Hauptdokument 1/06

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Hauptdokument 1/06
Anton Holzer
Der lange Schatten von Abu Ghraib
Schaulust und Gewalt in der Kriegsfotografie*
»Ach, dieses Lächeln im Krieg war erschütternder als das Weinen!«
Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit.
Mittelweg 36 1/2006
Am 28. April 2004 wurden die Folterbilder aus Abu Ghraib in der
Öffentlichkeit bekannt. Der amerikanische Fernsehsender CBS veröffentlichte die ersten Fotos, die amerikanische Militärs in Sommer und Herbst
2003 im Militärgefängnis von Abu Ghraib in der Nähe von Bagdad aufgenommen hatten. Nach und nach kamen Details und Hintergründe
der Ereignisse ans Tageslicht.1 Die Namen der folternden Militärangehörigen gingen um die Welt. Die Veröffentlichung der Bilder setzte eine
intensive Debatte in Gang. Alle möglichen Aspekte des Themas wurden
diskutiert, moralische, strafrechtliche und politische, aber eine Frage
wurde auffallenderweise eher ausgeklammert, nämlich jene nach den Fotografien selbst. Sie wurden zwar millionenfach veröffentlicht, in ihnen
verdichtete sich das Entsetzen, sie wurden zur Anklage, sie dienten als
Beweise in den Prozessen. Zwar wurde gefragt, wer und was auf den Bildern zu sehen ist und wer die Aufnahmen gemacht hat. Aber welche
Rolle die Fotografien genau in der Inszenierung der Gewalt einnahmen,
wurde nur am Rande diskutiert. Weitere Fragen drängen sich auf: Wozu
wurden die Fotos gemacht? Oder allgemeiner: In welchem Verhältnis
steht das Herstellen solcher Bilder der Gewalt zu den Gewalttaten, Folterungen und Demütigungen, die sie zeigen? Welche Blicke halten diese
Aufnahmen fest? Und warum lassen uns diese Bilder nicht mehr los?
Susan Sontag hat bald nach der Veröffentlichung der Bilder darauf
hingewiesen, daß die Fotografien aus Abu Ghraib nicht völlig isoliert
dastehen. Sie verglich die Aufnahmen mit den Fotos von Lynchopfern,
die in den USA zwischen 1880 und 1930 aufgenommen wurden. Und
sie führte einige wenige überlieferte Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg an,
auf denen sich die Täter zusammen mit den Opfern ablichten ließen.
Insgesamt seien aber, so ihre Einschätzung, die Bilder, die die Täter zusammen mit ihren gedemütigten Opfern zeigen, in der Kriegsfotografie
des Zweiten Weltkriegs »höchst selten«.2 Mit dieser letzten Feststellung,
*
Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich am 17. Oktober 2005
am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien gehalten habe.
1
Die Ergebnisse zweier Untersuchungsberichte finden sich in: Steven Strasser (Hrsg.), The
Abu Ghraib Investigations, New York 2004.
2
Susan Sontag, »Regarding the Torture of Others«, in: New York Times Magazine, 23. Mai
2004, Dt.: Endloser Krieg. Endloser Strom von Fotos, in: Süddeutsche Zeitung, 24. Mai 2004.
4
Der lange Schatten von Abu Ghraib
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Abb.1
Alexander Gardner,
Lewis Powell, Washington,
27. April 1865
(aus: James L. Swanson;
Daniel R.Weinberg,
Lincoln’s Assasins.
Their Trial and Execution,
Santa Fe, New Mexiko
2001, S. 58).
daß Bilder, auf denen sich Täter und Opfer im selben Bild ablichten
lassen, in der Kriegsgeschichte selten seien, liegt sie falsch. Aus dem
Zweiten Weltkrieg sind – trotz strenger Fotografierverbote – zahlreiche
solcher Bilder überliefert. Die meisten derartigen Bilder aber stammen
aus dem Ersten Weltkrieg. Das Fotografieren von Hinrichtungen war
durchaus erlaubt und wurde erst gegen Ende des Kriegs und in der Nachkriegszeit allmählich tabuisiert. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht eine Reihe solcher Bilder, die zwischen 1914 und 1918
vor allem in Ost- und Südosteuropa aufgenommen wurden, in Galizien,
in der Bukowina, in Rußland, in Polen, in Serbien und in Bosnien.
5
Der lange Schatten von Abu Ghraib
Ich möchte an Susan Sontags Vorschlag anknüpfen, die Bilder aus
Abu Ghraib, aber auch andere Fotografien des Kriegs, in einen zeitlich
weiter zurückreichenden und breiteren foto- und medienhistorischen
Kontext zu stellen. Es geht mir dabei weniger darum, direkte Vorläuferbilder für die Aufnahmen aus dem Irak auszumachen. Vielmehr kann
eine historische Erweiterung des Blickwinkels andere, weniger beachtete
Aspekte im Verhältnis zwischen Fotografie und Gewalt zur Sprache bringen. Entlang der drei Begriffe Schaulust, Berührung und Heimsuchung
sollen drei mögliche Zugänge zum Thema skizziert werden.
Schaulust
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In seinem Buch Die helle Kammer zeigt Roland Barthes das Bild eines
Mannes, das eine große Faszination auf ihn ausübte (Abb.1). »Das
Photo«, schreibt er, »ist schön, schön auch der Bursche: das ist das studium. Das punctum aber ist dies: er wird sterben.« 3 Die Geschichte dieses
Bildes ist bald erzählt. Der Mann heißt Lewis Powell (alias Payne). Aufgenommen wurde das Bild am 27. April 1865 in Washington. Am 7. Juli
1865 wurde er zusammen mit zwei anderen Männern und einer Frau
hingerichtet. Sie wurden beschuldigt, zu den Hintermännern des Attentats auf den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln zu gehören.4 Dieser war am 14.April 1865 während einer Theatervorstellung in
Washington erschossen worden. Wenige Tage zuvor war der amerikanische Bürgerkrieg zu Ende gegangen.
Alexander Gardner, der mit seinen Aufnahmen aus dem Bürgerkrieg bekannt geworden war, erhielt als einziger die Erlaubnis, die Männer (eigenartigerweise jedoch nicht die Frau) nach ihrer Festnahme zu
fotografieren. Und er sollte auch der einzige Fotograf sein, der die Hinrichtung der Verurteilten auf Fotografien festhielt. Der erste Krieg, in
dem die Fotografie eine herausragende Rolle gespielt hatte, endete mit
einem Paukenschlag. Es war ein medialer Paukenschlag.
Während der letzten Tage vor der Hinrichtung steigerte sich das
große Medieninteresse, das den Prozeß begleitet hatte, zu einem gewaltigen Finale. Zahlreiche Bilder der Verurteilten wurden in der illustrierten
Presse veröffentlicht. Am Platz der Hinrichtung wurde ein Galgen aufgestellt. Die Konstruktion glich einer Bühne. Gardner positionierte seine
Kamera in einem der oberen Fenster des Gefängnistraktes (Abb. 2).
Während der Hinrichtung drückte er immer und immer wieder auf den
Auslöser seiner Kamera. Kaum war das Spektakel zu Ende, arbeitete er
die Bilder aus und begann mit ihrem Verkauf. Die Vermarktung hatte
3
Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main
1985, S. 106.
4
Powell hatte versucht, William H. Seward, den amerikanischen Außenminister, zu ermorden.
6
Der lange Schatten von Abu Ghraib
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Abb. 2
Alexander Gardner,
Die Hinrichtung
am 7. Juli 1865, Teil
einer Stereoaufnahme
(aus: James L.
Swanson; Daniel R.
Weinberg, Lincoln’s
Assasins. Their Trial
and Execution,
Santa Fe, New Mexiko
2001, S.106ff).
er von langer Hand vorbereitet. Er belieferte Harper’s Weekly mit Bildmaterial, vor allem aber ließ er Fotografien in Visitenkartenformat und
Stereoaufnahmen in großer Zahl herstellen. Die Bilder fanden reißenden Absatz.
Gardner ist meines Wissens der erste Fotograf, der eine Hinrichtung fotografierte. Die Aufnahmen, die er machte, sind keine zufälligen
Schnappschüsse, sondern Teil eines sorgfältig vorbereiteten räumlichen
und medialen Arrangements. Der Fotograf ist zum privilegiertesten Zuschauer dieser Inszenierung geworden. Lincoln war in einem Theater ermordet worden. Nun wird die Hinrichtungsstätte ebenfalls zum Theater. Aber die Blickrichtungen haben sich umgekehrt. Die Täter, die der
dunklen Unterwelt zugerechnet werden, stehen nun für einen Augen7
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blick auf der Bühne und im Licht. Zahlreiche Blicke sind auf sie gerichtet, die sie aber nicht erwidern können. Ihre Köpfe stecken in Kapuzen.
Ihr Blick ist bereits erloschen, bevor sie der Tod ereilt.
In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts hat die Fotografie der Lust
des Auges ein ganz neues Feld eröffnet, und zwar über die Stereofotografie. Die Stereofotografie ist eigentlich keine neue technische Errungenschaft, sondern eine neue Technik des Betrachtens. 5 Durch die leicht
versetzt angeordneten Blickpunkte des Fotoapparates entsteht beim Betrachten durch eine optische Vorrichtung ein räumliches Erleben. Man
hat den Eindruck, mitten in der Szene zu sein. Die Stereofotografie ermöglicht dem Betrachter, Abstand zu wahren zur gezeigten Szene und
dennoch mitten im Geschehen zu sein. Gegenstände und Personen im
Bild erscheinen geradezu greifbar. Es ist wohl kein Zufall, daß das Stereoskop bald auch zum beliebten Vorführapparat pornographischer
Bilder wurde. Gezeigt wurden aber auch Szenen der Gewalt. Die Bilder,
die Gardner lieferte, sind solche Gucklochbilder. Er baute keinen herkömmlichen Apparat am Fenster des Gefängnishofs auf, sondern einen
Stereoapparat. So wie der Fotograf sich über das »Guckloch« seiner Kamera der Szene vor ihm näherte, so beugten sich später die Käufer seiner Bilder über den Stereobetrachter, um bei der Hinrichtung dabeizusein, während sie zugleich Abstand hielten zur Szene.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts bahnt sich also eine neue Verknüpfung zwischen der Fotografie und der Gewalt an. Diese besteht
nicht allein darin, daß nun Gewalt vermehrt in fotografischen Bildern
abgebildet wurde (der Krimkrieg 1854–1856 ist der erste fotografierte
Krieg der Geschichte), sondern sie besteht darin, daß die Gewalttat zum
theatralischen Akt wird, der drei Beteiligte kennt: das Opfer, die Zuschauer und die Kamera bzw. den Fotografen. Zwar hat es diese Anordnung einer Szene der Gewalt auch früher gegeben, man denke nur
an die Hinrichtung durch die Guillotine, die, darauf hat Daniel Arasse
hingewiesen, ebenfalls ein durch und durch kodifiziertes Schauspiel
war. 6 Durch den Auftritt der Fotografie verschiebt sich aber die Szenerie auf entscheidende Weise. Um die Mitte des Jahrhunderts, ziemlich
genau zu dem Zeitpunkt, als die Fotografie am Schauplatz der Hinrichtung auftaucht, verschwindet das Spektakel des Todes, das lange Zeit
auf öffentlichen Plätzen stattfand, mehr und mehr hinter den Gefängnismauern.7 Zugleich aber gesellt sich ein neuer Typ des Zuschauers
5
Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden 1996, S.122ff.
6
Daniel Arasse, Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit, Reinbek bei
Hamburg 1988.
7
Das gilt für den zivilen Bereich. Im Krieg kehrt die Hinrichtung wieder in den Bereich
der Öffentlichkeit zurück.
8
Der lange Schatten von Abu Ghraib
dazu: der Fotograf. Er zeichnet die Szene auf und macht sie einer größeren Öffentlichkeit zugänglich. 8 Der Fotograf ist ein Beteiligter, der
der Szene, die er betrachtet, angehört und zugleich nicht angehört. Er
steht im Kreis der Schaulustigen und er steht auch außerhalb. Außerhalb
steht er nicht nur, weil er sein Auge hinter der Kamera verbirgt, sondern
auch, weil sein Blick auf die Szene von der Erwartung eines Nachher geprägt ist. Er macht ein Foto für die Zeit danach. Für sich selbst und für
andere (auch uns), die später ebenfalls aus sicherer Distanz einen Blick
auf die Szene werfen wollen. Durch das Foto ist er Teilhaber beider Gemeinschaften, jener der Täter und der Zuschauer vor Ort, die unmittelbar teilhaben am Schauspiel der Tötung, und jener der Schaulustigen,
die später dazustoßen, indem sie das Bild in die Hand nehmen und den
Akt der Gewalt aus sicherem Abstand neuerlich betrachten.
Berührung
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Ein Foto, das während des Ersten Weltkriegs hinter der österreichischrussischen Front entstand, zeigt im Zentrum einen aus Balken zusammengezimmerten Galgen (Abb.3). Der Mann, der soeben hingerichtet
wurde, ist in einen dunklen, vorne offenen Mantel gehüllt. Er trägt eine
ärmliche Hose aus gestreiftem Tuch, die um die Hüfte mit einer Schnur
zusammengebunden ist. Die Beine sind ihm mit einem Strick gefesselt.
Sein Hut liegt neben ihm auf dem Boden. Die kleine Holztreppe, über
die er den Galgen besteigen mußte, ist schon zur Seite geräumt. Neben
dem Toten steht ein Soldat, der ihn mit der Hand berührt. Dahinter
gruppieren sich zahlreiche andere Soldaten. Gebannt blicken sie nach
vorn: auf den Toten oder in die Kamera. Das Bild wurde 1916 aufgenommen und stammt aus dem 1934 in England erschienenen Buch
Covenants with Death. 9
Als im Herbst/Winter 1914 die österreichische Armee große Rückschläge an der Ostfront erlitt und die russischen Truppen weit nach
Westen vorrückten, machte die österreichische Militärführung die ruthenische (d. h. die ukrainische) und die jüdische Bevölkerung im Kriegsgebiet dafür verantwortlich. Ruthenen und Juden, hieß es, seien zum
Gutteil Verräter und Spione. Diese Spionagehysterie führte dazu, daß
Tausende Zivilisten ohne gerichtliches Verfahren hingerichtet, oder –
wie es in der Militärsprache heißt – »niedergemacht« wurden. Geiseln
wurden ausgehoben und ermordet, Zehntausende von Zivilisten ins
Hinterland deportiert und in Lager gebracht. Zeitgenössische Berichte
8
Lange Zeit konnten Fotografien nur unter großem Aufwand in der illustrierten Presse gedruckt werden. Oft sind Fotografien Vorlagen für Zeichnungen und Stiche.
9
T. A. Innes, Ivor Castle, Covenants with Death, London 1934, o. S.
9
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Abb. 3
»Leading Citizen«
(aus: T.A. Innes; Ivor
Castle [Hrsg.],
Covenants with Death,
London 1934, o. S.).
sprechen von 11400 bis 36 000 Männern, Frauen und Kindern, die in
den ersten Kriegsmonaten am Galgen hingerichtet wurden. 10 Wir wissen
immer noch sehr wenig über diese Ereignisse. In den Akten des Militärs haben sich nur spärliche Spuren erhalten. Die Hinrichtungswelle
des Ersten Weltkriegs in Ost- und Südosteuropa ist bis heute ein dunkler Fleck in der Geschichte dieses Kriegs geblieben. Die wenigen Zeugnisse, die überliefert sind, sind Fotografien. 11 Es sind Bilder derjenigen,
die dabei waren, als Soldaten und als Zuschauer. Im Unterschied zum
ZweitenWeltkrieg hat es im ErstenWeltkrieg keine offiziellen Fotografierverbote bei Hinrichtungen gegeben. Die Bilder wurden also nicht heim10 Karl Kraus spricht von 11 400 bis 36 000 Hinrichtungen. Kraus, Die letzten Tagen der
Menschheit, Frankfurt am Main 1986, S. 505. Walter Mentzel schreibt: »Die quantitative Dimension der Verurteilungen und Hinrichtungen konnte bis heute nicht geklärt werden. Die
Angaben schwanken zwischen 11 400, 30 000 bis zu 60 000 Hingerichteten. Die Höhepunkte
der Kriegsjustiz stimmen mit den Vertreibungs- und Evakuierungswellen im Herbst 1914 und
im Frühjahr 1915 mit der Rückkehr der k. u. k. Armee nach Galizien überein. In innenpolitischen Angelegenheiten konnte das AOK nur vom Kaiser selbst oder von der österreichischen
Regierung eingeschränkt werden.« Walter Mentzel, Kriegsflüchtlinge in Cisleithanien im Ersten
Weltkrieg, Diss., Wien 1997, S. 62. Hans Hautmann schätzt die Hinrichtungen auf 30 000 Ruthenen und ebenso viele Serben. Vgl. Hans Hautmann, Die Verbrechen der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg und ihre Nicht-Bewältigung nach 1918, Referat auf der 23. Jahrestagung der amerikanischen »German Studies Association« in Atlanta, 7.–10. Oktober 1999
(http://www.doew.at/thema/thema_alt/justiz/kriegsverbr/hautmann.html).
11 Vgl. dazu ausführlicher: Anton Holzer, »Augenzeugen. Der Krieg gegen Zivilisten. Fotografien aus dem Ersten Weltkrieg«, in: Fotogeschichte, Heft 85/86, 2002, S. 45–74.
10 Der lange Schatten von Abu Ghraib
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lich, sondern mit dem Wissen und der Billigung des Militärs aufgenommen.
Ähnlich wie die Fotos aus dem Jahr 1865 tritt uns in der Aufnahme
aus dem Jahr 1916 das Ereignis der Hinrichtung als Schauspiel vor
Augen: Der Galgen steht auf einem freien Platz, das Opfer wird in die
Mitte gerückt, es wird umringt von Schaulustigen. Der Platz vor dem
Galgen gehört dem Fotografen. Er hält beide fest, den Getöteten und
die Zuschauer. Diese Logik der Blicke begegnet uns in ähnlicher Weise
auch auf anderen Hinrichtungsfotografien immer wieder. Der Tote gehört den Soldaten, er wird von ihnen umringt. Viele von ihnen blicken
nicht auf den Toten, sondern in die Kamera.
Die Hinrichtung aus dem Jahr 1916 ist noch auf einem weiteren
Bild überliefert. Das Foto, diesmal vermutlich ein originaler Abzug,
zeigt dieselbe Szene aus geringerem Abstand (Abb. 4). Beim Hingerichteten handelt es sich – so heißt es in der Bildbeschriftung – um einen
»russischen Spion«. Der Ausschnitt ist nun kleiner. Die Holzkonstruktion des Galgens ist nicht mehr sichtbar. Die Soldaten sind näher an
den Toten herangerückt. Das Bild dürfte wenige Augenblicke nach der
anderen Aufnahme entstanden sein. Die Haltung der Schaulustigen hat
sich gelockert. Mehrere von ihnen drehen den Kopf in Richtung Kamera, um ins Bild zu kommen. Wir erkennen auch in dieser Aufnahme
die Hand eines Soldaten, der das Opfer berührt.
Dieser Akt der Berührung ist bemerkenswert. Schon wenige Jahre
nach dem Krieg, Mitte der 1920er Jahre, hat Ernst Friedrich in seinem
berühmt gewordenen Buch Krieg dem Kriege auf diese Geste aufmerksam gemacht. »Man beachte«, schreibt er im Bildtext zu einer Fotografie,
die ebenfalls einen am Galgen Hingerichteten zeigt, »den Soldaten, der
den Erhängten anfaßt, um damit anzudeuten, daß er selbst der Henker
ist und auf seine Leistung stolz ist.« 12 Nun könnte man einwenden, daß
der Soldat den Toten nur berührt, um die Drehung des Stricks zu verhindern und den Toten den Fotografen frontal zu präsentieren. Diese
Begründung ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Und dennoch reicht
die Bedeutung dieser Geste darüber hinaus. Ernst Friedrichs Beobachtung, der Akt der Berührung und der Akt des Fotografierens seien aufeinander bezogen, sollte man ernst nehmen. Die körperliche Berührung des Opfers – das Angreifen – fügt der Zeugenschaft durch das
Auge noch etwas hinzu: die Bezeugung durch den Tastsinn. Der Soldat,
der den Toten anfaßt, tut dies auch für die Kamera. Seine Geste ist auf
den zweiten Zeugen hin entworfen, den Fotografen: Beide, der Mann
am Galgen und der Fotograf, gehen ein Bündnis ein. Es beruht auf dem
Blick, aber auch auf der Berührung. Wir kennen eine ähnliche Geste
12
Ernst Friedrich, Krieg dem Kriege, München 2004 (Reprint) (Originalausgabe: 1924), S.132.
11 Der lange Schatten von Abu Ghraib
Abb. 4
»Henken eines russ. Spions,
1916 V.« (Bildarchiv der
Österreichischen
Nationalbibliothek,Wien).
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zwischen Blick und Berührung aus der Jagd. Viele Jagdfotografien zeigen den Jäger in einem bestimmten Augenblick: Er berührt, oft mit
dem Fuß, oft auch mit der Hand, das erlegte Tier und blickt zugleich
in die Kamera.13
Fotografien sind – und das macht ihre Faszination aus – aus einer
Art Abdruck, einer Berührung der Wirklichkeit hervorgegangen. Wenn
13 Eine ähnliche Ikonographie begegnet uns in manchen Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg,
die Soldaten zusammen mit getöteten Zivilisten zeigen. Vgl. dazu: Kathrin Hoffmann-Curtius,
»Trophäen und Amulette. Die Fotografien von Wehrmachts- und SS-Verbrechen in den Brieftaschen der Soldaten«, in: Fotogeschichte, Heft 78, 2000, S. 63 –76, hier S.71f.
12 Der lange Schatten von Abu Ghraib
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wir die Bilder von Gewalttaten genauer betrachten, fällt auf, daß erstaunlich viele dieser Aufnahmen stark beansprucht sind. Sie sind geknickt, die Ränder sind abgenutzt, die Oberfläche weist oft Kratzer auf.
Die meisten der Aufnahmen sind nicht im Original erhalten. Sie wurden entwickelt und vervielfältigt, sie wurden gehandhabt, wanderten
von Hand zu Hand, sie wurden in Brieftaschen herumgetragen. Diese
Formen der Handhabung und die Wege, die sie zurücklegten, haben die
Bedeutung der Bilder geprägt. Um sie lesen zu können, ist nicht nur
von Belang zu untersuchen, was sie zeigen, sondern auch danach zu fragen, wer sie in Händen gehalten, wer sie wem gezeigt hat. Wir müssen,
wenn wir die Fotografie mit dem Konzept der Berührung verbinden,
eine althergebrachte Weisheit der Fototheorie ein Stückweit in Frage
stellen: nämlich die Überzeugung, daß die Fotografie vor allem ein Medium der Darstellung ist. Robert Castel hat in den 1960er Jahren darauf
hingewiesen, daß der distanzierende, aufzeichnende, objektivierende
Effekt der Bilder nur einen Teil der fotografischen Tradition beschreibt.
Daneben gibt es zahlreiche Gebrauchsweisen der Fotografie, die das
Foto als materielles, symbolisches oder gar magisch aufgeladenes Objekt
sehen.14 Bilder werden angegriffen, sie werden zerstört, versteckt, ausgestellt, gerahmt usw. Auf Hinrichtungsbilder und auch andere fotografische Aufnahmen von Gewalttaten trifft diese physische Handhabung
ganz besonders zu. Sie sind nicht nur distanzierte Repräsentationen
einer gewaltsamen Szene, sondern viele dieser Fotografien werden wie
Objekte behandelt. Auffallend ist, daß diese Gewaltbilder oft eng am
Körper getragen wurden, in den Brieftaschen der Soldaten, oft wohl zusammen mit dem Bild der Geliebten oder auch der Mutter. 15
In mancherlei Hinsicht gleichen die Bilder von Hingerichteten
pornographischen Bildern. Beide, Gewaltbilder und pornographische
Fotografien, sind nicht nur Darstellungen, sondern fetischistische
Objekte. In der Pornographie wie in der Darstellung extremer Gewalt
14 Robert Castel entwickelte Mitte der 1960er Jahre von psychoanalytischen Fragestellungen
ausgehend einen Bildbegriff der Fotografie, der der These vom »Spiegelreflex des Objektiven«
widerspricht. Seine nach wie vor lesenswerten Überlegungen fragen nach den magischen Funktionen des Bildes. »Als Magie des Doppels und des Schattens, als Verzauberung des Blicks, der
enthüllt und verführt, scheint das Bild mehr in sich zu versammeln als den Spiegelreflex des
Objektiven. Die ›Jagd nach Bildern‹ erbeutet nicht lediglich eine leblose Kopie. In ihren allgemeinsten Gebrauchsweisen scheint die Photographie wiederzuentdecken und wiederzubeleben,
was in den archaischen magischen Verhaltensformen virulent war. Das Talismanbild kann als
Ersatz für die Person fungieren, der Furcht und Verlangen in sich aufnimmt, das eigene Selbstbewußtsein und die Manipulation anderer stützt. Es sind zahlreiche Beispiele für letztlich magische Manipulationen der Photographie bekannt, als ob die chemische Reaktion, die das Bild
zum Vorschein kommen läßt, zugleich tief verankerte affektive Werte festhielte.« Robert Castel,
Bilder und Phantasiebilder, in: Pierre Bourdieu u. a. (Hrsg.), Eine illegitime Kunst. Die sozialen
Gebrauchsweisen der Photographie (1965), Frankfurt am Main 1983, S. 235–266, hier. S. 245f.
15 Hoffmann-Curtius, a.a.O., S. 70f.
13 Der lange Schatten von Abu Ghraib
spielt die Berührung eine wichtige Rolle: die Berührung des Bildes,
aber auch die Berührung des Objektes vor der Kamera, die das Bild anbietet und zugleich untersagt.
Heimsuchung
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Susan Sontag schreibt in ihrem Essay über die Bilder aus Abu
Ghraib: »Nun werden diese Bilder also weiterhin das Land ›heimsuchen‹.« 16 In der englischen Originalfassung des Textes, der am 23. Mai
2004 im New York Times Magazine erschienen war, hatte die Autorin
den Begriff »assault«, also angreifen, bestürmen, verwendet.17 Einen Tag
später erschien der Beitrag in der Süddeutschen Zeitung. Die Übersetzerin Christine Koppold wählte für »assault« das Wort »heimsuchen«. Der
etwas antiquierte Begriff »Heimsuchung« wird in der Bibel für die Begegnung der schwangeren Maria mit ihrer Kusine Elisabeth gebraucht.
Der ursprünglich positiven Lesart des Begriffs hat sich im Laufe der Zeit
eine negative dazugesellt, die heute überwiegt. Im Herkunftswörterbuch
des Duden wird diese neuere Lesart auf den Punkt gebracht: »In freundlicher oder feindlicher Absicht aufsuchen, überfallen«, heißt es dort.
Mit dem Begriff der »Heimsuchung« benennt Susan Sontag einen
wichtigen Aspekt der Bilder aus Abu Ghraib. Im Unterschied zu anderen Kriegsbildern scheinen diese Bilder auf geradezu gespenstische
Weise immer wieder in die Öffentlichkeit zurückzukehren. Die Aufnahmen aus dem irakischen Gefängnis haben, seit sie Ende April 2004
erstmals in die Öffentlichkeit entlassen wurden, ein beunruhigendes
Eigenleben entwickelt. Obwohl es an Versuchen von seiten der amerikanischen Regierung nicht gemangelt hat, die Fotos unter Verschluß zu
halten, wurden sie weltweit veröffentlicht. Seither geistern sie, millionenfach vervielfältigt, durch die Medienwelt, vor allem im Internet tauchen sie bis heute in unterschiedlichsten Zusammenhängen auf. Ein
Begriff, der in der Presse im Zusammenhang mit diesen Fotografien besonders häufig auftaucht, ist der des Gespenstischen. In zahlreichen
Zeitungstexten wurden die Folterszenen im Gefängnis als »gespenstisch« beschrieben. Aber auch das plötzliche Auftauchen der Fotos
erschien als »gespenstisch«.
Es liegt nahe, dieses bemerkenswerte Phänomen, nämlich, daß Fotografien auf geradezu unheimliche Weise Stellung beziehen gegen
jene, die sie aufgenommen haben, in einen historischen Kontext zu setzen. Lange vor Susan Sontag hat sich Karl Kraus mit Fotografien der
16 Susan Sontag, »Endloser Krieg, endloser Strom von Fotos«, in: Süddeutsche Zeitung, 24.
Mai 2005.
17 New York Times Magazine, 23. Mai 2004.
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Abb. 5
Cesare Battisti nach
der Hinrichtung,
12. Juli 1916 in Trient
(Österreichisches
Staatsarchiv, Wien).
Gewalt beschäftigt, die die Attribute einer solchen Heimsuchung aufweisen. In Die letzten Tagen der Menschheit kommt er mehrmals auf Bilder zu sprechen, die sich unversehens gegen ihre Urheber richten und
als Ikonen der Gewalt nicht zur Ruhe kommen. Eines davon wurde am
12. Juli 1916 in Trient aufgenommen (Abb.5). Es zeigt die Hinrichtung
von Cesare Battisti, der vor dem Krieg als italienischer sozialistischer
Abgeordneter im Wiener Reichsrat gesessen war. Er hatte sich zu Beginn des Kriegs als Patriot auf die Seite Italiens geschlagen und wurde
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an der österreichisch-italienischen Front festgenommen und wenige
Tage später öffentlichkeitswirksam hingerichtet.
Karl Kraus interessiert sich nicht so sehr für die Hinrichtung selbst
als vielmehr für das Schauspiel der Blicke, das sich am Ort des Geschehens entfesselt. Die Protagonisten sind: erstens der Henker Joseph Lang,
der eigens aus Wien angereist ist, und der, so Kraus, »auf einer Ansichtskarte, die den toten Battisti zeigt, seine Tatzen über dem Haupt des
Hingerichteten hält, ein triumphierender Ölgötze der befriedigten Gemütlichkeit, der ›Mir-san-mir‹ heißt.« 18 Zweitens die Schaulustigen,
wiederum in den Worten von Kraus: »Grinsende Gesichter von Zivilisten und solchen, deren letzter Besitz die Ehre ist, drängen sich dicht um
den Leichnam, damit sie ja nur alle auf die Ansichtskarte kommen.« 19
Und schließlich die Fotografen: »Nach dem Henker«, so Kraus, »mußte
noch der Photograph heran«.
Karl Kraus beschreibt dieses Bild nicht beiläufig. Es ist als Frontispiz der 1922 erschienenen Buchausgabe seines Antikriegsdramas Die
letzten Tage der Menschheit vorangestellt. Die Fotografie wurde von einem
österreichischen Kriegsfotografen aufgenommen, als Trophäe des Triumphs über den hingerichteten »Verräter«. Das Bild war als Propagandabild gedacht, verfehlte jedoch als solches seine Wirkung. Schon wenige
Tage nach der Hinrichtung verschwand das Foto auf Anordnung des
Armeekommandos mit einem Schlag aus der österreichischen Öffentlichkeit. Was war geschehen? Die Fotografie war – zusammen mit
anderen Fotos der Hinrichtung – über die Frontlinie nach Italien geschmuggelt und dort als Dokument der österreichischen Barbarei in
Postkartenform veröffentlicht worden. Ein Aufschrei der Empörung
ging durch die italienische Presse. Daraufhin wurde die Veröffentlichung der Bilder in Österreich ausdrücklich verboten.
Kraus hatte also eine italienische Bildpostkarte vor sich, eine Aufnahme, die die Frontlinie zweimal überschritten hatte. Das propagandistische Bild, das die Tötung rechtfertigte, war in den Besitz des Kriegsgegners gelangt. Von dort kehrte es wiederum als propagandistisches
Bild zurück, freilich mit diametral entgegengesetzter Botschaft. Die Fotografie war zum Beweis für die Barbarei des k.u.k. Regimes geworden.
Aus einem Dokument der Bestrafung und der Verhöhnung des gedemütigten Gegners war eine Anklage geworden, die sich gegen den Henker, seine Helfershelfer und die Schaulustigen wandte. Die Fotografie,
die eindeutig schien, wurde zum Kippbild, zu einem Vexierbild. Karl
Kraus hat die gespenstische, heimsuchende Wirkung dieses und ähnlicher Bilder in den Letzten Tagen der Menschheit immer wieder beschrie18 Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, Frankfurt am Main 1986, S. 507. Die zitierten
Passagen spricht jeweils der Nörgler.
19 Ebenda.
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ben. Es wird, schreibt er an einer Stelle, »wohl vierzig Friedensjahre
brauchen (...), um die Erinnerung loszuwerden«.20 An anderer Stelle
sieht er in diesen Bildern den »Gorgonenblick, der die Kraft hatte, was
er ansah, in Blut oder in Dreck zu verwandeln«.21 Dieser Gorgonenblick, der eigentlich dem Kriegsgegner gilt, wird gelegentlich durchkreuzt und fällt dann auf die Urheber der Gewalt zurück. Das ist das
Moment der Heimsuchung. Eine solche Fotografie bildet die Szene der
Gewalt nicht nur ab, sie greift uns an, oder wie Kraus es formuliert: Sie
»trifft (...) uns tödlich«.22
Worin liegt nun das Abgründige dieser Fotografien? Es liegt darin,
so meint Karl Kraus, daß die Täter sich in den Bildern selbst überführen. »Denn es wurde nicht nur gehängt, es wurde auch gestellt; und
photographiert wurden nicht bloß Hinrichtungen, sondern auch die
Betrachter, ja sogar noch die Photographen. Und der besondere Effekt
unserer Scheußlichkeiten ist nun, daß jene feindliche Propaganda, die
statt zu lügen, einfach unsere Wahrheit reproduziert hat, unsere Taten
gar nicht erst photographieren mußte, weil sie zu ihrer Überraschung
unsere eigenen Photographien von unseren eigenen Taten schon am Tatorte vorgefunden hat (...).« 23 Fassen wir dieses merkwürdige Spiel der
Blicke zusammen: Die Täter fotografierten die Opfer und zugleich
auch die Zuschauer. Und sie fotografierten auch die Fotografen, die
ihre Blicke auf die Zuschauer und auf die Opfer gerichtet hatten.
Auf einem Foto, das wenige Augenblicke vor der Hinrichtung entstanden ist, ist dieses Kreuzen der Blicke ganz deutlich festgehalten
(Abb. 6). Der Fotograf hat seinen Apparat leicht erhöht positioniert, so
daß er den Hinrichtungsplatz gut überblicken konnte. Wenn wir das
Bild sehr genau ansehen, können wir inmitten der Schaulustigen tatsächlich zahlreiche Soldaten mit Kameras ausmachen. An die zwei Dutzend Fotografen dürften rund um den Platz Aufstellung genommen
haben. Die Apparate sind zum Großteil kleine Handkameras, teilweise
mit Stativ versehen, teilweise um die Schulter gehängt. Immer wieder
drücken die Fotografen auf die Auslöser. Ihre Apparate richten sich auf
den Getöteten, zugleich aber auch auf die Schaulustigen, die sie umringen, und damit auf ihresgleichen. Die Fotografien halten also nicht
nur die Tat fest, sondern eben auch die Zuschauer und sogar die Fotografen, die den Zuschauern zuschauen. Sie alle hinterlassen in den Bildern ihre Spuren. Es ist, meint Kraus, als ob der Verbrecher sich freudig
20 Kraus, Die letzten Tage, S. 507.
21 Ebd., S. 506.
22 Kraus bezieht sich an dieser Stelle auf eine Abbildung des österreichischen Außenministers Berchtold, das in der Zeitung Die Woche abgebildet war. Er schreibt: »Ausgestellt vor den
Leichenfeldern, deren Hintergrund das sympathische Modell selbst beigestellt hat, trifft sie uns
tödlich.« Ebd., S. 412.
23 Ebd., S. 510.
17 Der lange Schatten von Abu Ghraib
Abb. 6
Der Hinrichtungsplatz im Kastell in
Trient. Ein genauerer
Blick auf das Bild
zeigt die zahlreichen
Fotografen unter den
Soldaten (Bildarchiv
der Österreichischen
Nationalbibliothek,
Wien).
auf frischer Tat erwischen läßt: »Denn nicht daß er getötet, auch nicht
daß er’s photographiert hat, sondern daß er sich mitphotographiert hat
und daß er sich photographierend mitphotographiert hat – das macht
seinen Typus zum unvergänglichen Lichtbild unserer Kultur.«24
Bilder der Gewalt und der Lust
Mittelweg 36 1/2006
Am 28. April 2004 waren die Bilder aus Abu Ghraib bekannt geworden. Eineinhalb Jahre später, am 27. September 2005, wurde Lynndie England im zweiten Prozeß zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. In
dieser Zeit wurde die mittlerweile 22jährige zur dämonischen Symbolfigur für den Folterskandal im Irak. England wurde zum Negativ-Star.
Die Rolling Stones haben ihr unter dem Titel Dangerous Beauty ein
Lied gewidmet.25 Die Bilder von Abu Ghraib gingen millionenfach um
24
25
Ebenda.
Der Song befindet sich auf dem Album A Bigger Bang, 2005.
18 Der lange Schatten von Abu Ghraib
Mittelweg 36 1/2006
die Welt, am häufigsten wohl jenes, auf dem sie einen nackten Gefangenen an der Hundeleine hält.
Wieso scheint das Beunruhigende, das Entsetzliche der Bilder aus
Abu Ghraib immer und immer wieder auf? Warum rücken diese Bilder
nicht in den Hintergrund? Warum können wir sie nicht vergessen? Das
medial Unauslöschliche der Fotos aus Abu Ghraib hat wohl auch damit
zu tun, daß sich in die Bilder des Schreckens die Lust mischt. Auffallend ist, daß nicht alle Mißbrauchsfälle gleichermaßen in Fotografien
festgehalten sind. Am häufigsten fotografiert wurde dann, wenn es um
sexuelle Erniedrigungen ging.26 Eines der Fotos, auf dem Gefangene zu
sehen sind, die zur Masturbation gezwungen wurden und sich zu einem Haufen schichten mußten, wurde von einem der Soldaten als Bildschirmschoner verwendet.27 Auf den Computern der Verurteilten waren
die Mißbrauchsbilder durchmischt mit pornographischen Bildern anderer Herkunft.28 Unter den Soldaten wurden die digitalen Bilder getauscht. Es zeichnet sich also deutlich eine Verknüpfung zwischen den
Bildern der Gewalt und pornographischen Bildern ab.
Die Bilder aus Abu Ghraib ähneln in ihrer Handhabung pornographischen Bildern. Aber es gibt einen – scheinbar – entscheidenden
Unterschied. Hier wird nicht gespielt.29 Die Fotografien aus Abu
Ghraib zeigen nicht gespielte Gewalt, sondern tatsächliche. Die Bilder
rühren an der Wirklichkeit. Die Bilder haben Spuren aufgezeichnet, die
unauslöschlich geworden sind. Dazu gehören etwa die eingeblendeten
digitalen Zeitangaben, die dem Ort der Gewalt auch eine präzise Zeit
hinzufügen. Die meisten der Bilder entstanden demnach während der
Nacht. Eine Fotoserie wurde etwa am 7. November 2003 zwischen 23.15
und 24 Uhr aufgenommen. 29mal wurde während dieser kurzen Zeit auf
den Auslöser gedrückt.30 Zu sehen ist, wie sieben Gefangene körperlich
mißhandelt und zur Masturbation gezwungen wurden. Sie mußten sich
auf einen Haufen legen. Die Gewalttat wurde offensichtlich auf die Zuschauer vor Ort – insgesamt sieben Militärpolizisten waren dabei –, vor
allem aber auf die Kamera und damit auch auf spätere Betrachter hin
entworfen. Ohne Scheu posieren die Täter mit ihren Opfern vor dem
Fotografen.
Die pornographische Dimension der kriegerischen Gewalt ist seit
langem bekannt. 1926, wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Welt26 Steven Strasser (Hrsg.), The Abu Ghraib Investigations, S.118ff.
27 Ebd.
28 Levi Strauss, Breakdown in the Gray Room: Recent Turns in the Image War, in: Abu
Ghraib. The Politics of Torture, Berkeley 2004, S. 97.
29 Auf diese Differenz zwischen fiktiven und tatsächlichen Gewaltszenen weist Horst Bredekamp im Interview mit Ulrich Raulff hin: »Wir sind befremdete Komplizen«, Süddeutsche
Zeitung, 28. Mai 2004.
30 Steven Strasser (Hrsg.), The Abu Ghraib Investigations, S.132ff.
19 Der lange Schatten von Abu Ghraib
Mittelweg 36 1/2006
Abb.7
Einstiegsseite
zur Website »NowthatsFuckedUp«.
kriegs, kam Kurt Tucholsky in einem kurzen Text mit dem Titel Wir im
Museum auf die Darstellung des Kriegs im Museum zu sprechen. Er
kritisiert die geschönte Überlieferung und ruft die grausamen Tatsachen
des letzten Kriegs in Erinnerung. »Die Lagerkommandanten«, schreibt
er unter anderem, »die ihre Hunde auf die Geschlechtsteile der Gefangenen hetzten, waren Neros, aber kleine, eine ekelhafte Spielart.«31 Acht
Jahrzehnte später hetzten die Militärpolizisten in Abu Ghraib ebenfalls
Hunde auf die Geschlechtsteile von Gefangenen. Die Parallelen sind bemerkenswert, aber beim Vergleichen ist dennoch Vorsicht geboten. Bis
heute wissen wir relativ wenig über sadistische und pornographische
Praktiken vergangener Kriege. 32 Entscheidend aber ist, daß sich seit
dem Ersten Weltkrieg das mediale Arrangement der Gewalt entscheidend verschoben hat. Nicht die pornographische Praxis an sich, sondern
die eigentümliche Positionierung derselben in einem komplexen medialen Geflecht der Schaulust kennzeichnet die Bilder aus Abu Ghraib.
In den letzten Jahren scheint die Darstellung von pornographischer
und kriegerischer Gewalt im Umbruch zu sein. Zu erkennen ist insbesondere ein Aufweichen der Trennung von (gespielter) Pornographie
und (tatsächlich ausgeübter) Folter. 33 Mittlerweile gibt es Formen der
Gewaltpornographie, die ausdrücklich mit der Authentizität der Darstellung werben. Umgekehrt hat die massenmediale Ausbeute von Folterszenen auch zu einer Fiktionalisierung der Folter geführt.34 Um es zugespitzt auszudrücken: Die authentischen Gewaltbilder aus Abu Ghraib
haben Konkurrenz bekommen. Besonders offensichtlich ist dieses Verschwimmen der Grenzen zwischen Pornographie und kriegerischer Gewalt in einem Internetprojekt, das etliche Monate nach den Enthüllungen von Abu Ghraib gestartet wurde (Abb. 7). Die amerikanische
Plattform mit der Adresse »Now-thatsFuckedUp.com«, wird vom Amerikaner Chris Wilson von einem niederländischen Server aus betrieben.35 Auf der Seite werden pornographische Bilder im Tausch gegen
Kriegsbilder angeboten. Wer kostenlos einsteigen will, muß eigene oder
fremde Bilder vom Kriegseinsatz online stellen. Dieses Tauschprojekt
31 Kurt Tucholsky, Wir im Museum (1926), in: ders., Unser Militär! Schriften gegen Krieg
und Militarismus, Frankfurt am Main 1982, S. 346.
32 Die von Magnus Hirschfeld herausgegebene Sittengeschichte des Ersten Weltkriegs, die
1929 zum ersten Mal aufgelegt wurde, nimmt sich zwar dieses Themas in umfassender Weise
an. Als Materialsammlung ist der Band auch heute noch interessant. Aber viele der Interpretationen sind aus heutiger Sicht problematisch, da die Autoren sehr oft den voyeuristischen
Blick der Zeit kritiklos reproduzieren.
33 Für diesen Hinweis danke ich Gaby Zipfel und Martin Bauer.
34 Die Kunsthistorikerin Gabriele Werner hat in den letzten Jahren in mehreren Vorträgen
darauf hingewiesen, daß die (realen) Folterungen in Abu Ghraib eng mit der Popularisierung
der Folter in der (fiktionalen) Populärkultur zusammenhängen.
35 Jordan Mejias, »Pornographie zum Dank«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Oktober
2005.
20 Der lange Schatten von Abu Ghraib
hat dazu geführt, daß zahlreiche weitere Gewaltfotos aus dem Irak und
aus Afghanistan aufgetaucht sind.36
Als die amerikanische Fernsehanstalt CBS am 28. April 2004 die
Fotos aus Abu Ghraib erstmals veröffentlichte, war das eine spektakuläre und folgenreiche Enthüllung. Mittlerweile wurden die Fotografien
millionenfach gezeigt. Und immer noch ist der Reiz der »Enthüllung«
spürbar. Denn im Akt der Enthüllung kommt die Struktur dieser Bilder besonders deutlich zum Ausdruck: Die Bilder zeigen die Gewalt,
und sie befriedigen zugleich die Lust. Die Enthüllung läßt den Kitzel
des Verbotenen hervortreten. Das Publikum, das die Fotografien von
Abu Ghraib sieht, kann mit Empörung reagieren und zugleich die Bilder voyeuristisch konsumieren.
Enthüllt wurden private Knipserbilder, die nicht für eine größere
Öffentlichkeit bestimmt waren. Vor allem aber wurden demütigende
Szenen kriegerischer Gewalt enthüllt, die – eigentlich – hinter verschlossenen Türen stattfinden sollten. Und schließlich wurden quasipornographische Szenen gezeigt, angereichert um den »Mehrwert« der
Authentizität. Immer wieder kehren diese Bilder in die Öffentlichkeit
zurück. Sie sind zum Spuk geworden, zum Spuk, der endlos angetrieben wird von der Liaison zwischen Lust und Gewalt.
36
Mittelweg 36 1/2006
Summary
Gezeigt werden u. a. Fotos von Leichen und Leichenteilen irakischer Kämpfer.
Situating images from Abu Ghraib as well as other images of war within
a broader and more long-term context of media history and the history of
photography enhances our perspective on events and offers new insights into
often neglected aspects of the relationship between photography and violence.
Three possible approaches to this relationship, which are delineated by the
terms curiosity, touch, and visitation, are outlined; these concepts illustrate
how such images become specters that spook about endlessly, propelled by the
liaison between lust and violence.
21 Der lange Schatten von Abu Ghraib