Titelseite als PDF-Vorschau

Transcription

Titelseite als PDF-Vorschau
65. Jahrgang/Nr. 297 ● Berlin-Ausgabe ● 1,40 €
Sozialistische Tageszeitung
Montag, 20. Dezember 2010
*
*
Machtkampf in Côte d’Ivoire
Integration in Berlin
LINKE verspricht mehr Jobs
Die Afrikanische Union forderte Präsident
Laurent Gbagbo formell zum Rücktritt
auf, der seinerseits einen Abzug der Blauhelme anmahnte. Die UNO lehnte ab, die
Angst vorm Bürgekrieg geht um. Seite 2
Besuch beim Sprachkurs einer Berliner
Volkshochschule: Von »Verweigerern« ist
hier nichts zu sehen. Die Integrationsdebatte sorgt bei denen, die praktisch damit
zu tun haben, für Kopfschütteln. Seite 3
Der Berliner Wirtschaftssenator Harald
Wolf kündigt für die nächste Legislaturperiode 150 000 neue Arbeitsplätze an
und will nicht nur die städtischen Wasserbetriebe rekommunalisieren. Seite 11
Standpunkt
Ohne Einsicht
Von Jürgen Reents
Die Bundeskanzlerin meint, man
solle den Krieg in Afghanistan
»beim Namen nennen«. Und tut
sich doch schwer damit: Die Bundeswehr würde »in Gefechten stehen – so wie Soldaten das in einem
Krieg tun«, sagte sie bei einem
Truppenbesuch am Samstag in
Masar-i-Scharif. So wie?
Was deutsche Regierungspolitiker zu Afghanistan äußern, hat inzwischen immerhin einen Beigeschmack von Wahrheit. Lange
wurde die Situation heruntergespielt, wurden die Friedensbewegung und linke Politiker Maß genommen, wenn sie die Schönredereien von bloßer »Aufbauhilfe« und
vom »Stabilisierungseinsatz« kritisierten. Doch ist zu erinnern, was
der Grund dieses schleichenden
Deutungswandels war: Krieg, zunächst »kriegsähnliche Zustände«,
herrscht im Regierungsdeutsch,
seit die Bundeswehr immer mehr
eigene Opfer zu beklagen hat. Dass
deutsche Soldaten selbst auch töten und Tötungsbefehle – wie jenen
von Kundus – erteilen, wird weiterhin in den Hintergrund gedrängt.
Doch noch Besorgnis erregender
ist etwas anderes: Die Erkenntnis
des Krieges ist eine hinnehmende,
keine ablehnende. Es ist Krieg? Beendet ihn! – dieser Zusammenhang
galt bisher als ehernes moralisches
Gesetz. Nun lautet es: Es ist Krieg,
wir müssen durchhalten! Und die
Bundeskanzlerin sagt, sie sei nach
Afghanistan gekommen, um den
Soldaten zu danken. Sie kam nicht,
um sie nach Hause zu holen. Nur
wenn dies geschieht, könnte man
auch Frau Merkel danken – dass
der Wahrheit die Einsicht folgt.
Unten links
Was, bitte schön, ist ein Wutbürger?
Sind das Grundstücksnachbarn, die
sich mit Zaunpfosten traktieren, weil
der Köter von nebenan nachts den
Mond anjault und die Katze die Goldfische im fremden Gartenteich verspeist hat? Oder sind damit jene Abgeordneten gemeint, die sich gegenseitig blaue Augen und blutige Nasen
verpassen – ein derzeit in Parlamenten weltweit beliebter Zeitvertreib.
Nein. Nicht Unwort, sondern Wort
des Jahres wurde dieses »populäre«
Etikett für die Gegner von Stuttgart
21 und Castor. Populär bei welchem
populus? Der Missgriff zeigt eher,
wes Geistes Kind die Jury ist. Gerät
der deutsche Michel mal ein ganz
klein wenig in Wut, in ein Wütchen,
über selbstherrlich Herrschende,
wird er lächerlich gemacht. So kann
man echter Wut, die – oh je – in Revolution umschlagen könnte, vorbeugen. Die Enragés der Großen Französischen forderten Égalité réelle, echte Gleichheit. Von wem droht hierzulande solch kühne Forderung? Die
mangelnde Wut macht wütend. ves
www.neues-deutschland.de
twitter.com/ndaktuell
Postvertriebsstück / Entgelt bezahlt
Einzelpreise Ausland:
Österreich Mo-Fr 1,60 EUR/Sa 2,00 EUR
Slowakei 1,70/2,10 EUR
Tschechien 61/71 CZK
Polen 6,60/9,50 PLN
ISSN 0323-4940
Befehlshaberin dankt ihren Soldaten
Merkel in Afghanistan: »So etwas kannten wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht«
DGB und Kirche üben
Kritik an »Aktionsjahr«
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
hat beim Truppenbesuch in Afghanistan erstmals von »Krieg« gesprochen.
Ein 21-jähriger Bundeswehr-Soldat
starb am Freitag durch einen Unfall.
Am Sonntag kam es zu schweren Angriffen auf afghanische Sicherheitskräfte.
Kabul/Berlin (Agenturen/ND). Bei
einem Truppenbesuch in Kundus
hat Bundeskanzlerin Angela Merkel erstmals von einem »Krieg« in
Afghanistan gesprochen. »Wir haben hier nicht nur kriegsähnliche
Zustände, sondern Sie sind in
Kämpfe verwickelt, wie man sie im
Krieg hat«, sagte Merkel am Samstag vor mehreren hundert Soldaten
im Feldlager der Bundeswehr.
»Das ist für uns eine völlig neue Erfahrung. Wir haben das sonst von
unseren Eltern gehört im Zweiten
Weltkrieg.« Das sei aber eine andere Situation gewesen, weil
Deutschland damals Angreifer
war. Merkel sprach den Soldaten
bei ihrem Besuch ihre Anerkennung aus. »Der Grund, warum ich
auch hier bin, ist Ihnen Dankeschön zu sagen.«
Überschattet wurde der Besuch
vom Tod eines 21-jährigen Bundeswehr-Soldaten am Freitag.
Nach ersten Untersuchungen wurde der Mann nach einem Einsatz
beim Waffenreinigen durch den
versehentlich ausgelösten Schuss
eines Kameraden getötet. In Afghanistan starben seit Beginn des
Einsatzes vor neun Jahren insgesamt 45 Bundeswehr-Soldaten, 27
von ihnen bei Gefechten und Anschlägen.
Die Äußerungen der Kanzlerin
zum Krieg nahm der Vorsitzende
der Linksfraktion, Gregor Gysi,
zum Anlass, den sofortigen Abzug
aller Bundeswehrsoldaten zu fordern. Dies sei die einzig mögliche
Konsequenz aus der Erklärung der
Kanzlerin, sagte Gysi der »Berliner
Zeitung« (Montagsausgabe). Die
große Mehrheit der Bundesbürger
habe dies schon lange gewusst und
für diese Erkenntnis nicht so lange
Die Kanzlerin und ihr Kriegsminister, umgeben von Bundeswehrsoldaten in Kundus
benötigt wie die Kanzlerin, sagte
Gysi.
Merkel solle den Soldaten in Afghanistan vor Ort erklären, »dass
der anvisierte Terminplan für den
Abzug, beginnend im Jahr 2011
und endend im Jahr 2014, ein verbindlicher ist«, sagte der verteidigungspolitische Sprecher der SPD,
Rainer Arnold, laut einem Zeitungsbericht. Auch Außenminister
Guido Westerwelle (FDP) beharrte
auf dem Abzug der Bundeswehr ab
2011 – und wurde von der Kanzlerin gebremst. »Das setzt voraus,
dass die Lage auch so ist, dass man
das verantworten kann.« Merkel
nannte als ersten möglichen Termin »Ende 2011/2012«.
Einen Tag nach Merkels Abreise
aus
Nordafghanistan
griffen
Selbstmordkommandos der Taliban am Sonntag die afghanische
Armee in Kundus und in Kabul an.
Mindestens elf Angehörige der Sicherheitskräfte und fünf Angreifer
starben. Ziel der Taliban in Kundus war ein Rekrutierungszentrum
der afghanischen Armee in der
Stadt. »Vier Armeesoldaten und
zwei Polizisten wurden bei dem
Schusswechsel mit den Selbst-
Foto: AFP/Steffen Kugler
mordattentätern getötet«, sagte
der Polizeichef der nordafghanischen Provinz Kundus, Abdul
Rahman Sayedkhili. Ein dpa-Reporter sagte, auch einige Bundeswehr-Soldaten hätten die afghanischen Sicherheitskräfte unterstützt. Das Einsatzführungskommando in Potsdam teilte dagegen
mit, deutsche Kräfte seien nicht beteiligt gewesen. In der Hauptstadt
Kabul griffen am Sonntag zwei
Selbstmordattentäter der Taliban
einen Bus mit afghanischen Soldaten an. Fünf Soldaten wurden getötet und neun weitere verwundet.
Nordkoreas Militär erhöht Alarmbereitschaft
Südkorea hält an umstrittenem Manöver fest, UN-Sicherheitsrat berät in New York
Wegen der Spannungen auf der koreanischen Halbinsel ist eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates
anberaumt worden. Südkorea will ein
Manöver mit scharfer Munition trotz
Warnungen Nordkoreas vor einer explosiven Entwicklung durchführen.
Seoul (Agenturen/ND). Nordkorea
hat nach Medienberichten im
Streit um geplante südkoreanische
Schießübungen seine Artillerieeinheiten an der Westküste in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt.
Zudem habe Nordkorea die Militärpräsenz im Küstengebiet verstärkt, berichtete die nationale
südkoreanische Nachrichtenagentur Yonhap am Sonntag. Mehrere
Kampfjets seien aus dem Hangar
geholt worden.
Die für Sonntag geplante Sitzung
des UN-Sicherheitsrates in New
York wurde auf Antrag Russlands
angesetzt, das den Termin aber als
zu spät kritisierte. Bis Redaktionsschluss erbrachte sie noch keine
Ergebnisse. Ein Sprecher der USVertretung bei der UNO sagte, der
Zeitpunkt sei so gewählt, weil eini-
Kampf gegen
Armut:
Bilanz traurig
ge Botschafter sich vor der Sitzung
noch mit ihren Regierungen austauschen wollten.
Russland hatte die Sitzung für
Samstag beantragt und zeigte sich
verärgert über den späteren Termin. Die Entscheidung der amtierenden
Ratsvorsitzenden
des
höchsten UN-Gremiums, US-Botschafterin Susan Rice, sei »bedauerlich« und ein Abweichen von der
geltenden Praxis, sagte der russische UN-Botschafter Witali Schurkin.
Anlass des russischen Antrags
war eine weitere Verschärfung der
Spannungen zwischen Nordkorea
und Südkorea. Das Außenministerium in Pjöngjang hatte am Samstag erklärt, wenn Südkorea an seinen Plänen für ein Manöver mit
Artilleriegeschossen
festhalte,
werde die Situation auf der koreanischen Halbinsel »explodieren«.
Südkorea hatte die eintägige Militärübung auf der Insel Yeonpyeong
im umstrittenen Grenzgebiet für
die Zeit zwischen Samstag und
Dienstag angesetzt. Am Sonntag
flog ein südkoreanischer Kampfjet
über der Insel, Kriegsschiffe waren
rund um Yeonpyeong auf Patrouille. Nordkorea hatte die Insel am
23. November mit Granaten beschossen und dabei vier Südkoreaner getötet.
Trotz Nordkoreas Drohungen
sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums in Seoul der
Nachrichtenagentur AFP, es gebe
»keine Änderung in unserer Haltung bezüglich der Übung mit
scharfer Munition«. Rückendeckung bekam Südkorea von seinem Verbündeten, den USA. Das
geplante Manöver sei keine Bedrohung für Nordkorea und dürfe
nicht zum Vorwand für »neue Provokationen« genommen werden,
hatte das US-Außenministerium
am Freitag erklärt.
Der Gouverneur des US-Bundesstaates New Mexiko, Bill Richardson, rief bei Gesprächen mit Vertretern des nordkoreanischen Außenministeriums und der Armee
in Pjöngjang zu »einem Maximum
an Zurückhaltung« auf. Laut einem Bericht des US-Fernsehsenders CNN schlug der US-Demokrat
und Vertraute von US-Präsident
Barack Obama eine Telefonleitung
zwischen der nordkoreanischen
und der südkoreanischen Armee
für Zwischenfälle an der umstrittenen Grenze und eine gemeinsame Kommission der beiden Länder
sowie der USA zur Kontrolle umstrittener Gebiete im Gelben Meer
vor. Richardson sagte dem Sender
CNN, die Gespräche in Pjöngjang
seien »sehr hart«, es gebe allerdings Fortschritte. Richardson ist
nach offiziellen Angaben nicht im
Auftrag der US-Regierung in
Nordkorea, sondern im Rahmen
eines privaten Besuchs.
Der chinesische Außenminister
Yang Jiechi und sein russischer
Kollege Sergej Lawrow führten ein
Telefonat über die Lage in Korea
und drängten Südkorea zum Verzicht auf das Manöver, wie das
chinesische Außenministerium am
Sonntag mitteilte. Yang rief Nordkorea und Südkorea zur Zurückhaltung auf und warnte vor Handlungen, welche »die Lage verschlimmern könnten«.
Kommentar Seite 4
Berlin (AFP/ND). Das zurückliegende Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut war nach
Einschätzung von Gewerkschaften
und Katholiken erfolglos. Der
Deutsche
Gewerkschaftsbund
(DGB) und die Organisation Justitia
et Pax sprachen in einer gemeinsamen Erklärung von einer »traurigen Bilanz«. Das Europäische
Jahr 2010 habe »nicht einmal im
Ansatz zu notwendigen strukturellen Änderungen bei der Armutsvermeidung und -bekämpfung geführt«.
»Von warmen Worten wird niemand satt«, sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Es brauche konkrete Schritte, um Menschen zu helfen, die
trotz Arbeit arm seien. Bischof Stephan Ackermann, Vorsitzender der
Deutschen Kommission Justitia et
Pax – eine Art Runder Tisch katholischer Einrichtungen und Organisationen, die internationale Kirchenthemen behandeln – sagte, ein
Jahresthema müsse konsequent
zur Verbesserung der Lage der jeweils in den Fokus gerückten Menschen genutzt werden
Die Bundesregierung müsse ihren Einfluss in Europa zur Bekämpfung von Armut und sozialer
Ausgrenzung nutzen, forderten
DGB und Justitia et Pax. So müssten beispielsweise grenzüberschreitende Sozialversicherungssysteme für Wanderarbeiter und
existenzsichernde
Mindestlöhne
eingeführt werden.
Sport
Dortmund verpasst
Hinrundenrekord
Berlin (ND). Borussia Dortmund,
schon vorher als Fußball-Herbstmeister feststehend, verpasste den
Hinrundenrekord von 44 Punkten.
Durch die 0:1-Niederlage in Frankfurt gehen die Dortmunder mit 43
Zählern in die Winterpause. In der
2. Liga trennten sich im Spitzenspiel Augsburg und Hertha BSC
1:1. Beide Teams liegen nach
Punkten gleichauf an der Spitze,
gefolgt vom neuen Tabellendritten
Cottbus (4:0-Sieg in Oberhausen).
Neuner wieder vorn
Pokljuka (dpa). Die Doppel-Olympiasiegerin Magdalena Neuner
(Wallgau) feierte im letzten Biathlon-Weltcuprennen dieses Jahres
in Pokljuka (Slowenien) im Sprint
über 7,5 Kilometer den ersten Saisonsieg. Der dreifache Olympiasieger Michael Greis (Nesselwang) lief
im 10-Kilometer-Sprint als Dritter
zum ersten Mal in diesem Winter
auf einen Podestplatz.
Erfolge im Becken
Dubai (dpa). Bei den KurzbahnWeltmeisterschaften in Dubai sorgten die deutschen Schwimmer für
drei Medaillengewinne durch Paul
Biedermann (Halle) mit Gold über
400 Meter Freistil, Markus Deibler
mit Silber über 100 Meter Lagen
und Steffen Deibler (beide Hamburg) mit Bronze über 50 Meter
Schmetterling.
Seiten 18 bis 20