moving times. Aus dem Winterkurs
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moving times. Aus dem Winterkurs
moving times. Aus dem Winterkurs Das sind wir Z u Beginn das Resultat einer kleinen Umfrage: „Was fällt dir zu unserer Gruppe ein?“ Hier einige Assoziationen… individuell – Deckenkurs – krank – spontan – gesellig – flashig – Partypeople – chillig – rebellisch (0,8- Regel) – familiär (samt Opa mit Kind) – Big Brother – kreativ – musikalisch – halbmädchenhalbjungenhaft – verliebt (aller guten Dinge sind ja bekanntlich drei – oder doch etwa vier?!) – vertraut – chaotisch – „alder vadder“ – redselig – Partysession – Balkonparty – sozial – psycho – aus „Luttertreten“ wird „Lutterbaden“ – SoundtrackforanElefish – Dauerzuspätkommer – TassenimganzenHausVerteiler – international – vielfältig – verschlafen – PCraumsüchtig ... Einen einheitlichen Bericht über die Gruppe zu verfassen, der allen gerecht werden würde, ist wohl nicht möglich. Wir sind ein bunt zusammenwürfelter Haufen bestehend aus 12 Mädels und 10 Jungs (wie schon gesagt „habljungenhalbmädchenhaft“), wobei jeder die Gruppe und sich selbst als Teil des Ganzen unterschiedlich wahrnimmt. Dennoch war – besonders in der zweiten Hälfte – ein starkes Gemeinschaftsgefühl spürbar; irgendwie fügten wir uns eben zu einem Puzzle zusammen, sodass innerhalb der Gruppe ein hohes Maß an Vertrauen bestand. Wenn man an Hermannsburg denkt, denkt man an die HVHS, das Gebäude der HVHS, Gebäudeteile, -bestandteile, ….und letztendlich fokussieren wir uns auf den Balkon (auf süddeutsch: Balkón). Die erste Balkonsession fand nach dem Besuch im Hochseilgarten Hannover statt und war wohl die erste Party, bei der alle oder fast alle zusammen feierten, lachten, getrunken und ja doch auch sehr gefroren haben (trotz den legendären, rotbraunen HVHS- Decken). Dabei entwickelte sich „Umbrella“ von Rihanna zum Balkonpartyhit schlechthin (zur großen Freude von Cit(tarella). Allerdings reichte die zweite Balkonparty in Bezug auf Partylaune nicht an die erste heran – frei nach dem Motto „fight for your right“ (OTon Björn). Kathrin Würfel Foto: Badur !"#$%& '$!() 29 moving times. Aus dem Winterkurs 30 So ein langer Name „M oving Times – Zeit für Veränderung. Ein fünfmonatiges Projekt zur Persönlichkeitsentwicklung und Lebensorientierung für 18- bis 25-Jährige“. So ein langer Name. Aber was steht hinter disem Namen? Ich würde sehr gern erzählen, was „Winterkurs“ ist, was der für mich heißt und bedeutet. Wie man aus dem Titel verstehen kann, dauert der Winterkurs fünf Monate – vom Anfang November bis zur Mitte März. In dieser Zeit wohnen junge Leute (in diesem Jahr waren wir zu 22) in einem Haus zusammen. Sie essen zusammen, besuchen den Unterricht und bauen eine harmonische Gesellschaft. Aber denkt ihr bitte nicht, dass der Unterricht genau so wie in der Schule ist. Nein! Auf keinen Fall!!! Man muss aber alles besuchen (und natürlich pünktlich, was ab und zu ein bisschen schwer ist, zumindest für mich). Das Programm, und genau der Unterricht, ist sehr hilfreich. Die Lehrer erzählen nicht das, was sie erzählen müssen oder wollen, sondern das, wofür alle Teilnehmer sich interessieren. Ganz am Anfang haben wir auf Karten geschrieben, was wir erlernen möchten. Und nach unseren Wünschen wurde das ganze Programm gebaut. Ich meine nicht, dass wir selbst Fächer gewählt haben, sondern das in allen Fächern, die im Programm stehen, solche Themen erklärt wurden, die uns interessieren. Jetzt möchte ich sehr gern alle Lehrer nennen und nochmal „DANKE SCHÖN!“ sagen: • Aktuelle Stunde – Christian Makus • Erlebnis-Pädagogik – Christian Makus • Glaubensfragen – Walter Scheller • Psychologie – Imke-Marie Badur • Schwimmen, Sport – Christian Makus • Sozialarbeit – Stephan Haase • YLTS – Jürgen Schneider Außerdem hatten wir noch (ich werde alles einfach nennen, denn wenn ich alles beschreiben würde, wird diese Geschichte hundertseitig): Bildende Kunst, Guter Film, Entspannungs-Training, Hochseilgarten in Hannover, Peer-Teaching, My-World Vorträge, Zett Be, geva-Test zur Berufseignung, Intensitiv-Schulung „Mediation“, Private Einladung zu den Pädagogen, Cajon-Bau, Gewalt-DeskalationsTraining, Ora-et-Labora im Kloster, Umgang mit Tod/Trauer/Sterben, DISG-Persönlichkitstest, Besuch von Celle, Hannover, Hamburg und der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen, Kursfahrt nach Prag. Ich hoffe sehr, dass ich nichts vergessen habe. Ich möchte auch dem ganzen HVHS-Team danken, weil ohne sie das alles wird gar nicht gehen würde. Der Winterkurs war für mich sehr wichtig und bleibt auch so. Ich habe viele neue Sachen und Eignschaften in mir entdeckt. 31 Eine Verwöhnzeit für mich A ls ich im Oktober 2007 nach einem Jahr aus Lateinamerika zurück nach Deutschland kam, wusste ich vor allem eins: Ich hatte mich verändert. Aber: Wer war dieser neue Mensch, als der ich zurück gekommen war? Was wollte er? Der Winterkurs gab mir Raum, mich genau dem zu widmen, mich zu orientieren und neu selbst zu erfahren. Die Erfahrung, mich in einer zunächst unbekannten Gruppe einzufinden, der Psy- chologieunterricht, die Möglichkeit, meine Fähigkeiten und Erfahrungen einzubringen und mit anderen auszutauschen haben mir unheimlich geholfen, um zu wissen, wo ich stehe, was ich kann und wohin ich will. Ich hatte mich ein Jahr lang sehr in den Hintergrund gestellt und mich ganz hingegeben. So waren die 5 Monate in Hermannsburg wie eine Verwöhnzeit für mich, in der ich mich ganz dem widmen konnte, auf Gottes Stimme zu hören und in dieser Gesellschaft keinen fremdbestimmten, sondern meinen eigenen Weg zu gehen, denn besonders in meiner Berufsentscheidung fühlte ich, wie sehr mich Erwartungen von meiner Umwelt und der Gesellschaft beeinflussten und verwirrten. So bin ich mir dann auch tatsächlich in der Zeit des Winterkurses klar darüber geworden, dass ich Medizin studieren werde. Nach 5 Monaten Winterkurs startete ich mit viel Energie in ein wieder selbstständigeres Leben. Seitdem entdecke ich in kleinen Situationen immer wieder, was für einen reichen Schatz an nützlichem Wissen ich in dieser Zeit ansammeln konnte, so zum Beispiel für die Bewerbungsgespräche, die ich alle mit Freude angehen konnte oder schwierige Situationen in der Arbeit, in denen ich souverän Probleme ansprechen und meine Bedürfnisse äußern kann. Regina Ellwanger Foto: Archiv Eugenija Koslowa Foto: Archiv z.B. ich bin „Leutesüchtig“, das habe ich in Kloster entdeckt. Ausserdem habe ich da erfahren, dass die Leute nicht einfach so schweigen können. Sie brauchen dazu einen besonderen Seelenzustand. Was auch sehr wichtig ist. Die Winterkursgruppe. Meine Lieblingsleute. Ich wußte nie, dass man in ein paar Monaten eine Familie werden kann. Aber das ist wirklich so, und ich freue mich sehr darüber. Zum Schluss möchte ich allen Leuten danken, die mir so eine wunderschöne Möglichkeit geschenkt haben. So was werde ich nie vergessen. moving times. Aus dem Winterkurs 32 And the winner is …: Heimvolkshochschule Hermannsburg mit „moving times“ !!! „W Foto: Haase ir sind Sieger!“ Im Innenhof unserer Schule hängt zurzeit ein großes Plakat mit diesem Schriftzug. Besucher der HVHS fragen natürlich danach, was dahinter steckt. Dann erzähle ich gerne: Am 23. Februar 2008 wurde die Heimvolkshochschule für den Winterkurs „moving times – Zeit für Veränderung“ ausgezeichnet. Wir dürfen uns jetzt „Ausgewählter Ort 2008 im Land der Ideen“ nennen. Damit sind wir Teil der Kampagne „365 Orte im Land der Ideen“, die gemeinsam von der bekannten Standortinitiative „Deutschland – Land der Ideen“ und der Deutschen Bank durchgeführt wird. Schirmherr der Kampagne ist Bundespräsident Horst Köhler. Auf ihn geht auch die namensgebende Formulierung zurück: „Deutschland – ein Land der Ideen. Das ist nach meiner Vorstellung Neugier und Experimentieren. Das ist in allen Lebensbereichen Mut, Kreativität und Lust auf Neues, ohne Altes auszugrenzen.“ Unser Projekt „moving times“ wurde zusammen mit 365 anderen Initiativen aus insgesamt 1.500 Einsendungen ausgewählt. Als Auswahlkriterien hatte die prominent besetzte Jury folgende Aspekte bestimmt: Das Projekt muss zukunftsorientiert, originell und ungewöhnlich sein. Es ist dem Gemeinwohl verpflichtet und „vermittelt neue, unerwartete Aspekte von Deutschland, ist einzigartig 33 und richtungsweisend tätig“. In ihrer offiziellen Begründung schreibt die Jury: „Die Auszeichnung ‚Ausgewählter Ort im Land der Ideen’ zeigt, dass in der Heimvolkshochschule Hermannsburg Zukunft gemacht wird und weitertragende Ideen entwickelt werden“. Während der Feier für die Preisverleihung hielt Imke-Marie Badur eine Dankrede, die wir im Folgenden dokumentieren: Die feierliche Preisverleihung fand am 23. Februar während der Frühjahrstagung vor etwa 150 Gästen statt. Den Festvortrag hielt Landesjugendpastorin Cornelia Dassler. Grußworte überbrachten Landrat Klaus Wiswe, die stellvertretende Bürgermeisterin Hermannsburgs Sabine Rudnick, Landessuperintendent Hans-Hermann Jantzen, Missionsdirektorin Martina Helmer-Pham Xuan und Christa Lange vom Verein für die Nieders. Luth. Volkshochschule. Höhepunkt war die Überreichung eines Pokals und einer Urkunde durch Hubert Kriesten von der Deutschen Bank. Die jungen Leute vom Winterkurs umrahmten das Programm mit einigen musikalischen Beiträgen. Anschließend gab es Sekt bzw. Saft und leckere Schnittchen aus der HVHS-Küche, bevor der Winterkurs am Abend in beeindruckender Weise sein Theaterstück „Ein paar Paare“ präsentierte. Der 23. Februar 2008 – ein besonderer Tag für die Heimvolkshochschule, der uns lange in Erinnerung bleiben wird. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, Wer mit der HVHS Hermannsburg verbunden ist, wusste es ja schon längst (und vor allem: hat es erlebt!), dass es sich hier um einen sehr besonderen Ort handelt. Dass nun auch eine hochkarätige Jury wahrgenommen hat, dass wir etwas Außergewöhnliches tun, hat uns sehr gefreut. Wie schön, dass das Projekt „moving times“ von der Jury des Wettbewerbs „365 Orte im Land der Ideen“ ausgewählt wurde. Ich möchte im Namen des gesamten Kollegiums der Heimvolkshochschule für diese weise Entscheidung danken. Besonders natürlich der Initiative „Deutschland – Land der Ideen“ mit ihrem Schirmherrn Horst Köhler und der Deutschen Bank als ihrem Sponsor. t Walter Scheller viele Worte der Wertschätzung für unsere Arbeit hier in der HVHS sind heute gesprochen worden. Worte, die gut tun, ermutigen, bestärken. Ich bin sehr berührt. Vielen Dank dafür! moving times. Aus dem Winterkurs 34 35 moving times. Aus dem Winterkurs 36 Als eher kleines Projekt mit geringen Werbemitteln freuen wir uns besonders, dass es dank des Preises möglich wurde, die Aufmerksamkeit der Presse und Öffentlichkeit auf uns zu ziehen und unseren Winterkurs wieder etwas bekannter zu machen. „Tue Gutes und rede drüber“ – wird ja in allen Fundraising-Seminaren als Slogan gelehrt. Für das Zweitgenannte fehlt uns hier in Hermannsburg häufig die Zeit. Umso schöner, dass es heute mal im Vordergrund stehen durfte! Mein Dank am heutigen Tag gilt aber auch vielen anderen – denn das Wachstum und Blühen einer solch empfindlichen Pflanze wie dem „moving times“-Kurs wäre nicht möglich ohne den Beistand vieler Menschen, die den Boden bereitet haben und weiteres hinzu tun. Keine Angst, ich werde nicht bei Adam und Eva anfangen, aber ich möchte dennoch danken: Unserem Heimvolkshochschul-Gründer Georg Haccius – der bereits 1919 die Inspiration und den Mut hatte, ein solches 5-monatiges Projekt nach skandinavischem Vorbild hier zu initiieren. (Ihm zu Ehren haben wir übrigens eine Stiftung gegründet, die sich über Zustiftungen freut.) Ich möchte danken: Allen Pädagoginnen und Pädagogen, die über die Jahrzehnte den Kurs weiterentwickelt und immer wieder neu erfunden haben. […] Inzwischen sind wir in Art und Länge einmalig in Deutschland. Trotz eines Alters von fast 90 Jahren eines der (laut Jury) „innovativsten“ Projekte unseres Landes zu sein, ist nicht schlecht! Weiter möchte ich allen offiziellen Förderern unseres Projekts danken, insbesondere dem Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Bundes, dem Land Niedersachsen, der Landeskirche Hannover und dem Evangelisch-Lutherischen Missionswerk in Niedersachsen. Außerdem natürlich unseren vielen hoch verbundenen Ehemaligen und dem von ihnen gegründeten „Verein für die Volkshochschule Hermannsburg“. Mit ihren Spenden, ihren Entscheidungen, ihrem Engagement und ihrem Gebet haben sie es ermöglicht, – dass der Winterkurs in jedem Jahr wieder stattfinden kann, – dass wir Stipendien und Freiplätze vergeben können, – dass die Gebäude und das Gelände zur Verfügung stehen und Atmosphäre ausstrahlen, die vielen Menschen ein Gefühl von Zuhause gibt. Ich möchte dem gesamten Kollegium der HVHS danken. Für uns alle ist selbstverständlich, dass wir den Winterkurs gemeinsam tragen. Ich spüre als Leiterin viel Solidarität in meinem Rücken – angefangen von den 37 Mitarbeiterinnen im Büro über den Haushandwerker bis hin zur Küche und Hauswirtschaft. Auch das pädagogische Team, zu dem auch eine handvoll externer Referentinnen und Referenten gehört, leistet einen großen Beitrag. Immer mehr Teilnehmende brauchen intensivere individuelle Begleitung. Dass wir dies alles im Wesentlichen zu viert schaffen, ist fast ein Wunder. Foto: Haase Nicht zuletzt will ich auch all den jungen Leuten danken, die die Neugier und Offenheit besitzen, sich auf ein solches extremes Gruppenexperiment einzulassen. Es gehört viel dazu, entgegen dem Trend nach Leistung sich für einige Monate für ein Inne-Halten zu entscheiden, um sich mit wesentlichen Lebensfragen zu befassen. Fünf Monate lang so gut wie keine Möglichkeit zu haben, sich völlig auszuklinken und zu verkriechen, sondern ständig durch die Gruppenreaktion hinterfragt zu sein – davor habe ich Hochachtung. Ich möchte hier auch den Eltern danken, die den Wert solcher Bildung erkennen und bereit sind, ihren Kindern diese Zeit zu finanzieren. Und mein allergrößter Dank gilt natürlich Gott, der so viel Segen auf diese Schule gelegt hat – und täglich neue Kraft schenkt und Veränderungen möglich macht. Die heutige Auszeichnung gehört uns allen. Ich wünsche uns, dass wir sie gemeinsam feiern. moving times. Aus dem Winterkurs 38 Fünf Monate Zeit zu gewinnen Von Fledermäusen im Hindernisflug, Lücken im Lebenslauf und dem „Mut, sich selbst zu gleichen“ (Grundtvig) I n einer Pressemitteilung der Uni Zürich vom 25. August 2005 ist zu lesen: „Zoologen der Universität Zürich verglichen 104 Fledermausarten, vermaßen deren Hirngröße und beobachteten ihr Jagdverhalten. Dabei entdeckten sie eine klare Beziehung: Fledertiere, die im offenen Gelände jagen, haben im Verhältnis zur Körpergröße kleinere Gehirne als die Arten im Wald. «Die Waldjäger legten im Zuge der Evolution Gehirnmasse zu, um die neuronale Struktur aufzubauen, die sie für riskante Hindernisflüge zwischen Zweigen und Büschen brauchen», sagt der Biologe Kamran Safi. Ein größeres Gehirn benötigt jedoch mehr Energie und erhöht durch sein Gewicht die Fortbewegungskosten. «Der Große Abendsegler beispielsweise hat darum die Hirnmasse markant reduziert», so die Biologen. «Für das Jagen im offenen Luftraum braucht er schlicht kein so großes Hirn.» Die Forscher der Universität Zürich haben mit ihrer Studie nachgewiesen, dass die Evolution der Hirngröße in beide Richtungen gehen kann. «Ein kleineres Hirn kann auch das Resultat einer modernen Entwicklung sein», resümiert Zoologe Safi.“ Als im November 2007 die Nachricht kam, dass wir von der Initiative „Deutschland – Land der Ideen“ für den Winterkurs „moving times“ ausgezeichnet werden, waren wir natürlich bester Laune und auch ordentlich stolz auf diese bundesöffentliche Hervorhebung. Eine solche Ehrung tut gut, und sie ist auch sehr dienlich, weil wir in unserer Werbung ja immer mit der Schwierigkeit zu kämpfen haben, dass der Winterkurs bundesweit ziemlich einzigartig ist. Denn die „Menschen draußen im Lande“, wie manche Politiker zu sagen pflegen, wissen zwar meistens, was FSJ, Au Pair oder auch ein Sabbatjahr ist; einen langen Heimvolkshochschulkurs mit seinen verborgenen Schätzen kennen sie aber in der Regel nicht. So hilft uns die Auszeichnung in der Außendarstellung. Immer geradeaus rennen … Einigermaßen kurios erscheint mir ein Widerspruch, der mir bei dieser Gelegenheit auffiel. Die Initiative „Deutschland – Land der Ideen“ wird von der Bundesregierung, 39 nicht vom Weg abkommt, bleibt auf der Strecke“, schreibt der scharfzüngige Pädagogik- und Philosophieprofessor Karlheinz A. Geißler 1, und dieses Bonmot gibt in der Tat zu denken. … oder heraustreten, um zu schauen, wo die Reise hingehen soll? Wir haben es hinsichtlich unserer Auszeichnung mit dem schönen Widerspruch zu tun, dass dieselben Organisationen, die sonst politisch eher für verkürzte Bildungsund Ausbildungszeiten eintreten, unseren Winterkurs, dieses zusätzliche Bildungshalbjahr, als besonders zukunftsfähig und innovativ prämieren! Wahrscheinlich haben auch die Juroren sehr genau gespürt, dass nicht wenige junge Erwachsene, während sie sich für die Qualifikations-Rennbahn aufwärmen, die Befürchtung beschleicht, sie könnten sinnlos im Kreis herumrennen. Und dass da eine Sehnsucht besteht, zwischendurch einmal herauszutreten und grundsätzlicher darüber nachzudenken, was im Leben wichtig ist und was ihr Leben bestimmen soll. Viele unserer Winterkursteilnehmer haben genau diesen Perspektivwechsel gesucht. Die fünf Monate des Winterkurses sind ihnen eine einmalig t dem Bundesverband der deutschen Industrie und weiteren prominenten Unternehmen gebildet. Es geht dieser Initiative darum, in der Öffentlichkeit ein positives Wir-Gefühl für den Standort Deutschland, für seine Zukunftsfähigkeit, seine Leistungs- und Innovationskraft zu stärken. Zugleich wird von den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft bekanntermaßen seit vielen Jahren gefordert, die Bildungs, Ausbildungs- und Studienzeiten im deutschen Bildungssystem zu straffen. Die jungen Leute sollen dem Arbeitsmarkt früher - und damit wohl auch flexibler, mobiler und prägbarer - zur Verfügung stehen. Inzwischen haben viele junge Menschen für sich selbst einen inneren Druck aufgebaut, die Schule und das Studium möglichst ohne alle Umwege schnell „durchzuziehen“. Dahinter steckt wohl auch die Befürchtung, sonst bei den Startchancen ins Berufsleben abgehängt zu werden. Aus dieser „Tunnelblick“-Perspektive heraus erscheint ein Auszeit-Projekt wie unser Winterkurs erst einmal als ein verlorenes Halbjahr, als unnötiger Umweg oder sogar als eine peinliche Lücke im Lebenslauf. Jedoch – steht nicht andererseits zu befürchten, dass man bei allzu glatter Orientierung an schnurgeraden Bildungs-Pisten und vorgegebenen Wegen dem Großen Abendsegler immer ähnlicher wird? „Wer moving times. Aus dem Winterkurs 40 wertvolle Lebensspanne geworden. Sie haben Zeit gewonnen, nicht verloren. So ist manch anderen, die sich mental noch im Hamsterrad des Lebens”laufs“ befinden, zu wünschen, – dass sie sich freimachen von der Vorstellung, man dürfe unter keinen Umständen „Zeit verlieren“, – dass sie nicht fraglos hinter fremdgesetzten Vorgaben herrennen, – dass sie sich nicht zu ängstlichen Objekten scheinbar vorgegebener Karrierezwänge machen lassen, – dass sie, ganz im Sinne der im Wald jagenden Fledermäuse, Hindernisse und Umwege als entwicklungsfördernd betrachten. Drei Grunderfahrungen Der lange Kurs der Heimvolkshochschule – mittlerweile besteht er im 89. Jahr – ist deshalb nach wie vor hochaktuell, ein notwendiges Angebot für junge Erwachsene auch für die Zukunft. Der Kurs spricht viele Dimensionen der persönlichen Orientierung und Entwicklung junger Menschen an, für die im herkömmlichen Schul- und Ausbildungsbetrieb häufig zu wenig Raum vorgesehen ist. An dieser Stelle rufe ich nur einmal drei Dimensionen in Erinnerung: • Da in der heutigen Zeit so unübersehbar viele Optionen bestehen und dementsprechend vielfältige Unterscheidungen und Entscheidungen anstehen, brauchen wir die Fähigkeit des Navigierens, des zielgerichteten Steuerns „bei unterschiedlichen Winden“, damit man nicht ständig von äußeren Einflüssen mal hierhin, mal dorthin geschüttelt wird. Die Teilnehmenden sollen mithin gestärkt werden, sich als aktiv gestaltende „Lebensunternehmer“ zu verstehen: mit einer deutlichen Idee von dem, wofür sie sich begeistern, wofür sie brennen, wofür sie sich verantwortlich fühlen. Mit Zielen, für deren Erreichen sie sich anstrengen wollen. Mit einigen Vorstellungen über die Schritte, die sie tun können, um diesen Zielen näher zu kommen. Mit dem Willen, nicht in erlernter Hilflosigkeit zu verharren und anstehenden Veränderungen und Entscheidungen nicht auszuweichen. Vielleicht sogar mit der Überzeugung, zu einer ganz bestimmten Aufgabe berufen zu sein. • Um Schritte in diese Richtung gehen zu können, braucht es eine gewisse Festigkeit der Person, Grundvertrauen, Zuversicht und Selbstwertgefühl. Immer wieder erzählen uns ehemalige Teilnehmer, wie gut es ihnen getan hat, wie es sie im Grund ihrer Persönlichkeit gestärkt hat, in dieser 41 • Eine weitere wesentliche Grunderfahrung, zu der wir anregen wollen (womit wir sicherlich nicht immer Erfolg haben), ist das Gewahrwerden und Einüben einer inneren Haltung sensibler Wachheit, um den gegenwärtigen Tag bewusster, geistiger, heller zu erleben. Den Winterkurs beschreiben wir oft als eine Auszeit, eine Denkpause, und dazu gehört eben auch: aus Trägheiten und Konsum aufwachen, das Lebensgefühl weiten und heben, die Oberflächen durchbrechen und zum Wesentlichen vordringen, sich Zeit zum Nachdenken oder Tagebuchschreiben nehmen, manche kleinen Alltagsdinge als große Wunder und Geschenke begreifen etc. In einer mittlerweile schon häufiger zitierten Reflexion fasste Eckhard Harms (Kursteilnehmer im Winter 1993/94) 1994 seine Erfahrungen damals so zusammen: „Winterkurs, das ist so, wie wenn man auf der Autobahn mit 150 Sachen lang düst und dann auf einen Rastplatz fährt. Man schlingt dort allerdings nicht hastig seine Brote runter und macht schnell seine Gymnastik, um dann weiterhetzen zu können, sondern man steigt aus und geht an den Straßenrand und guckt, wie alle drauf lang düsen. Danach fährt man weiter, aber nicht mit 150 – vielleicht manchmal noch – meistens aber mit 100.“ t intensiv erfahrenen Gemeinschaft gelebt zu haben. Im gemeinsamen Theaterspiel, im gemeinsamen Singen, Werken, geistigen Arbeiten, in gemeinsam durchlittenen Krisen und Konflikten, in stundenlangen abendlichen Gesprächen fallen mit der Zeit die Masken. Man kommt den anderen mit ihren liebenwürdigen Seiten, ihren Marotten und ihren Verwundungen nahe und spürt ein starkes, tragendes Gefühl gegenseitiger Annahme und Solidarität. In dieser Vertrauensatmosphäre wächst die innere Überzeugung: „Ich darf sein, der/die ich bin, und werden, der/die ich sein kann.“ Zu dieser Stärkung trägt wesentlich bei, dass die Teilnehmenden im Kurs den Raum und die Anregung bekommen, sich ohne Anpassungsdruck, ohne Denkschablonen mit dem eigenen Glauben, mit den eigenen Zweifeln, den Anfragen und Anfechtungen auseinanderzusetzen, und so die Chance haben, sich Gott (wieder) anzunähern und (vielleicht) von Jesus her persönlich neu zu erfahren: Ich bin ein angenommener, ein zutiefst geliebter Mensch – Gott richtet mich auf und hält mich in seiner Hand. moving times. Aus dem Winterkurs 42 Moving times – Zeit für Veränderung Winterkurs kann vieles bedeuten: Leben in Gemeinschaft erfahren. Wesentlich werden. Leben aus erster Hand gestalten. Interesse für Brennpunkte des Zeitgeschehens entwickeln. Zeit haben, um neue Perspektiven zu gewinnen. Zeit, um falsche innere Zwänge und Gehemmtheiten abzustreifen. Zeit, um neue Seiten an sich zu entdecken und den „Mut zu fassen, sich selbst zu gleichen“ 2. Zeit für die Suche nach den Lebensaufgaben, in welche man seine Gaben verantwortlich einbringen kann. Zeit für Ent- scheidungen. Zeit für Entdeckungen, wie Gott den innersten Kern der Persönlichkeit berührt und füllt. Zeit, gelassener zu werden in der Erkenntnis: „Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“ 3 Christian Makus Anmerkungen: Zitat: Karlheinz A. Geißler in seinem sehr lesenswerten Buch „Zeit. ‚Verweile doch, du bist so schön’“, S. 30 1 Eine Formulierung, die dem geistigen Begründer der Heimvolkshochschulbewegung, dem dänischen Philologen, Theologen und Politiker N.F.S. Grundtvig (1783-1872) zugeschrieben wird 2 Schlusszeile aus dem bekannten Gedicht „Wer bin ich?“ von Dietrich Bonhoeffer, das er Anfang Juli 1944 während der Haft im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Berlin-Tegel schrieb Foto: Haase 3