Anderen“, den Mann ständig auf sich selbst gerichtet sieht. Stattdessen
260
261
Ebd.
Ebd., S. 476.
133
wollte sich der Dichter seiner Meinung nach in den Tagebüchern besonders positiv darstellen. Auf der sprachlichen Ebene betont auch Speirs den Kontrast zwischen ironischer
Komplexität in Thomas Manns künstlerischer Methode und dem Mangel an Ironie und
Komplexität in seinen Tagebüchern. Da ironische Strukturen durch das Widerspiel von
Selbstanalyse und dem Zwang zur Selbstverheimlichung entstehen und im Tagebuch jedoch der Tagebuchschreiber mit dem dargestellten Ich identisch sei, werde eine komplexe
Selbstanalyse vermieden. Die unfreiwillige Selbstparodie, welche der Schreiber durch bestimmte Bemerkungen auslöst, versteht Speirs als einen „Racheakt des Lebens gegen den
vermeintlich souveränen Geist der Ironie“:262 „Auch leide ich seelisch und körperlich darunter, daß N° 4 aller Unterkleider mir zu klein, N° 5 mir zu groß ist“ (Tb, 20. 11. 1921).
Speirs hebt vor allem die kindlich-narzißtischen Züge Thomas Manns im Tagebuch hervor,
die durch die extreme Beschäftigung mit dem eigenen Ich, vergleichbar mit einem phantasierenden Kind, sichtbar werde. Als Beispiele nennt Speirs Manns kindliche Freude über
die Wiederherstellung seines Arbeitszimmers in Küsnacht nach der langen Odyssee durch
mehrere Hotels in der Schweiz und Frankreich, seine kindische Verstimmung bei sehr gering ausfallendem Beifall nach einem Vortrag sowie die rührende Eintragung, daß seine
Tür zu Katias Schlafzimmer offen blieb oder er zur ihr ins Bett kroch, wenn er sich krank
fühlte:
Die Vorstellung, daß ich in absehbarer Zeit wieder zwischen meinem Schreibtisch und Lesefauteuil wohnen und das Grammophon wieder haben werde, ist angenehm, ja erheiternd.
(Tb, 17. 8. 1933)
Neue erregte Depression. Nahm gegen 5 Uhr Evipan und schlief dann noch. K. war bei mir
u. ließ die Verbindungstür offen. (Tb, 31. 3. 1933)
Erika Mann berichtet in einer Anekdote über ihren Vater, daß er an seinem 80. Geburtstag
mitten in der Nacht, als schon alle schliefen, in die Bibliothek hinunterging, um dort mit
seinen Geschenken zu „spielen“.263 Das von vielen Rezensenten beanstandete beleidigte
Verhalten Thomas Manns, wenn er von Tischnachbarn auf dem Schiff nicht erkannt und
dementsprechend behandelt wurde oder sich über zu wenig Zugaberufe nach einer Lesung
ärgerte, ist meiner Meinung nach mit dem natürlichen Habitus eines beifallsüchtigen
Künstlers erklärbar, der keineswegs nur für Thomas Mann typisch sein dürfte.
262
263
Speirs: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: Text + Kritik, S. 153.
Erika Mann: Das letzte Jahr. In: Mein Vater, der Zauberer, S. 428.
134
Eine ganz andere und sehr interessante Sichtweise auf die Mannschen Tagebücher,
besonders den sprachlichen Aspekt betreffend, präsentiert etwa zur gleichen Zeit Friedrich
Dieckmann, Essayist und Kritiker aus der DDR. In seinem Essay Thomas Mann nach
Hitlers Machtantritt äußert er Kritik an Marcel Reich-Ranicki, der seiner Rezension in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Titel Die Wahrheit über Thomas Mann gab und die
Tagebuchnotizen mit den Worten „Verzicht auf Schminke und Maske“264 charakterisiert.
Dieckmann zufolge erfahren wir in den Tagebüchern nichts Neues. Die dialektische Einheit von „Labilität und Elastizität“ sowie „Anfälligkeit und Schöpfertum“ sei schon im
Werk offensichtlich. Stattdessen werde unsere Aufmerksamkeit auf den empirischen Aspekt dessen gelenkt, „[...] was als Selbstaussage und Selbstdeutung seine erste und wichtigste Stelle im Werk hat, es ist seine Projektion ins Alltägliche und Private“.265 Äußerst
erhellend ist Dieckmanns ambivalente Betrachtung des sprachlichen Gestus im Tagebuch.
Thomas Mann zeige sich in seinen Diarien durchaus als Dichter, mit treffender, wohlausgeformter Sprache – jedoch ohne eine persönliche Sprache für sich zu entwickeln:
Tagebuchschreiben ist die geschützteste, freieste Form des Sich-Äußerns – Thomas Mann
dient sie dazu, sich nur desto vollkommener zu verbergen. [...] Wir erleben keine persönliche
Sprache für persönliche Dinge, sondern gleichsam die Leerform, den Leerlauf einer artifiziellen Diktion; eben das macht das teils Quälende, teils Erheiternde der Lektüre aus. Der
Unmittelbarkeit des Stoffes erwidert keine der sprachlichen Darstellung; so gerät manches in
die Nähe der Selbstparodie. Es scheint paradox, aber es ist unverkennbar: der Dichter und
Essayist Thomas Mann gibt sich persönlicher denn der Tagebuchschreiber.266
Dieckmann erklärt demnach die teilweise erheiternde und befremdliche Wirkung der Notizen mit dem Paradoxon, daß persönliche Dinge in der Sprache des Dichters verfaßt werden, der sich seiner gesellschaftlichen Stellung als Dichter und kultureller Repräsentant
bewußt ist. „Eine Diktion, die im Werk humoristisch fungiert, wirkt, naiv gesetzt, oft unfreiwillig komisch.“267 Worüber der sprachlich ständig präsente Gestus des Dichters hinwegtäuschen könnte, das wird durch die wahllose Aneinanderreihung von Banalem und
Belanglosem und essentiell politischen und zeitgeschichtlichen Umwälzungen beglaubigt:
„das Kennzeichen echten Tagebuchschreibens“,268 so Dieckmann. Gleichzeitig wendet er
sich auch gegen die Kritiker, die über das Registrieren vom Gang zum Schneider, den
264
Reich-Ranicki: Thomas Mann und die Seinen, S. 34.
Dieckmann: Thomas Mann nach Hitlers Machtantritt. In: Sinn und Form 32, H. 1 u. 2, S. 168.
266
Ebd., S. 170.
267
Ebd., S. 172.
268
Ebd., S. 169.
265
135
Zahnarztbesuch oder über die Verträglichkeit des Frühstückeis stolpern. Diese privaten
Dinge entziehen sich der ästhetischen Beurteilung. Dieckmann verweist in diesem Zusammenhang auf den Unterschied zu den Arbeitsjournalen von Max Frisch und Bertolt
Brecht. Das Rauchen und Essen sei Brecht zwar auch wichtig gewesen; während es bei
Thomas Mann jedoch bei der Aufzählung bleibe, werden diese Notizen bei Brecht in einen
höheren literarischen Zusammenhang eingebunden. Reich-Ranicki wundert sich beispielsweise, daß Thomas Mann in der wilden Zeit von 1933 notiert, daß er sich rasiert und Zigarren gekauft oder „Lindenblütenthee mit einer Citronenscheibe“ (Tb, 2. 5. 1933) getrunken hat. Diese außergewöhnliche Mischung von banalen Dingen mit wichtigen politischen Ereignissen hängt jedoch gerade mit der wertfreien Aneinanderreihung der Tatsachen zusammen. Außerdem bleibt es mit Sicherheit unbestritten, daß auch 1933 die Menschen gern gegessen, geraucht und sich gepflegt haben. Gerade die alltäglichen Dinge sind
für Menschen in politischen Umbruchzeiten die größte psychische Stütze. Das gilt erst
recht für Thomas Mann, für den der gewohnte Lebensrhythmus für seine tägliche Arbeit
am Werk unabdingbar war. Auch wenn Reich-Ranicki auffällt, daß dem Tagebuchschreiber häufig die Geburtstage von seinen Kindern Elisabeth und Michael sowie seiner Frau
Katia entgehen, wirft das ein Licht auf eine merkwürdige Leser-Erwartungshaltung.
Thomas Mann entscheidet immer noch selbst, welche Informationen er in sein tägliches
Journal aufnimmt. Wenn er die fiktiven Leser über die erwähnten Geburtstage im Unklaren
läßt, bedeutet das noch lange nicht, daß er sie auch in Wirklichkeit vergessen hat.
Auch Frank Busch versucht in seiner Studie Zeichen und Gefühle über August Graf von
Platen und Thomas Mann, ähnlich wie Dieckmann, die erheiternde Wirkung bestimmter
Äußerungen im Tagebuch mit dem unterschiedlichen Zeithorizont zu erklären. Er folgt
dabei einem einfachen Gedankenspiel in einer Rezension von Thorsten Müller im
Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt 1979, in der er die Leser auffordert sich einmal folgendes vorzustellen: Wenn jemand im Jahr des Erscheinens von Manns Tagebüchern 45
Jahre alt ist, so alt wie Thomas Mann 1920, und derjenige ebenfalls bis zu seinem 80. Lebensjahr Tagebuch führt, seine Diarien dann zwanzig Jahre nach seinem Tod veröffentlicht
werden, dann schrieben wir das Jahr 2034. Müller schlußfolgert daraus, daß sich unsere
Lebensgewohnheiten bis dahin in dem Maße verändert haben, daß wir dann auch bestimmte Bemerkungen aus diesem Tagebuch amüsant finden würden und für uns schwer nachvollziehbar wären. Diese Schlußfolgerung ist zwar scheinbar äußerst logisch, wird von
136
vielen Interpreten jedoch in den Hintergrund gedrängt. Wenn die Rezension im Spiegel
Manns „Frack-toilette“ (Tb, 6. 12. 1938) ironisiert, dann vergißt sie diesen Zeitsprung.
Über die „Frack-toiletten“ wird so berichtet, als wenn es zum Habitus Manns dazugehören
würde, ohne zu reflektieren, daß es in den gesellschaftlichen Kreisen, in denen er sich bewegte, ein übliches Kleidungsstück für bestimmte Anlässe war. Das Außergewöhnliche
hierbei ist nicht die Tatsache, daß Thomas Mann „Frack-toilette“ macht, sondern daß er es
registriert. Die Notiz wird auch deshalb häufig als banal-absonderlich abgetan, weil sie
nicht in das literarische Bild ihres Verfassers paßt, der als Dichter für seine bis ins letzte
Detail ausgearbeiteten und überpointierten Sätze bekannt ist. An den angenehmen Seiten
des bürgerlichen Lebens, das er in seinen Romanen und Erzählungen nur ironisch und humoristisch betrachtet – genußvolles Essen, wohleingerichtete Zimmer, hoher Komfort auf
Reisen, auf die er zum Beispiel häufig seine Gummibadewanne mitnahm, – ergötzt er sich
scheinbar im Tagebuch vollkommen schamlos. Busch erkennt sehr richtig, daß ein Urteil
nur über das Material vorgenommen werden kann, das vorliegt. Das Subjekt im Tagebuch
werde für die Interpreten zum Objekt und damit das subjektive Bewußtsein des Tagebuchschreibers oft ignoriert.269
Für Maar sind allerdings gerade die Lücken in den diaristischen Texten interessant, das
Untersuchenswerte liegt für ihn im Nichtgesagten. So läßt er sich von einer Spur des Verdachts in die nächste treiben, ohne sich des Ausgangspunktes zu vergewissern, wenn er die
Fährte von Manns Sorge über das Ausbleiben des Koffers mit seinen Tagebüchern bis zu
einem möglichen Sexualverbrechen verfolgt. Erstaunlicherweise gelingt es Maar jedoch,
mit dieser ihm eigenen Methode den Tagebüchern ganz unerkannte Seiten zu entlocken,
obwohl auch er keine befriedigende Lösung zum Grad der Literarizität der Diarien Manns
beitragen kann. Er argumentiert ähnlich wie Busch, daß die Tagebücher Thomas Manns
sowohl die Einheit von Leben und Werk als auch von Tagebuch und Werk bestätigen. Besonders offensichtlich wird das, wenn der Tagebuchschreiber von seiner „Tonio-KrögerEinsamkeit“ spricht oder wenn er Fridos Hand mit der Echos vergleicht (Tb, 2. 8. 1951).
Auch die diaristischen Offenbarungen basieren laut Busch auf einem „literarischen Mechanismus“, denn zu einem Drama gehöre neben der Inszenierung auch immer ein Text.270
Problematisch wird es, wenn Maar sagt, daß wir über den Menschen Thomas Mann, über
sein „Innerstes und Intimstes“ nur etwas im Werk erfahren können, nicht im Tagebuch.
269
Vgl. Busch: August Graf von Platen – Thomas Mann, S. 192.
137
Was wir aber dann im Tagebuch finden können – darüber schweigt sich Maar aus. Seine
widersprüchliche Einstellung bezüglich der Authentizität von Manns Tagebüchern wird in
folgender Bemerkung besonders deutlich:
Zur Pietät des Beiseitestehens war Thomas Mann außerstande. Sohn Klaus hätte den Selbstmord spätestens dann verübt, wenn er gelesen hätte, was der Vater über den Wendepunkt
schrieb; nichts Unwahres, nur Eisiges.271
Thomas Mann machte in seinen Tagebüchern einen einzigen Eintrag zu Klaus Manns Autobiographie, den man negativ interpretieren könnte:
Der »Wendepunkt« von Klaus, dessen Grab in Cannes, wie Breitkopf schrieb, in gutem
Stande gehalten wird. Las viel in dem Buch, bewegt von den späteren Teilen, dann doch
recht gequält von Vielem. Eine kranke Literaten-Existenz, angezogen von allem Faulen, was
schon recht wäre, wenn es dabei auch einen Sinn für das Gesunde, Lebengesegnete, Heilvolle gäbe. Wo ist ein Interesse an Goethe, Tolstoi, kurz an der Kraft und irgendwelcher
Erquickung durch sie? Ergreifend Lob und Preis für Mielein. Fürchte für Erika, daß es mißfallen wird. (Tb, 27. 5. 1952)
Abgesehen davon, daß Maars krasses Urteil auf einer für ihn typischen vagen Interpretation dieses mehrdeutigen Tagebucheintrags beruht, deckt diese Bemerkung auch wieder
die paradoxe Kompliziertheit dieses diaristischen Werks auf. An anderer Stelle schreibt
Maar, daß sich Thomas Mann selbst „genauso kühl wie seine Opfer analysiert“.272 Warum
wundert sich Maar dann über Manns „eisiges“ Urteil, und warum ist dann der Mensch
Thomas Mann nur in den eindeutig literarischen Texten zu finden? Auf diese Fragen gibt
Maar keine Antworten.
Der folgende Tagebucheintrag bietet einen Lösungsansatz für dieses Problem:
Auf der anderen Seite verstärkt sich die Freude am bewußten Genuß der kleinen und alltäglichen Annehmlichkeiten des Lebens, wie sie in der Faust-Novelle thematisch werden soll.
Mein Zimmer hier ist außerordentlich bequem und praktisch, es freut mich der geräumige
Waschtisch mit beliebig viel heißem Wasser und dem kleineren Becken mit rotierender
Spühlung. Das Frühstück war genußreich, das große und frische Ei zum Thee, der schmackhafte Honig, das schaumige Brot. Es ist zu bemerken und in Acht zu halten, daß das Lob des
Behagens und der Sinne leicht eine widerwillige Wirkung hervorbringt. Dennoch wird es in
der geplanten oder geahnten Arbeit takterfordernd am Platze sein. (Tb, 27. 2. 1934)
270
Ebd., S. 195.
Maar: Die Feuer- und die Wasserprobe, S. 71.
272
Ebd., S. 190.
271
138
Dieser Eintrag, der von einer Figur Thomas Manns stammen könnte, würde, eingebettet in
einen Mannschen Roman, eine ironische Färbung annehmen. Auch Dieckmann ist diese
Verwischung der Grenzen zwischen erzählerischem Werk und Tagebuch aufgefallen:
[...] wenn Thomas Mann ganz für sich spricht, spricht er alsbald – wie eine Figur von
Thomas Mann. Man kennt die Geschichte von dem chinesischen Maler, der sich am Ende
seiner Tage in eins seiner Bilder hineinmalt und der Welt damit verschwindet. Was hier an
das Ende eines Künstlerlebens gesetzt ist, erweist sich an Thomas Mann als eine Grundbefindlichkeit: die Person macht sich verschwinden in ihren Gestalten. Zwischen beiden ist
keine genaue Grenze mehr zu ziehen; eine öffentliche Existenz in des Wortes radikaler und
subtiler Bedeutung begibt sich. Thomas Mann hat um diesen Preis der Größe früh gewußt, er
hat unter ihm gelitten und hat ihn gezollt.273
Ebenso negiert Eckhard Heftrich den Bekenntnischarakter von Manns Aufzeichnungen,
beispielsweise hinsichtlich der Homosexualität, und verweist stattdessen auf seine Werke.
Die Fixierung des Tagebuchschreibers auf Details begreift Heftrich nicht als Wunsch des
Schreibers, sein ’wahres Ich‘ zu zeigen. Thomas Manns exzessive Tagebuchschreiberei sei
ein Zeichen der von Wysling diagnostizierten „Scheu vor dem Autobiographischen“274 im
Mannschen Schreiben. Heftrich betrachtet das Führen des Tagebuchs als beständigen Versuch des Schreibers, schreibenderweise mit allem fertig zu werden, was ihn am Weiterführen des Hauptwerks hindert.275
In den neueren Rezensionen, wie z. B. von Michael Maar und Joachim Kaiser, richtet
sich das Hauptaugenmerk besonders auf die Sprache der Tagebücher, wodurch der literarische Aspekt der Diarien in den Vordergrund gerät. Kaiser gibt eine Antwort auf die bei
Maar im Unklaren gebliebene Frage, wodurch sich Thomas Manns Ehrlichkeit im Werk
von der Ehrlichkeit in den Tagebüchern unterscheidet. Nach Auffassung von Kaiser tritt
uns in den diaristischen Aufzeichnungen zwar „Situativ-Authentisches“, aber keineswegs
das Wahre und Endgültige gegenüber. In Manns täglichen Notizen fänden wir lediglich die
Abreaktionen, d. h. nur das „Verdrängte“, wie es Hermann Kurzke sehr treffend formuliert.276 Kaiser beobachtet in den Tagebüchern des ’Zauberers‘ eine „faszinierende Wortwelt, die auch bei knappsten Mitteilungen von einem persönlichen Sprachrhythmus vibriert“.277 Die Sprache sei Ausdruck einer permanenten produktiven Reizbarkeit und von
273
Dieckmann: Thomas Mann nach Hitlers Machtantritt, S. 459.
Wysling: Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 63.
275
Heftrich: Über Thomas Mann. Bd. 2: Vom Verfall zur Apokalypse, S. 114.
276
Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 295.
277
Kaiser: Lächelnd beiseite legen. In: Neue Rundschau 107, H. 1, S. 129.
274
139
einer erstaunlichen Radikalität geprägt. Manns Formulierungen seien nicht auf einen Ausgleich bedacht, sondern glänzten durch ihre treffsichere, intelligente Wortwahl:
Wir spüren: Er formulierte nicht ausgleichend, sondern extrem, lustvoll exzessiv. Doch während bei den meisten Literaten die Übertreibungsmasche ein sicheres Zeichen von Dummheit
ist, von Simplizität, Einseitigkeit, blödem Genie-Simulantentum – übertrieb Thomas Mann
sprühend intelligent. Das war das Nietzschehafte seines Geistes, seines Tagebuchführens
auch . . .278
Die immense Tragweite, die für Thomas Mann die exakte sprachliche Benennung besitzt,
findet Kaiser bereits im Tonio Kröger begründet. Tonio äußert sich im Gespräch mit
Lisaweta über den „Erkenntnisekel“: „Hellsehen noch durch den Tränenschleier des Gefühls hindurch, erkennen, merken, beobachten und das Beobachtete lächelnd beiseite legen
müssen [...]“ (GW, VIII, S. 300-301). Dieses Lächeln Tonio Krögers entdeckt Kaiser siebenundvierzig Jahre später als „eine mystisch entrückte Spiegelung“279 in den Tagebüchern
wieder. Thomas Mann prophezeit darin folgende Resonanz nach der Veröffentlichung seiner privaten Notizen: „Heitere Entdeckungen dann, in Gottes Namen. Es kenne mich die
Welt, aber erst, wenn alles tot ist“ (Tb, 13. 10. 1950). Kaiser beeilt sich aber sofort richtigzustellen, daß es ein Mißverständnis wäre, zu glauben, der Tagebuchschreiber hätte beim
Schreiben fortwährend sein augurenhaftes Lächeln auf dem Gesicht gehabt und sich schon
insgeheim diese „heiteren Entdeckungen“ in seiner Phantasie ausgemalt. Er führt dafür
dann auch das für diese Fälle berühmte parate Gegenzitat an: „Über das Falsche, Schädliche und Kompromittierende des Tagebuch-Schreibens, das ich unter dem Choc des Exils
wieder begann und fortführe, um diese Geschichte zusammen mit meinem Alltag zu notieren“ (Tb, 8. 2. 1942). Es bleibt also ungeklärt, auf welchen Zusammenhang uns die Verbindung der Worte „lächelnd beiseite legen“ und „Heitere Entdeckungen dann“ aufmerksam machen soll. Des weiteren spürt Kaiser in Manns täglichen Schriften die Konjunktion
’aber‘ in differenzierter Gebrauchsweise auf, z. B. in seinem letzten Eintrag vor dem Tod:
„Prof. Löffler, sympathische Berühmtheit, etwas Primadonna, aber angenehm.“ (Tb, 29. 7.
1955), und verweist damit auf den literarischen Konstruktionscharakter der Tagebucheintragungen.
Nach Maars Auffassung flackert im letzten Band der Diarien Thomas Manns Dichtkunst erst richtig auf, da er im Alter, als ihm zur erneuten Konzeption eines größeren Stof278
279
Ebd., S. 136.
Ebd., S. 130.
140
fes die Energie und der Wille fehlte, plötzlich in den künstlerischen Improvisationsgestus
verfalle. Wenn der Schriftsteller Tag für Tag lakonisch über die lästigen Besucher berichtet: „Qualvoll-komische Seßhaftigkeit der Gäste“ (Tb, 12. 2. 1952), wenn er vom „falschen
Wetter“ (Tb, 7. 12. 1951) spricht oder über den Kreislauf der stetig ausscheidenden und
wieder oder neu eintretenden Mägde sinniert, dann kommen, laut Maar, Manns wahre
Qualitäten als ’Sprachzauberer‘ zum Vorschein. Der „Schwarm der Kleinigkeiten“ durchtränkt das hingeworfene Lebensmaterial und läßt die Diktion „nobel und graziös bis in den
Silbenschlag“ aufleuchten, so Maar weiter.280 Die Schwierigkeit bei der Sezierung der
Mannschen Tagebuchsprache lauert in der Befangenheit der Leserin, die den Tagebuchschreiber als Literaten kennt und somit manchmal schon krampfhaft versucht, Bedeutsamkeiten des Stils aufzuzeigen, wo es vielleicht gar nichts zu zeigen gibt, weil es eben ein
„echtes Tagebuch“ ist, wie Dieckmann formuliert hat.
Inge Jens, die Herausgeberin des zweiten Teils der Tagebücher Thomas Manns, bezeichnet die Diarien gleichzeitig als Chronik, Konfession, Geschichtsbuch und Seelenjournal, durchaus nicht durchgängig ohne literarischen Wert. Sie betont den undifferenzierten
und spontanen Gebrauch der Adjektive und spricht deshalb von einem Steinbruch, der vor
uns liegt. Für Inge und Walter Jens bedeutet Thomas Manns Äußerung:
Warum schreibe ich dies alles? Um es noch rechtzeitig vor meinem Tode zu vernichten?
Oder wünsche ich, daß die Welt mich kenne? Ich glaube, sie weiß, wenigstens unter
Kennern, ohnedies mehr von mir, als sie mir zugibt. (Tb, 25. 8. 1950)
einen schlüssigen Beweis, daß zumindest der späte Thomas Mann durchaus die Absicht
hatte, sich der Welt zu offenbaren. Jens erkennt in diesem Satz, der von Mann im Oktober
des gleichen Jahres noch einmal in ähnlicher Weise wiederholt wird, den von dem Schriftsteller in der Vorrede der Betrachtungen eines Unpolitischen zitierten August von PlatenVers: „Erkenne mich die Welt, auf daß sie mir verzeihe“.281 Inge Jens ist der Auffassung,
daß Manns Notate seit dem Exil eine grundsätzlich andere Intention als die der Münchner
Jahre implizieren. Standen die frühen Aufzeichnungen von 1918-21 noch im Zeichen der
Betrachtungen eines Unpolitischen, gehen die Exil- und Nach-Exil-Tagebücher in ihrer
280
Maar: Die Feuer- und die Wasserprobe, S. 73-74.
Jens, Inge u. Walter: Die Tagebücher. In: Thomas-Mann-Handbuch, S. 729. Thomas Mann bezeichnet den
Platen-Vers in der Vorrede seiner Betrachtungen als sein „Grund-Ethos“: „Noch bin ich nicht so bleich, daß
ich der Schminke brauchte; Es kenne mich die Welt, auf daß sie mir verzeihe!“ (GW, XII, S. 19) Ursprünglich in: Platen: Sämtliche Werke, III/IV, S. 119-120.
281
141
Bedeutung als allgemeingültige Relevanz über die frühen Diarien hinaus. Mit dem Namen
Arosa beginnt laut Jens eine neue Ära für den Tagebuchschreiber, dessen Aufgabe es nun
ist, die Geschichte des Nationalsozialismus als letzter Repräsentant des Abendlandes zu
erzählen. Die Welt sollte jedoch nicht nur den smoking-gekleideten Künstler kennen, sondern ihn auch als Verkörperung seiner Figuren Tonio Kröger, Felix Krull, Gustav
Aschenbach, Rosemarie von Tümmler, Grigorß oder Adrian Leverkühn verstehen und ihm
womöglich schließlich auch verzeihen.
Wonach suchen die Rezensenten in Manns Tagebüchern? Sie suchen nach Möglichkeiten der Decodierung, um im Medium der Eintragungen einen Wahrheitsgrund zu entschlüsseln. Daher rührt ihre Enttäuschung. Reinhard Baumgart entdeckt im Tagebuchschreiber Thomas Mann lediglich einen Buchhalter, der als Schriftsteller überhaupt nicht in
Erscheinung tritt. Baumgart fragt danach, ob „das Tagebuch mit einem Millionenaufwand
an Worten immer nur die arme Fassade dieses Doppellebens überliefern sollte, das Alltagsmartyrium, den leeren Repräsentationsglanz, um dahinter das Rätsel, das Mysterium
der Kreativität um so unbegreiflicher erscheinen zu lassen.“282 Wenn Dieckmann die persönliche Sprache bei Thomas Mann vermißt, so vermißt er Zeichen der Authentizität, Stilfiguren, die Augenblicke der ’Wahrheit‘ präsent machen. Dieckmann versteht Manns Diarium als eine versachlichte Transformation der Aussagen der erzählerischen Texte in die
private und alltägliche Form des Tagebuchs. Dieser Lesart widerspricht jedoch der Inhalt
der Tagebucheintragungen, die sich in erster Linie mit Alltagsroutine beschäftigen, die in
Manns Prosa sicherlich auch verarbeitet, jedoch in keiner Weise als ironischer Gegenpart
zu den Tagebüchern thematisiert werden. Der Grund, warum in Manns Diarien nur wenig
Neues zu erfahren ist, besteht nicht darin, daß wir in ihnen noch einmal Vergleichbares wie
in seinen erzählerischen Texten, nur in abgewandelter Form, lesen können. Die Enttäuschung der Leser beruht vielmehr im Mangel an spannenden Details, die den Unterbau des
erzählerischen Werks bilden könnten. Was Thomas Mann in seinen fiktionalen Texten
teilweise durch die Technik der Camouflage283 an persönlichen Konflikten verarbeiten
282
Baumgart: Glücksgeist und Jammerseele, S. 45.
Der Begriff der literarischen Camouflage unterscheidet sich von der Kategorie der Simulation hinsichtlich
der Ursache seiner Anwendung. Während der Simulationsakt einen Prozeß der Vortäuschung impliziert, um
die Realität zu Gunsten des Simulanten zu beeinflussen, maskiert die Strategie der Camouflage einen tabuisierten Sachverhalt. Das camouflierende Verfahren provoziert bewußt eine Mehrdeutigkeit, die den Grund
der Verschleierung nur einigen wenigen Adressaten zu erkennen gibt. Heinrich Detering, der dieses literarische Maskierungsverfahren explizit an der Mann-Novelle Tonio Kröger nachgewiesen hat, nennt folgende
definitorische Merkmale: „Der potentiell anstößige Gegenstand wird durch Transponierung in einen nicht
283
142
konnte, wird ihn kaum dazu bewegt haben, dasselbe noch einmal Tag für Tag morgens
bzw. abends als Entspannungsprogramm ’ohne Filter‘ darzulegen. Stattdessen beschreibt
Mann die Begleitumstände seiner Arbeit und achtet dabei auf das gleichberechtigte Verhältnis von Offenbarung und Geheimhaltung. In dem Moment, wenn die Leserin glaubt:
das ist der ’authentische‘, der echte Thomas Mann, kommen schon wieder Zweifel auf,
wenn sie eine Seite weiterblättert und auf eine scheinbar subjektive Äußerung stößt, die
aber lediglich aus einem Wort besteht und nicht weiter ausgeführt wird.
Ich möchte versuchen, dieses Problem mit der Verwendung der Kategorie der Simulation näher zu untersuchen, indem ich sie als ein Element bestimme, das für die Literarizität
der Tagebücher Thomas Manns mitverantwortlich ist.
5. Das Logbuch als verdeckte Simulation
1. Schön und kühl. Darm u. Magen etwas angegriffen. Eumydrin, Vorsicht. – Brief von Frau
Fischer wegen ihres Kommens und über Wassermanns Ehe-Affaire, die überschüssige Aufregung bringt.
[Wetter, körperliche Konstitution, Einnahme von Medikamenten]
2. Telephoniere mit dem Mann in Locarno, dem ich absage. Gestern Abend mit Prof. Joel aus
Basel. Der Anlaß war Kiefer, aber er erinnerte mich an seinen Vorschlag von früher, nach
Basel überzusiedeln, der heute neuen Sinn bekommen hat. Der Gedanke zu erwägen. Verabredung mit Joel zu einer Begegnung.
[Telefonate]
3. Nachdenken über die Komprimierung der Reise durch Aegypten. Mit K. gegen Gandria
spazieren. Nach dem Lunch in der Rundschau über Jüngers Buch gelesen (»Faust«) und im
Tolstoi fortgefahren. ¼ [ ? ] Uhr mit K. u. Medi per Tram zum Hotel Bellevue au lac. Thee
mit Joels. Gespräche über die Lage beim Thee und auf dem langsamen Rückweg. Das Problem Basel. Die teure Wirtschaft. Aber als geistiges Milieu und europäischer Punkt sehr
sympathisch.
[Spaziergang, Lektüre, Gespräche]
anstößigen Bereich und gleichzeitige Signalisierung des ursprünglich Gemeinten öffentlich formulierbar
gemacht. Aus der Kombination eines Oberflächen- und eines Subtextes können darüber hinaus produktive
Effekte resultieren, die in der Aussageabsicht zwar begründet und aus ihr abgeleitet sind, nicht aber in ihr
aufgehen.“ (In: Detering: Camouflage. In: Reallexikon Bd. 1, S. 292). Auch die Strategien der Simulation
und Dissimulation leben von dem wechselseitigen Spiel von Verbergung und Offenheit, wobei die Signalisierung des ’eigentlich‘ Gemeinten schon die Grenze zur Ironie überschreitet. (Vgl. Plett: Rhetorische Textanalyse, S. 93) Camouflage und Simulation sind im literarischen Text durch eine Doppeldeutigkeit gekennzeichnet, die sie wechselseitig sichtbar oder unsichtbar werden läßt. Im Gegensatz zum defensiven Charakter
der Camouflage wird der Leser durch die offensive Strategie der Simulation stärker in eine bestimmte Richtung gelenkt.
143
4. Erika mit der Giese wieder angekommen. Mit Eri vorm Hause beim Cocktail. AbendToilette. Begrüßung der Giese, die entschlossen ist, nicht nach München zu gehen, obgleich
man ihren Bruder als Geisel behandelt, in K.’s Zimmer. Diner zu Fünft. Nachher im großen
Salon mit Fulda`s, Franks u. Speyer. Geteilte u. gemeinsame Konversation. Recht glückliche u. neue Perspektiven aufreißende Anregung Fulda’s, wir möchten Süd-Tirol, Bozen
zum längeren Aufenthalt nehmen. Die Reise von hier über Mailand ist bequem. Nähe
Venedigs. Höhenaufenthalte bieten sich für den Sommer. Nähe Münchens in Hinsicht auf
K’s Eltern. Medi’s Wunsch und Recht zur Schule zu gehen bietet eine Schwierigkeit.
Neue Aufregung, neue Aussichten.
[Besuch]
5. Nachricht, daß man sich jetzt in Deutschland anschickt, bei den Intellektuellen u. zwar nicht
nur bei Juden, sondern auch bei solchen, die man für politisch unzuverlässig, dem Regime
abgeneigt hält, nach dem Rechten zu sehen. Mit Haussuchung zu rechnen. Neue Beunruhigung wegen meiner Tagebücher. Bedürfnis sie in Sicherheit zu bringen.
[Politisches Geschehen]
6. Vorm Einschlafen Tolstoi, jeden Tag. Mächtig gefesselt immer. Nur größte Schläfrigkeit
kann mich zwingen, die Lektüre zu unterbrechen, und sie tritt rasch ein, ohne eine Garantie
für dauerhaften Schlaf zu bedeuten.
[Bettlektüre] (1-6: Tb, 7. 4. 1933)
Eine strikte Grenzziehung zwischen Logbuch und subjektivem Journal erweist sich generell als äußerst problematisch, da die Einteilung auch von der Sichtweise der Leserin abhängig ist. Wir können oftmals ein Hinübergleiten von einer diaristischen Schreibweise in
die andere beobachten, wobei es zu einer wechselseitigen ’Authentisierung‘ der Einträge
kommt, d. h. der Effekt der Aufrichtigkeit wird durch diese regelmäßig auftretenden Brüche erzielt.
Mit seinen festen Strukturen der Einträge, die sich jeden Tag in gleicher Weise wiederholen, wobei lediglich die ’Kategorien‘, in die sich die Einträge einordnen lassen, wechseln, sind alle Weichen für ein typisches Logbuch gestellt. Jedoch treten in regelmäßigem
Abstand Äußerungen auf, die diese Art des Tagebuchschreibens unterlaufen. Anhand der
Eintragung vom 7. April 1933, einen Tag, bevor Thomas Mann seinen Sohn Golo bat, seine Tagebücher aus München zu holen, möchte ich versuchen, dieses Problem deutlich zu
machen.
Neben den distanzierten Äußerungen des Tagebuchschreibers, bei denen er, selbst wenn
er Begebenheiten beschreibt, die ihn persönlich betreffen, Haltung bewahrt, tauchen immer
auch ein paar Bemerkungen auf, die nicht in das Raster des Logbuchs zu passen scheinen.
Was bedeuten solche Worte wie „Vorsicht“ in bezug auf die Einnahme des Medikaments
Eumydrin? Kann man die „überschüssige Aufregung“, die Thomas Mann nach Erhalt des
144
Briefes von Frau Fischer empfindet, noch als eine sachliche Darstellung des Ichs im Verhältnis zu der ihn umgebenden Welt bezeichnen? Wie läßt sich Manns mitgeteilte Nervosität wegen seiner restlichen Tagebücher beurteilen? Kippt das Logbuch bei diesen genannten Bemerkungen in ein subjektives Journal um, oder sind sie auf der gleichen Ebene einzuordnen? Nach Lindner unterscheiden sich selbst die persönlichsten Äußerungen nicht
von denen, die sich beispielsweise auf das weltpolitische Geschehen beziehen. Besteht ein
Unterschied zwischen den Bemerkungen „Darm und Magen etwas angegriffen“ und dem
anschließenden Wort „Vorsicht“, das eine persönliche Wertung impliziert? Wir haben es
hier mit zwei verschiedenen Ebenen zu tun, wobei noch nicht klar ist, ob es sich hierbei um
innerliterale Divergenzen handelt oder ob beide Ebenen durch nicht-literarische Elemente
voneinander getrennt werden. Es scheint so, als wenn diese subjektiven Äußerungen den
Übergang vom Umkippen des Logbuchs in ein subjektives Journal markieren. Die Grenze
vom Logbuch zum subjektiven Journal wird Lindner zufolge in dem Augenblick überschritten, „[...] wenn die analytische Distanz aufgegeben wird, wenn Fühlen, Bewußtseinsstrom und Schreibakt verschmelzen“.284 Der Gestus des Abwägens und Beobachtens
werde von einem diffusen „Gestus des Suchens und Umkreisens“285 abgelöst. Das Subjekt
ist demzufolge dann nicht mehr Gegenstand des Tagebuchs, sondern es entwickelt sich mit
jedem Satz neu. Befindet sich Thomas Mann auf der Suche nach seinem Ich, wenn er
schreibt: „Neue Aufregungen, neue Aussichten“? Nein. Die Selbst-Reflexionen des Subjekts wurden hier schon übersprungen; nur ’das Faktum an sich‘ bleibt übrig. Dadurch
führt das Logbuch seine Leser in Irritationen, da die Gedankengänge für sie unsichtbar
bleiben und nicht mehr nachvollziehbar sind. Die Betrachter werden mit einer Beurteilung
des schreibenden Subjekts durch sich selbst konfrontiert, wodurch das Ich im Tagebuch für
die Leser einen maskenhaften und inauthentischen Charakter erhält, d. h. die unerzwungene Aufrichtigkeit des Diaristen läßt die Leserin an eben dieser zweifeln. Das Auge des Anderen wird durch Thomas Mann selbst personifiziert. Wir erfahren, daß der Schriftsteller
schlecht geschlafen hat, sich krank fühlt, eine Dinner-Party genossen hat oder ihm die politische Situation mißfällt; wir erfahren jedoch nicht – warum? Die Antwort auf diese Frage
wird durch den vorangegangenen subjektiven Filterungsprozeß übergangen. Das subjektive
Journal bildet demnach die Voraussetzung für das Logbuch, ist also im Logbuch zusätzlich
enthalten, jedoch nur maskiert, und für den Außenstehenden auf den ersten Blick nicht
284
Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 21.
145
erkennbar. Ich werde jedoch später noch zeigen, daß auch in Manns Tagebüchern das subjektive Journal offen zu Tage tritt.
Aufgrund dieses verschleierten Reflexionsprozesses scheint sich für Maar hinter bestimmten Tagebuchäußerungen ein Subtext bzw. die ’eigentliche Wahrheit‘ zu befinden.
Diese bestimmten Eintragungen sind es, die ihm Hinweise auf das verborgene subjektive
Journal geben, indem sie für einen kurzen Moment das nüchterne Registrieren des Logbuches durchstoßen. Es bedarf also einer Suche nach den Auffälligkeiten dieser Bemerkungen des federführenden Ichs. Warum sind es gerade diese Sätze, die für Maar den Verdachtsmoment auslösen, daß sich hinter ihnen eine geheime Wahrheit verberge?
Die Lösung findet meines Erachtens ihren Ausgangspunkt bei dem bereits erwähnten
Grundsatz von Plessner: „Der Mensch verallgemeinert und objektiviert sich durch eine
Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als
Person zu verschwinden“. Indem der Autor der Tagebücher also die Reflexionen, die sonst
Gegenstand des subjektiven Journals sind, für sich behält und nur ihre Ergebnisse registriert, objektiviert er sich und wird bis zu einem gewissen Grad unsichtbar, ohne dabei jedoch als Individuum völlig in den Hintergrund zu treten. Maar, der die Tagebuchäußerungen als darstellungsfreie Texte liest, vermutet hinter den scheinbar subjektiven Gefühlsdarstellungen einen Subtext, der von Thomas Mann bewußt dissimuliert wird, um
seine Lebensgeheimnisse zu bewahren. Wie Busch in seiner Untersuchung zu Manns Tagebüchern jedoch sehr einleuchtend darlegt, unterscheiden sich Manns Berichte über sein
persönliches Befinden insofern nicht von den Schilderungen äußerlicher Verhältnisse, da
sie sich ebenfalls lediglich auf das Registrieren beschränken:
Das Register erstreckt sich allerdings nicht nur auf die Korrespondenz und die Lektüre, die
für einen Autor zum Geschäft gehören, nicht nur auf Einnahmen und Ausgaben verschiedenster Art, sondern auch auf Gefühltes, Erlebtes, Gedachtes. Ein so umfassendes Register
treibt die Einrichtung der Buchführung über sich hinaus, denn es gehört gerade zum bürgerlichen Verständnis des Gefühls, daß damit nicht gehaushaltet wird, daß darüber nicht Buch
geführt wird. Ein Journal intime, das als Haushaltsbuch geführt wird, birgt seinen Widerspruch bereits in sich.286
Deshalb werden Manns diaristische Aufzeichnungen häufig als kalt, distanziert und gefühllos empfunden, selbst wenn es sich um familiäre Angelegenheiten handelt. Mayer bezeich-
285
286
Ebd.
Busch: August Graf von Platen – Thomas Mann, S. 195.
146
net dieses Verfahren als „Form eines Dualismus“,287 wobei Thomas Mann als Tagebuchschreiber „als sein eigener Doppelgänger“ fungiert. Mann habe die Erzähltechnik der
Zweiteilung als episches Prinzip auf seine Diarien übertragen. In dem Maße, wie er im
Doktor Faustus die Lebensgeschichte von Adrian Leverkühn erzähle und Serenus
Zeitblom dabei als Kommentator auftrete, so erzähle Thomas Mann in seinen Tagebüchern
sein eigenes Leben, indem er es selbst kommentiert: „Der Tagebuchschreiber Thomas
Mann ist gleichzeitig Leverkühn und Zeitblom. Er lebt sich und er deutet sich.“288 Die wesentliche Differenz zum Doktor Faustus besteht jedoch darin, daß in Manns Tagebuch nur
Zeitblom hervortritt – Adrian Leverkühn bleibt im Verborgenen. Im Felix Krull kommentiert der Hochstapler, der mittlerweile im Zuchthaus sitzt, sein Leben als künstlerischer
Simulant. Mit diesem auf die Tagebücher angewandten Verfahren gelingt es Mann, in jedem Fall scheinbar Objektivität zu bewahren und sich selbst mit dem Blick des Anderen zu
beobachten. Daß ihm dieser Gedanke durchaus nahe lag, beweist die kleine Erzählung Der
Bajazzo, in der es heißt:
Gleichgültigkeit, ich weiß, das wäre eine Art von Glück . . .
Aber ich bin nicht imstande, gleichgültig gegen mich zu sein, ich bin nicht imstande, mich
mit anderen Augen anzusehen als mit denen der ›Leute‹, und ich gehe an bösem Gewissen
zugrunde, – erfüllt von Unschuld . . . Sollte das böse Gewissen denn niemals etwas anderes
sein als eiternde Eitelkeit? – (GW, VII, S. 138)
Diese Gedanken des Bajazzos klingen wie das subjektive Journal zu folgendem Tagebucheintrag:
Der Zustand, unter dem ich leide, hängt zusammen 1.) mit Abspannung und WiederAkklimatisation nach der Reise, 2.) mit der Spannung unmittelbar vor Erscheinen des tief
greifenden Romans, 3.) mit dem Kummer über die Vorgänge hierzulande, 4.) auch, weil
noch ohne Nachrichten von Dial Press über die Auswahl./ [...] (Tb, 7. 10. 1947)
In den Tagebüchern finden sich mehrere Einträge, die zu den Äußerungen des Bajazzos
passen. Sie alle basieren auf einem Leidenszustand, der mit der extremen Sensibiltät des
Künstlers zusammenhängt, dem nichts gleichgültig ist und der immer von neuem seinen
Standort im Verhältnis zur Umgebung bestimmt. Der Schreibende mißt die Verfassung
seines geistig-körperlichen Zustands wie bei einem physikalischen oder chemischen Expe-
287
288
Mayer: Thomas Mann, S. 452.
Ebd., S. 460.
147
riment, wobei als Indikator für die Ergebnisse das subjektive Empfinden in Verbindung
mit den objektiven Außenbedingungen gilt.
Diese protokollarischen Notizen könnte man als die Rohform des Logbuches bezeichnen, in dem es lediglich auf das reine Registrieren und Beobachten ankommt. Außerdem
bestätigt dieser Eintrag augenfällig Lindners These, daß der Schreiber auch bei persönlichen Bemerkungen die Form des Logbuches beibehält. Offensichtlich scheint es für
Thomas Mann von außerordentlicher Bedeutsamkeit zu sein, seine körperliche und seelische Verfassung genauestens zu untersuchen und die Ursachen zu erforschen. Es entspricht
jedoch Lindners Analyse, daß wir hier mit einem Zustandsprotokoll konfrontiert werden,
in welchem Thomas Mann die Rolle eines Großseglers einnimmt, dessen Lage und Situation Tag für Tag neu bestimmt werden muß. Gleichzeitig muß der logbuchartige ’Gemütsbericht‘ Befremden auslösen. Die Auflistung zeigt einen hohen Grad von Nüchternheit und
Objektivität und läßt die Strategie des Tagebuchschreibens transparent werden. Für Groys,
der die Aufrichtigkeit in unserer Kultur nicht als Gegenteil von Lüge, sondern als Gegensatz zu Automatismus und Routine betrachtet,289 verkörpert der ganze Mensch bloß einen
Verdacht, d. h. unter dem Verdacht befindet sich laut Groys keine weitere Schicht. Unter
diesem Blickwinkel müssen Maars Deutungsversuche, hinter Manns Tagebuchaussagen
die Wahrheit zu suchen, scheitern, da der beste Schutz gegen den Blick des anderen die
Geste der Aufrichtigkeit sei, wodurch dann der ’Effekt der Authentizität‘ entsteht. Im Fall
von Manns Tagebüchern würde das bedeuten, daß die Leserin sich in dem Moment mit
einer Form von ’Authentizität‘ konfrontiert sieht, wenn die Art und Weise der Eintragung
scheinbar vom üblichen Muster abweicht. Hier ist jedoch immer nur der Effekt oder eine
Inszenierung von Aufrichtigkeit gemeint, die völlig unabhängig von der subjektiven
Wahrheit zu analysieren ist. Jedesmal, wenn der Automatismus des täglichen Rhythmus
durchbrochen wird, also, um mit Groys zu sprechen, der „Ausnahmefall“ eintritt, vermutet
die Leserin einen besonderen Akt der Aufrichtigkeit. Eine Abweichung von einem ’normalsprachlichen‘ Text wird in Manns Aufzeichnungen in erster Linie durch die spezifische
Sprache in den Einträgen gewährleistet, die oftmals fragmentarisch und bruchstückhaft
sowie durch häufige Wiederholungen geprägt ist:
Bemühungen um die Form für das Musikalische in XXII./ Gegangen bis über das alte Haus.
[...] (Tb, 26. 9. 1944)
289
Groys: Unter Verdacht, S. 68.
148
Geschrieben an XXII. Gegangen Amalfi Drive. [...] (Tb, 27. 9. 1944)
Am XXII., mühsam. Zu ändern./ Gegangen Amalfi Drive. [...] (Tb, 28. 9. 1944)
Zu dieser Zeit schrieb Thomas Mann gerade mit immenser Kraft und Stetigkeit am Doktor
Faustus. Den herausragenden Stellenwert, den er diesem Roman beimißt, zeigt sich vor
allem in den häufigen Zusatzbemerkungen, die der Diarist an die übliche Standortangabe
im Roman anschließt. Die ich-bezogenen Eintragungen zur Stimmungslage bezüglich des
Doktor Faustus umfassen größtenteils lediglich ein paar Worte, z. B. „Schluß von XXI,
prekär“ (Tb, 24. 8. 1944), „Müde. Wenig geschrieben. /Mußte heikle Stelle verschieben.“
(Tb, 30. 11. 1944), „Schwerdtfeger“ (Tb, 20. 10. 1944) oder „Hölle“ (Tb, 4. 2. 1945). Diese persönlichen Äußerungen stellen jedoch in keiner Weise einen Übergang vom Logbuch
zum subjektiven Journal dar. Der Unterschied zwischen den beiden Schreibweisen ist hierbei lediglich in der Thematik zu sehen. Während der Tagebuchschreiber zu Beginn der
Eintragung Auskunft über den derzeitigen Arbeitsstand und den obligatorischen Morgenspaziergang erteilt, gibt er anschließend Informationen zum Inhalt des Romans bzw. über
seine persönlichen Empfindungen diesbezüglich: „Die Integrierung des Studierten und
Übernommenen in Atmosphäre und Zusammenhang des Werks als reizvoll empfunden“
(Tb, 30. 9. 1944). Subjektivität und Objektivität befinden sich in beiden Varianten in der
gleichen Konstellation zueinander.
Am 17. September 1935 trifft Ida Herz, eine leidenschaftliche Verehrerin Thomas
Manns, in Küsnacht ein. Ida Herz, eine Buchhändlerin aus Nürnberg, lernte Thomas Mann
1925 kennen und wurde von ihm beauftragt, seine Münchner Bibliothek zu ordnen. Seit
dieser Zeit besuchte sie die Manns regelmäßig und stand in regem Briefwechsel mit dem
Autor. Sie sammelte Zeitungsartikel, Manuskriptabschriften und Kuriosa, die mit dem
Schriftsteller zusammenhingen. Teilweise fügte Mann auch selbst eigene Unterlagen der
Sammlung hinzu. Als sie 1935 nach Zürich reiste, floh sie bereits vor den zunehmenden
Drangsalierungen in Nürnberg. Thomas Mann reagiert in seinem Tagebuch auf den Besuch
seiner Verehrerin nicht gerade freundlich. Ab der Eintragung am 18. September bis zum 4.
Oktober notiert der Tagebuchschreiber 11 Mal den Satz: „Zum Tisch leider die Herz“.
Durch die mehrmalige Wiederholung dieses Satzes wird bei der Leserin die Wahrnehmung
des Leidens des diaristischen Ichs unter dieser Frau bestärkt. Gleichzeitig erzeugen die
149
Äußerungen bei der Leserin eine komische Wirkung. Bezüglich Ida Herz finden sich weitere humorige Notizen in den Tagebüchern:
Drucksachen für die Herz bereit gemacht, damit sie etwas zu knabbern und nagen hat (Tb, 9.
7. 1953)
Zum Abendessen die Herz. Tat mein Bestes, zeigte ihr das Kreuz der Ehrenlegion, gab ihr
das Merkurheft mit dem Schluß der Novelle, die sie nicht versteht, erzählte bei Tisch eine
oder die andere Anekdote. Als nachher K. und Moni Platten suchten und mich ihr auslieferten, verlor ich die Nerven, sprang auf und ging, zerquält und zerstört. (Tb, 13. 7. 1953)
Albern-treuliebender Brief der Herz, die telephoniert und telegraphiert hat, weil es geheißen
hat, des Herrn Doktors Befinden sei schlecht. Und was denn also, wenn ich stürbe? Sie sollte
es bescheiden abwarten, die dumme Person. – – (Tb, 17. 2. 1954)
Wo bleibt das objektive Registrieren in diesen Einträgen? Thema dieser Bemerkungen ist
nicht das Subjekt des Diaristen, sondern die Person Ida Herz, die zwar eine negative Stimmung beim diaristischen Ich erzeugt, die aber nicht Gegenstand der Äußerungen bildet,
sondern die Ursache ihrer Registrierungen darstellt. Die Frage, die diese Notizen unweigerlich hervorrufen, ist die nach dem Grund der komischen Wirkung der Einträge. Tritt
hier wirklich nur eine unfreiwillig komische Wirkung zu tage, die durch das nüchterne
Registrieren intimer Details, wie es einige Rezensenten nahelegen, entsteht? Als Beispiele
folgen dann häufig Zitate, in denen sich der Tagebuchschreiber über die Größe seiner Unterhosen ärgert oder über seine Verdauungsschwierigkeiten spricht. Beruht die Komik dieser Äußerungen nicht einfach auf der Tatsache, daß es der Leserin gestattet wird, durch das
Schlüsselloch zu schauen und einen berühmten Schriftsteller bei seinen intimen Leiden zu
beobachten? Der Humor der Ida-Herz-Episoden dagegen entsteht durch die pointierte
Sprache, die den Erzähler Thomas Mann erahnen läßt. Der aus einer detaillierten Beobachtungsgabe resultierende Humor, der aus seinen erzählerischen Werken bekannt ist, blitzt in
seinen diaristischen Schriften allerdings äußerst selten auf. Erstaunlicherweise verstärken
diese erzählerischen Passagen ihre ’authentische‘ Wahrnehmung von seiten der Leser, da
die ansonsten typische Logbuchsprache durchbrochen wird.
Unruhiges Schlafen, die Einnahme von Medikamenten, Äußerungen von großem Unwohlsein sind für Maar Zeichen einer Ausnahme oder einer Irregularität, die für ihn die
Berechtigung seiner Zweifel bestätigen. Maar begreift Sätze wie die folgenden: „K. u. ich
saßen viel Hand in Hand. Sie versteht halb und halb meine Furcht wegen des KofferInhalts“ (Tb, 30. 4. 1933) als ’authentisch‘, wodurch aber erst recht seine Skepsis genährt
150
wird, sie könnten irgendein Geheimnis verbergen. Maar kommentiert diese Stelle wie
folgt:
Das ist die einzige Stelle, bei der ein Lichtchen von außen auf sein Inneres fällt, der einzige
Moment, in dem wir aus seiner Hirnkammer schlüpfen dürfen, in der ihn die Ängste foltern,
um ihn aus fremden Pupillen zu sehen.290
Laut Maar ist es die einzige Notiz, die der Leserin einen Einblick in die Ursachen von
Manns Befürchtungen vor der Veröffentlichung der vermeintlich verlorengegangenen Tagebücher gewährt. Im Gegensatz zu Maar bin ich allerdings der Auffassung, daß wir erst
gar nicht in die „Hirnkammer“ des Dichters hineinblicken konnten. Da der Prozeß der
Selbstreflexion uns Lesern verschlossen bleibt, können wir nur das Ergebnis der Angstkämpfe des Tagebuchschreibers schwarz auf weiß sehen. Wenn er schreibt, daß seine Frau
Katia seine Ängste teilweise verstehen kann, ist das nichts anderes als ein Effekt der Aufrichtigkeit, der durch die Einbettung fremder Zeichen in den eigenen Kontext erreicht
wird,291 d. h. durch einen Wechsel der Schreibweise, indem das schreibende Subjekt als ein
anderer Funktionsträger agiert. Das besagt jedoch nicht, daß der Autor diese Strategie bewußt einsetzt, um sich selbst zu maskieren oder die Leser zu verwirren. Entsteht dieser
Verdacht lediglich als Produkt des mißtrauischen Blicks der Interpreten?
6. Simulation als Notwendigkeit zur Aufhebung des körperlich-geistigen Dualismus
Ich esse, um mich zu nähren und um rauchen zu können. Mein Glaube an meine zukünftige
Leistungsfähigkeit ist gering. Ich bin wütend über Anforderungen, Belästigungen, zittere vor
Erschöpfung, wenn ich ausnahmsweise gezwungen war, ein Telephongespräch zu führen.
Das Lagernde an Briefen und Manuskripten beschwert mich mit Ekel und Verzweiflung.
Meist graut mir vor allem. Ich habe fast keine anderen als peinliche Erinnerungen, und die
Zukunft scheint nur Versagen zu bergen. Mein Leben scheint mir eines Umsturzes, wie er
geplant ist, nicht mehr wert zu sein. Wenn ich in die Schweiz gehe, tue ich es nicht, um dort
zu leben, sondern um dort zu sterben. Aber der Körper ist noch sehr widerstandsfähig. (Tb,
15. 12. 1951)
Der Diarist beschreibt seinen Lebenszustand, der durch geistige und körperliche Überlastung geprägt ist. Die Folgen der geistigen Anforderungen zeigen sich in körperlichen und
psychischen Reaktionen – leider ist jedoch „der Körper noch sehr widerstandsfähig“. Die
290
Maar: Das Blaubartzimmer, S. 15.
151
von Gerhard Härle beschriebene Einheit von Körper und Geist, die sich im Felix Krull als
Schein des Scheins äußert, wird in dieser Notiz offenbar. Während Krull den epileptischen
Anfall vor der Musterungskommission für die Leser glaubhaft simuliert, deckt Härle diese
Simulation wiederum nur als Reaktion auf seine geistige Verfassung auf, so daß dieses
Täuschungsmanöver als eine doppelte Simulation verstanden werden kann. In einer ähnlichen Situation befindet sich das diaristische Ich in Thomas Manns Tagebuch am 15. Dezember 1951, mit dem Unterschied, daß es nicht willentlich versucht, körperliche Reaktionen herbeizuführen.
Lesen wir diese Sätze des schreibenden Ichs als unvermittelte, ’authentische’ Zeichen,
dann bleibt dieser paradoxe Dualismus im Verborgenen. Es bleibt uns zwar bewußt, daß
die mangelnde Leistungsfähigkeit, die der Diarist beklagt, sowohl auf psychischer als auch
auf physischer Schwäche beruht und sich diese beiden Pole wechselseitig bedingen – ein
Simulationsakt zeigt sich bei dieser Betrachtungsweise jedoch nicht. Das scheinhafte Leben eines Felix Krull hat unseren Blick jedoch geschärft, so daß uns der letzte Satz dieses
Auszuges aufhorchen läßt. Bei der Lektüre erinnern wir uns sofort an Felix’ Ausspruch:
Wenn jetzt etwas Erschütterndes mit mir geschähe, denkt wohl der Mensch. Wenn Du ohnmächtig niederstürztest, wenn Blut aus Deinem Munde bräche, Krämpfe dich packten – wie
würde dann auf einmal die Härte und Gleichgültigkeit der Welt sich in Aufmerksamkeit,
Schrecken und späte Reue verkehren! Aber der Körper ist zäh und stumpfsinnig dauerhaft, er
hält aus, wenn die Seele sich längst nach Mitleid und milder Pflege sehnt, er gibt die alarmierenden und handgreiflichen Erscheinungen nicht her, die jedem die Möglichkeit eigenen
Jammers vor Augen rücken und der Welt mit fürchterlicher Stimme ins Gewissen reden.
(GW, VII, S. 301-302)
Haben wir es also doch mit einer doppelten Konstruktion des diaristischen Ichs zu tun?
Wer kann mit Gewißheit sagen, daß der Verfasser der diaristischen Schriften sich nicht
ähnlich wie Felix Krull durch Täuschungen als Souverän auf der Bühne des Tagebuchs
bewegt und mit allen Mitteln versucht, seiner Maske nicht verlustig zu gehen? Während
Felix jedoch bewußt seine Befähigungen zur Simulation einsetzt, um ausgemustert zu werden, kann man dem Tagebuchschreiber diesen Vorwurf nicht machen. Sein psychischer
Zustand nimmt zwar ebenfalls auf seine Körperlichkeit Einfluß, ohne jedoch einen bestimmten Teil der ihn umgebenden Außenwelt mit Absicht zu täuschen.
291
Vgl. Groys: Unter Verdacht, S. 112.
152
Körper und Geist bilden laut Härle gegenseitige Projektionsflächen, wodurch der
„Scheincharakter des Unwillkürlichen, wie z. B. eine Krankheit, als willkürlich Gewolltes
im Scheincharakter der Simulation erkennbar“292 wird.
Eine weitere Notiz zeigt, daß Thomas Mann für sich selbst die Existenz einer schwachen Seele beansprucht, sie aber seinem Bruder Heinrich abspricht, obwohl dieser auch
gerade in seinen letzten Jahren Trost in Thomas’ Familie suchte, um vor seiner Einsamkeit
zu fliehen:
Ich mag mich täuschen, aber indem ich Heinrich beobachte, habe ich den Eindruck, daß zum
mindesten seine psychische Gesundheit viel robuster ist als meine. Auch trinkt er abends
seine halbe Flasche Rotwein, die er sehr liebt, danach zwei Cognacs und morgens und
nachmittags Kaffee, was – ich auch gern täte. Zwar hat er auch in Nizza nervenärztliche Hilfe in Anspruch genommen und nimmt Phosphor zum Essen. Aber schon die Tatsache, daß er
allein leben kann, spricht dafür, daß er seelisch weniger prekär daran ist als ich. (Tb, 20. 5.
1933)
Dieser Eintrag zeugt aber nicht nur vom narzißtischen Wesen des Tagebuchschreibers,
sondern bestätigt auch das Leiden unter seinen psychischen Problemen. Wir erkennen den
bemitleidenswerten Blick, den Felix Krull dem Musterungsarzt zuwendet, in diesen Sätzen
wieder:
Warum quälst du mich? Fragte ich mit diesem Blick. Warum zwingst du mich zu reden?
Siehest du, hörst und fühlst du denn nicht, daß ich ein feiner und besonderer Jüngling bin,
der unter freundlich gesittetem Außenwesen tiefe Wunden verbirgt, welche das feindliche
Leben ihm schlug? (GW, VII, S. 361)
Der Unterschied zum Hochstapler Felix besteht nur darin, daß der Adressat des Blicks und
damit das Opfer der Täuschung nicht der Oberstabsarzt, sondern die Leserin des Tagebuchs ist. Auf die Frage des Arztes, warum Felix denn noch niemandem von seinem epileptischen Leiden erzählt habe, antwortet er:
Weil ich mich schämte [...] und es niemandem sagen mochte; denn mir war, als müsse es ein
Geheimnis bleiben. Und dann hoffte ich auch im stillen, daß es sich mit der Zeit verlieren
werde. Und nie hätte ich gedacht, daß ich zu jemandem so viel Vertrauen fassen könnte, um
ihm einzubekennen, wie sehr sonderbar es mir oftmals geht. (GW, VII, S. 364)
Schon werden wir wieder mit dem Motiv des Geheimnisses konfrontiert, das Härle im Zusammenhang mit dem Doppelgesicht der Sexualität betrachtet. Das Geheimnis der Epilep292
Härle: Simulationen der Wahrheit, S. 83.
153
sie nicht mit der Thematik der verdrängten homoerotischen Neigungen Thomas Manns in
Beziehung zu setzen, würde bedeuten, unter großen Anstrengungen komplizierte Theorien
zu entwickeln und damit die mögliche Wahrheit zu umschiffen, um ja nicht den Kern der
Sache zu treffen. Zu eindeutig sind Notizen wie: „Kein Fieber. Besser, ich hätte welches.“
(Tb, 26. 12. 1951), die aus dem Munde von Felix oder Hans Castorp zu kommen scheinen.
Sie möchten, daß sich ihr inneres Leiden veräußerlicht, der „Leib-Geist-Dualismus“293
wieder aufgehoben wird, und damit der Wahrheit auf die Sprünge geholfen werden soll,
was paradoxerweise durch eine scheinbare Lüge geschieht. Thomas Mann selbst spricht in
einem Brief an seinen Freund Otto Grautoff von den „diskreten Formen und Masken“, die
er mit der Novelle Der kleine Herr Friedemann gefunden habe, und die es ihm ermöglichen, mit „seinen Erlebnissen unter die Leute zu gehen“, während er das Tagebuch benötigte „um, nur fürs Kämmerlein, mich zu erleichtern“.294
Maske und Simulation sind zwei analoge Spielarten der Vortäuschung, aber sie sind nicht
nur als Formen des Versteckens zu verstehen: sie sind auch Formen der Offenbarung, indem
sie auch eine andere Wahrheit simulieren als die augenfällige – und ob diese andere Wahrheit eine Täuschung ist oder eine tiefere Wahrheit, das zu entscheiden sind wir häufig nicht
imstande. Besonders im Zusammenhang mit Thomas Mann erscheint es als kontraproduktiv,
eine Entscheidung zwischen Wahrheit und Trug, zwischen Spiel und Echtheit treffen zu wollen. Oft genug dienen gerade die Masken, die er seinen Gestalten aufsetzt, deren Entlarvung.295
Die Untersuchung der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull unter dem Aspekt der
Simulation hat die Ununterscheidbarkeit und das Spiel zwischen Wahrheit und Lüge sowie
Realität und Fiktion gezeigt. Das Subjekt geht in diesem Spiel unter, wird brüchig und zerfällt schließlich ganz. Felix, der sich selbst nicht als einheitliches Ich begreift: „[...] das
Ich-selber-Sein, war nicht bestimmbar, weil tatsächlich nicht vorhanden“ (GW, VII, S.
498), treibt mit seinen wechselnden Identitäten die Leser in vollkommene Verwirrung.
Das Spiel der fließenden Grenzen von Täuschung und Wahrheit setzt sich im Tagebuch
fort. Am 29. Dezember 1951 heißt es:
10 Uhr zu Dr. Wolf zur Untersuchung. Natürlich liegt organisch nichts vor. Für Mittwoch
Erprobung des Verdauungstrakts angesetzt – notorisch lästig und bestimmt überflüssig, da
alles nervös und psychisch. Früher stimmte die Bestätigung meiner körperlichen Tüchtigkeit
mich heiter, ich glaube, sie tut das nicht mehr. (Tb, 29. 12. 1951)
293
294
Ebd., S. 65.
Mann: Briefe an Otto Grautoff, S. 95 u. 97.
154
Zahllose Einträge ähnlicher Art und Weise könnten an dieser Stelle aufgeführt werden.
Wie in Thomas Manns Romanen und Erzählungen die Krankheiten die Hauptfiguren zu
Grenzgängern stigmatisieren, so ist auch das tägliche Aufzeichnen des physischen Unwohlseins für den Tagebuchschreiber von existenzieller Bedeutung. Die Äußerungen über
seinen körperlichen Zustand bilden einen festen Bestandteil fast jeden Eintrags und zeigen
damit das extreme Bewußtsein ihres Urhebers über die Ambivalenz der Leib-GeistRelation, denn wir lesen in den Tagebüchern nicht nur den Wunsch, daß sich der starke
Körper der schwachen Psyche anpaßt, sondern auch umgekehrt berichtet der Tagebuchschreiber von körperlichen Reaktionen auf die starke Beanspruchung und Gespanntheit des
Geistes. Nachdem Thomas Mann nach der Beendigung des Doktor Faustus eine schwere
Lungenoperation überstanden hatte, schrieb der Diarist ins Tagebuch:
Mit K. über die »Morde« des Buches: Reisi, Annette, Preetorius, Geffcken. Schlimm,
schlimm. Das rücksichtslose Autobiographische (unverleugnet) zusammen mit dem Montagehaften macht [?]. Der tief erregende Radikalismus des Ganzen. Jene »Morde« habe ich
mit der Lungenoperation bezahlt, die mit dem Werk in unzweifelhaftem Zusammenhang
stand. (Tb, 18. 7. 1947)
Das Interessante an dieser Notiz sind die genannten Namen der Ermordeten, die nicht den
Romanfiguren gehören, sondern die realen Vorbilder der Figuren bezeichnen – ein Zeichen
für die enorm enge Verbundenheit von Realem und Imaginärem in Manns fiktionalen Texten. Nach Manns eigenem Maßstab hat das Autobiographische in den Doktor Faustus sogar unverstellt Eingang gefunden, was durch den anschließend hergestellten Zusammenhang mit der Lungenoperation sofort ’authentisiert‘ wird.
Härle macht die Krankheiten, unter denen die Gestalten aus Manns Werk leiden, für die
Entdeckung ihrer individuellen und inneren Wahrheit verantwortlich:
Es ist dies eine Wahrheit, die sie nicht leben, sondern nur antizipieren können, die Wahrheit
eines Entwurfs, nicht einer Realität. Es ist eine simulierte Wahrheit, und sie verwirklicht sich
ganz konsequent in der Metapher des Todes als dem Höhepunkt aller Verwandlungen und
Verbergungen.296
„Simulierte Wahrheit“ meint hier eine Wahrheit, die im Geist der betreffenden Personen
verankert ist, aber nicht zum Vorschein kommen kann, da ihre Angst vor der Aufdeckung
ihres Geheimnisses den Mut zur Verwirklichung ihrer Wahrheit hemmt. Die Wunden des
295
Härle: Simulationen der Wahrheit, S. 73.
155
Körpers entstehen jedoch erst als Folge auf ihren inneren Zwiespalt, die heimliche Wahrheit dissimulieren zu müssen. In dem Moment, wenn die verdrängte Leidenschaft ausbricht, wenn Gustav Aschenbach Tadzio verfolgt, wenn Hans Castorp sich an seine frühe
Liebe zu Pribislav Hippe erinnert oder wenn Rosalie von Tümmler für den gutaussehenden, jungen Amerikaner Ken Keaton schwärmt – dann reagiert der Körper darauf und
symbolisiert in der Ausprägung von Krankheiten das Verbotene, das die Liebenden gerade
in die Wirklichkeit hinüberretten wollen. Rosalie von Tümmler, eine Frau von fünfzig Jahren, verliebt sich in den vierundzwanzigjährigen Ken Keaton, der ihrem Sohn Nachhilfestunden in der englischen Sprache gibt. Die ersten Anzeichen ihrer Krankheit, die sie als
Wiederherstellung des harmonischen Verhältnisses von Körper und Geist versteht, stellen
sich später als Betrug der Natur heraus.
Bei der Analyse der Simulation bezüglich des Geist-Körper-Dualismus wird beim Versuch des Vergleichs von überwiegend fiktionalen und in erster Linie autobiographischen
Texten ein Unterschied besonders augenfällig. Im Felix Krull wird den Lesern die Lebensgeschichte eines Pikaros präsentiert – seine Entwicklung, seine pluralistisch ausgeprägte
Identität und die damit verbundene Mittelstellung bezüglich des Geschlechts, der Sexualität, der Körperlichkeit sowie der Künstler-Bürger-Problematik liegen offen, d. h. Felix’
Simulationen sind deshalb nicht nur sichtbar, sondern auch erklärbar. Krull liefert für seine
auftretenden Krankheiten immer sofort einen erläuternden Kommentar ab, der den Betrug
vor den Lesern rechtfertigen soll. Die Sache entwickelt sich noch komplizierter, wenn man
Härles Vermutung zur doppelten Simulation bzw. zum Schein des Scheins einbezieht, hinter der offensichtlichen Vortäuschung des epileptischen Anfalls verberge sich die Verstellungskunst des Erzählers, der der Leserin die Simulation durch eine ironische und spielerische Darstellungsweise glaubhaft vermitteln möchte, um von den ’eigentlichen‘ Defekten
Krulls abzulenken. Hier schließt sich die Frage an, ob der Erzähler der zweiten Ebene in
diesem Fall bewußt die Strategie der Verstellung anwendet, um die Leserin in den Irrgarten
der Simulationen zu locken, oder er die Aufmerksamkeit auf das Moment der Selbsttäuschung lenken möchte, der auch Hans Castorp und Rosalie von Tümmler unterliegen, indem sie ihre Liebe aus dem Reich der Verstellung in die Wirklichkeit transferieren; jedoch
um den Preis der Simulation in Form einer Krankheit, die sie irrtümlich als die synchrone
Relation zwischen Leib und Geist diagnostizieren. Bei Felix Krull würde die Selbsttäu296
Ebd., S. 82.
156
schung darin bestehen, daß die idealisierte und scheinbar perfekte Einheit von Körper und
Geist, die jedoch auf starken Verwundungen der Seele beruhen, nur durch Aufwendung
einer extremen Willenskraft aufrechterhalten werden kann.
Warum ist es nun so schwierig, diese doppelte Simulationsebene auch in Thomas
Manns Tagebüchern nachzuweisen? Während den Lesern in seinen Romanen und Erzählungen in das ’Innenleben‘ der Figuren nur soviel Einblick gewährt wird, wie der Erzähler
es für seine Geschichte für notwendig erachtet, erhalten wir von der Hauptperson im Tagebuch nur gefilterte Informationen, da ja mehr reelle Details aus dem Leben des Helden
existieren, die wir kennen müßten, um seine Lebensgeschichte vollständig zu verstehen. In
den Tagebüchern werden wir lediglich mit den Kommentaren des Erzählers über den Verlauf seines Lebens konfrontiert, währenddessen der Hintergrund desselben ausgeblendet
bzw. überdeckt wird. Der vordergründig fiktionale Text hat keine Geheimnisse zu verbergen – welche sollten das auch sein, da sie ja fiktiv wären. Hinter diesem Text befindet sich
nur ein leerer Raum. Der autobiographische Text schiebt sich als „Sichtblende“ vor die
Lebensereignisse des Verfassers und simuliert damit die Authentizität, die von den Lesern
durch den Abschluß des „diaristischen Paktes“ erwartet wird. Demzufolge scheint es unmöglich zu sein, für einen diaristischen Eintrag hinsichtlich des Verhältnisses von Körper
und Geist beim schreibenden Ich eine Aussage zu treffen. In einem fiktionalen Text hat
dies der Autor bereits für die Leser vorweggenommen – wir brauchen ihn ’nur‘ noch zu
analysieren.
Im Gegensatz zu seinen Romanfiguren zeigen die Tagebücher Manns, daß der Diarist
die Übertragung seiner Liebesabenteuer in die Wirklichkeit nicht erprobt. Er beläßt es bei
Träumen, Phantasien und Vorstellungen, die allenfalls durch einen scheuen Kuß oder einen
kurzen Wortwechsel gespeist werden. Offensichtlich wird diese Abgrenzung des fiktionalen vom autobiographischen Text, wenn wir die Episode mit dem schweizerischen Kellner
Franz W. quasi als Schablone auf Manns 1953 erschienene Novelle Die Betrogene legen.
Im Jahr 1950 lernt Thomas Mann Franz Westermeier im Hotel Dolder in Zürich kennen
und verliebt sich in ihn; der Diarist bezeichnet dieses Affäre später als seine letzte große
Liebe. Er ist jedoch weit davon entfernt, Franz seine Liebe zu gestehen, da dieses Geständnis für ihn einen viel zu großen Energieaufwand bedeuten würde:
Durchtränkt und überschattet alles von entbehrender Trauer um den Erreger, Schmerz, Liebe, nervöse Erwartung, stündliche Träumereien, Zerstreutheit und Leiden. [...] Wie gering
dabei die Energie zur Wirklichkeit. Schließlich bestünden Möglichkeiten, dem Gefühl ziel-
157
strebig nachzugehen, Begegnungen herbeizuführen. Wenn ich mich morgens gleich anzöge
und auf der Terrasse frühstückte, könnte es leicht sein, daß er Dienst für mich hätte. Außer
der Scheu vor der Erschütterung und außer dem Zwang, das Geheimnis zu wahren, ist es sogar Bequemlichkeit, was mich abhält – Widerwille gegen Aktivität und Unternehmen, bei
soviel Ergriffenheit! – Drei Tage noch, und ich werde den Jungen überhaupt nicht mehr
sehen, sein Gesicht vergessen. Aber nicht das Abenteuer meines Herzens. Aufgenommen ist
er in die Galerie, von der keine »Literaturgeschichte« melden wird, und die über Klaus H.
zurückreicht zu denen im Totenreich, Paul, Willri und Armin. (Tb, 1. 7. 1950)
Der Energieaufwand bezieht sich also nicht nur auf das Nervenkostüm des Liebenden, das
dabei arg in Mitleidenschaft gezogen würde, sondern vor allen Dingen auch auf die
„Wahrung des Geheimnisses“, das ihm diesen letzten Schritt erschwert.
Das Erlebnis mit Franz Westermeier nimmt im Diarium einen so großen Raum ein wie
kein anderes Ereignis. Zwei Monate lang, von Juli bis August, spielt der junge Kellner,
wenn auch nicht immer direkt, eine Rolle in jeder Aufzeichnung und beeinflußt das tägliche Leben des Tagebuchschreibers.
Nachts, nach kurzem Schlaf, gewaltige Ermächtigung und Auslösung. Sei es darum, Dir zu
Ehren, Tor! Ein gewisser Stolz auf die Vitalität meiner Jahre, wie auf das ganze Erlebnis,
spricht mit. Banale Aktivität, Aggressivität, die Erprobung, wie weit er willens wäre, gehört
nicht zu meinem Leben, das Geheimnis gebietet. Es ist auch keine Gelegenheit und Möglichkeit dazu. Zurückschrecken vor einer nach ihren Glücksmöglichkeiten sehr zweifelhaften
Wirklichkeit. (Tb, 10. 7. 1950)
Die abweichende Schreibweise zur Darstellung des diaristischen Ichs ist in diesen Äußerungen aus den besagten zwei Monaten nicht zu übersehen. Überwiegt vorher die logbuchartige Wiedergabe des Erlebten, so verwendet das federführende Ich jetzt die Darstellungsweise des subjektiven Journals, da es sich nicht mehr nur auf die Mitteilung der Geschehnisse selbst beschränkt, sondern ausführlich seine Selbst-Reflexionen fließen läßt,
indem es der Niederschrift der Fakten ihre Einflußnahme auf seinen Körper und Geist folgen läßt. Das diaristische Ich, das von den Lesern rekonstruiert werden muß, wird wiederum vom schreibenden Subjekt sowohl in der Schreibweise des Logbuchs als auch des subjektiven Journals konstruiert. Den unterschiedlichen Grad der Wertschätzung des Kennenlernens beider Personen wird in folgenden Äußerungen offensichtlich:
Er hat meine Zuneigung wohl gefühlt, insgeheim auch das Zärtliche daran, und sich ihrer gefreut. Er sah, mit welcher Ehrerbietung Beidler sich in der Halle von mir verabschiedete. Die
Eroberung, die er an mir gemacht, muß seinem Selbstvertrauen zuträglich sein, vielleicht zu
sehr. Wahrscheinlich war ihm dergleichen noch nicht geschehen. Es ist so gut wie gewiß,
daß ich ihn nie wiedersehen, auch nichts von ihm hören werde. Leb wohl in Ewigkeit, Du
Reizender, später, schmerzlich aufwühlender Liebestraum! (Tb, 14. 7. 1950)
158
Der „Erreger“ äußert sich nach der Veröffentlichung der Tagebücher folgendermaßen:
Ich kann mich noch sehr gut an Thomas Mann erinnern, aber daß er in mich verliebt war und
mich zum Vorbild für seinen Romanhelden Felix Krull nahm, davon habe ich erst durch
ihren Bericht erfahren. Als wir uns im Züricher Hotel Dolder 1950 kennenlernten war ich gerade 19 [Thomas Mann schätzte ihn damals auf 25 Jahre (Anm. U. B.)] und hatte noch nie
etwas von ihm gelesen. Wenn ich an Thomas Manns Tisch servierte, war er immer sehr
freundlich und steckte mir heimlich Trinkgeld zu, damit ich es nicht abliefern mußte. Nie ist
er mir in irgendeiner Art und Weise zu nahe getreten [...]297
Auch Klaus Heuser hat sich später ähnlich über sein Verhältnis zu Thomas Mann geäußert
und bestätigte seinerseits, nie Annäherungsversuche von ihm erlebt zu haben, während der
Liebende im Tagebuch davon spricht, Klaus Heuser habe einen Kuß von ihm erwartet: „Er
erwartete, daß ich ihn küßte, ich tat es aber nicht, sondern sagte ihm nur vorm Abschied
etwas Liebes“ (Tb, 21. 9. 1935).298 Die Liebesphantasien des Tagebuchschreibers waren
also weit von der Wirklichkeit entfernt; er projiziert seine Reizempfindlichkeit auch auf die
Auslöser seiner Verwirrung. Das, was Thomas Mann als Annäherungsversuche deutet,
sind für Franz Westermeier und Klaus Heuser nur höfliche und aufmerksame Gesten.
Rosalie von Tümmler unterliegt in ihrem Liebeswahn ebenfalls einer Selbsttäuschung.
Die ersten Anzeichen des sich bildenden Gebärmutterkrebses verkennt sie als Erneuerung
ihrer jugendlichen Weiblichkeit und läßt die unheilvolle Krankheit gewähren. Im Unterschied zu den Erlebnissen in Manns Tagebüchern erkennt jedoch der heißbegehrte Ken
Keaton Rosalies Verhalten als Annäherungsversuche und erwidert ihr Werben. Während
eines sonntäglichen Schloßbesuches kommen sich die beiden näher, und der Erzähler erweckt den Anschein, als wenn sich alles zum Guten wendet und Rosalies Freude berechtigt
war. Plötzlich aber bricht die Krankheit aus und befindet sich in einem so fortgeschrittenen
Stadium, daß Frau von Tümmler wenig später an ihrer Selbsttäuschung zugrunde geht. Erst
der Tod kann den „Leib-Geist-Dualismus“ wieder aufheben.
Die Selbsttäuschung, der das Ich in Manns täglichen Aufzeichnungen ausgeliefert ist,
setzt sich auch in den Erzählungen und Romanen fort, wobei die Täuschung im fiktionalen
Raum sich nicht in bloßen Gedankenspielen erschöpft, sondern die Ausprägung der
Krankheit, d. h. die durch den festen Willen herbeigeführte Analogie von Körper und Seele, die Übertragung des Willens der Vorstellung in die Welt der Wirklichkeit provoziert,
297
Wysling; Schmidlin: Thomas Mann. Ein Leben in Bildern, S. 462.
159
wodurch das Unglück nicht mehr aufzuhalten ist. Thomas Mann, der als Tagebuchschreiber des öfteren die Widerstandskraft seines Körpers bedauert: „Gefühl der Auflösung, der
Ratlosigkeit, des Abstiegs und Ruins erschüttert mehr und mehr meinen Nervenzustand, –
nicht des Todes, leider, da meine Physis aushält.“ (Tb, 17. 5. 1952) und sich im höheren
Alter durchaus Signale seines Körpers wünscht, läßt diesen Traum in seinen Erzählungen
in Erfüllung gehen. Als Erzähler besitzt er dabei jedoch das allgemein umfassende Wissen
über die auftretenden Figuren, so daß die Selbsttäuschungen selbst konstruiert sind und
somit die Verwicklungen der verschiedenen Simulationen für die Leserin sichtbar werden.
Als ’Erzähler‘ des Tagebuchs verfügt er dagegen nicht über dieses umfangreiche Wissen
und demzufolge bleiben die Simulationen nicht nur für ihn selbst, sondern auch für den
außenstehenden Betrachter im ungewissen. Wenn der Diarist selbst nicht weiß, daß er sich
täuscht, kann die Täuschung zumindest durch die textimmanente Rezeption nicht herausgefiltert werden.
Während Plessner den simulatorischen Akt als jedem Menschen inhärente lebensnotwendige Strategie betrachtet, beschreibt ihn Härle als einen Zwang, der es dem Menschen
verbietet, seine Geheimnisse der Realität zugänglich zu machen und somit nur eine sekundäre Dimension der Simulation, als Selbsttäuschung bzw. Krankheit getarnt, ihn aus dieser
unerträglichen und belastenden Situation befreien kann.
Laut Plessners Theorem von der Notwendigkeit der Künstlichkeit des Menschen299
durch Maskierung und Objektivierung, würde sich erst in der Differenz zwischen fiktionalem und autobiographischem Text die Zweiteilung des Menschen in Privatperson und öffentliche Person, die vom Zwang des künstlichen Verhaltens außerhalb der Privatsphäre
bzw. der Maskierung und Irrealisierung der Individualität verursacht wird, zeigen. Überträgt man Plessners These auf den Autor Thomas Mann, könnte das bedeuten, daß er mit
einer „Rüstung“ ausgestattet den „Kampfplatz“ des Tagebuchs betritt und sich damit sowohl nach innen als auch nach außen vor Angriffen schützt.300 In diesem Fall bedeutete
das, daß sich Thomas Mann als Tagebuchschreiber in einer sozialen Rolle zeigt und als
eine Person der öffentlichen Gesellschaft konstruiert.
298
Vgl. Interview mit Klaus Heuser. In: Böhm: Zwischen Selbstzucht und Verlangen, S. 376-381. Heuser:
„Ich war sicherlich, auf die argloseste Weise, freundlich und lieb zu ihm, aber mehr nicht. Das war die ganze
’Gewährung‘. [...] Nein, das habe ich nicht. Ich habe keinen Kuß erwartet, gewiß nicht.“ (S. 380-381)
299
Plessner: Die Sphäre des Menschen: „Als exzentrisch organisiertes Wesen muß er sich zu dem, was er
schon ist, erst machen.“ (S. 383)
300
Vgl. Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, S. 82.
160
Thomas Mann könnte demnach als fiktiver Erzähler seine „Rüstung“ ablegen, um seiner
Subjektivität Ausdruck zu verleihen, indem er maskierende Erzählstrategien anwendet, die
keine Rückschlüsse auf seine Person zulassen. Bedeutet das nun aber, daß er sich im Tagebuch nur als Repräsentant der Gesellschaft und als Dichter darstellt, weil er sich auf einer
Bühne befindet und das sich darauf abspielende Schauspiel nach zwanzig Jahren von jedem bewundert werden kann?
7. Simulation und Dissimulation als Provokation eines „authentischen Personalstils“
Was wäre, wenn die vordergründig lakonische Redeweise des Tagebuchtextes, die scheinbar sämtlicher literarischer Merkmale entbehrt, mit der ironischen Erzählweise der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull korrespondierte? Das würde bedeuten, daß der
Tagebuchschreiber sowie der Günstling der Gesellschaft, Felix Krull, den Status der Souveränität einnehmen und der Welt suggerieren, daß sie sich mit ihr im Einklang befinden.
Das Paradoxon liegt jedoch darin, daß beide Figuren das Mittel der Simulation benötigen,
um diese Selbstsicherheit erfolgreich demonstrieren zu können. Während aber Felix Krull
sich mit der Welt arrangieren kann, indem er die jeweils passende Rolle einnimmt, gelingt
dem Diaristen diese Verbundenheit durch die Bändigung seines pluralen Ichs in Form des
Tagebuchs. Können wir im Sprachgestus der diaristischen Eintragungen selten Ironie
wahrnehmen, so erhalten sie doch durch ihre gleichbleibende Struktur eine souveräne Wirkung, die den Eindruck eines einheitlichen Ichs fördert. Die ironisch gefärbten Reden von
Felix gegenüber dem Oberstabsarzt, Miss Twentyman oder Zouzou werden von diesen
Personen nicht als solche erkannt, da die Ironiesignale nur von der Leserin im Zusammenspiel mit Felix’ Verhalten offensichtlich werden. Für den Tagebuchschreiber jedoch sind
die Leser die unmittelbaren Kommunikationspartner, für die es kein klärendes Zwischenglied gibt, das die Rollenpluralität aufdecken könnte.
Auf den ersten Blick scheint diese Fragestellung sehr gewagt zu sein. Das Gelingen dieses Experimentes wird jedoch aussichtsreicher, wenn wir uns genauer mit den stilistischen
Besonderheiten der Tagebücher Thomas Manns beschäftigen und als Vergleich die diaristischen Schriften seines Sohnes Klaus mitheranziehen. Die Gegenüberstellung der Tagebücher von Vater und Sohn hat nicht zum Ziel, die Ursachen für die Unterschiede zwi-
161
schen beiden Diarien auf der Grundlage der Vater-Sohn-Beziehung bzw. der Differenzen
ihrer Persönlichkeiten zu erforschen. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf die Schreibweisen lenken, die einen unterschiedlichen Grad von ’authentischer‘ Wirkung erzeugen.
Klaus Manns Tagebücher ähneln denen seines Vaters in bezug auf die ’Sachlichkeit‘
seiner Darstellungsweise, d. h. sie beschränken sich ebenfalls auf stichpunktartige Mitteilungen über die Ereignisse des Tages, ohne sich dabei in langen Selbstreflexionen zu
ergießen. Es gibt jedoch wesentliche Unterschiede zwischen diesen beiden Tagebüchern,
die teilweise auch in der grundsätzlich verschiedenen Lebensweise von Vater und Sohn
begründet liegen. Die Notizen von Klaus Mann ziehen vor den Augen der Leserin wie eine
rauschhafte Ereigniswelle vorbei. Viele wechselnde Namen, Orte, Lokale tauchen auf und
sind im nächsten Moment schon wieder verschwunden, da sie von neuen Personen, neuen
Städten und neuen Theateraufführungen abgelöst werden:
Erwiderung auf den Völkischen Beobachter geschrieben; bin gespannt, ob es hier jemand
bringt.
Zum Tee: Schlüter und hübscher Lyriker Meister, der mir recht gefällt. »Fach«-Gespräch.
Doris abgeholt, die heute schon nach Dessau flog: mit ihr in der Volksbühne »Grossherzogin
von Gerolstein«, mit sehr süßer Dorsch (Hubsi, Valentin nett, Turnertanz mit Willi.) – Nach
der Vorstellung: oben in Demby-Garderobe Kaffee getrunken; Demby, die Eckstein, Tänzer
Orsulin. – Doris, die müde, abgesetzt. Mit W und Orsulin aus. Erst »Groschentheater«, Trude Hesterberg, Lotte Lenya, zu viel literarisches Pack; dann »Cercle Privé«, trauliche –
schwuhle – talmi-mondäne Transvestiten-Atmosphäre. – Willi übernachtet hier. L`amour.
(Tb, KM, 17. 1. 1932)
Das rastlose Dasein von Klaus Mann hat so gar nichts gemein mit dem strengen Tagesablauf seines Vaters, auch wenn dieser entgegen den gängigen Klischees in den seltensten
Fällen wirklich durchgehalten wurde. Die Tagebuchaufzeichnungen zeigen, daß sich
Thomas Mann diesem täglichen arbeitsreichen Pflichtprogramm unterwarf, um ein festes
Gerüst zu haben, das ihn als Person stützt. Meistens wurde er jedoch von diversen körperlichen oder seelischen Leiden beherrscht, die es ihm unmöglich machten, seinen Tagesablauf regelgerecht einzuhalten. Trotzdem weisen alle uns vorliegenden Einträge denselben
Grundtenor sowie dieselbe Struktur auf, unabhängig von politischen Krisenzeiten oder
familiären Tragödien. Im Gegensatz dazu zeigen Klaus Manns Tagebücher seine persönliche Entwicklung, da seine Einträge spontan ’dahingeworfen‘ sind. Er hat sich nicht die
Zeit genommen, seine Gedanken zu filtrieren. Diese Schreibweise verursacht bei der Leserin ein gewisses Maß an ’authentischer‘ Wirkung. Die Form der Notizen paßt sich seiner
Lebensweise an. Ab dem Jahr 1940, als Klaus Mann an der Zeitschrift Decision arbeitete,
162
wird der vertraute Rahmen der Tagebuchführung aufgebrochen; die Aufzeichnungen erfolgen jetzt nur noch sporadisch. Nach der Einberufung in die Armee im Jahr 1943 reduzieren
sich die Einträge teilweise auf wenige Zeilen pro Tag. Das Jahr 1949 beginnt der Diarist
schließlich mit den Worten: „Ich werde diese Notizen nicht weiterführen. Ich wünsche
nicht, dieses Jahr zu überleben.“ (Tb, KM, 1. 1. 1949). Von diesem Zeitpunkt an bis zu
seinem Tod am 21. Mai 1949 teilen sich die Tagebucheinträge in zwei Spalten. Die linke
Spalte ist für das Datum, den Ort und eine kurze Tageszusammenfassung, bestehend aus
wenigen Worten, vorgesehen. In der rechten Spalte werden die schriftlichen Arbeiten des
Tages eingetragen. Im Fall der Tagebücher von Klaus Mann zeigt sich das diaristische Ich
als ein sich ständig veränderndes Subjekt, deren Entwicklung wir als Leser mitverfolgen
können – allerdings entgegen der Auffassung des Tagebuchschreibers selbst:
Fällt mir auf, wie unheimlich oberflächlich solche Notizen für jeden Zweiten erscheinen
müssen – wenn er sie jemals in die Hand bekäme – , da sie immer nur die nackten Tatsachen,
überhaupt keine Entwicklung geben. (Tb, KM, 27. 1. 1933)
Uns fehlen zwar die Hintergrundinformationen der „nackten Tatsachen“, so daß die Personen hinter den Namen im Verborgenen bleiben, und auch alle weiteren Plätze und Geschehnisse bleiben leer, da sie in keinen Handlungzusammenhang eingebunden sind. Aber
erfahren wir denn vom schreibenden Subjekt mehr als von den anderen Figuren, die im
Tagebuch auftreten? Das ’Mehr‘ erschöpft sich in der subjektiven Konstruktion der im
Tagebuch dargestellten Wirklichkeitselemente, d. h. die persönliche Färbung, die als Lasur
auf den Gegenständen aus der Wirklichkeit haften bleibt. Anders ausgedrückt könnte man
auch sagen, daß für Klaus Manns Tagebücher der Schreibakt einen wesentlichen Teil zum
„Effekt der Aufrichtigkeit“ beiträgt. In ähnlicher Weise äußert sich auch Wilfried F.
Schoeller im Nachwort zum letzten Band der Tagebuchedition:
Diese Journale kommen der Vorstellung vom Schreiben als einem unwillkürlichen, kreatürlichen Akt am nächsten: sie enthalten auf das Genaueste seine Schreibart als Lebensweise.
[...] Aber die besondere Signatur dieser skizzenhaften Texte ist die rückstandslose Verwandlung von Leben in Schreiben. Klaus Mann schreibt das Leben tageweise in eine Sammlung
von Augenblicken, räumlichen Strecken, menschlichen Beziehungen um, er bannt den flüchtigen Rohstoff in Buchstaben. Diese Diarien bilden eine Herausforderung für die in der Literaturwissenschaft so sorgsam konservierte Auffassung, nur das Werk in seiner überzeitlichen
Dauer zähle und sei die Inkarnation des Autors. Bei Klaus Mann jedoch liegen keine Bücher
vor, die diesem Anspruch vollständig genügen könnten. Aber die Lebendigkeit, die dieses
Werk noch heute ausstrahlt, ist nicht zu übersehen. (Tb, KM, VI, S. 230)
163
Der Moment des Schreibaktes gibt demzufolge den Barometerstand der gerade aktuellen
Lebenslage des schreibenden Subjekts an.
Auf dem Hintergrund dieser Beobachtungen von Klaus Manns Tagebüchern lassen sich
jetzt die stilistischen Auffälligkeiten der diaristischen Schriften Thomas Manns detaillierter
betrachten. Warum wirken seine täglichen Notizen im Vergleich mit den Eintragungen
seines Sohnes so seltsam ’langweilig‘, eintönig und vorhersehbar? Die wenigen Brüche in
der Schreibweise seiner Tagebücher können kaum über den Mangel an Merkmalen hinwegtäuschen, die den ’Effekt der Authentizität‘ erzeugen. Die Sprache verändert sich über
die Jahre hinweg nicht. Wenn sich das diaristische Ich im Schreibakt jedoch ständig neu
konstruiert, dann müßten im Laufe der Zeit Veränderungen der Schreibweise sichtbar werden. Die Wahrnehmung der ’Authentizität‘ in den Tagebüchern Thomas Manns ist deshalb
scheinbar nicht mit dem Schreibakt verknüpft, so wie es bei seinem Sohn Klaus der Fall
ist. Sie muß demnach an anderer Stelle gesucht werden. Einen Weg dazu öffnet der Blick
auf die schon weiter oben im Zusammenhang mit dem Felix Krull betrachteten rhetorischen Figur der Ironie, deren Ursprung in Felix’ Hochstaplertum zu suchen ist. Vordergründig senden die Tagebuchtexte keine (selbst-)ironischen Signale aus, während Manns
Romane und Erzählungen durchgehend von einem ironischen und humoristischen Duktus
durchzogen werden. In den sogenannten fiktionalen Texten wird die Ironie, und damit auch
ihr simulatorischer bzw. dissimulatorischer Charakter, durch das Wechselspiel in der
Handlung offenbar. In den Tagebüchern gibt es jedoch keine Projektionsfläche für die Ironie. Worin soll sie sich spiegeln, wie können wir sie entdecken, wenn ein gleichbleibender
Redestatus vorherrscht?
In Klaus Manns Diarien finden wir ein harmonisches Miteinander der einzelnen Rollen.
Er schreibt als Verliebter, als Schriftsteller, als politischer Mensch, als Reisender, als Drogenabhängiger usw. Auch wenn er dem sachlichen Stil des Tagebuchschreibens verhaftet
bleibt, paßt sich die intersubjektive Sprachstruktur, der Wortschatz sowie der Tenor der
Sprache der jeweiligen Thematik an. Logbuchartig berichtet das schreibende Subjekt über
den Fortgang seiner schriftstellerischen Arbeit, seine täglichen Bekanntschaften, Veranstaltungsbesuche, Drogenkonsum sowie seine sexuellen Eroberungen – eine völlig konträre
Leitmotivik im Vergleich zu den Aufzeichnungen seines Vaters. Unterbrochen wird dieses
grobe Raster immer wieder von längeren essayistischen Passagen über Politik, das Mysterium des Lebens, Tod, Wollust usw. Zusätzlich erfahren wir häufig sehr intime Details, die
164
den jeweiligen Gemütszustand des Diaristen erkennen lassen. Klaus Mann gebraucht eine
freie, unbelastete Sprache, die mit dem Vermittelten zusammenfällt. Es scheint demnach
so, als wenn das Vermittelnde, der Schreibakt, und das Vermittelte fast fließend ineinander
übergehen, während bei Thomas Manns Aufzeichnungen scheinbar eine größere Lücke
zwischen Darstellendem und Dargestelltem klafft, die Grenze demnach eindeutig zu erkennen ist und somit der Effekt des ’Authentischen‘ in den Hintergrund gerät.
Unwillkürlich stellt sich die Frage, ob der Eindruck der Distanz bei Thomas Mann sowie die Distanzlosigkeit bei Klaus Mann wirklich in der Relation zum Schreibakt verborgen liegt oder ob diese Differenz zwischen beiden Diarien einfach im unterschiedlichen
Erleben der täglichen Geschehnisse durch die Figuren zu sehen ist. Einen kleinen Anhaltspunkt geben uns folgende Sätze aus Klaus Manns Diarium:
Mit wie viel Kleinigkeiten, Nichtigkeiten, Sinnlosigkeiten habe ich dies dumme Heft wieder
gefüllt. Ist ihre Summe ein Leben? Alles Wesentliche bleibt hier unausgesprochen. Die
Schönheit und die ganze Traurigkeit bleibt unausgesprochen. Ich errate sie später wieder.
Die Fakten sind Stichworte für die Erinnerung, kleine Hilfe für das Gedächtnis. Sonst nichts.
Fortsetzung folgt – bis auf weiteres. (Tb, KM, 9. 4. 1936)
Der Diarist betont hier nicht nur den Konstruktionscharakter der Notate, der durch den
vorangehenden Filterungsprozeß unvermeidlich wird, sondern gibt als Gründe für diese
Aufzeichnungen die Funktionen der Erinnerung und Gedächtnisstütze an.
Demgegenüber lesen wir in Thomas Manns Diarium über die Funktion seines Tagebuchschreibens:
Ich liebe es, den fliegenden Tag nach seinem sinnlichen und andeutungsweise auch nach seinem geistigen Leben und Inhalt fest zu halten, weniger zur Erinnerung und zum Wiederlesen
als im Sinn der Rechenschaft, Rekapitulation, Bewußthaltung und bindender Überwachung...
(Tb, 11. 2. 1934)
An dieser kurzen Bemerkung läßt sich ablesen, welche Prioritäten der Tagebuchschreiber
für die Verfassung seiner täglichen Notizen angibt. Am wichtigsten ist es für ihn, das sinnliche Leben des Tages zu rekapitulieren; die Andeutungen des geistigen Lebens beschränken sich meistens auf die Kapitelangabe des jeweiligen Werks, an dem er gerade arbeitet.
Nach seinen Worten dient ihm das Tagebuch demnach nicht als Gedächtnisspeicher, sondern als Selbstvergewisserung und Selbstüberprüfung. Diese beiden unscheinbaren Beschreibungen des täglichen Buchführens von Vater und Sohn offenbaren die wesentliche
Differenz dieser beiden Notate und geben demzufolge auch den Hauptgrund für ihre unter-
165
schiedliche Wirkung an. Ein Tagebuch erhält einen beschreibenden Charakter, wenn das
schreibende Subjekt alles das niederschreibt, was es am jeweiligen Tag erlebt, geleistet,
empfunden hat, worüber es sich Gedanken oder Sorgen gemacht hat. Wenn der Diarist
jedoch sein Tagebuch vorwiegend aus disziplinarischen Gründen der Selbstüberwachung
führt, trifft er dementsprechend seine Auswahl hinsichtlich des zu Notierenden im Hinblick
darauf, wie er den Tag unabhängig von seiner schriftstellerischen Arbeit verbracht hat,
aber nicht im Sinne einer Berichterstattung von Ereignissen, sondern immer unter der Bestätigung des souveränen Status des eigenen Ichs. Die Tatsache jedoch, daß Thomas Mann
einige seiner früheren Tagebücher durchaus noch einmal gelesen hat, z. B. für das Schreiben des Romans zum Roman Die Entstehung des Doktor Faustus, muß als ein Achtungszeichen dafür gelten, daß keine Äußerung in diesen Tagebüchern wortwörtlich zu nehmen
ist.
Bei der Lektüre von Thomas Manns Notizen erschließt sich der Leserin kein lebendiges
Bild des diaristischen Ichs in Verbindung mit dem zeitgeschichtlichen Horizont. Das liegt
daran, daß sämtliche Ereignisse im Hinblick auf ihre Wirkung auf das schreibende Ich betrachtet und notiert werden. Klaus Manns Aufzeichnungen beschäftigen sich selbstverständlich auch mit subjektiven Reaktionen des Tagebuchschreibers auf bestimmte Entwicklungen, ohne jedoch seine Person zu einem zentralen Punkt zu erheben, um welchen
alle weiteren Geschehnisse kreisen. Vielmehr haben wir es hier mit einem Ich zu tun, das
als Erzähler im Hintergrund bleibt und nur in einigen Situationen (Drogenkonsum, sexuelle
Abenteuer, Auseinandersetzungen mit anderen Schriftstellerkollegen) als Hauptdarsteller
agiert. Dagegen erfolgen sämtliche Einträge in den Tagebüchern Thomas Manns als Ergebnis der Beobachtung der Reaktionen des schreibenden Ichs auf die Einwirkungen der
lebensweltlichen Ereignisse. Als Leser sehen wir uns mit einem diaristischen Ich konfrontiert, das sich ständig im Spiegel beobachtet. Deshalb entsteht der Eindruck, als wenn das
schreibende Ich einen Doppelungscharakter trägt, d. h. als wenn sich zwischen das schreibende Ich und das diaristische Ich noch ein verdeckter Erzähler schiebt, der die Konstruktionsaufgabe übernimmt. Schauen wir uns folgenden Eintrag unter diesem Gesichtspunkt
etwas genauer an:
Was nicht hindert, daß sich unter dem toten Kram manches Schatzartige befindet. – Von mir
weichen möge der Ekel, das Grauen vor allem, das ich, als Resultat nervöser Erschöpfung, in
letzter Zeit empfand. – Was die Liebesabenteuer betrifft, so gilt es einzugestehen, daß man
um ihretwillen auszieht. Die vorige Reise, wenn ich nicht irre, war enttäuschend frei davon.
166
Aber zweifellos ist mein Enthusiasmus für das Jung-Männliche in letzter Zeit, vielleicht aus
Torschluß-Gefühl, stürmisch gewachsen, mein Auge ungeheuer wach und schmerzlichbegierig für alle dergleichen Schönheit, die Nicht-Empfänglichkeit dafür mir bis zur Verachtung unbegreiflich. Daß die Bewunderungswürdigkeit des »göttlichen Jünglings« alles Weibliche weit übertrifft und eine Sehnsucht erregt, vergleichlich mit nichts in der Welt, ist mir
Axiom. Andeutungen des Ideals genügen dem Entzücken. Franzl war kein göttlicher Jüngling, sondern nur lieb. (Tb, 28. 8. 1950)
Selbst solche scheinbar vollkommen subjektiven Bemerkungen des Tagebuchschreibers
über seinen Erschöpfungszustand, seine „Liebesabenteuer“ auf Reisen und seine Neigungen zum „Jung-Männlichen“ zeigen nur das Resultat von Selbst-Reflexionen, die diesen Eintragungen vorausgegangen sein müssen. Im Tagebuch ist schon alles fest statuiert:
Sein „Grauen und Ekel vor allem“ ist nur das Ergebnis seiner allgemeinen nervlichen
Schwäche; eine Reise macht man sowieso nur, in der Hoffnung auf ein kleines Abenteuer;
seine Leidenschaft für die Jünglinge ist selbstverständlich in seinem Alter wegen
Torschluß-Panik gestiegen. Diese etwas lapidare Aufzählung meinerseits zeigt vor allen
Dingen eines: Im Moment des Schreibaktes ist für das diaristische Ich schon alles gesagt.
Eine ständige Selbstbefragung, Stimmungswandlungen, Veränderungen von Einstellungen
zu unterschiedlichsten Themen wie bei seinem Sohn finden selten statt. Stattdessen spricht
hier ein Souverän, der sein Leben bekenntnishaft niederschreibt, mit einer Distanz zum Ich
im Tagebuch, die es ihm erlaubt, sein Leben als Außenstehender zu betrachten. Diese Haltung bedeutet jedoch keine Abkehr vom Subjekt, sondern der Blick ist vollständig auf das
Subjekt fixiert. Von Ironie als Folge einer möglichen Simulation ist in diesem Eintrag
allerdings nichts zu spüren. Miss Eleanore Twentyman und der Oberstabsarzt empfinden
die Reden von Felix Krull jedoch auch nicht ironisch oder humoristisch. Wenn der Tagebuchschreiber nun aber ebenfalls nur eine Rolle spielt, und in diesem Spiel der Leser der
unmittelbare Adressat ist, wäre dann die Simulation überhaupt sichtbar?
Nach 8 Uhr auf. Klares Sommerwetter. Maria zum Packen. Golo spricht vor. – Die gestrige
Begegnung wirkt stark im Gemüte nach. Das Wesen der Liebe seltsamste Aufhebung der
Abneigung gegen das Mitgeschöpf durch Sympathie: Kein Widerwille mehr gegen zu nahe
Berührung, gegen die fremde Leiblichkeit, etwa mit ihm im Bett zu liegen. Dies primär,
aber sogleich zum Verlangen werdend. Nicht notwendig zum starken Verlangen und Begehren, zur Leidenschaft. Es kann sich im Negativen, in der Suspendierung des fleischlichen
Ich-Du-Verhältnis halten, Zärtlichkeit bleiben, kurz, was man »Herz« nennt. – Unsicher, ob
das richtig ist. Das Glück der realen Vereinigung und Umarmung sehr zweifelhaft. [...] (Tb,
16. 8. 1950)
167
Die Sätze sind aus der gleichen Erzählperspektive wie der Wetterbericht geschrieben worden. Der Erzähler berichtet hier mit demselben selbstanalytischen Gestus wie Felix Krull,
wenn er über seinen Liebesgenuß spricht. Die Tagebucheintragung aus der Zeit der Begegnung mit dem Kellner Franz Westermeier korrespondiert mit dem folgenden Auszug aus
dem Felix Krull, als der Hochstapler im Anschluß an die Schilderung „der großen Freude“,
die er mit seiner Amme Genofeva erlebt hat, ein Plädoyer für die ’feinere Art‘ der Liebe
hält:
Ich für meinen Teil kenne viel feinere, köstlichere, verflüchtigtere Arten der Genugtuung als
die derbe Handlung, die zuletzt doch nur eine beschränkte und trügerische Abspeisung des
Verlangens bedeutet, und ich meine, daß derjenige sich wenig auf das Glück versteht, dessen
Trachten nur geradewegs auf dies Ziel gerichtet ist. Das meine ging stets ins Große, Ganze
und Weite, es fand feine, würzige Sättigung, wo andere sie nicht suchen würden, es war von
jeher wenig spezialisiert oder genau bestimmt, und dies ist eine der Ursachen, weshalb ich
trotz inbrünstiger Veranlagung so lange unwissend und unschuldig, ja eigentlich zeit meines
Lebens ein Kind und Träumer verblieb. (GW, VII, S. 315)
Unabhängig davon, daß diese Aussage auffällige Ähnlichkeiten zu Thomas Manns Tagebuchaussagen aufweist, erhalten diese Sätze nur im Hinblick auf den Habitus und die Lebenswelt des Hochstaplers eine ironische Färbung. Da wir nicht wissen, ob der Gestus des
Tagebuchschreibers ebenfalls hochstaplerische Züge trägt, sind wir als Leser auch nicht in
der Lage, über die Ironie zu entscheiden. Daran würde sich die logische Frage anschließen,
warum uns dann beim Lesen der Diarien von Klaus Mann nicht sofort der Verdacht der
Simulation befällt, obwohl die Leser als unmittelbare Kommunikationspartner fungieren.
Klaus Mann läßt uns an seinem Leben teilhaben, der „diaristische Pakt“ zwischen Leserin
und Tagebuchschreiber geht auf, der Text wird dem Authentizitätsanspruch in den Augen
der Leserin gerecht. Thomas Manns Aufzeichnungen entbehren jeglichen erzählenden
Charakter, d. h. alle anderen auftretenden Figuren im Tagebuch verblassen hinter dem diaristischen Ich und erhalten keine Charakterzüge und Persönlichkeitsmerkmale. Sie spielen
Statistenrollen und werden nur zur Darstellung der eigenen Befindlichkeit und des eigenen
vollbrachten Tagewerkes benötigt. Es werden ihre Reaktionen auf Vorlesungen des Dichters, ihre Reisen, Krankheiten und selten auch ihre beruflichen Tätigkeiten mitgeteilt –
niemals jedoch wird ihnen soviel Beachtung zuteil, daß die Leserin sie in ihrer Vorstellungskraft vor sich sieht. Klaus Manns Leben dagegen läßt sich als Erzählung oder Entwicklungsroman lesen, nicht als fiktional in sich abgeschlossene Geschichte, sondern als
eine fortlaufende Handlung mit immer neu entstehenden Konflikten und plötzlichen Ereig-
168
nissen, die mit den Lesern zusammen ausgefochten werden. Die Leser werden wie in einem Roman zum Mitspielen aufgefordert; sie sind als Kommunikationspartner notwendig,
um den Schreibakt aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen und somit wieder
zum Leben zu erwecken. Klaus Manns Figuren dürfen in seinem Tagebuch parallel zu seinem Leben ihr eigenes führen und bekommen von ihrem Erzähler dafür auch Aufmerksamkeit geschenkt.
Das diaristische Ich in den Tagebüchern Thomas Manns bewältigt seine Abenteuer ohne
die Leser; er kennt sofort die Ursachen seines Leidens, stellt seine eigene Diagnose und
therapiert sich selbst. Sein Leben wird der Leserin als fertige Entwicklung präsentiert –
aber nicht auf chronologischer Ebene; jeder Eintrag ist für sich nicht nur zeitlich abgeschlossen, sondern auch gedanklich. Unter gedanklicher Abgeschlossenheit verstehe ich
hier, daß keine Aufforderung an die fiktive Leserin gestellt wird, sich an Problemlösungen
zu beteiligen. Ganz anders Klaus Manns Einträge:
Genommen, mit F. Ach, wie es schmeckt!
Ich muss an E schreiben. Sie ist in Prag. So weit weg. – – Mielein muss ich auch schreiben.
Der Gedanke an alle nahen Menschen ist bis zum Rand voll von Mitleid. – – Verlaine »Sagesse«. Die Ekstase der Demut; die Erniedrigung vorm Kruzifix als Wollust. Reue. (Tb, KM,
9. 1. 1935)
Seine Gedankengänge bleiben offen, er hofft auf den nächsten Tag. Die Leserin versucht
die Gedanken des schreibenden Ichs nachzuvollziehen, fühlt im Geiste mit ihm und wartet
gespannt auf seine Gemütslage am nächsten Tag. Thomas Manns Einträge enden zum
überwiegenden Teil mit einer sachlichen Information, die sich auf die politische Situation,
Besucher oder die Bettlektüre bezieht. Klaus Mann beendet seine Aufzeichnungen dagegen
fast immer mit Reflexionen über den vollendeten Tag.
Nach diesen vergleichenden Beobachtungen stellt man sich unwillkürlich die Frage
nach dem Grund des Tagebuchführens bei Thomas Mann. Seine Funktion der Rekapitulation und der Selbstversicherung, wie er es selbst sagt, bestätigen den geschlossenen und
vorhersehbaren Charakter der Tagebücher. Man wundert sich als Leserin, daß der Tagebuchschreiber in den schwierigen Situationen der Ausbürgerung aus Deutschland, der
Emigration in die Schweiz und nach Amerika oder des Selbstmordes seines Sohnes zwar
manchmal von Verzweiflung, Müdigkeit, Todessehnsucht und Erschöpfung spricht, jedoch
niemals den Schreibstil durchbricht und seine Verzweiflung im Tagebuch auslebt. Er ge-
169
horcht stattdessen, so scheint es, dem „Ordnungsruf des Lebendigen“,301 der ihn wieder zur
Raison zwingt, d. h. der souveräne Habitus eines Felix Krull ist zwar vorhanden, kommt
hier aber nicht zum Vorschein, sondern wird durch die Maske, durch den Stil als „Sichtblende“ verdeckt. Die doppelte Simulation des Felix Krull bleibt unerkannt, weil er ausschließlich als Simulant lebt und durch das Widerspiel von Simulation und Dissimulation
ein lakonischer Sprachgestus und ein scheinbar „authentischer Personalstil“302 entsteht, der
den anderen Figuren keinen Handlungsspielraum läßt, und sie somit der Überlegenheit des
Hochstaplers erliegen, indem sie der Lächerlichkeit ausgeliefert sind. Im Fall der Tagebücher übernehmen die Leser den Part der ’Ahnungslosen‘. Die Simulation der Hauptfigur
zeigt sich hier nicht auf der Handlungsebene, sondern in der Erzählstrategie des Tagebuchschreibers, der den Filterungsprozeß bestimmt und dadurch ein eventuell entstandenes Ungleichgewicht im Redestatus durch die Überwachung dieser Selektion im abwechslungsreichen Verfahren von Simulation und Dissimulation wiederherstellt. Der Unterschied zum
Roman besteht hier in einer Verdoppelung der Simulation, die nicht durch bewußte Vortäuschung, die der Simulant unter Anwendung extremer Willenskraft verübt, besteht, sondern in der Maskierung durch den Schreibstil. Diese Thesen würden Plessners Theorie von
der Maskenhaftigkeit des Menschen als Schutzpanzer in der öffentlichen Gesellschaft entsprechen. Durch die Einbindung fremder Zeichen in den eigenen Kontext303 und die damit
einhergehende Sichtbarmachung des Stils in der Abweichung,304 nämlich die Vermeidung
einer ironischen und stattdessen die Hinwendung zu einer völlig konträren Schreibweise
gegenüber seinen fiktionalen Texten, verursacht Thomas Mann als Tagebuchschreiber den
Effekt des ’Authentischen‘ und lenkt deshalb vom Verdacht der Simulation ab. Wenn er
jedoch trotzdem droht, in eine ’offene‘ Sprache zu verfallen, wenn er z. B. über seine Liebe zu Franz Westermeier berichtet, findet er schnell wieder seine Souveränität zurück und
setzt seine Maske wieder auf. Der Mangel an Selbstreflexion und kritischer Selbstanalyse
in Manns Tagebüchern blockiert den ironischen Sprachhabitus und begünstigt stattdessen
die nüchtern lakonische Redeweise eines Kapitäns, dessen wichtigste Aufgabe darin besteht, aufzupassen, daß sein Schiff den richtigen Kurs nicht verläßt.
301
Greiner: Die Komödie, S. 100.
Oesterreich: Fundamentalrhetorik, S. 139.
303
Vgl. Groys: Unter Verdacht, S.112.
304
Vgl. Starobinski: Der Stil der Autobiographie, S. 33-36.
302
170
Die Schwierigkeit, die sich in den Weg stellt, wenn den Mannschen Tagebüchern eine
Grundhaltung unterstellt wird, die auf der brüchigen Identität des schreibenden Subjekts
basiert, liegt in der Tatsache begründet, daß sie nach meinen vorangegangenen Überlegungen für uns nicht transparent wird, da die Gleichzeitigkeit von Simulation und
Dissimulation zu einem Gleichgewicht zwischen diesen beiden rhetorischen Figuren führt,
die die lakonisch ’authentische‘ Rede in der Felix Krull-Manier provoziert. Die
Problematik wird noch durch die komplizierte dreifache Erzählstrategie und den
konstruierten Charakter des diaristischen Ichs erweitert, das uns die Wahrnehmung des
Tagebuchschreibers als ’authentisches‘ Subjekt verwehrt.
8. Die Gleichzeitigkeit von Simulation und Authentizität
Thomas Manns Tagebücher hinterlassen bei den Lesern nach der Lektüre eine Ungewißheit über ihre ’authentische‘ Wirkung. Die scheinbaren Authentizitätssignale, die die nüchternen Registrierungen aussenden, werden durch ihren unspektakulären und starren Inhalt
wieder überdeckt. Das Vorherrschen des Logbuchcharakters suggeriert uns eine fast lückenlose Aufarbeitung des Alltags des Tagebuchschreibers. Die Angaben von Datum und
jeweiligem Aufenthaltsort lassen die Leser gemeinsam mit dem Diaristen den beschriebenen Tag Revue passieren, wobei der wesentliche Unterschied in der Zeitdifferenz liegt.
Während Thomas Mann am Abend oder am darauffolgenden Morgen den abgelaufenen
Tag schriftlich nacherlebt, wird den Lesern erst zwanzig Jahre später die Gelegenheit dazu
gegeben. Wir haben nun die Möglichkeit, durch akribische Quellenforschung die Zeit- und
Ortsangaben sowie die geschilderten Sachverhalte zu überprüfen bzw. noch zusätzliche
Aussagen anderer Personen einzubeziehen und die Authentizität der diaristischen Schriften
bezüglich ihres Wahrheitsgehaltes der dargestellten Welt festzustellen. Bei Betrachtung
des Anmerkungsapparates der Mannschen Tagebücher scheint aus diesem Blickwinkel ihre
Authentizität verbürgt zu sein.
Die Problematik entsteht, wenn wir aufgrund der Kenntnis über die ’objektive Wahrheit‘ der Tagebücher die Sätze als nicht-literarische ’Fingerabdrücke‘ verstehen und in
unsere eigene Welt übersetzen. Warum schwanken ausgerechnet die Rezensenten der doch
angeblich die Wirklichkeit des Verfassers so authentisch und detailgetreu widerspiegeln-
171
den Aufzeichnungen in ihren Bewertungen zwischen schonungsloser Selbstabrechnung
und dem gleichzeitigen Hinweis auf seine nichtgeschriebenen Verdrängungen und das vorsichtige Widerspiel von Geheimhaltung und Offenbarung? Die Erklärung dieser zweideutigen Lesart liegt meines Erachtens in fast unmerklichen Details verborgen.
Es geht an dieser Stelle nicht um die Aufdeckung einer möglichen Selbstinszenierung
des Tagebuchschreibers, sondern um die Suche nach Indizien, die den Täuschungsprozeß
und die Verunsicherung der Leser auslösen, unabhängig von einer bewußten oder unbewußten Simulationsabsicht des Tagebuchschreibers. Den Ausgangspunkt für meine folgenden Überlegungen bildet eine nochmalige Differenzierung des Simulationsbegriffs bezüglich seiner Anwendung auf Thomas Manns fiktionale Texte auf der einen und die Tagebuchtexte auf der anderen Seite. Aufgrund des fiktionalen Status der Bekenntnisse des
Hochstaplers Felix Krull können wir innerhalb der eigenen Realität des Textes die Simulation erkennen, da wir uns als Leser in der Rolle des Spielleiters befinden, der zwar nicht
außerhalb am Spielfeldrand steht, sondern dem Spiel seine Richtung geben muß, trotzdem
jeoch nicht als Mitspieler mit anderen Figuren interagiert. Deshalb ist es für uns als Leser
möglich, im komplizierten Handlungsgeflecht Täuschungen aufzudecken. Der autobiographische Charakter des Tagebuchs widersetzt sich dagegen einer möglichen Offenlegung
simulatorischer Vorgänge, da die eindimensionale Erzählweise auf keinen Reflektor trifft.
Aus diesen Tatsachen würde es sich ergeben, auf Manns Tagebücher einen Simulationsbegriff anzuwenden, der auf der Totalität einer Baudrillardschen Vorstellung eines Simulakrums beruht. Das würde heißen, die Diarien als eine „Hyperrealität“ zu betrachten, die
ähnlich wie televisionale und computerielle Darstellungen angeblich eine eigene Realität
repräsentieren. Danach wären die Tagebücher Thomas Manns als ein Modell der vorausgehenden Wirklichkeit zu begreifen, das durch Reduzierung und Simplifizierung der zugrundeliegenden Daten für die außenstehende Leserin verstehbar und transparent wird. In
vergleichbarer Weise, wie im Fernsehen die Realität zerrieben wird, können wir auch bei
der Lektüre von Manns Tagebüchern nur kleine Teile der Realität aufnehmen und zu
einem eigenen Bild der möglichen Wirklichkeit des Tagebuchschreibers zusammenfügen.
Götz Großklaus beschreibt in seinem Aufsatz Das technische Bild der Wirklichkeit die
Besonderheiten der televisionalen Darstellung:
Die televisionale Wahrnehmung – das ist meine These – ordnet das Gesehene, gliedert das
sog. Wirklichkeitsfeld vergleichbar als Raster oder Mosaik, in das in beschleunigtem
172
Reiz/Aufnahme- und Verarbeitungstempo »gestreute Punktmengen« [...] zu flüchtigen BildGestalten auf- und wiederabgebaut werden.305
Während in einer Autobiographie das Geschehene aus der rückwärtig gerichteten Perspektive erzählt wird, schreibt der Diarist seine Erlebnisse fast in der Echt-Zeit auf. „Das Erscheinen und Verschwinden von Bildern in Echt-Zeit gestattet keine Verdichtung zu Geschichten“,306 so Großklaus. Er sagt weiter:
Diente die erzählte Geschichte bekanntlich oralen und literarischen Epochen der kollektiven
Versicherung von geschichtlichem Sinn in Mythos oder Epos, so dient das kurzfristig erscheinende TV-Bild der kurzfristigen Versicherung gegenwärtiger Realität [...]307
Nun ist Vorsicht geboten bei der Übertragung von typischen Merkmalen des Fernsehens
auf das Tagebuch von Thomas Mann, denn die Möglichkeit des Wahrnehmens von „Echtzeit-Bildern“ in Form der Live-Übertragung im Fernsehen existiert beim Tagebuch schlicht
und einfach nicht. Dennoch suggeriert der Tagebuchschreiber durch die Angabe von Datum und Ort der Leserin eine nachträgliche Gleichzeitigkeit und gestattet ihr damit das
Nacherleben der einzelnen Tagesgeschehnisse nicht im Gefühl der „Echtzeit“, aber als
tägliche Beglaubigung der Realitätsnähe. Während der fiktionale Text als ein Simulakrum
betrachtet werden kann, in der Hinsicht, daß er, wie Iser sagt, etwas Abwesendes darstellt,
das durch die Verknüpfung von einer modifizierten Realität mit dem Imaginärem im fiktionalen Raum entsteht, erheben die logbuchartigen Aufzeichnungen Thomas Manns den
Anspruch, eine Wirklichkeit nachzubilden, deren konkrete Grundlage kontinuierlich bestätigt wird. Der Unterschied zu den Fernsehbildern liegt darin, daß diese nicht nur auf eine
Realität verweisen, sondern sie auch selbst erschaffen. Die Tagebücher konstruieren zwar
auch ihre eigene Realität, aber nur bedingt durch den vorangehenden Filterungsprozeß.
Die Außergewöhnlichkeit bei Thomas Manns Notaten besteht darin, daß sie in ihrer Gesamtheit von einer extrem gleichförmigen und starren Struktur geprägt sind, die den Gedanken an Notizen eines Beamten aufkommen lassen.308 Beim Versuch einer detaillierteren Analyse verweigern sich die Tagebucheinträge paradoxerweise genau diesem strengen
Schema, das im Tagebuch angelegt ist. Thomas Manns Einträge basieren zwar auf einer
thematischen Grundstruktur, die sich mehr oder weniger immer wiederholt, jedoch extrem
305
Großklaus: Das technische Bild der Wirklichkeit. In: Fridericana 45, S. 50.
Ebd., S. 50.
307
Ebd., S. 50-51.
308
Vgl. Lukosz: Thomas Mann als Tagebuchschreiber, S. 4.
306
173
variantenreich präsentiert wird. Die stichpunktartige Wiedergabe von Dingen, die den jeweiligen Tag geprägt haben bzw. für die Kennzeichnung des Zustandes des Tagebuchschreibers wichtig waren, verstärkt sich im Laufe der Jahre. Oftmals benötigt der Diarist
lediglich ein Wort, um seine psychische oder physische Verfassung oder eine Handlung zu
beschreiben. Diese Reduzierung der Codes bewirkt eine zunehmende Literarisierung von
Manns Tagebüchern und führt bei der Leserin zu einer Wahrnehmung, die durch viele aufeinanderfolgende Bilder, d. h. kurze Auf- und Abblendungen, gesteuert wird. Einige Beispiele aus dem letzten Band der Tagebücher sollen diese Beobachtungen verdeutlichen:
Kälte, Bise, dazu Schneetreiben. Dabei hoher Barometerstand. Erkältet. Viel Post wieder.
[...] (Tb, 1. 3. 1955)
Wiederum heiteres Wetter nach Frostnacht. ½ 8 Uhr. Früh rasiert. – »The Listener« mit dem
Tschechow-Essay. – In »Hommes et Mondes« Boucher über »Krull«. (Glanzszene Mme
Houpflé). – Kleinschrift zur Sache Luther. – Allein mit dem Pudel gegangen. – Brief an
Lavinia M.. – Der »Tartüff« doch wendungsreich u. interessant. »Der Geizige«. (Tb, 8. 3.
1955)
Heiteres Wetter bei tiefem Barometerstand. – Der Holzwurm im Dachgebälk. Kalamität. [...]
– – Der Holzwurm in unserem Dachgebälk. Große Kosten. Juristische Frage. (Tb, 9. 3. 1955)
Erstaunlicherweise können diese prägnanten, kurz gefaßten Sätze die Stimmung und Atmosphäre des Tages intensiver und ’realistischer‘ schildern als es längere Passagen mit
Tendenz zum subjektiven Journal vermögen. Die zweimalige Erwähnung des Problems mit
dem Holzwurm am Anfang und am Ende des Eintrags charakterisiert den Gemütszustand
des Tagebuchschreibers besser als ausführlichere Schilderungen der Alltagsroutine, da
nämlich genau jene unerwähnt bleibt und damit als Auslassung kenntlich gemacht wird.
Beim Blick in den ersten Tagebuchband aus den Jahren 1918-1921 stoßen wir jedoch
ebenfalls auf solche bruchstückartigen Notizen:
Sympathieschreiben aus Schweden. – Brief an Fischer über alle schwebenden Fragen. – Bei
Gosch. – Schlecht geschlafen, Erschöpfungsgefühl. – Golos Geburtstag. Bescherung nach
dem Essen. – Auch nachmittags nicht zur Ruhe gekommen. – Es kam das neue Briefpapier,
Bogen und Karten, nobel bedruckt, erfreulich. [...] (Tb, 27. 3. 1919)
Schneefall, morgens und abends leichter Frost. Der gewendete Winterpaletot, wie neu.
Schrieb die übliche Seite. Beck schickte Wandrey’s »Fontane«, worin ich mehrfach citiert.
Vieles steif und ledern, anderes besser. Werde es wohl rezensieren. [...] (Tb, 29. 10. 1919)
Der Unterschied zwischen diesen zeitlich weit auseinanderliegenden Notizen liegt darin,
daß die früheren Eintragungen in einen ausführlicheren und lebhafteren Kontext einge-
174
bettet sind, während die späten Aufzeichnungen von einem Tagebuchschreiber stammen,
dessen Alltag im gehobenen Lebensalter beschwerlicher und weniger ereignisreich war.
Andererseits findet sich auch im Tagebuch aus dem Jahr 1950 eine Erzählung der Episode
von Manns letzter Liebe, Franz Westermeier, der er in seinen Aufzeichnungen einen Raum
widmet, der alle anderen Episoden übertrifft und fast selbst schon eine kleine Novelle darstellt. Die Wahrnehmung der besonderen Eintönigkeit der späteren Einträge wird also
scheinbar durch die sich verändernden Lebensumstände gelenkt. Manns Diarien sind von
Stimmungsschwankungen ihres Verfassers geprägt, die jedoch nicht in den äußeren Strukturen des Diariums sichtbar werden, sondern in geringfügigen Änderungen der Schreibweise erkennbar sind. Aus diesem Grund verweigern sich diese Tagebücher einer systematischen Analyse, die es sich zur Aufgabe macht, die Entwicklung des Tagebuchschreibers
anhand der sprachlichen Auffälligkeiten oder Auslassungen nachzuzeichnen. Ich erachte es
daher auch für äußerst problematisch, das schreibende Subjekt im Nichtgeschriebenen zu
suchen, wie es Lindner vorschlägt, da sich aus Manns Diarien kein festes Gerüst konstruieren läßt, das als gesetzte ’Norm‘ eine adäquate Vergleichsgröße für mögliche Auslassungen bilden könnte.
Die Notate weisen in ihrer Gesamtheit eine gleichbleibende Logbuchstruktur auf, von
der in keinem Fall abgerückt wird. Innerhalb dieses Gefüges finden sich jedoch immer
wieder Brüche, die in einem kurzen Hinübergleiten in die Schreibweise des subjektiven
Journals oder auch in der Abweichung innerhalb der logbuchartigen Eintragungen selbst
erkennbar werden. Während Thomas Manns Arbeit am Doktor Faustus sind im Tagebuch
folgende Zeilen zu lesen: „Wiedersehen mit Frido, beglückend. Schrieb am Kapitel (Dunkelszene mit Schwerdtfeger, heikel.)“ (Tb, 24. 12. 1945). Die kurze in Klammern gefaßte
Anmerkung zum Kapitel schert aus dem üblichen Logbuchmuster aus, da sie sich nicht auf
das Registrieren einer Information beschränkt, unabhängig davon, ob es sich dabei um die
Person des Tagebuchschreibers selbst handelt oder über die üblichen Tagesereignisse berichtet wird. Im Zusammenhang mit der Arbeit am Zauberberg oder Doktor Faustus finden
wir häufig solche kurzen Zusatzbemerkungen, wie z. B. „In diesen Tagen Mühe mit einer
Besserung an früherer Stelle des Zbg (erotische Atmosphäre).“ (Tb, 29. 10. 1920), „Neue
Aufregung zur Sache.“ (Tb, 13. 10. 1921), „Gewagtheit“ (Tb, 25. 12. 1945), „Suchend,
versuchend“ (Tb, 3. 1. 1946). Diese knappen, aber aussagekräftigen Äußerungen gestatten
scheinbar für einen kurzen Moment den Blick unter die Oberfläche der täglichen Buchhal-
175
tung, da sie einer eigenen Interpretation bedürfen und nur vom Tagebuchschreiber selbst
zu entschlüsseln sind. Schauen wir uns unter diesem Gesichtspunkt eine weitere Eintragung an:
Morgens weiterer Rundgang. Frühstück auf der Terrasse. /Etwas am Roman, zögernd./ Mittags am Meer, auf dem Steg. Beschwerende Post. /Schlechter Kopf,/ zu Schmerz, Schwindel,
nervösem Versagen geneigt. [...] (Tb, 15. 12. 1945)
Die Registrierung des Gesundheitszustandes gehört, wie Lindner bereits konstatierte, nicht
in den Bereich des subjektiven Journals, weil sie zu den relevanten Meßdaten gehört, die
die jeweilige Situation des „zentralen Systems“,309 das in diesem Fall kein Expeditionsschiff, sondern der Schriftsteller Thomas Mann ist, näher bestimmen. Die Informationen,
die die körperliche Verfassung des Tagebuchschreibers betreffen, sind für die Leserin
nachvollziehbar und verständlich. Die ’internen‘ Bemerkungen zur laufenden schriftstellerischen Tätigkeit scheinen dagegen nur für den Diaristen selbst bestimmt zu sein. Blickt
uns hier also der ’wirkliche‘, der ’authentische‘ Thomas Mann in die Augen, oder beruht
diese ’authentische‘ Wahrnehmung wiederum nur auf unserer Neigung, jede nicht völlig
transparente Aussage dem Verdacht zu unterziehen, dahinter könnte eine weitere Tür verborgen sein?
Die Vielfalt im Detail innerhalb des „Großen, Ganzen“ (GW, VII, S. 315) zeigt sich
zum Beispiel auch bei einer eingehenden Betrachtung des täglichen Wetterberichtes in den
Tagebüchern des Jahres 1953:
Dunkelheit und unheimlich-unaufhörlicher Regen. (26. 6.); Wetter zeigt leichte Neigung
zum Besseren. (27. 6.); Helleres Wetter. (28. 6.); Dunstig. Kühler. (29. 6.); Schönes
sommerliches Wetter. (30. 6.); Kühleres, bedecktes Wetter (1. 7.); Bedeckt, kühler. (2. 7.);
Andauernder Regen (3. 7.); Der Morgen verhieß heißen Tag, aber es bezog sich bald wieder
regnerisch (4. 7.); Grau bedeckt. (5. 7.); Das Wetter neblig bedeckt u. immer zum Regen geneigt, aber mild. (6. 7.); Das gleiche weiche, dunstige Wetter. (7. 7.); Schöner Sommermorgen. (8. 7.); Bedeckt, Regen ankündigend. (9. 7.); Grau, sehr kühl. (10. 7.); Seit gestern viel
kühler. Wolkig mit Blau dazwischen. (11. 7.); Kühl und leicht bedeckt. (12. 7.); Föhnsturm
und gepeitschter Regenguß (13. 7.); Heller Himmel, Föhndeutlichkeit. Kühl. (14. 7.); Immer
kühl, immer halb oder ganz regnerisch. (15. 7.); Klarer Himmel, frisches schönes Wetter.
(16. 7.); Noch heiteres Wetter, windig. (17. 7.); Sehr warm, schwühl wie gestern. (18. 7.);
Trübes, kühleres Föhnwetter von stumpfer Deutlichkeit des Ausblicks. (19. 7.)
Es ist jedoch falsch zu glauben, daß diese verschiedenen Wetterdiagnosen lediglich typisch
für die letzten Lebensjahre Thomas Manns wären. Für die frühen Tagebücher ließen sich
176
ähnliche Listen erstellen. Neben dem Datum und der Ortsangabe bildet das Wetter die
dritte Instanz zur Bestätigung der ’Authentizität‘ der Aufzeichnungen. Unterbrochen wird
der Wetterbericht lediglich in Krankheitsphasen des diaristischen Ichs, während Reisen
oder anderer besonderer Vorkommnisse. Das stetige Zurückkehren zur Wetterbeobachtung
unterstützt jedoch seine Funktion der täglichen Selbstüberwachung sowie der Realitätsabsicherung. Das Wetter dient nicht nur als Seismograph zur täglichen Lagebestimmung des
schreibenden Subjekts, sondern bietet dem Diaristen auch die Möglichkeit, sich in der Rolle des Schriftstellers zu präsentieren, bevor er wieder in den Schreibstil des nüchternen
Buchhalters verfällt, wenn es z. B. darum geht, über seine künstlerische Arbeit zu berichten. In diesem Moment setzt der strenge vorher festgelegte Filterungsprozeß ein, der die
Niederschrift der zulässigen Daten überwacht.
Es ist schwierig, weitere ständige Eckdaten in den Tagebüchern zu benennen. Das Verzeichnen der tagsüber getätigten Korrespondenzen, der Veranstaltungsbesuche, der Aufwartungen der unterschiedlichsten Gäste, der Arztkonsultationen usw. wechselt und liegt
im Ermessen des Tagebuchschreibers. Deshalb ist es grundsätzlich kompliziert, in den Tagebüchern Indikatoren für mögliches bewußtes Ignorieren bestimmter Sachverhalte aufzuzeigen und damit Kriterien für die Maskierung oder Nicht-Maskierung des Diaristen zu
erstellen. Da jedem Führen eines Tagebuchs ein subjektiver Auswahlprozeß vorangeht, den
die Leser logischerweise nicht nachprüfen können, scheint es fast unmöglich, basierend auf
der Textanalyse solche Auslassungen zu markieren und zu systematisieren. Nur die minimalen Differenzen innerhalb der Tagebucheinträge und zwischen den einzelnen Schreibweisen scheinen einen möglichen Maskierungsprozeß aufzudecken. Die täglichen Wetterbeobachtungen spielen für mich deshalb so eine bedeutende Rolle, da sie zeigen, wie bemüht der Diarist ist, sie jeden Tag für sich sprachlich neu zu fassen und damit auch das
nüchterne Logbuch zur Literarisierung des Tagebuchs beiträgt. Die Tagebucheinträge kreisen immer um die gleichen Themen, verblüffen jedoch durch ihren Variantenreichtum im
Detail, den die oberflächliche Lektüre verwischt. Mit einem genaueren Blick auf das komplizierte Zusammenspiel zwischen Manns erzählerischen Texten und seinen diaristischen
Schriften möchte ich zu ergründen versuchen, wodurch das monotone und leidende Gesamtbild von Manns Diarium ausgelöst wird.
309
Lindner: ‘Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 19.
177
Der Kontrast zwischen Thomas Manns Prosa und seinen Tagebüchern bezieht sich in
erster Linie auf die stilistischen Unterschiede und nicht auf die Differenz zwischen den
Figuren und dem Tagebuchschreiber, wie Ulrike Prechtl-Fröhlich in ihrer Studie zur Melancholie im Werk Thomas Manns nachweist. Die Problematik des Bewußtseins über die
eigene Unvollkommenheit und die grundsätzlich traurige Lebenshaltung, die aus dieser
Erkenntnis erwächst, bestimmt laut Prechtl-Fröhlich Thomas Manns Figuren genauso wie
ihn selbst. Eine Ausnahme bilden Joseph und Felix Krull, die aufgrund ihrer angeborenen
Leichtigkeit und ihrer Neigung zum Spielerischen die auch bei ihnen latent vorhandene
Problematik des Leidens unter dem Außenseitertum überspielen und ihr entgegentreten
können. Die anderen Figuren müssen dagegen mit starker Willenskraft versuchen, sich im
bürgerlichen Leben zu integrieren, woran die meisten Figuren mit ihrer „feinnervigen
Künstlerart“310 zugrunde gehen. Prechtl-Fröhlichs Analyse der Melancholie in Manns fiktionalen Texten deckt sich mit ihrer Lesart von seinen Tagebüchern:
Die Tagebücher demonstrieren schließlich auch, warum gerade der Melancholiker zu dieser
Form des täglichen Schreibens eine besondere Affinität findet: In der minutiösen Aufzählung
kleinster Ereignisse, Unternehmungen, Erledigungen, im detailreichen Memorieren jeglicher
körperlicher wie seelischer Irritation entspricht das Tagebuch seinem dringenden Verlangen
nach Kontinuität und Stabilität und wird so zum Zufluchtsort eines innerlich stets aufgewühlten Menschen. [...]311
Was dabei auch immer und jederzeit aufs neue an vor allem inneren Hemmnissen und Rückschlägen zu überwinden war, Thomas Mann blieb am Ende doch stets Herr seiner melancholischen Artung – nicht zuletzt wohl deshalb, weil er sich im Werk Figuren und Lebensentwürfe zu erfinden verstand, die sein eigenes zu befürchtendes Scheitern antizipierten.312
Diese Charakterisierung der Mannschen Tagebücher beruht auf ihrer Lektüre als ’authentische‘ Notizen. In der Tat stellen diese Diarien ein nahezu unerschöpfliches Reservoir dar,
wenn es darum geht, Anhaltspunkte für Manns zweiflerische und zerrissene Natur zu finden: „Quälende, tief niedergedrückte und hoffnungslose Zustände, schwer zu ertragen, eine
Art seelischer Wurzelhautentzündung, kommen, nach Aufhellungen immer wieder.“ (Tb,
25. 9. 1933); „Verzweiflung an meiner Lebensfähigkeit nach der Zerstörung der ohnedies
knappen Angepaßtheitssituation.“ (Tb, 16. 3. 1933); „Den ganzen Tag herabgestimmt, melancholisch, unbehaglich.“ (Tb, 20. 3. 1921); „Es gab wohl selten ein solches Ineinander
von Qual und Glanz“ (Tb, 20. 9. 1953).
310
Prechtl-Fröhlich: Die Dinge sehen, wie sie sind, S. 238.
Ebd., S. 237.
312
Ebd., S. 239.
311
178
Mir geht es nicht darum, diese Lesart zu widerlegen, sondern ihren Grund zu analysieren. Es drängt sich die Frage auf, warum zur Bestätigung der ’Authentizität‘ von Manns
Tagebüchern immer wieder lediglich auf die Äußerungen zurückgegriffen wird, die das
durch die fiktionalen Texte vorgeprägte Bild des Schriftstellers bestätigen. Es ist richtig,
daß die Aussagen, die eine negative Stimmung des Tagebuchschreibers widerspiegeln,
überwiegen. Das Ignorieren des vorangehenden Filterungsprozesses führt jedoch zu einer
einseitigen Sichtweise derjenigen Leser, die die Tagebuchäußerungen irrtümlich vollständig mit der Person Thomas Mann identifizieren. Das bedeutet nicht, daß der Diarist permanent lügt, um ein falsches Bild von sich zu zeichnen, sondern daß sich die Leserin über
die Konstruktionsaufgabe des Tagebuchschreibers bewußt sein muß.
Das diaristische Ich, das von einer ambivalenten Grundhaltung gegenüber der Welt
(„Qual und Glanz“) geprägt wird, bestätigt die Leser in ihrem Bild von einem Thomas
Mann, der sich durch die Heirat mit Katia Pringsheim bewußt ein „strenges Glück“ 313 geschaffen hat und sein Leben mit immensem Pflichtbewußtsein meistert. Die Tagebuchform
dagegen widersetzt sich wegen mangelnder literarischer Merkmale dem Thomas-MannBild. Wahrscheinlich würde ein Thomas-Mann-Tagebuch, das in Lindners Kategorie des
„literarischen Tagebuchs“ passen würde, an ’Authentizität‘ gewinnen, da wir sagen würden: „Ja, diesen Thomas Mann kennen wir.“ Das bedeutet: Obwohl die emphatische Authentizität, d. h. die literarische Erzeugung ’authentischer‘ Effekte, nur simuliert wäre, ließen wir uns gern betrügen, indem wir den Text trotz auffälliger Warnungen und Signale als
’authentische‘ Notizen lesen. Es geht jetzt nicht darum, die Leser zu animieren, Thomas
Manns Notate als darstellungsfreie Schriften zu verstehen, sondern auf das Vergnügen
aufmerksam zu machen, mit dem sie sich bei der Tagebuch-Lektüre täuschen lassen, ähnlich wie Felix Krulls Hotelgesellschaft. Da uns Thomas Mann den Gefallen jedoch nicht
getan hat, auch in seinem Tagebuch die Haltung des Ironikers einzunehmen, sondern sich
für die Schreibweise des Logbuchs entschieden hat, ist unsere Wahrnehmung gestört, und
es fällt uns schwer, die nicht gesetzten Authentizitätssignale trotzdem aufzuspüren. Wir
können uns also bei Thomas Manns Tagebüchern deshalb dem Verdacht nicht entziehen,
daß mit ihnen etwas nicht stimmt, weil sie auf der einen Seite durch ihre Struktur des objektiven Registrierens und dem damit entstehenden „Ausnahmefall“ im Gesamtwerk
313
Vgl. Briefwechsel Heinrich – Thomas Mann, 23. 12. 1904, S. 53.
179
Manns eine erzwungene Art der Aufrichtigkeit314 erahnen lassen, andererseits jedoch durch
die Verfremdung des „konventionellen Sprachsystems“,315 das wir von Thomas Mann gewohnt sind, die ’Authentizität‘ wiederum in Frage gestellt wird.
Das Kamera-Auge, das im Tagebuch durch Thomas Mann selbst personifiziert wird, liefert uns intimste Bilder, die der Logik gemäß vom schreibenden Subjekt wegführen, da sie
von ihm selbst ’gefilmt‘ werden und damit nach außen gerichtet sind. Es entsteht die paradoxe Situation, daß der Diarist sich zwar selbst und die ihn umgebenden Umstände beobachtet, jedoch nur von außen, indem er sich selbst irrealisiert und sich in eine andere
Rolle begibt. Der Autor Thomas Mann verbirgt sich in der Logbuchstruktur und zeigt sich
nur in seltenen Momenten des subjektiven Journals an der ’Oberfläche‘.
Heinrich Detering kehrt in seiner Studie Das offene Geheimnis, in der er sich mit literarischen Texten befaßt, in denen die Autoren homoerotische Erfahrungen in camouflierender Erzählweise darstellen, demonstrativ zum Autor zurück. Der Aspekt, der diese Sichtweise für die Analyse von Manns Tagebüchern interessant werden läßt, bezieht sich auf
den Begriff der Camouflage. Beide Techniken, Simulation und Camouflage, basieren auf
einer Strategie, mit der ein Sachverhalt in modifizierter Form so wiedergegeben wird, daß
der Adressat getäuscht wird. Während der Simulationsakt die Leserin jedoch in die Irre
leitet, möchte der Autor durch das Prinzip der Camouflage, so Detering, gleichzeitig auch
erkannt werden. Detering bezeichnet die camouflierende Rede als einen „Gegendiskurs“,
da diese Autoren eine eigene Sprache – er nennt sie mit Brecht „Sklavensprache“ – verwendeten, um den Inhalt des „Subtextes“ nicht direkt aussprechen zu müssen. Diese sogenannte „Sklavensprache“ kennzeichne die produktive Wirkung, die das Verfahren der Camouflage hervorruft.
Detering weist in seiner Analyse zur Novelle Tonio Kröger überzeugend nach, daß die
Thematik der Homosexualität in dieser Erzählung als ein „gesellschaftlich tabuisiertes
Phänomen verschlüsselt kenntlich gemacht wird“ und als „Produkt einer intentional gesteuerten, hochbewußten, ja raffinierten Konzeption“ zu verstehen ist.316 Die Tanzszene
fungiert laut Detering als eine chiffrierte Episode, in der der Gesellschaftstanz für den Begriff der „gesellschaftlichen Konvention“ steht. Die Tatsache, daß Tonio in der Tanzstunde von Herrn Knaak bei der Quadrille „unter die Damen gerät“ (GW, VIII, S. 285) und
314
Vgl. Groys: Unter Verdacht, S. 102-103.
Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 40.
316
Detering: Das offene Geheimnis, S. 333.
315
180
damit zum Gespött aller Anwesenden wird, können wir laut Detering als Darstellung eines
Außenseitertums begreifen, das nicht im Künstlerproblem verankert ist. Diese Szene wiederholt sich am Ende noch einmal mit der ungeschickten Magdalena Vermehren und bildet
für Detering ein weiteres Indiz dafür, daß Tonio nicht nur homoerotisch „handelt“, sondern
auch seine „Identität“ als homoerotisch zu bezeichnen ist.317 François Knaaks Anrede
„Fräulein Kröger“ (GW, VIII, S. 285) und Tonios Frage an Lisaweta: „Ist der Künstler
überhaupt ein Mann?“ (GW, VIII, S. 296) bestätigen Deterings Auffassung von Tonios
zweideutiger Geschlechtlichkeit, die in der Novelle ausdrücklich betont wird, und weisen
diese als einen Konflikt aus, der dem Künstlerproblem vorgelagert ist. Auch die Darstellung der Liebe zu Inge Holm dürfe nicht lediglich als Maßnahme aufgefaßt werden, die die
Sehnsucht nach Hans Hansen tarnen soll, sondern sie sei als weiterer Beleg für Tonios
Kennzeichnung als ’Mischwesen‘ zu verstehen.318 Im Gegensatz zu Böhm wird nach Ansicht von Detering nicht das Verdrängte zum Ausgangspunkt der Motivation für die Strategie der Camouflage, sondern der „leidende Autor“ selbst: „Die ästhetische Sublimation des
Erotischen geht dem Text nicht voraus, sondern wird in ihm vorgeführt. Sie ist nicht seine
Voraussetzung, sondern sein Thema“.319 Der Autor verschwindet also nicht im Text, sondern findet im Akt des Camouflierens eine Möglichkeit, die herrschenden Diskurse zu umgehen und stattdessen einen „Gegendiskurs“ zu starten. Dieser Rückbezug auf den Autor
erklärt dann auch die Notwendigkeit, bei der Textanalyse camouflierender Texte auf autobiographische Texte des jeweiligen Autors zurückzugreifen, um den „Subtext“ aufdecken
und den „Oberflächentext“ besser verstehen zu können. Thomas Manns Tagebücher begreift Detering als eine „Leseanweisung“ und damit sozusagen als das ’Lösungsbuch‘ für
seine camouflierenden Prosatexte.
Das kontrastreiche Verhältnis zwischen Manns erzählerischem Werk und Tagebüchern
ließe eine zur Technik der Camouflage entgegengesetzte Erzählstrategie vermuten. Die
Tatsache jedoch, daß wir für Thomas Manns Notate fast eine eigene Kategorie entwickeln
müßten, gestaltet diese Frage wieder offen. Können wir also auch Spuren camouflierenden
Schreibens in Manns Diarien finden? Laut Detering müßten wir diese Frage zumindest
teilweise bejahen, da die Tagebücher seiner Meinung nach in bezug auf Manns „Erkennt-
317
Ebd., S. 313.
Ebd., S. 307.
319
Ebd., S. 333.
318
181
niswunsch“320 eine Komplementärfunktion besitzen, d. h. zusammen mit anderen autobiographischen Schriften ermöglichen sie es den Lesern, die Motivierungen für die Verwendung der Strategie der Camouflage zu untersuchen. Auch Inge Jens vertritt mit Rückgriff
auf den bereits erwähnten Platen-Vers diese Auffassung:
Nein, für mich besteht kein Zweifel, der Tagebuchschreiber wollte, daß ihn die Welt kenne –
mit allen Details des Alltäglich- ’Normalen‘, die – und das wußte der ausgewiesene Schriftsteller genau – unabdingbar sind, wenn es um Verbindlichkeit geht.’Es kenne mich die
Welt‘: das Diktum markiert den Entschluß eines sich seiner Mittel bewußten Künstlers. Die
Tatsache, daß er die Geltung durch den Nebensatz einschränkte ’. . . aber erst, wenn alles tot
ist‘ [...], widerspricht dem nicht. Im Gegenteil: die Mitwelt mußte das Podest, das Thomas
Mann durch die Lebensleistung erklommen hatte, respektieren; die Nachwelt hingegen sollte
erfahren, wie schwer es errungen war, welche Ambivalenzen in der eigenen Person, welches
’Doppelleben‘ nicht nur in ’Qual und Glanz‘, sondern, vor allem, in der Spannung zwischen
persönlich sinnlicher Erfahrung und moralischer Verpflichtung, zwischen ’Chaos‘ und ’Verfassung‘ es auszuhalten galt. Nur in seinen Tagebüchern bekennt sich Thomas Mann uneingeschränkt zu seiner Existenz in jenen zwei Reichen, die der Jüngling mit den Schlagworten
’Bürger‘ und ’Künstler‘ literarisierte [...]321
Jens sagt zwar, daß die aufmerksamen Leser die existenziellen Konflikte des Dichters, wozu auch seine homoerotische Neigung gehört, schon aus seinen erzählerischen Werken
erraten konnte, jedoch die Art und Weise ihrer Verarbeitung und Kompensierung ließen
sich erst mit Kenntnis der Diarien begreifen. Diese Ansicht entspricht Deterings Definition
von Camouflage in der Hinsicht, daß die „Signalisierung des ursprünglich Gemeinten“
prinzipiell von allen Lesern bemerkt werden kann, die Dechiffrierung dieses „ursprünglich
Gemeinten“ jedoch nur einem vertrauten Leserkreis vorbehalten bleibt.322
Bei der Betrachtung von Manns diaristischen Schriften als einem Offenbarungseid, nach
dem sich plötzlich der Vorhang öffnet, wir hinter die Kulissen blicken dürfen und sich ein
ganz neuer Horizont zeigt, der es uns erlaubt, die Thomas-Mann-Texte in ganz anderem
Licht zu sehen, unterliegen wir meines Erachtens der Gefahr, die wichtige Komponente der
Literarizität im Tagebuch zu unterwandern. Auch Detering begreift Tagebücher nicht als
’authentisch‘, sondern betont die „fiktionale Regulierung allen autobiographischen Schrei320
Gerhard Härle unterscheidet drei Arten des Erkenntniswunsches. Er kann zum einen vom Interesse für
eine bestimmte Person getrieben sein. Eine andere Möglichkeit ist der Wunsch nach Selbsterkenntnis, dem
die Autobiographen durch Selbstreflexion ein Stück näher kommen wollen und die Leser sich durch das
Nachvollziehen dieser Reflexionen eine Befriedigung dieses Wunsches erhoffen. Der „passive Erkenntniswunsch“ schließlich wird vom Verlangen beeinflußt, erkannt und verstanden zu werden. (Vgl. Härle;
Kalveram; Popp: Erkenntniswunsch und Diskretion, S. 19-20)
321
Jens: ‚Über das Falsche, Schädliche und Kompromittierende des Tagebuchschreibens, das ich unter dem
Choc des Exils wieder begann und fortführte...‘. In: German life and letters 51, H. 2, S. 290.
322
Detering: Das offene Geheimnis, S. 30.
182
bens“.323 Auf welche Prätexte sollen wir uns jedoch beziehen, um camouflierende oder
simulierende Vorgänge im Tagebuch zu erkennen? Es lohnt sich zu fragen, ob dieTexte, in
denen sich der Autor Thomas Mann maskiert, notwendigerweise ein Diarium verlangen,
das ebenfalls einen verhüllenden Charkter besitzt. Der „Gegendiskurs“, den die prosaischen Texte mit ihrer durchkonstruierten Struktur ausführen, würde sich dann auch auf die
Tagebücher übertragen. Das könnte ein weiterer Mosaikstein zum Verständnis der unvergleichlichen Schreibweise in Manns Diarien sein. Das ’diaristische Handbuch‘ als Interpretationshilfe kann einige bislang nur vermutete Deutungen bestätigen – es entstehen jedoch
gleichzeitig mindestens genausoviele neue Fragen. An die Stelle der Technik der Camouflage im Tonio Kröger, Zauberberg oder Doktor Faustus, tritt die offensive Strategie der
Simulation, die einige intime ’Wahrheiten‘ preisgibt – jedoch nur die gewollten.
9. Zusammenfassung
Warum überfällt uns beim Lesen von Thomas Manns Tagebüchern der Eindruck, den wir
nicht auszusprechen wagen: Es sind Äußerungen eines Nobelpreisträgers? Nicht, daß wir
damit rechnen müßten, jeden Tag Zeuge eines sensationellen Ereignisses zu werden, aber
es passiert so rein gar nichts Spektakuläres im Alltag des vielgerühmten Dichters. Niemals
befindet er sich am Abgrund der Verzweiflung – „das diarische Ich zeigt sich als ein integriertes Ich, allen Krisen zuwider“.324 Wenn man nicht wüßte, daß der Verfasser dieser
Notizen der große Thomas Mann ist, könnte man annehmen, es handelt sich um die täglichen ’Bekenntnisse‘ eines Beamten, wie es Jerzy Lukosz in seiner Studie Thomas Mann
als Tagebuchschreiber bemerkt. Ganz so einfach macht es uns der Tagebuchschreiber nun
aber doch nicht, da er sich nicht immer mit der Schreibweise des Registrierens begnügt,
sondern sich auch häufig als Stilist präsentiert. Folgende Auszüge sollen das verdeutlichen:
Seit zwei Wochen gerade hier nichts eingetragen. Unser Leben geht weiter wie bis dahin bei
immer klarem Himmel und in den Mittagsstunden sehr feuriger Sonne, doch ist die Hitze
keineswegs übergroß, ein Sturmtag, der, wie es scheint, als Gewitter fungierte hat sie sogar
beträchtlich herabgesetzt, und immer sind die Abende frisch, an denen ich, wenn wir allein
323
324
Ebd., S. 27.
Lukosz: Thomas Mann als Tagebuchschreiber, S. 3.
183
zu Hause sind, gern längere Zeit in einem Korbstuhl vor der Tür meines Arbeitszimmers auf
der kleinen Veranda sitze und rauche, während die Sterne hervortreten. (Tb, 20. 7. 1933)
Herausgerissen aus dem Kontext des Tagebuchs, könnten diese Sätze auch aus einem Prosatext Thomas Manns stammen. An diesen Abschnitt schließen sich die üblichen Registrierungen der Tagesereignisse in bewährter Logbuchmanier an. Notizen wie die zitierten Zeilen treten in unregelmäßigen Abständen auf, so daß es äußerst schwierig ist, ihnen eine
bestimmte Funktion zuzuschreiben. Diese autobiographisch gefärbten Einträge suggerieren
der Leserin: ’Ich, Thomas Mann, bin auch noch als Stilist da.‘ Plötzlich spricht der Autor
der uns bekannten Werke zu uns, um dann jedoch abrupt wieder in die Anonymität des
Logbuchs abzutauchen.
Ich schließe die diesen Aufenthalt begleitenden Aufzeichnungen, an den ich dankbar zurückblicken werde. Die Zukunft ist ungewiß, wie sie es im Grunde immer ist, und nur darauf
darf ich wohl mit einer Art von natürlicher Sicherheit rechnen, daß der bei aller Schwierigkeit glückliche Grundcharakter meines Lebens sich auch unter Umständen durchsetzen wird,
die mir anfangs den Atem nahmen. (Tb, 22. 9. 1933)
Diese, im späten optimistischen Tonio-Kröger-Sprachhabitus verfaßte Selbstreflexion,
zeigt einen Tagebuchschreiber, der sich vom protokollierenden diaristischen Ich auf eine
Art und Weise abgrenzt, die einen Verdacht von zwei verschiedenen Diaristen aufkommen
läßt.
Sowohl die logbuchartigen Dokumentationen des Alltags als auch die autobiographischen Aussagen in der Ich-Form bestätigen ein interessantes Phänomen: Beide Schreibweisen erwecken gleichzeitig den Eindruck des ’Authentischen‘ und des Inszenierten. Die
Aneinanderreihung von Fakten nimmt für sich einerseits das Prädikat des ’Authentischen‘
in Anspruch, weil sie größtenteils durch archivalische Recherche überprüft wurden und
diese Informationen den Lesern im umfangreichen Kommentarteil der edierten Tagebücher
auch zugänglich sind. Auf der anderen Seite verlieren sie durch den notwendigerweise
vom Verfasser des Tagebuchs gesteuerten Filterungsprozeß das Wahrhaftigkeitssiegel. Die
Leserin hegt berechtigterweise den Verdacht, der Tagebuchschreiber könnte der Öffentlichkeit besonders spektakuläre Dinge verheimlichen, die ein negatives Licht auf seine
Person oder sein Werk werfen könnten.
Mit den in der Form des subjektiven Journals geschriebenen Aufzeichnungen erreicht
der Erzähler eine größere Nähe zur Leserin, indem er aus der Beobachterrolle in die Rolle
184
des selbstreflektierenden Künstlers schlüpft. Der auf diese Weise erlangte Effekt wird jedoch wieder dadurch relativiert, daß der prosaische Stil an einen fiktionalen literarischen
Text erinnert.
Es scheint so, als wenn dieses schillernde Mißverhältnis zwischen dem Gestus des ’Authentischen‘ und der Simulation von Authentizität auf dem Verhältnis zwischen Intimität
und Repräsentation beruht, das ein ständiges Ausbalancieren dieser beiden Komponenten
verlangt und zu dieser eindimensionalen Schreibweise führt. Durch den ständigen Zwang,
dem der Tagebuchschreiber unterliegt, zwischen der Rolle als Repräsentant und der Rolle
des intimen Bürgers und Künstlers zu vermitteln, erhält die Struktur des Tagebuchs einen
starren Charakter. Die seltenen Rückfälle in das subjektive Journal und die anschließende
Weiterführung der üblichen Schreibweise bestätigen die Bemühungen des Diaristen um die
Bewahrung der Logbuchstruktur. Die Problematik beginnt mit dem Versuch, den Text hinsichtlich der möglichen Indizien zu entschlüsseln, die für eine Inszenierung dieses Wechselspiels von Simulation und Dissimulation verantwortlich sind.
Warum ist uns das logbuchartige Registrieren des Intimen nicht intim genug, und stellen
sich somit Zweifel bezüglich der Wahrhaftigkeit des Textes ein? Wenn wir uns die täglichen Eintragungen etwas genauer anschauen und miteinander vergleichen, stellen wir fest,
daß die Buchhaltung immer dann abbricht, wenn der multidimensionale Charakter der Persönlichkeit Thomas Manns in den Vordergrund zu rücken droht. Der Tagebuchschreiber
achtet pedantisch darauf, daß die Rollenvielfalt seiner Prosa von der eindimensionalen Erzählweise im Diarium abgelöst wird.
Wieder ein strahlender, frischer, sonniger Morgen. Es ist sehr hübsch, sich nach dem Frühstück rauchend, bei offener Balkontür, zu der leichten Tätigkeit des Tagebuch- oder Briefschreibens zu setzen; [...] (Tb, 3. 4. 1933)
Die Kombination aus der angenehmen Arbeit am Tagebuch und der Korrespondenz sowie
dem Genuß des Rauchens offenbart die entlastende und befreiende Wirkung, die das Tagebuchschreiben auf den Diaristen ausübt. Das Gefühl muß nicht, wie im Tonio Kröger,
durch literarische Sprache „erledigt“ werden, sondern durch die Niederschrift der alltäglichen Routine, die von der geistigen Tätigkeit des Dichtens getrennt werden muß, kann eine
Entlastung und Entschlackung des Geistes erreicht werden. „Mit der Sprachmagie werden
185
in den Tagebüchern Thomas Manns die wildesten Empfindungen gezähmt“.325 In der Tat
besitzt die Sprache dieses Diariums etwas Magisches. Sie verblüfft durch ihre scheinbar
unvermittelte ’Authentizität‘, die freilich nur ein Effekt der Registerwechsel ist, und wirkt
im gleichen Moment jedoch wieder seltsam fremd, distanziert und mysteriös. Die magische Wirkung entsteht durch den entlastenden Effekt, den die Sprache im Moment des
Schreibaktes auf den Tagebuchschreiber überträgt. Die Abfallschicht des Tages, die die
künstlerische Tätigkeit des Diaristen umschließt und stützt, wird durch das objektive logbuchartige Registrieren der Tagesereignisse in Schrift verwandelt. Der ’normale‘ und einfache Alltag, den auch der Schriftsteller Thomas Mann nicht umgehen kann, wird vom
Tagebuchschreiber in einfache bzw. ’Normalsprache‘ umgesetzt, und damit befreit er
gleichzeitig sein literarisches Schreiben von den beschwerlichen und nervenaufreibenden
Pflichten des Alltags. Die Leitmotive der Romane und Erzählungen werden von den Leitmotiven des Alltags (Wetter, Medikamente, Rauchen, Körperpflege, Korrespondenz, Besuch, Lektüre) abgelöst. Thomas Mann schafft es, sich auch als Erzähler im Tagebuch so
zu irrealisieren, daß er den Lesern den Eindruck vermittelt, etwas verberge sich hinter einer
Maske.
Dürfen die Figuren in Thomas Manns fiktionalen Texten ihre inneren Konflikte ausleben, so strebt das auf den Ausgleich mit der Welt bedachte Ich im Tagebuch einen souveränen Status an. Diese Tatsache bewirkt die starke Affinität zum Felix Krull, in dem beide
Komponenten durch den Simulationsakt miteinander kombiniert werden, d. h. Felix erreicht seine thronende Existenz durch seine Immunität gegen die seelische Zerstörung
durch die plurale Persönlichkeit, an der andere Thomas-Mann-Figuren zugrunde gehen.
Diese Immunität gewinnt Krull mit Hilfe eines Abwehrmechanismus in Form von Simulationen. Das schreibende Subjekt versucht in den Tagebüchern ebenfalls, sich auf eine Rolle
festzulegen, bleibt aber trotzdem in der Rollenvielfalt gefangen. Die tägliche protokollarische Buchführung bildet eine eigene Erzählebene und garantiert die souveräne Existenz
des diaristischen Ichs. Das Mannsche Tagebuch inszeniert ein Modell nach dem kybernetischen Simulationsverständnis, das den Alltag des Dichters in Form eines Diariums neu
entstehen läßt. Es gilt jetzt, die Simulationsakte innerhalb dieses Modells sichtbar zu machen und ihre Funktion und Wirkung zu verstehen.
325
Ebd., S. 14.
186
Die Offenheit der Schilderungen des Tagebuchschreibers über den eigenen gesundheitlichen Zustand, die exakten Angaben über Besuche, kulturelle Veranstaltungen, Tagespolitik, repräsentative Verpflichtungen, Spaziergänge usw. vermittelt in der ’Normalsprache‘
bzw. in der Sprache, die von Manns Prosa abweicht, scheinbar das ’authentische‘ Bild des
Privatlebens des Schriftstellers. Lukosz spricht jedoch von einer Authentizität und Intimität
des Tagebuchs, die lediglich in der Intention des Tagebuchschreibers begründet liegt,326
d. h. dieses Diarium enthüllt keine sensationellen intimen Skandale, sondern versucht bei
der Darstellung von äußerer und innerer Realität eine Ichbegrenzung zu erreichen, die die
multiperspektivische Ironie der Ichentgrenzung in den Romanen und Erzählungen unterdrückt.
Der sich bei der Leserin einschleichende Verdacht der Simulation erhält dadurch Nahrung, daß die Buchhaltung an dem Punkt halt macht, wenn es um das Werk geht, an dem
Thomas Mann gerade arbeitet. Außer einer Registrierung des jeweiligen Kapitels und
eventuell ein paar kurzen Zusatzbemerkungen, die den entsprechenden Fortschritt der Arbeit kennzeichnen, erfahren wir kaum etwas, das der Werkgeschichte neue Aufschlüsse
geben könnte. Unsere Erwartungshaltung wird ebenfalls enttäuscht, wenn wir ausführliche
und direkte Urteile über zeitgenössische Schriftstellerkollegen erhoffen, ebenso wie eine
Einordnung politischer Ereignisse in einen größeren philosophischen Zusammenhang, wie
wir es beispielsweise aus den täglichen Aufzeichnungen von Klaus Mann kennen.
Der große Denker Thomas Mann, der Autor des Zauberbergs und der JosephTetralogie, gestattet uns lediglich einen Einblick in den sich Jahr für Jahr wiederholenden,
immer gleichen Tagesablauf, den wir doch schon aus dem ersten Band kennen. Während er
am Doktor Faustus arbeitet, dürfen wir uns wenigstens mit solchen Worten wie „Hölle“,
„Schwerdtfeger“ oder „nervös“ beschäftigen. Der Verdacht erhärtet sich, daß sich hinter
diesen hingeworfenen Satzbrocken ein Geheimnis verbirgt.
Dem Verdacht nachzugehen, führt uns jedoch in eine Sackgasse, wie es uns von Maar
so anschaulich wie unfreiwillig vorgeführt wurde. Fruchtbarer scheint es mir da, Wolfgang
Isers Spielfeld der Inszenierung zu folgen und zu überprüfen, ob seine Theorie, daß sich
das Ich über imaginäre Konstruktionen entwirft, um seiner selbst habhaft zu werden, auch
für das Tagebuch, im speziellen Fall von Thomas Mann, gilt. Durch das „Spiel der Differenz“, das mit dem Übersetzungsakt des Realen in das Gebiet des Fiktiven einsetzt, lassen
326
Ebd., S. 5.
187
wir uns auf ein offenes Spiel von semantischen Differenzen ein. Die Schnittstelle zwischen
Realem und Imaginärem wird im Tagebuch jedoch nicht durch das Fiktive, sondern lediglich durch den Schreibakt selbst gekennzeichnet. Im Vollzug des Schreibaktes, der durch
einen subjektiven Filterungsprozeß des Verfassers gelenkt wird, korreliert das Reale mit
dem Imaginären – für die Leser beginnt das Spiel. Gerade bei der Gattung des Tagebuchs
bleibt bei uns während der Lektüre die Suche nach dem Code zur Entschlüsselung der ’geheimen‘ Botschaften des Diaristen präsent. Durch den geschickten Wechsel der Schreibweise in den Notaten Thomas Manns, der keinem festen Muster folgt, gelingt es der Leserin nicht, sich dem Spiel zu entziehen oder es von einer Beobachterposition außerhalb des
Textes zu verfolgen. Sie wird zwischen Enthüllung und Verschleierung eingeschlossen und
versucht immer von Neuem, einen Spalt zu finden, der unter die ’Oberfläche‘ führt.
Die Monotonie der täglichen Eintragungen des Diaristen, der nicht müde wird, jeden
Tag den Wetterbericht abzugeben und seine persönlichen Daten zu notieren, führt zu einer
kontrastiven Wirkung gegenüber seinen fiktionalen Texten und damit zur Simulation eines
darstellungsfreien Berichtes. Mit der gleichbleibenden Struktur der Einträge suggeriert der
Tagebuchschreiber seinen Lesern ein eindimensionales Leben, das nur auf Disziplin,
Pflichterfüllung und die Kontrolle psychischer Labilität gegründet ist. Was passiert, wenn
wir die ständig wiederkehrenden Angaben aus den Notizen tilgen? Übrig bleibt die Erwähnung einiger besonderer innerfamiliärer Vorkommnisse, politischer Auseinandersetzungen
sowie Reiseberichte; neutrale Bemerkungen, die jeglichen ironisch-eleganten Stil vermissen lassen, auch wenn man sicher einige stilistische Feinheiten erkennen kann, die aber nur
mit Thomas Manns Treffsicherheit bezüglich der Wortwahl zusammenhängen und seine
sprachlichen Fähigkeiten bezeugen. Diese kleinen stilistischen Bonmots können jedoch in
keiner Weise den Eindruck eines ’normalsprachlichen‘ Textes ohne besondere sprachliche
Auffälligkeiten entkräften.
Erst das Notieren des täglichen Leidens beeinflußt die Leserin in ihrer Wahrnehmungshaltung, da sie zum Mitleiden aufgefordert wird. Die Leserin identifiziert sich mit der Rolle des Diaristen. Berufen wir uns noch einmal auf Iser mit seiner Behauptung, die Darstellung von Imaginärem im literarischen Text basiere auf der natürlichen Fiktionsbedürftigkeit des Menschen, verursacht durch seine exzentrische Position. Nur durch Spielvariationen können die Unverfügbarkeiten und Vorstellungen des Menschen veranschaulicht und
realisiert werden. Worin liegen nun die Differenzen zum fiktionalen Text, wenn wir Isers
188
Hypothese auf das Tagebuch Thomas Manns übertragen? Es bedeutet nicht die letzte Konsequenz, die Paul de Man proklamiert, nämlich die Indifferenz zwischen traditionell fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten und stattdessen die Erhebung der Rhetorizität zum Unterscheidungsmerkmal der Texte.327 Das diaristische Ich wird im Tagebuch zwar fiktional
entworfen, wodurch der Text aber nicht automatisch einen fiktionalen Status erhält. Der
Prozeß der Simulierung, der Inszenierung des Lebens von Thomas Mann in Form eines
Tagebuchs, bewirkt die Fiktionalisierung des Ichs. Nach Isers literarischer Anthropologie
würde es also bedeuten, daß sich Thomas Mann beim Schreiben seines Tagebuchs in einer
anderen Rolle befindet als beim Verfassen seiner Erzählungen und Romane. Die diaristische Sprache Thomas Manns befindet sich in einem Grenzbereich. Sie bietet uns keinen
Anhaltspunkt, von dem aus man einen Verfremdungseffekt oder eine Abweichung von
’normalsprachlichen Texten‘ erkennen könnte. Aus diesem Grund schließt Martin Lindner
es nicht aus, daß wir bei Manns Aufzeichnungen mit ’Fingerabdrücken des Wirklichen‘
konfrontiert werden. Meine vorhergehenden Analysen haben jedoch gezeigt, daß wir uns
in den Fängen des Verdachts befinden, wenn wir die Diarien als darstellungsfreie Texte
lesen. Die Tagebücher sind nicht vom Autor der Werke geschrieben. Wir werden mit dem
„Leerlauf einer artifiziellen Diktion“328 konfrontiert, mit welcher der Tagebuchschreiber
den ’Abfall‘ des Tages, die Lücken zwischen der literarischen Produktion rekonstruiert.
Die Dichotomie zwischen Thomas Manns Prosa und den melancholisch gefärbten diaristischen Schriften bewirkt auch die gegenseitige ’Authentisierung‘ von fiktionalen und
scheinbar darstellungsfreien Texten.
Thomas Manns Tagebücher und seine fiktionalen Texte verhalten sich komplementär
zueinander, d. h. sie wenden eine Simulationsstrategie als Schutzpanzer für den Autor bzw.
Erzähler an, die in verschiedener Art und Weise in beiden Erzählformen ihre Ausprägung
findet. In seinen Romanen und Erzählungen nutzt Thomas Mann seine inneren Konflikte,
die er mit sich selbst austrägt, als Antrieb für seine künstlerischen Produktionen, worüber
er selbst mehrfach in Briefen und anderen uns vorliegenden Dokumenten gesprochen hat.
Die Interpreten verfolgen in ihren Textanalysen das Ziel, diese persönlichen Verdrängun327
Vgl. de Man: Der Widerstand gegen die Theorie. In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. „Der Widerstand gegen die Theorie ist ein Widerstand gegen die rhetorische oder tropologische Dimension der
Sprache, eine Dimension, die vielleicht in der Literatur (in einem weiten Verständnis) ausdrücklicher im
Vordergrund steht als in anderen verbalen Manifestationen oder – um etwas weniger vag zu sein – die in
jedem verbalen Ereignis, wenn es als Text gelesen wird, aufgedeckt werden kann.“ (S. 325)
328
Vgl. Dieckmann: Thomas Mann nach Hitlers Machtantritt, S. 170.
189
gen zu entlarven und durch die Entwirrung der komplexen Verstrickung der sich in jedem
Text wiederholenden Hauptmotive das Bild des ’wahren‘ Dichters zu zeichnen. Mit der
zusätzlichen Rezeption des Tagebuchs als darstellungsfreien Abdruck des schreibenden
Subjekts erhalten wir einen Einblick in die Auswirkungen dieser Verdrängungen auf den
alltäglichen und privaten Bereich. Der Verdacht, daß sich hinter dem Text Geheimnisse
verbergen, die zwischen den Zeilen entschlüsselt werden müssen, bleibt bestehen. Lesen
wir die täglichen Notate aber als nicht-darstellungsfreie Texte, wird die Doppelstrategie
der Simulation auch in den Tagebüchern weitergeführt. Das Spiel der schwankenden Identitäten wird im großen Rahmen zwischen erzählerischen Texten auf der einen Seite und
berichtenden Texten auf der anderen Seite aufrecht erhalten.
Man kann das Tagebuch in gleicher Weise wie den fiktionalen Text in Isers Kategorie
des Simulakrums einordnen, als die Darstellung von etwas Imaginärem oder Unverfügbarem, das in keinem unmittelbaren mimetischen Verhältnis zur Realität steht. Bei der Betrachtung des literarischen Textes als Simulakrum spricht Iser diesem jedoch die Täuschungsabsicht ab, da ein Simulakrum, das nur aus Vorstellungsbildern besteht, nichts vortäuschen kann. Im Fall des Tagebuchs jedoch, das für sich das Merkmal der ’Authentizität‘
beansprucht, würde der Tagebuchtext als Simulakrum durchaus einen Täuschungsvorgang
implizieren. Der von Iser gewählte Begriff des Simulakrums für den fiktionalen Text ist
meiner Meinung nach etwas irreführend, da Iser dem Simulakrum keinen Täuschungscharakter zugesteht – der Begriff der Inszenierung wäre deshalb für den fiktionalen Text ausreichend. Laut Iser entstehen durch Inszenierungen Simulakren, die das Unverfügbare bzw.
das Abwesende modellieren. Damit würde er die kybernetische Auffassung von Simulation
als Modellierungsprozeß auf die Literatur übertragen.
Beim Schreiben eines Tagebuchs inszeniert der Diarist auch sein Leben, unabhängig
von Bewußtsein bzw. Intention, entwirft sich also über imaginäre Konstruktionen selbst.
Hieraus entwickelt sich nun ein Simulakrum in seiner eigentlichen Wortbedeutung, da das
Tagebuch im Gegensatz zum fiktionalen Text durch den diaristischen Pakt objektive
Wahrheiten suggeriert. Während also im fiktionalen Text Zeichen aus der Realität über die
Schwelle der Fiktion transformiert und mit imaginären Zeichen kombiniert werden, wird
im Tagebuchtext das lebensweltliche Zeichenmaterial über die Grenze des Schreibaktes
transportiert und dort zwar nicht mit imaginären Zeichen, aber mit einer bestimmten
Schreibweise und Zeichen, die einem Filterungsprozeß entspringen, vermischt. Das „Spiel
190
der Differenz“ findet also nicht auf dem Hintergrund der Fiktion statt, sondern wird in
Verbindung mit dem Schreibakt ausgetragen. Demzufolge läßt sich das Simulakrum nicht
als ein konträres Modell zur Wirklichkeit begreifen, sondern entfaltet seine Wirkung im
kleinen Vakuum zwischen dargestellter Wirklichkeit und dem Medium, das sie vermittelt.
Spielt auf der fiktionalen Ebene der Schreibakt zur Beurteilung von Simulation nur eine
untergeordnete Rolle, so bildet er im Tagebuch die einzige Möglichkeit, Anhaltspunkte für
das simulatorische Spiel zu finden.
191
Schluß
Ziel der Arbeit war es, ein theoretisches Panorama über das Begriffsfeld der Simulation
aufzuspannen, um Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull und seine
Tagebücher zu untersuchen. Mir ging es bei dieser Analyse nicht darum, Thomas Manns
Leben als Selbstinszenierung zu entlarven, sondern die Strategien seiner Texte aufzudecken, die die Simulation vorantreiben.
Viele Rezensenten und Thomas-Mann-Forscher verstehen Manns Tagebücher als einen
Balanceakt zwischen Öffentlichkeit und Privatheit bzw. Verbergung und Offenbarung.
Hans Rudolf Vaget beschreibt diese Problematik folgendermaßen:
Finally, the diaries force us to acknowledge the central role in Mann’s life of the element of
deception and self-deception. With the publication of the diaries now complete, it is quite
apparent that Mann’s life may be seen as one grand performance, or, to be more precise, one
long high-wire act of simulation in public and in private.329
Die Inszenierung ist jedoch nur ein Teil des Simulationsaktes, genauer gesagt: die Voraussetzung. Die Annahme der Selbstinszenierung bzw. -täuschung im Fall Thomas Manns
beruht vor allen Dingen auf seinen Tagebuchaussagen, die seine homoerotische Neigung
und die damit verbundene Ehepflicht betreffen.
Meine Untersuchung hat sich zur Aufgabe gemacht, nicht die Spur der Inszenierung zu
verfolgen, sondern auf der sprachlichen Ebene des Textes die Mechanismen sichtbar zu
machen, die die Leserin verführen, eine bestimmte Rezeptionshaltung einzunehmen. Ich
verstehe die Simulation ähnlich wie Groys und Baudrillard als konstitutives Element der
modernen Kultur, wobei ich jedoch den Begriff der Simulation in seinem ursprünglich
rhetorischen Umfeld belasse. Nur so ist es möglich, diesem Phänomen das Pathos zu nehmen und zu beweisen, daß dieser Mechanismus nicht nur für das Informationszeitalter typisch ist, denn ein Computer- oder Fernsehbild täuscht nicht mehr oder weniger vor als das
Schriftbild auf einem Blatt Papier. Es sind in gleichem Maße Materialien, die als Hilfsmittel dienen, um entweder Teile der Wirklichkeit abzubilden bzw. sie zu modifizieren und
mit imaginären Elementen zu kombinieren. Der Unterschied besteht nur auf der quantitativen, aber nicht auf der qualitativen Ebene, d. h. durch das Fernsehen wird die Raumdifferenz und durch die Computertechnologie die Zeitdifferenz aufgehoben.330 Die Komplexität
329
330
Vaget: Confession and Camouflage. In: Journal of english and germanic philology 96, Nr. 1, S. 577.
Vgl. Großklaus: Das technische Bild der Wirklichkeit, S. 56-57.
192
der neuen technischen Möglichkeiten suggeriert einen Niedergang der Mimesis und feiert
den Aufstieg der Simulation und der Darstellung von Möglichkeiten statt einer Realität.
Televisionale Vermittlung basiert jedoch ebenso wie die Vermittlung von Tagebuchnotizen
durch den Schreibakt auf einem Filterungsprozeß, der die Wirklichkeit nicht widerspiegeln
kann. Die Neuartigkeit der Simulation besteht bei der computeriellen oder televisionalen
Wahrnehmung nicht im Verlust der Zeit- bzw. Raumdifferenz, sondern äußert sich durch
eine scheinbare „Hyperrealität“, die wiederum aber nur als Schein zu begreifen ist. Nicht
das mimetische Prinzip verändert sich, sondern nur seine Art der Darstellung. Da der
Wahrnehmende die komplexen Vorgänge zwischen Wirklichkeit und Abbild nur noch
schwer durchschauen kann, wird bei ihm der Verdacht genährt, daß unter der Oberfläche
ein geheimer Manipulator existiert, der eine simulierte Wirklichkeit kreiert. Dieser Verdacht unterscheidet sich jedoch nicht von Spekulationen, die bei der Lektüre von Thomas
Manns Diarien aufkommen. Immer dann, wenn ein bestimmter Vorgang im Verborgenen
bleibt, entsteht ein Verdacht. Wenn mit der Unterstützung des Computers ein mögliches
Modell der Wirklichkeit erstellt wird, bedeutet das keine Simulation als ein Akt der Vortäuschung, sondern lediglich die Inszenierung einer Vorstellung wie in einem fiktionalen
Text. Die qualitative Verbesserung resultiert lediglich aus der Visualisierung des Imaginären. Dieses Verständnis der Simulation korreliert mit Isers Figur des Simulakrums, die er
mit dem Inszenierungsakt identifiziert, den ein literarischer Text vollführt. Da die Simulation bzw. die Inszenierung nicht mehr exklusiv durch die Literatur abgedeckt wird, sondern
von anderen Medien aufgegriffen wurde, versucht Iser die Figur der Simulation in der Literatur als eine anthropologische Kategorie neu zu verorten, die nur noch teilweise mit der
Mimesis verbunden ist.331 Mit Isers „Spiel der Differenz“ greifen Baudrillards Grundthese
der „Hyperrealität“, die Indifferenz zwischen Realität und Fiktion, sowie der kybernetische
Simulationsbegriff als Modellierungsprozeß ineinander. Während dieses Simulationskonzept für die Beschreibung des fiktionalen Textes wenig Neues bietet, eröffnet es uns für die
Analyse der Mannschen Tagebücher die Möglichkeit, den diaristischen Text ebenfalls als
Probespielraum zu begreifen, in dem der Autor Thomas Mann unsichtbar wird, da er sich
im Moment des Schreibens schon selbst auf der Bühne befindet, ohne daß er sie durch das
Überschreiten der fiktiven Grenze selbst herstellen muß. Diese Grundlage schafft die Voraussetzung, das Simulationsspiel als einen Akt der Vortäuschung zu erkennen, in dem in
331
Vgl. Spielmann: Gespräch mit Wolfgang Iser. In: Weimarer Beiträge 44, H. 1, S. 95-97.
193
Verbindung mit Plessners Plädoyer für die Maske der Tagebuchschreiber steckt. Laut Iser
ist jede Person nur das „Differential seiner Rollen“, so daß man schlußfolgern kann, daß
sich der Autor Thomas Mann beim Verfassen seiner Tagebücher in eine andere Rolle als
während des Schreibens seiner Prosa begibt.
Der Hochstapler Felix Krull demonstriert mit seinem Verhalten, daß er sich in einem
Simulakrum befindet, das ständig veränderbar bzw. manipulierbar ist. Die Hotelgäste des
St. James and Albany tragen weder Masken noch betreten sie ’nackt‘ die Spielfläche. Sie
befinden sich in einer schwebenden Existenz, in der sie sich genüßlich dem Schein hingeben, ohne selbst maskiert oder unmaskiert zu sein. Sie sind einfach nur da. Die einzige
Funktion, die sie ausüben, besteht in der Aufgabe, sich in einem inszenierten Vakuum zu
bewegen, das für jede Art von Simulation anfällig ist, ohne daß Felix’ Täuschungen im
Hinblick auf die Moralität einer Bewertung unterliegen könnten.
Die verschiedenen Simulationstheorien, die ich am Beispiel der Bekenntnisse und den
Tagebüchern untersucht habe, bleiben sämtlich der Mimesis verhaftet. Selbst Dotzlers Auffassung des Hochstaplerromans als „Nullsummenspiel“ der Literatur, das nur noch Dichtung vortäuscht anstatt sie wirklich zu machen, orientiert sich durch den Gedanken der
Reproduktion von alten Mustern mit neuen technischen Mitteln weiterhin am Abbild. Mit
Isers Betrachtung des fiktionalen Textes als Inszenierung bzw. Simulakrum wird das im
Felix Krull problematisierte Betrugsbedürfnis des Menschen bestätigt, indem sich bei der
Beobachtung der Hotelszenerie Isers Thesen über die imaginären Konstruktionen und die
Rollenpluralität, über die sich der Mensch selbst entwirft, in Plessners Grundsätzen zur
natürlichen Künstlichkeit des Menschen widerspiegeln. In Manns Tagebüchern rückt der
performative Akt des In-Szene-Setzens in den Vordergrund, da ihre Literarizität unmittelbar durch den Schreibakt hergestellt wird, das diaristische Ich die Doppelfunktion des Autors und Tagebuchschreibers in sich vereint und sich somit die Simulation in erster Linie
durch den Verdacht bei der Leserin äußert. Es hat sich jedoch im Verlauf meiner Untersuchung gezeigt, daß dieser Verdacht verifizierbar ist, wenn man die Logbuchstruktur im
Tagebuch sowie die darin auftretenden Risse analysiert. Dann greift auch hier der von
Härle angewandte rhetorische Simulationsbegriff, der sich als Prototyp im Musterungskapitel des Felix Krull nachweisen läßt. Während die Leser bei der Lektüre des Hochstaplerromans die Simulationen durchschauen bzw. die Reaktionen, die sie auslösen, beobachten
können, lassen sich die Täuschungsmanöver in den Diarien nur durch Kontrastierung, sei
194
es zwischen Prosa und Tagebuch oder Logbuch und subjektivem Journal, wahrnehmen.
Auch hier bestätigt sich Plessners Theorie von der veränderbaren Maske, die sich der jeweiligen gesellschaftlich verlangten Rollenfunktion anpaßt.
Für weitere Forschungen wäre es interessant, Lösungsansätze zu entwickeln, wie literarische Tagebücher der Simulationsfalle entgehen können. Ist die Kategorie im Zusammenhang mit der Textsorte des Tagebuchs überhaupt noch notwendig? Simulieren die Tagebuchschreiber nicht grundsätzlich die Authentizität der Darstellung ihrer täglichen ’Bekenntnisse‘? Den Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen muß die strikte Trennung
der Begriffe Simulation und Inszenierung bilden. Impliziert die Inszenierung immer schon
das Moment der Simulation? Die entgegengesetzte Entwicklung von zunehmender künstlicher Konstruktion ’authentischer‘ Effekte und abnehmender Glaubwürdigkeit beweist die
Unsicherheit bezüglich der Beurteilung von Aufrichtigkeit. Der strenge Logbuchcharakter
in Thomas Manns Tagebüchern demonstriert nicht die Simulation der Aufrichtigkeit als
Intention des Tagebuchschreibers, sondern zeigt die Hilflosigkeit der Leser und ihre Anfälligkeit für Täuschungen durch ’authentische Effekte’, die durch verschiedene Varianten
des „Spiels der Differenz“ entstehen. Die gravierenden Differenzen zwischen Manns Diarien auf der einen und seinen prosaischen Texten auf der anderen Seite sowie die Risse, die
der Wechsel vom Logbuch zur Schreibweise des subjektiven Journals auslöst, provozieren
den mißtrauischen Blick der Leser. Boris Groys identifiziert den „submedialen Raum“ mit
dem „Raum des Verdachts“ und negiert damit die Existenz eines manipulierenden Subjekts
im Hintergrund, das den Verdacht rechtfertigt. Im Gegensatz zu Groys behaupte ich, daß
der ’authentische‘ Effekt vom „Subjekt des submedialen Raums“ sehr wohl simuliert wird,
denn auch ein Simulationsakt findet in der Realität statt und hat realistische Konsequenzen.
Der Tagebuchschreiber inszeniert nicht die Darstellung des unmaskierten diaristischen
Ichs, sondern seine Auswahl der Schreibweise erzeugt die Täuschungsstrategien und simuliert durch die Darstellung eines reduzierten Ausschnitts der Realität und ihrer Verzerrung
infolge des Einhaltens eines strengen Rasters eine Möglichkeit der Wirklichkeit sowie eine
mögliche Art der Aufrichtigkeit.
195
Thesen
1. Im Zeichen der Postmoderne stieg die Kategorie der Simulation zu einem Leitbegriff
auf. Der Welt wird der Verlust von Wirklichkeit attestiert, an deren Stelle ein Automatismus der Produktion von Simulakren getreten ist. Der französische Theoretiker Jean
Baudrillard formulierte bislang am prägnantesten das Verschwinden des Realen in der
postmodernen Gesellschaft:
Das Reale erhält nie wieder die Gelegenheit, sich zu produzieren – dies ist nun die lebendige
Funktion des Modells in einem System des Todes oder vielmehr in einem System der vorweggenommenen Wiederauferstehung, wo dem Ereignis, selbst dem Ereignis des Todes,
keine Möglichkeit mehr bleibt. Das Hyperreale ist von nun an vor dem Imaginären, vor jeder
Trennung von Realem und Imaginärem sicher. Zugelassen wird nur noch ein orbitaler Rücklauf von Modellen und die simulierte Generierung von Differenzen.332
2. Für die nähere Bestimmung der Simulation ist es notwendig, das Begriffsfeld von Fiktion und Mimesis zu umreißen. Beide Kategorien sind nicht als diametral entgegengesetzt
zu begreifen, in dem Sinne, daß Mimesis Imitation von Wirklichkeit bedeutet und Fiktionalität die radikale Autonomie von Dichtung bezeichnet. Gerade die Aristotelische Poetik verharrt nicht in einer ontologischen Entgegensetzung von Abbild und Wirklichkeit,
sondern spricht bereits von einem Transformationsprozeß der Realität in der Dichtung.
Nicht nur die Simulation, sondern schon die Mimesis problematisiert das Verhältnis von
Wirklichkeit und Zeichenwelt.
3. Simulation bedeutet für die einen eine Perfektion der Mimesis, indem sie Bilder einer
Welt kreiert, die sie selbst entwickelt hat. Die Differenz zwischen Abbild und Original
verschwindet. Für Baudrillard und andere bedeutet die Herstellung von Simulakren den
endgültigen Sieg über die Wirklichkeit. Gerhard Neumann und Andreas Kablitz haben das
Paradoxon erkannt, daß der „dramatische Gestus“ des gegenwärtigen Simulationskonzeptes aus den Differenzen gegenüber der Mimesis resultiert, die das tradierte Denken, welches die Simulation gerade überwinden möchte, repräsentiert.
4. In den aktuellen Theorien zur Fiktionalität (Assmann, Iser, Petersen) wird die Fiktion als
ein bestimmter Redestatus begriffen, der keine Implikationen von täuschendem Schein
196
enthält. Das fehlende Element der Täuschung offenbart die gravierende Differenz zwischen Simulation und Fiktion. Für die Verortung der Simulation im literarischen Text hat
sich Wolfgang Isers Theorem vom „Fiktiven und Imaginären“ im Zusammenhang meiner
Arbeit als besonders produktiv erwiesen. Da laut Iser die Wirklichkeit bereits aus einem
Netz von symbolischen Verweisungen und kollektiver Imaginationen einer Kultur gespeist
wird, die er „prädiskursive Realität“ nennt, stehe die Fiktion in keinem Oppositionsverhältnis zur Realität, sondern lasse sich nur in Relationen begreifen. Die Übersetzung der
Wirklichkeit in einem fiktionalen Text können wir demnach als einen „Akt des Fingierens“
beschreiben, bei dem die im Text wiederkehrende Realität irrealisiert und das Imaginäre
real wird.
5. Der Simulationsbegriff hat im Laufe seiner neuen Karriere auch Eingang in die Literaturwissenschaft gefunden. Dabei wird der Begriff der Simulation zunehmend von seinem
ursprünglichen Bedeutungszusammenhang entkoppelt und für die Beschreibung neuartiger,
medialer Zeichenstrukturen verwendet, die nur noch in einem hyperrealen Raum stattfinden sollen. Seltsamerweise verliert damit die Simulation ihre typischste Bedeutungskomponente, und zwar die der Vortäuschung. Indem die Simulation bzw. das Simulakrum im
Sinne von Baudrillard für Prozesse gebraucht wird, die in einem Raum verlaufen, in dem
die Indifferenz zwischen Realität und Fiktion herrscht, kreiert die Simulation eine eigene
Wirklichkeit.
6. Die einzelnen Versuche, die Simulation zu verorten, lassen sich nicht strikt voneinander
trennen, sondern greifen ineinander. Fünf verschiedene Lesarten haben sich bei meinen
Untersuchungen herauskristallisiert:
1. Simulation als rhetorische Kategorie im semantischen Feld der Ironie
2. Simulation als Teil von kybernetischen Modellierungsprozessen
3. Simulakrum als Produkt der strukturalistischen Tätigkeit (R. Barthes)
4. Simulation als „Hyperrealität“ zur Kennzeichnung der postmodernen Gesellschaft (J.
Baudrillard)
332
Baudrillard: Agonie des Realen, S. 9-10.
197
5. Simulakrum als anthroplogische Konstruktion zur Erfüllung des Fiktionsbedürfnisses
des Menschen (W. Iser)
7. In der Rhetorik unterscheidet man zwischen den Begriffen Simulation und Dissimulation. Beide Termini verhalten sich als positiver und negativer Akt komplementär zueinander. Während beim negativen Akt der Dissimulation etwas Wahres verborgen wird (Sotun-als-ob-nicht), täuscht der Simulant etwas Falsches vor (So-tun-als-ob). Vor allem in
der höfischen Kultur der Renaissance war die Verklammerung beider Strategien Programm. Ein Höfling mußte nicht nur ein guter Verstellungskünstler sein, sondern auch
wiederum die Taktik der Dissimulation anwenden, um nicht als Simulant enttarnt zu werden. Simulation und Dissimulation reichen nur in das Gebiet der Ironie hinein, wenn sie für
die Leserin durchsichtig sind. Deutlich in den Bereich der rhetorischen Simulation fällt die
Mimesis, wozu z. B. die Nachahmung von Redeweisen sowie die Charakterisierung von
Personen durch fiktionale Rede gehört.
8. Thomas Manns Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull sowie seine Tagebücher sind geeignet, die Ausprägung der unterschiedlichen Simulationsbegriffe auf den
Prüfstand zu heben. Für beide Texte bildet Isers anthropologische Verortung des Simulakrums als performativer Inszenierungsakt die Grundlage. Sein Theorem unterstütze ich
mit Grundsätzen aus Helmuth Plessners vielzitierter Schrift Grenzen der Gemeinschaft.
Die zusätzliche Problematisierung des ’Authentischen’ vor allem in den Tagebüchern
machte die Implikation von aktuellen Medientheorien, wie z. B. von Boris Groys, unumgänglich. Ich betrachte die Simulation als konstitutives Element moderner Kultur, das jedoch in seinem ursprünglich rhetorischen Bedeutungszusammenhang eingebettet bleibt
und die Wahrnehmung der Leserin steuert. Isers Auffassung des literarischen Textes als
inszeniertem Diskurs, der den Charakter eines Spiels angenommen hat, ermöglicht es uns,
innerhalb eines literarischen Textes die Simulation in ihrer jeweils eigenen Prägung zu
verstehen. Die mangelnde referentielle Eindeutigkeit der mittelbaren Zeichen und ihre verdoppelte Struktur machen sie „als ein Analogon lesbar, für jene Rollenpluralität, als deren
Einheit sich der ’Mensch‘ konstituiert“. Die Arbeit untersucht, wie in den Thomas-MannTexten das kulturelle Muster der Simulation als ’geheimer Koordinator‘ funktioniert.
198
9. Mit dem Neostrukturalisten Bernhard J. Dotzler, der sich in seiner Untersuchung Der
Hochstapler vor allem auf Baudrillard beruft, betrachte ich den Hochstapler-Roman aus
der Perspektive der neuesten Simulationstheorien. Dotzler koppelt die Simulation vollständig von der traditionellen Kategorie der literarischen Dichtung, der Mimesis, ab und erhebt
stattdessen die Simulation zum vorherrschenden Prinzip in den Memoiren des Hochstaplers. Thomas Mann imitiere die Dichtung Goethes, integriere sich dabei jedoch gleichzeitig
in das zeitgenössische Aufschreibungssystem, so daß kein Mehrwert an Sinn entstehe und
wir es mit einem „Nullsummenspiel“ der Literatur zu tun hätten. Der Bildungsroman lasse
sich nur noch in Form der Parodie und als Simulation einer Autobiographie verwirklichen.
Das Wechselspiel von Geheimhaltung und Offenbarung werde in der Musterungsepisode
anschaulich dargestellt und fungiere als Grundprinzip der gesamten Bekenntnisse. Das
Motiv der Täuschung begleite Felix während seiner ganzen Entwicklung – vom Wunderkind des Geigenspiels bis zur Audienz beim portugiesischen König in Lissabon. Laut
Dotzlers Analyse bleibt es der Leserin verschlossen, ob sie es mit einer simulierten Autobiographie oder mit einer autobiographischen Simulation zu tun hat.
10. Die hermeneutische Analyse von Gerhard Härle beruht auf dem rhetorischen Simulationsbegriff in seiner ursprünglichen Bedeutung von Vortäuschung bzw. Verbergung. Für
Härle befindet sich Felix Krull im Dilemma vom Schein des Scheins gefangen. Der gute
Wille, mit dem Felix seine Simulationen rechtfertigt, basiere laut Härle auf einem angeborenen „Defekt“, einem Bruch in seiner Identität, die ihn zu Verstellung und Rollenspiel
zwingt, somit die Simulation also wiederum nur scheinbar ist und nicht verurteilt werden
kann. Die Ursache für das Ineinanderfließen von Ästhetik und Moral findet Härle in
Thomas Manns unterdrückter Homosexualität, die zu der komplizierten Strategie der
Verschleierungs- und Enthüllungspraktiken im Verhalten des Hochstaplers führt. Im
Rückgriff auf die französischen Moralisten, auf Kant und Nietzsche läßt sich Härles Darstellung der Körpersprache im Verhältnis zur Simulation als eine Aufwertung des Scheins
verstehen, die Plessners Eintreten für die Maskierung und gegen den Aufrichtigkeitskult
entsprechen.
11. Mit Isers Untersuchung zum Fiktiven und Imaginären versuche ich eine ganz neue und
andere Sichtweise auf das Problem der Simulation in den Bekenntnissen des Hochstaplers
199
Felix Krull zu gewinnen. Iser begreift den literarischen Text als einen Akt des In-SzeneSetzens, in dem lebensweltliches Zeichenmaterial über die Grenze des Fiktiven getragen
und dann im fiktionalen Raum mit neuen Imaginationen kombiniert wird. Mit der Figur
des Hochstaplers Felix Krull findet ein weiterer Akt der Übersetzung statt, indem der
Hochstapler sich selbst irrealisiert und die jeweilige Rolle in sein eigenes Ich transferiert.
12. Am Beispiel der Hotelsozietät, deren Scheinhaftigkeit durch den Verstellungskünstler
Felix Krull entlarvt wird, habe ich versucht, Isers Spiel des Fiktiven und Imaginären zu
erklären. Die Hotelgäste bewegen sich innerhalb eines Spiels, aus dem Spieler ausscheiden
und dafür neue Figuren dazukommen, deren einziger gemeinsamer Nenner ein zielloses
Durchwandern der Hotelhalle ist. Aufgrund des von Felix vorgeführten Tauschprinzips im
Hotel St. James and Albany entwickelt sich Isers „Spiel der Differenz“ zum „Spiel der
Indifferenz“, indem das Prinzip der Komödie bestimmend wird. Zusammengeschlossene
Positionen negieren sich gegenseitig und bewirken ein ständiges Umkippen von sich widersprechenden Situationen, da die Menschen im Hotel nicht mehr als gesellschaftliche
Funktionsträger agieren, sondern diese Rolle ablegen und stattdessen die private Identität
in den Vordergrund tritt und damit die Unterschiede zwischen Kellner, Liftboys und Aristokraten egalisiert werden. Aufgrund dieser Haltung gehen sie das Risiko der Lächerlichkeit ein – und die Komödie kann beginnen. Plessners These, daß der Mensch ohne seine
Rollenpluralität gar nicht er selbst wäre, läßt sich hier exemplarisch nachweisen. Felix
Krull ist der einzige, der seinem Doppelungscharakter verhaftet bleibt und damit als Gegenpol zu den ’entblößten‘ Hotelgästen im „Spiel der Differenz“ den Entlarvungsprozeß in
Gang setzt. Das bedeutet nicht, daß die starre Maske im Alltag die Aufdeckung der
Simulation vollständig verhindert, in einer Hotelhalle, in der die Spielregeln ähnlich wie in
der fiktiven Umgebung eines literarischen Textes funktionieren, sind die Grenzen jedoch
fließend.
13. Bisher wurde in der Thomas-Mann-Forschung lediglich versucht, die einzigartige logbuchartige Struktur der Tagebücher unter dem Gesichtspunkt zu interpretieren, ob nun die
Tagebücher oder das erzählerische Werk ’wahrhaftiger‘ seien. Im Blickpunkt stand vor
allen Dingen die Frage nach der Veröffentlichungsabsicht des Autors und die Diskrepanz
zwischen Intimität und repräsentativen Bewußtseins. Betont wurde der Mangel an Ironie,
200
die ’direkte‘ und ’wahrhaftige‘ Sprache. Gleichzeitig wurden jedoch die Tendenzen zur
Verheimlichung hervorgehoben. In keiner Weise ist bis jetzt die Frage aufgeworfen worden, welches Medium das paradoxe Widerspiel von Enthüllung und Verheimlichung lenkt.
Warum lassen wir uns bei der Lektüre von den ’authentischen‘ Effekten verführen, obwohl
ständig neue Verdachtsmomente der Maskierung oder Simulation unsere Skepsis nähren?
14. Der Autor Thomas Mann verschwindet in der Logbuchstruktur des Tagebuchs. Der
Simulakrum-Effekt setzt im Gegensatz zu den fiktionalen Texten schon auf der ersten
Ebene ein. Die Bühne muß nicht erst durch die Fiktion hergestellt werden, sondern mit
dem ersten Satz bewegt sich der Autor schon auf ihr. Er ist bereits der Schauspieler und
dementsprechend ist er es auch, auf den sich der Demaskierungseffekt durch die sich stetig
ändernden Positionen auswirkt. Mit dem Ergreifen der Feder verabschiedet sich der Autor
bereits und verbirgt sich hinter der Maske des Erzählers, der das diaristische Ich dirigiert
und überwacht.
Während im Felix Krull das Subjekt in mehrere Identitäten zerfällt, erschafft die distanzierte Schreibweise des Logbuchs eine eigene literarische Physiognomie, die den Autor in
den Hintergrund treten läßt. Er versteckt sich hinter der Gleichtönigkeit des Alltags und
wird unsichtbar. Das sachliche Skizzieren der sich ständig wiederholenden täglichen Handlungen fungiert als Schutzwall vor den Blicken der imaginären Leser und suggeriert das
Vorhandensein eines Submedialen, das von einer opaken Schicht verdeckt wird. Die gegenseitige ’Authentisierung‘ der wechselnden Schreibweisen Logbuch und subjektives
Journal bewirkt das Simulations-Dissimulations-Spiel, in dem die Leser als Mitspieler integriert ist.
15. Im Gegensatz zu Manns fiktionalen Texten, in denen die Figuren ihre Konflikte ausleben und durch Selbsttäuschung mehrere Identitäten in die Wirklichkeit transformieren
können und wie Felix Krull eine Aufhebung des Dualismus von Körper und Geist erreichen, strebt das Ich im Tagebuch einen souveränen Status an. Das Subjekt des Schreibens
verzichtet auf die multiperspektivische Ichentgrenzung und ist stattdessen auf eine eindimensionale Ichbegrenzung bedacht, die ein ständiges Ausbalancieren zwischen Intimität
und Öffentlichkeit erfordert. Hierin besteht die Affinität zu Felix Krull, der es mit Hilfe des
Abwehrmechanismus schafft, gegen die seelische Zerstörung der pluralen Persönlichkeit
201
immun zu bleiben. Trotz der vordergründig eindimensionalen Logbuchstruktur bleibt das
Ich also in der Rollenvielfalt gefangen, getreu Plessners Grundsatz: In der Maske objektiviert sich der Mensch und wird zu einem gewissen Grade unsichtbar, ohne als Person völlig in den Hintergrund zu treten.
16. Übertragen wir Isers Spielfeld der Inszenierung auf Thomas Manns Tagebücher, dann
können wir die Schnittstelle zwischen dem Realen und Imaginären mit dem Schreibakt
identifizieren. Im Vollzug des Schreibaktes, der durch einen subjektiven Filterungsprozeß
gelenkt wird, korreliert das Reale mit dem Imaginären und das „Spiel der Differenz“ setzt
ein. Wie im Fall eines prähistorischen Fundes, suchen wir nach dem Code zur Entschlüsselung von ’geheimen‘ Botschaften. Von der ’Lust am Verdacht‘ getrieben, liest Michael
Maar in seinem Buch Das Blaubartzimmer Thomas Manns Tagebücher als darstellungsfreie Notizen, gerät damit selbst in das Netz des Simulationsspiels und verstrickt sich durch
das Einbringen der eigenen Subjektivität in Vermutungen, die in die Sackgasse führen.
17. Die diaristische Sprache Thomas Manns befindet sich in einem Grenzbereich. Aufgrund der nichtvorhandenen Verfremdungseffekte oder einer Abweichung zu ’normalsprachlichen‘ Texten, schließen Maar und Lindner nicht aus, mit ’Fingerabdrücken des
Wirklichen‘ konfrontiert zu sein. Wir befinden uns jedoch in den Fängen des Verdachts,
wenn wir Manns Diarien als darstellungsfreie Texte lesen. Die Monotonie der Eintragungen, kombiniert mit der Aufforderung der Leser zum Mitleiden, bewirkt den Kontrast
zwischen Thomas Manns ironischer Prosa und den melancholisch gefärbten diaristischen
Schriften und damit die gegenseitige ’Authentisierung‘ von fiktionalen und scheinbar darstellungsfreien Texten. Nach Isers literarischer Anthropologie würde das bedeuten, daß
sich Thomas Mann beim Schreiben seiner Tagebücher in einer anderen Rolle befindet als
beim Verfassen seiner Erzählungen und Romane. Manns Tagebücher und seine fiktionalen
Texte verhalten sich komplementär zueinander, d. h. sie wenden eine jeweils andere Art
der Simulationsstrategie an, um einen Schutzpanzer für den Autor zu bilden. Durch die
Einbettung fremder Zeichen in den eigenen Kontext, d. h. durch den Wechsel der Schreibweise, indem das schreibende Subjekt als ein anderer Funktionsträger fungiert, wird der
Effekt der Aufrichtigkeit erreicht.
202
18. Die Zunahme der Aufmerksamkeit für mediale Inszenierungen hat den Blick der Leser
geschärft, so daß sie überall nach einer vom Text verdeckten ’Authentizität‘ suchen. Die
Auflösung des ’Authentischen‘ durch Aufdeckung der Inszenierungsstrategien kann die
Rezeptionshaltung verändern. Stehen wir hier vor einer neuen Art von ’Authentizität‘, die
darin besteht, daß ein Inszenierungsprozeß offen dargelegt wird und somit das ’Authentische‘ nicht mehr unter der Oberfläche zu suchen ist, sondern die Aufrichtigkeit mit der
Offenlegung der Simulation gleichzusetzen ist? Wir befinden uns nun in einer paradoxen
Konstellation: Der Theatralisierungsprozeß, dem das diaristische Ich in Thomas Manns
Tagebuch unterliegt, bewirkt die Wahrnehmung des diaristischen Raumes als einer AlsOb-Situation, die aber ebenfalls wiederum in Frage gestellt wird, da das Theater sich als
Moment der Performation zeigt.
203
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Selbständigkeitserklärung
Ich erkläre an Eides Statt, daß ich die vorliegende Dissertation selbständig und ohne fremde Hilfe verfaßt, keine anderen als die angegebenen Quellen genutzt und die den benutzten
Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.
Rostock, den 21. 11. 2002
Uta Buttkewitz
213
Lebenslauf
Name:
Uta Buttkewitz
Geburtsdatum/-ort:
7. 5. 1976, Rostock
Staatsangehörigkeit:
deutsch
Familienstand:
ledig
Schulbildung:
1982 – 1990
72. Polytechnische Oberschule, Rostock
1990 – 1994
Erasmus-Gymnasium, Rostock
Abschluß: Abitur
Studium:
Oktober 1994
Beginn des Magisterstudiums an der Universität Rostock:
Deutsche Sprache und Literatur, Geschichte, Ur- und Frühgeschichte, Englische Sprachwissenschaft
September 1995/
August 1996
Ausgrabungspraktika in Rostock und Gadebusch
SS 1996-WS 1998/99
Tätigkeit als studentische Hilfskraft im Fachbereich Geschichte bei Prof. Dr. Tilmann Schmidt
Februar/März 1997
Archäologisches Praktikum zum Thema Fundbearbeitung
und -dokumentation im Fachbereich Ur- und Frühgeschichte
August 1997/
Juli/September 1998
Ausgrabungspraktikum auf dem befestigten mittelalterlichen
Hof Gudow in Schleswig Holstein
Oktober 1999
Abschluß des Studiums mit dem Grad des Magister Artium
in den Fächern Deutsche Sprache und Literatur, Geschichte,
Ur- und Frühgeschichte
März 2000
Magisterprüfung im Zusatzfach Englische Sprachwissenschaft
214
Promotionsstudium
Mai 2000-Juli 2002
Erhalt eines Stipendiums der Landesgraduiertenförderung
Mecklenburg-Vorpommern
Oktober/November 2000
Tätigkeit als Praktikantin im Buddenbrookhaus in Lübeck
215