Schwung

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Schwung
Wissen
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„Jeder
Schwung
muss absolut sitzen“
Der Schweizer Steilwandskifahrer Sébastien de Sainte
Marie geht bei seinen bis zu 55 Grad steilen Abfahrten an die Grenzen des Machbaren. Im Interview erklärt er, warum jeder Sturz tödlich enden kann und
warum er nie auf einen Gipfel pinkeln würde
Sébastien de Sainte Marie (31)
fährt die Westflanke des
Shishapangma im Himalaja ab
Januar
2 DO, 20.15
Das Beste der European Outdoor
Film Tour (1/3)
3-teilige Dokumentation · (je 44 Min) · 3sat
BIRDMEN – Wingsuit Proximity Flying ·
SKETCHY ANDY – der verrückteste
Slackliner · CASCADA – Kajak in Mexiko
6 3sat TV- & Kulturmagazin
1/2014
3 FR, 20.15
Das Beste der European Outdoor
Film Tour (2/3)
WIDE BOYZ – Freeclimber Tom Randall und
Pete Whittaker · NORTH OF THE SUN –
Wellenreiten am Polarkreis
Fotos: Mammut/Florian Wagner · E.O.F.T./Tim Kemple · E.O.F.T./Alex Ekins · E.O.F.T./Jens Klatt
5 SO, 21.50
Das Beste der European Outdoor
Film Tour (3/3)
SOUND OF THE VOID – Steilwandskifahrer
Sébastien de Sainte Marie · THE SWISS
MACHINE – der Extremkletterer Ueli Steck ·
THE BEGINNING – Canyoning
1/2014
3sat TV- & Kulturmagazin 7
Wissen
Sébastien de Sainte Marie, wie lernt man Steilwandfahren?
Als ich 17 war, habe ich meine Leidenschaft für die Berge und
den Alpinismus entdeckt und bald darauf selbstständig mit
dem Steilwandfahren begonnen, weil es für mich zwei Dinge
verbindet, die ich liebe: das Skifahren, das ich schon mit vier
Jahren begonnen habe, und das Bergsteigen. Irgendwann habe
ich dann Pierre Tardivel kennengelernt, einen erstklassigen Steilwandfahrer aus Frankreich. Von ihm habe ich manches gelernt.
Was sind Steilwandfahrer für Menschen?
Beim Steilwandfahren gibt es zwei Gruppen. Da gibt es die
Einheimischen, die vor allem bei sich zu Hause unterwegs
sind. Die gehen in den Bergen vor ihrer Haustür anspruchsvolle Skitouren. Und wenn sie eines Tages super Verhältnisse antreffen, entscheiden sie relativ spontan, einen Hang oder eine
Rinne zu fahren, die ihres Wissens noch nie jemand vor ihnen
mit Skiern abgefahren ist. Vielleicht erzählen sie Freunden davon. Aber sonst erfährt es eigentlich niemand. Und dann gibt
es Leute wie Pierre und mich: Wir suchen ganz gezielt und
mit viel Vorbereitung nach den steilsten und anspruchsvollsten
Abfahrten – in den ganzen Alpen, ja sogar weltweit. Und am
liebsten sind uns Erstbefahrungen.
Pierre Tardivel ist deutlich älter als Sie. Funktioniert das als Team?
Er fährt seit über 30 Jahren die steilsten Wände und Rinnen ab.
Doppelt so lange wie ich. Er dürfte so um die 50 sein. Komisch:
Obwohl wir so viel gemeinsam unternehmen, weiß ich gar nicht
genau, wie alt er ist. Vielleicht, weil er so unglaublich fit ist.
Was hat Steilwandfahren mit Freundschaft zu tun?
Es ist schön, wenn man starke Erlebnisse mit jemandem teilen kann. Dadurch wird auch die Freundschaft größer und
intensiver. Man kann das natürlich nicht mit jedem machen.
Man muss in etwa auf dem gleichen Niveau sein oder sich
ergänzen. Und vor allem muss es menschlich passen. Für die
richtig ernsthaften Sachen kommen letztlich nur drei oder vier
Freunde wie Pierre infrage. Manchmal ist es mir aber genauso recht, etwas allein zu unternehmen. Da ist man dem Berg
noch näher. Allein ist auch die Herausforderung größer. Man
lernt mehr dazu – vor allem über sich selbst.
Gibt es bei Ihren Unternehmungen einen Moment, den Sie als
besonders intensiv erleben?
Ganz klar der erste Schwung. Das wird Ihnen jeder Steilwandfahrer sagen. Der erste Schwung bestimmt alles Weitere. Man
weiß dann, wie der Schnee wirklich ist, wie gut er sich fahren
lässt. Wenn er okay ist, ist man auf einmal ganz zuversichtlich:
Der Plan, über dem man so lange gebrütet hat, wird wohl aufgehen. Da stecken auch alle Gefühle drin, die man aufbaut,
wenn man einer großen Sache über Wochen und Monate entgegenfiebert. Wenn sich dagegen der erste Schwung schwierig
und der Schnee trügerisch anfühlt, spürt man plötzlich das
genaue Gegenteil von Zuversicht. Da überlegt man sofort, ob
man den richtigen Tag gewählt hat.
Sind Sie davor nervös?
Nervös ist das falsche Wort. Ich erlebe das alles sehr intensiv, bin aufgeregt. Aber ich habe keine Angst. Wenn ich dabei
Angst hätte, würde ich das alles nicht machen.
8 3sat TV- & Kulturmagazin
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Worauf kommt es denn skitechnisch beim Steilwandfahren an?
Wir setzen die Schwünge sehr schnell und sehr, sehr kontrolliert. Jeder Schwung muss absolut sitzen – man darf einfach
nicht stürzen. Wenn man unter sich 1.000 Meter Leere hat,
kann jeder Sturz tödlich enden.
An der 3.436 Meter hohen Nordwand des Gspaltenhorns in den
Berner Alpen waren Sie allein und doch nicht allein: Sie wurden
gefilmt. Wie hat sich das angefühlt?
Schon ein wenig seltsam. Man ist allein unterwegs, aber unter
Beobachtung. Das war ja das erste Mal, dass mich ein Filmteam begleitet hat. Außerdem ging alles sehr schnell: Um elf
Uhr dachten wir noch, wir müssten alles abblasen und in zwei
Monaten wiederkommen, weil das Wetter zu schlecht war.
Aber auf einmal hat sich ein Wetterfenster aufgetan. Es war
nur zu kurz für Aufstieg und Abfahrt. Deswegen haben wir
etwas beschlossen, was ich sonst nicht mache: Dass mich der
Helikopter auf den Gipfel bringt.
Sonst steigen Sie stundenlang auf.
Mir macht das genauso viel Spaß wie die Abfahrt. Außerdem
ist es ein wichtiger Teil der Vorbereitung. Wenn man durch die
Bergflanke, die man später befahren möchte, aufsteigt, weiß
man am besten Bescheid – über die Schneebedingungen, die
Lawinenlage und ob man die Linie auch tatsächlich fahren
kann. Außerdem kann man an den Stellen, an denen man sich
später abseilen muss, schon das Seil einrichten.
Wie sieht die langfristige Vorbereitung einer solchen Abfahrt aus?
Die Linie am Gspaltenhorn habe ich vor drei oder vier Jahren
entdeckt. Ich habe damals ein paar Nachbarberge gemacht –
und da ist mir diese riesige, 1.800 Meter hohe Nordflanke
aufgefallen. Ich habe sofort nach einer möglichen Linie gesucht und Fotos gemacht, damit ich die Wand auch zu Hause
studieren kann. Und ich bin noch ein paar Mal hingefahren,
um herauszufinden, wie die Schnee- und Wetterverhältnisse
dort sind und was ein günstiger Zeitpunkt für die Abfahrt
sein könnte. Letzten Winter habe ich mir dann gedacht: So,
jetzt könntest du es mal anpacken. Also habe ich über Webcams in der Umgebung alle paar Tage die Schnee- und die
Wetterlage verfolgt. Bis es mir eben passend erschien.
Wenn man sich Fotos von dieser Nordwand anschaut, weiß man
gar nicht, wo und wie Sie da herunterkommen sollen.
Das ist auch häufig wie ein Labyrinth. Ein sehr, sehr steiles Labyrinth aus Schnee, Fels und Eis. Sich darin auf Skiern zurechtzufinden ist vielleicht sogar das Spannendste an der ganzen
Sache: Wie man eine mögliche, logische und im Idealfall auch
noch schöne Linie durch eine solche Bergflanke findet. Das erfordert viel Vorbereitung, viel Erfahrung, aber auch Fantasie.
eine große Rolle. Man kann zu früh, aber vor allem auch zu
spät dran sein: Durch die Sonne wird der Schnee gefährlich
weich und schwer – das erhöht die Lawinengefahr. Man muss
alle Faktoren berücksichtigen und es einfach richtig erwischen.
Und das hängt vor allem von einem selbst und seiner Vorbereitung ab. Es ist ja nicht der Berg, der tötet. Tödlich sind nur die
Fehler, die ein Mensch am Berg macht.
Kommt es auch mal vor, dass Sie sich im Labyrinth einer solchen
Wand verfahren?
Das kann passieren, kommt aber nur selten vor – eben weil
man sich so gut wie möglich vorbereitet. Aber klar: Manchmal
verfährt man sich oder landet unerwartet in einer Sackgasse,
wo es auf Skiern nicht mehr weitergeht. Dann muss man das
Seil benutzen oder wieder aufsteigen. Man ist natürlich bemüht, sich so wenig wie möglich abzuseilen. Am Gspaltenhorn musste ich mich nur 20 Meter abseilen.
Sie gehen an das, was Sie machen, sehr rational heran. Warum
haben Sie den Spitznamen „Séb le fou“, der verrückte Séb, bekommen?
Ach, dieser Spitzname! Den haben mir Freunde gegeben – wegen ein paar verrückter Sachen, die ich mal an der Uni gemacht habe. Der hat nichts mit dem Steilwandfahren zu tun.
Mit welchem?
Ich glaube, man muss das Basislager ganz nah an der Wand errichten. Damit man möglichst schnell ist, wenn die Verhältnisse passen. Darauf kann man nämlich Wochen, Monate oder,
wenn man Pech hat, sogar Jahre warten. 2011 habe ich zwei
Tage vom Lager bis an die Flanke gebraucht.
In den vergangenen Jahren sind einige der besten Steilwandfahrer
verunglückt, zum Beispiel Jean Noël Urban oder Rémy Lécluse.
Wie gehen Ihre Frau und Ihre Familie mit dem Risiko um?
Einige dieser Unfälle sind nicht spezifisch beim Steilwandfahren passiert. Das waren Lawinen- oder Bergunfälle, die jedem
Alpinisten passieren können. Was meine Familie betrifft: Ich
glaube, dass sie sich in den 14 Jahren, in denen ich diesen
Sport betreibe, daran gewöhnt haben. Sie wissen, dass ich so
vorsichtig wie möglich bin und mich immer sehr gut vorbereite. Dass ich also – ganz anders als mein Spitzname vermuten
lässt – am Berg alles andere als verrückt bin.
Interview: Claus Lochbihler,
Kulturjournalist und Skiexperte.
Bei aller Rationalität scheinen Sie aber ein bisschen abergläubisch
zu sein: Sie würden niemals auf einen Gipfel pinkeln, heißt es.
Stimmt. Nur ist das kein Aberglaube, sondern Respekt vor dem
Berg. Wenn ich mich intensiv mit einem Berg befasse, kommt
mir der manchmal wie eine Person vor. Und deswegen pinkle
ich auch nicht auf dem Gipfel. Ich versuche es wenigstens …
Was die Steilheit betrifft – wo liegt da das Limit?
Bei 50 bis 55 Grad Neigung – je nachdem, wie die Verhältnisse
sind. Ich glaube auch nicht, dass man noch steilere Strecken
fahren kann. Schon deshalb, weil auf so steilem Fels oder Eis
kein Schnee mehr liegen bleibt.
2011 haben Sie versucht, die Westflanke des 8.027 Meter hohen Shishapangma in Tibet mit Skiern abzufahren. Wegen der
schwierigen Verhältnisse kamen Sie aber nur bis auf 7.400 Meter.
War das Ihre bislang gefährlichste Abfahrt?
Ich habe andere Abfahrten gemacht, die nicht so hoch, aber
auf andere Weise ähnlich schwierig waren. Der Shishapangma
war sicherlich der Berg, der mich am meisten gefordert hat.
Vor allem psychisch. Man muss auch mit der eigenen Besessenheit, es unbedingt schaffen zu wollen, klarkommen. Vor
allem wenn die Verhältnisse objektiv so sind, dass man abbrechen muss, auch wenn man es eigentlich nicht will.
Sie nennen das „déchiffrer la face“ – das Entziffern einer Bergwand.
Das ist ein Teil davon. Dazu gehört auch, herauszufinden,
wann und unter welchen Bedingungen man diese Linie fahren
kann – und wann nicht.
Wie fühlt sich das Skifahren in einer solchen Höhe an? Oder ist es
einfach nur anstrengend?
Es ist überwältigend! Man fühlt sich wie auf dem Mond. Alles
ist so unendlich riesig und von einer Weite, die ich vorher nie
erlebt habe. Und am Shishapangma ist man – anders als in der
Everest-Region – auch noch ganz allein.
Von was hängt das ab?
Von vielem. Natürlich vom Schnee und seiner Beschaffenheit.
Ob und wann es Steinschlag gibt. Auch der Zeitfaktor spielt
Werden Sie dorthin zurückkehren?
In zwei Jahren hoffentlich. Und mit einem anderen Plan.
Foto: E.O.F.T./Johannes von Kirschbaum
Sébastien de Sainte Marie in der
Nordwand des Gspaltenhorns
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