Mythen sehen. Zur Sprache der Bilder in der Antike
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Mythen sehen. Zur Sprache der Bilder in der Antike
Mythen sehen. Zur Sprache der Bilder in der Antike 21.10.2007 Prof. Dr. Marion Meyer, Institut für Klassische Archäologie, Universität Wien “Mythen sehen” ist eigentlich ein Widerspruch in sich: Mythen sind Erzählungen, und eine Erzählung setzt Sprache voraus. Ich möchte Ihnen zeigen, wie im antiken Griechenland Bilder Mythen veranschaulichten, und ich möchte Ihnen auch zeigen, wieso diese Mythenbilder interessant sind - interessant als Zeugnisse für die griechische Kultur, interessant aber auch generell als Versuche, komplexe Handlungsabläufe visuell darzustellen. Das Wort “mythos” ist griechisch und bedeutet “Erzählung”. Wir verwenden es aber anders als die Menschen, die altgriechisch sprachen. Im heutigen Sprachgebrauch versteht man unter Mythen traditionelle Geschichten, Erzählungen, die von vergangenen Ereignissen handeln und individuell benannte Personen als Protagonisten haben. Eben das unterscheidet den Mythos vom Märchen: In Mythen handeln bestimmte Personen, im Märchen heißt es: es war einmal ein König, ein Räuber, etc. Das deutsche Wort für Mythos ist Sage. Wenn wir von griechischen Sagen sprechen, liegt es nahe, das griechische Wort Mythos zu verwenden. Unter Erzählung versteht man eine zeitliche Folge von mindestens zwei Ereignissen oder Handlungen, die sich nicht unmittelbar auseinander ergeben. Und es ist die zeitliche (und kausale) Folge, die sich sprachlich so gut darstellen läßt. Seit es die Möglichkeit gibt zu filmen, ist es auch kein Problem mehr, eine zeitliche Folge visuell darzustellen. Was macht man aber, wenn man nur statische Bilder zur Verfügung hat, wie kann man dann erzählen? (Folie 2) Dieses Problem stellte sich im antiken Griechenland, das eine außerordentlich mythenund bilderfreundliche Kultur hatte. Griechische Mythen sind für uns erstmals greifbar in den in Versform verfaßten Heldengesängen Homers aus dem späten 8. Jh. v.Chr. Die Geschichten, die Homer erzählt, sind zum Teil viel älter, sie wurden mündlich tradiert, und das blieb auch lange so. Auch als diese und andere Erzählungen aufgezeichnet wurden, lernten die meisten Menschen sie durch Hören kennen, nicht durch Lesen. Und es gibt Mythen, die nie eine literarische Form bekamen, sondern die nur durch Wiedererzählen von Generation zu Generation weiterlebten. (Folie 3) An die Erzählungen vom Wirken der Gottheiten, von den großartigen Taten der Helden wie Herakles oder Perseus oder von den Ereignissen im Trojanischen Krieg wurden die Griechen auf Schritt und Tritt erinnert. Bilder dieser Erzählungen begegneten ihnen im öffentlichen und im privaten Raum. Die ersten Bilder von mythischen Erzählungen entstanden bald nach der Abfassung der homerischen Epen, um 700 v.Chr. Im 6. Jh. v.Chr. setzte ein regelrechter Boom ein. Bilder von Mythen konnten in großem Format an bestimmten Teilen von Tempeln angebracht sein. Die Münchner Glyptothek besitzt die komplette Skulpturenausstattung der beiden Giebel eines Tempels für Aphaia auf der Insel Ägina. Dargestellt sind die Kämpfe der Griechen mit den Trojanern. (Folie 4) Auch Statuengruppen, die in Heiligtümern als Weihgeschenke aufgestellt waren, konnten mythische Begebenheiten darstellen, hier die Rekonstruktion einer Gruppe, die auf der Akropolis von Athen stand und die Erfindung der sog. Doppelflöte (Aulos) durch Athena und die Auffindung dieses Instruments durch den Satyrn Marsyas zeigt. (Folie 5) Im 1. Jh. v.Chr. und in der römischen Kaiserzeit konnten Statuengruppen auch zur privaten Ausstattung von Repräsentationsräumen dienen. In einer Grotte bei Terracina in Italien wurden Reste von Skulpturen gefunden, die Episoden aus Ilias und Odyssee schildern und als Kulisse für Bankette in dieser Grotte dienten. (Folie 6) Bilder von Mythen wurden auch auf Wände gemalt oder auf Holz, als Tafelgemälde. Davon hat sich leider nur sehr, sehr wenig erhalten. Hier sehen Sie den Innenraum eines makedonischen Kammergrabes, mit der Darstellung des Raubes der Persephone durch Hades, den Gott der Unterwelt. Persephone war die Tochter der Göttin Demeter, die auf der hinteren Wand dargestellt ist. (Folie 7) Mythenbilder sind nicht an bestimmte Bildträger gebunden. Sie können fast überall vorkommen. Ich zeige als Beispiele ein Mosaik aus einem Wohnhaus in Nordgriechenland, (Achill erhält neue Waffen, die ihm von Meereswesen, den Schwestern seiner Mutter Thetis gebracht werden), eine Umzeichnung auf einer Fibel, einer großen Sicherheitsnadel (Kampf des Herakles mit der vielköpfigen Schlange Hydra), einen Elfenbeinkamm (Blendung des Polyphem durch Odysseus), den Deckel eines Bronzespiegels (Kampf mit einer Amazone) und einen Sarkophag (Opferung einer Prinzessin nach dem Fall von Troja). (Folie 8) Die wichtigste Quelle für griechische Mythenbilder sind für uns aber die sog. “Vasen”bilder. (Die Bezeichnung “Vasen” hat nichts mit Blumenvasen zu tun; sie ist der Fachterminus für bemalte Feinkeramik.) Vor allem in Athen wurden Keramikgefäße, die für verschiedene Zwecke benutzt wurden, sehr häufig mit Mythenbildern versehen, es sind zig-Tausende von ihnen erhalten. Wie kann man nun mit diesen kleinen oder großen, immer aber statischen Bildern Geschichten erzählen, wie kann man Mythen mit mehreren Handlungssträngen bildlich darstellen? Welche Möglichkeiten sind überhaupt denkbar? (Folie 9) 1) Man könnte mehrere Bilder hintereinander zeigen, in denen zeitlich aufeinander folgende Stadien der Erzählung festgehalten werden. So machen das comics. Diese Erzählweise ist relativ aufwendig. Man braucht viele Bilder, um eine Geschichte zu erzählen. Diese Erzählweise eignet sich gut für ein comic-Heft, aber wenig für die Bildträger, die ich Ihnen eben zeigte. Sie ist auch wenig repräsentativ und wenig übersichtlich, denn das einzelne Bild ist wenig aussagekräftig (auch wenn man es, wie im comic üblich, mit Schrift versieht). Zur Verwendung von Schrift: Auch für griechische Mythenbilder hat man sich manchmal der Schrift bedient, aber nicht in Form von Texten, die den Sprechblasen von comics vergleichbar wären, sondern in Form von Beischriften zu den Figuren. Den Bildinhalt erläuternde Unterschriften sind sehr selten verwendet worden. Schrift spielte nicht im entferntesten die Rolle, die sie in unserer heutigen Gesellschaft hatte. (Folie 10) 2) Eine weitere Möglichkeit für bildliche Mythenerzählung wäre ein fortlaufendes Bildband, in dem die Hauptperson oder die Hauptpersonen immer wieder in anderen Stadien der Erzählung vorkäme(n). Diese Art der Erzählweise hat es in der Antike tatsächlich gegeben, sie ist aber eine ziemlich späte Entwicklung. Das früheste Beispiel ist eine Darstellung des Mythos des Gründungshelden von Pergamon, des Telephos, eines Sohnes des Herakles. Die Lebensgeschichte dieses Telephos war in fast lebensgroßen Reliefbildern in dem Innenhof eines großen Altares angebracht, dessen Fassade heute im Berliner Pergamon-Museum aufbewahrt wird. Im Unterschied zum comic ist in dieser sog. kontinuierenden Erzählweise die Geschichte eben nicht in einzelne Bildabschnitte aufgeteilt, sondern die Bilder haben einen gemeinsamen Hintergrund und sind nicht voneinander abgetrennt. Die Umzeichnung gibt dies missverständlich wieder, weil viele Reliefplatten nicht erhalten sind. Sie müssen sich ein fortlaufendes Reliefband vorstellen, so wie die Kampfdarstellungen an der Außenseite des Altars, von denen die Aufnahmen eine Vorstellung gibt. (Folie 11) 3) Die Lösung, die für die frühen Mythenbilder gefunden wurde, ist eine andere. Man hat die mythischen Geschichten jeweils in einem einzelnen Bild dargestellt und dieses eine Bild so gestaltet, dass Aktionen, die zu verschiedenen Zeiten stattfanden, in dem Bild nebeneinander zu sehen waren. Ich zeige ein markantes Beispiel, eine Trinkschale aus dem mittleren 6. Jh.v .Chr., auf der eine Episode dargestellt ist, die Sie im 10. Buch der Odyssee nachlesen können (Hom. Od. 10, 135574). Odysseus wird mit seinen Gefährten auf eine Insel verschlagen, die von der Zauberin Kirke bewohnt wird. Er schickt einen Teil seiner Leute mit Eurylochos als Anführer zur Erkundung los. Die Männer kommen zum Palast der Kirke und werden dort, wie es das Gastrecht fordert, bewirtet, und zwar mit einem Zaubertrank, der die Männer in Schweine verwandelt, aber nur hinsichtlich der Gestalt, nicht hinsichtlich ihres Bewußtseins. Nur Eurylochos, der sich mißtrauisch ferngehalten hatte, entkommt und berichtet Odysseus von dem Vorfall. Dieser bricht auf, um seine Männer zu retten. Auf dem Weg zum Palast gibt ihm der Gott Hermes ein Kraut als Gegengift. Im Palast der Kirke angekommen, wird Odysseus ebenfalls mit einem Zaubertrank empfangen, der bei ihm aber nicht den gewünschten Effekt erzielt. Anstatt in ein Schwein verwandelt zu werden, zieht er sein Schwert und bedroht Kirke. Die erschrickt und erinnert sich an eine Weissagung, dass Odysseus auf seiner Heimreise zu ihr kommen würde. Sie beugt sich dem Schicksal, bietet dem Odysseus an, mit ihm zu schlafen, um ihr Verhältnis auf eine vertraute Basis zu stellen, und willigt ein, die Gefährten wieder zurück zu verwandeln. Es gibt ein happy end auf Zeit, Odysseus und seine Gefährten bleiben ein Jahr lang auf der Insel der Kirke. Wie wird nun diese Episode im Bild erzählt? Hauptfigur ist die Zauberin. Sie steht in der Bildmitte, und die Blicke aller anderer Figuren (mit Ausnahme der Figur ganz links) sind auf sie gerichtet. Sie ist nackt, wie ein Mann. Von den männlichen Figuren war sie jedoch dadurch abgehoben, dass ihr Körper vollständig weiß gemalt war, während alle anderen Körper schwarz waren. (Die weiße Farbe ist hier allerdings fast vom ganzen Körper abgeblättert, mit ihr auch Auge und Mund der Kirke). Es entsprach den Darstellungskonventionen der Zeit, die Körper von Frauen mit weißer Farbe anzugeben (sie soltlen sich nicht der Sonne aussetzen und helle Haut sind schon dabei, verwandelt zu werden, Eurylochos läuft weg, um Odysseus zu benachrichtigen, der kommt aber schon herbei. Es ist eine Erzählweise, die die Figuren charakterisiert, nicht abbildet, und die Elemente der Geschichte vereint, die zu verschiedenen Zeiten und evtl. auch an verschiedenen Orten auftreten. Diese Art des Bilderzählens bezeichnet man als “geschlossene Erzählweise”. Es werden keine Abbilder von Vorgängen geboten, wie man sie hätte sehen können, wenn man bei den Geschehnissen anwesend gewesen wäre, sondern es werden verschiedene Stadien der Geschichte kombiniert. Das bietet den Betrachtern viel, verlangt ihnen aber auch Zeit und die Bereitschaft ab, die Darstellungen geduldig abzulesen. Auf den ersten Blick erschließen sich diese Bilder nicht. (Folie 12) Ich zeige als weiteres Beispiel eine etwa gleichzeitig entstandene Schale in München: Dargestellt ist der große Held Athens, Theseus, der den Minotauros besiegt, ein Ungeheuer mit menschlichem Leib und Stierkopf. Der Held hält ihn an einem seiner Hörner und holt zum tödlichen Stoß mit dem Schwert aus. Diese Begegnung findet im Labyrinth auf Kreta statt, der Behausung des Minotauros, und um aus diesem Labyrinth wieder herauszufinden hat Theseus von Ariadne, der kretischen Königstochter, die sich prompt in den Ankömmling verliebte, ein Wollknäuel bekommen, das er auf dem Weg durch das Labyrinth abwickelte und dann mithilfe des Fadens den Weg zurückfand. Natürlich ging er allein zu der Auseinandersetzung mit dem Monster, aber hier im Bild sind alle, die in diesem Mythos eine Rolle spielen, aufgereiht und mit Beischriften benannt. Die am Bildrand ruhig stehenden Figuren, immer abwechselnd eine männliche und eine weibliche, sind die attischen Jungen und Mädchen, die Minos, der König von Kreta, als Tribut forderte und die von Theseus gerettet werden. Rechts neben dem Kampfpaar steht Ariadne und streckt ihre rechte Hand mit dem Wollknäuel weit vor. Sie verweist damit auf ihre tragende Rolle, es ist das Wollknäuel, das sie in dieser Geschichte so wichtig macht. Hinter ihr tänzelt eine weitere weibliche Figur. Auch ohne Beischrift wüßten wir, dass es sich um die Amme der Ariadne handelt. Warum eine Amme für eine Erwachsene wie Ariadne? Ariadne ist ein Mädchen, noch unverheiratet, und Mädchen sind entweder im Kreise ihrer Familie zu sehen oder in Begleitung einer Dienerin. Ammen blieben oftmals in den Familien und fungierten als Zofe für ihre erwachsenen Schützlinge. Die Ammen sind meist Sklavinnen, und als solche braucht diese Frau nicht die Selbstbeherrschung an den Tag zu legen wie die Königstochter. Mit ihrer Unruhe veranschaulicht sie die Spannung, die Aufregung derer, die auf den Ausgang der Begegnung von Theseus mit dem Minotauros warten. Die Amme hat hier also einmal die Funktion, eine Attributfigur zu der Königstochter zu sein, und zum zweiten fungiert sie als Stimmungsträger. Auf der anderen Seite des Kampfpaares steht Athena, die Schutzgöttin des Theseus, und eben dieses Verhältnis ist dadurch veranschaulicht, dass sie dicht hinter ihm steht und in einer Geste der Anteilnahme den Arm hebt. In der gesenkten Rechten hält sie eine Lyra, ein Saiteninstrument. Während das Wollknäuel in der Hand der Ariadne auf einen Teil der Erzählung verweist, der dem Kampf vorausgeht, verweist die Lyra auf eine spätere Episode: Nach der Flucht des Theseus mit Ariadne und den vor dem Minotauros geretteten athenischen Jungen und Mädchen wird das Schiff auf Delos Station machen, und dort werden alle aus Dankbarkeit für den Gott Apollon einen Tanz aufführen, mit Theseus als dem Musikanten. Es können also auch Bildelemente integriert werden, die nicht nur zu unterschiedlichen zeitlichen Abschnitten der Erzählung gehören, sondern auch andere Schauplätze erfordern. Es ist dieses Interesse an charakterisierenden Darstellungen, das in der archaischen Zeit zur Entwicklung von Darstellungskonventionen führte, die dann über 1000 Jahre lang verbindlich blieben. So wie Kirke durch ihr Gefäß mit dem Rührstab als Zauberin oder Ariadne durch das Wollknäuel als die kooperative Königstochter gekennzeichnet sind, so wurden auch andere mythische Figuren situationsunabhängig mit Bildelementen ausgestattet, die etwas Charakteristisches über sie mitteilen und den Betrachtern ermöglichen, sie zu erkennen. (Folie 13) Herakles ist sehr häufig mit einem Löwenfell ausgestattet. Wieso? Die Tötung des nemeischen Löwen war die erste Heldentat des Herakles, daran erinnert das Fell. Auf einer korinthischen Amphora bekämpft der Held Perseus ein Meeresungeheuer. Am linken Arm baumelt ihm eine Tasche - in dieser Situation eher hinderlich. Diese Tasche ist ein unerläßliches Requisit für eine andere Geschichte: in dieser Tasche verbirgt Perseus den Kopf der Medusa, nachdem er sie enthauptet hat. Ihr Anblick würde ihn versteinern. Diese Tasche ist situationsunabhängig - zu einem Attribut des Helden geworden. Attribute, die charakteristischen Kennzeichen der Figuren, sind also oftmals abgekürzte Geschichten. So konnte man ein weiteres Problem lösen, das der Mythos für das Bild bot: Es geht ja im Mythos nicht nur um Handlungen im Laufe der Zeit, sondern es geht um Handlungen bestimmter Personen. Für die Monster des Mythos, aber eben auch für die in Menschenform dargestellten Figuren wurden Darstellungskonventionen entwickelt, die er erlaubten, das Bild eines Herakles oder Perseus von dem eines anderen Helden - oder auch eines sterblichen Mannes zu unterscheiden. Die in archaischer Zeit, im 7. und 6. Jh. entwickelte geschlossene Erzählweise ist nicht die einzige Möglichkeit, mit einem Bild eine mythische Erzählung wiederzugeben. Im 5. Jh., d.h. in klassischer Zeit, wurde eine andere Erzählweise bevorzugt. (Folie 14) 4) Es wird der Höhepunkt der Erzählung genommen, der Moment, in dem eine entscheidende Wende eintritt, und dieser eine dramatische Moment dargestellt. In der Kirke-Episode schlägt die Geschichte in dem Augenblick um, in dem Odysseus Kirke gegenübertritt. Erinnern Sie sich an die Geschichte, wie sie in der Odyssee erzählt wird. Kirke erschrickt, erkennt, dass der Wille der Götter hier am Werk ist, und arrangiert sich, ohne das Heft des Handelns aus der Hand zu geben: sie nimmt Odysseus als Partner auf. Zu Beginn des 5. Jhs. v.Chr. stellen zwei attische Vasen diesen entscheidenden Moment dar: Auf der leider sehr stark fragmentierten Schale in Athen wird die Begegnung als Aufprall geschildert: Odysseus, von dem gerade noch der Reisehut erhalten ist, bedrängt Kirke, die in der linken Hand ihren Becher hält und mit der rechten eine abwehrende Geste macht. Die Säulen verdeutlichen, dass Odysseus in den Palast der Kirke eingedrungen ist. Auf der Vase rechts sitzt Kirke und läßt vor Schreck die Schale fallen. Beide Male ist die Zauberin bekleidet. Auf Charakterisierungen, die dem Augenschein widersprechen, wurde verzichtet. Diese Erzählweise ist als distinguierend bezeichnet worden, weil sie einen distinktiven, besonders markanten Moment der Erzählung herausgreift. (Folie 15) Im mittleren 5. Jh. v.Chr. wird die Begegnung von Odysseus und Kirke in den Bildern anders erzählt, und ich zeige mehrere Beispiele, damit Sie sehen, dass dies wirklich die gängige Darstellungsform war und nicht etwa die Vorliebe eines Malers. Odysseus eilt mit gezücktem Schwert heran, so wie wir ihn schon auf dem 100 Jahre älteren Bild gesehen hatten. Kirke läßt das Gefäß mit dem Zaubertrank fallen und wendet sich zur Flucht. Den Betrachtern war bekannt, dass Homer die Geschichte anders erzählt und das Verhältnis von Odysseus und Kirke anders präsentiert. Den Betrachtern waren aber auch solche Bilder, in denen ein Mann eine Frau verfolgt, gut bekannt. (Folie 16) Solche Bilder waren im 5. Jh. v.Chr. geläufig, um das sexuelle Interesse eines Mannes an einer Frau zu veranschaulichen. Götter wurden so dargestellt, die sterblichen Frauen nachstellten, um mit ihnen Kinder zu zeugen, aber auch anonyme Figuren werden in diesem Bildschema gezeigt. Letztlich sind es Bilder, die die Verfügungsgewalt von Männern über Frauen veranschaulichen. Wenn dieser Bildtypus nun für Odysseus und Kirke verwendet wird, macht das eine sehr dezidierte Aussage: Kirke wird damit - entgegen der homerischen Erzählung - wie ein normales, einem Mann ausgeliefertes weibliches Wesen dargestellt. Man hätte keine stärkere visuelle Ausdrucksform dafür finden können, um zu zeigen, dass die gefährliche Zauberin unschädlich gemacht wurde. Diese Bilder zeigen, wie man sich im 5. Jh. v.Chr. das Verhältnis zwischen den Geschlechtern vorstellte, wie es sein sollte. Damit sind wir bei meinem zweiten Punkt angekommen, nämlich dem speziellen Interesse, dass die Mythenbilder für uns haben. Sie sind eben nicht einfach die Veranschaulichung von Geschichten, von denen wir eine kohärente Vorstellung nur dann bekommen, wenn wir sie lesen oder hören. Sie zeigen uns, was die Griechen im Laufe der Zeit an ihren traditionellen Mythen darstellenswert fanden, was sie bewegte, was die Mythen ihnen sagten und wie sie sie sahen. Und diese Sicht auf den Mythos änderte sich im Laufe der Zeit, wie die Geschichte von Kirke und Odysseus zeigt. Für solche zeitbedingte Interpretationen könnte ich noch viele Beispiele anführen. Ich möchte stattdessen auf eine Konsequenz dieser Aktualisierungsinteressen aufmerksam machen. (Folie 17) Wir sahen, dass Odysseus und Kirke so dargestellt werden können wie andere Männer und Frauen, wenn es darauf ankam, geltende Geschlechterrollen zu bestätigen. Es gibt noch weitere Bildtypen, die sowohl für mythische Figuren als auch für anonyme Figuren (also für Bilder der Lebenswelt) verwendet wurden, und das ist einer der interessantesten Aspekte des griechischen Mythenbildes. Ich zeige ein weiteres Beispiel. In den Antikensammlungen von München gibt es eine Halsamphora, die auf beiden Seiten ein nur in Details variiertes Bild zeigt: Ein schwergerüsteter Krieger trägt einen gefallenen Kameraden. Gemeint ist: er rettet ihn und die Rüstung des Gefallenen vor dem Feind. Das Bildthema war zu diesem Zeitpunkt schon über 100 Jahre lang geläufig, wenn es zuvor auch etwas anders wiedergegeben worden war, (Folie 18) nämlich so, wie es die beiden Bilder rechts zeigen: Ein Krieger hat einen anderen über beide Schultern genommen und trägt ihn. Bei den beiden älteren Beispielen macht der Kontext deutlich, dass es sich um ein Motiv aus der Lebenswelt handelt: Auf dem Tonrelief ist die Darstellung die Verzierung eines Frauengewandes, die Darstellungen in den unteren Zonen zeigen einen Reigentanz von weiblichen und männlichen Figuren, ein traditionelles Thema nichtmythischen Inhalts. Auf dem Tongerät ganz rechts ist ein und dasselbe Bildchen, der Krieger mit dem geschulterten Kameraden, gleich mehrfach eingestempelt, und diese Multiplikation könnte man sich bei einem mythischen Thema nicht vorstellen. (Folie 19) Auf einem im Vergleich zu dem Münchner Bild etwa eine Generation älteren attischen Gefäß ist diese Gefallenenbergung in dem traditionellen Bildtypus dargestellt (der Gefallene lastet auf beiden Schultern), und Beischriften weisen die beiden Krieger als Aias und Achill aus. Mithin ist eine Episode aus dem trojanischen Krieg gemeint, eine Begebenheit, die in einem zeitlich an die Ilias anschließenden, nicht erhaltenen Epos erzählt war. Als Achill auf dem Schlachtfeld fiel, gelang es nur dem hünenhaften Aias, ihn vom Feld zu tragen. Sind nun auf der Münchner Vase auch Aias und Achill zu sehen? Zweimal? Ich meine nein, andere ArchäologInnen meinen ja. Die Frage braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden, denn wir wissen, das Bildschema wurde für die beiden homerischen Helden verwendet, und es wurde auch (wie die eben gezeigten frühen Beispiele zeigten), dass es für nichtmythische Figuren verwendet wurde. (Folie 20) Der gleiche Maler, der die Münchner Amphora gemalt hat (Exekias), hat das Bildschema ein drittes Mal verwendet, und diesmal eindeutig für nichtmythische Figuren. Der Krieger mit dem geschulterten Toten wird hier von einer Frau empfangen, die bestürzt herbeiläuft. Auf der anderen Seite der Amphora ist eine thematisch zugehörige Szene zu seien: der Auszug eines Kriegers. Er verabschiedet sich von seinem alten Vater, zugegen sind zwei Frauen, die Mutter und Ehefrau des Kriegers. Hier kann es sich nicht um Achill handeln, und es fehlen Hinweise auf eine andere mythische Figur. Es ist ein typisches menschliches Schicksal dargestellt: ein Krieger zieht aus und wird schließlich als Toter nach Hause getragen. (Folie 21) Und es gibt weitere Bilder, in denen der gefallene Krieger von zwei Frauen in Empfang genommen wird, auch dies ist nicht mit Achill und Aias zu verbinden. Wir haben mit der Gefallenenbergung einen in homerischer Zeit entwickelten Bildtypus, der vorbildhaftes Verhalten von Kriegern thematisiert und einen hohen ethischen Anspruch erhebt. Man läßt seinen Kameraden nicht auf dem Schlachtfeld liegen, man rettet ihn und seine Rüstung vor den Feinden. Dieser Bildtypus konnte für Bilder der Lebenswelt und auch für mythische Figuren benutzt werden (rechts wieder eine Schale mit Beischriften Achilleus und Aias). Der mythische Held Aias ist das mythische Exempel für die mit diesem Bildtypus gepriesene Tat der Bergung eines toten Kameraden. Hier wird durch die Beischriften ausgesprochen, was beim Anblick anderer Beispiele dieses gängigen Bildtypus mitgedacht worden sein mag (dass dies eine heroische Tat ist, der des Aias gleich). Wenn die gleichen Bildtypen für Situationen des Lebens und des Mythos verwendet werden, dann sind das Aufforderungen zum Vergleich anonymer Figuren mit mythischen Helden. Bei den Bildern anonymer Krieger fällt den Betrachtern ein, dass sie solche Bilder mit bestimmten Helden gesehen haben, und die anonymen Krieger (also die Projektions-figuren für die Betrachter) erscheinen wie Aias oder (in anderen Bildern) wie die jeweiligen Helden. Andererseits wird die Vorbildhaftigkeit der mythischen Helden buchstäblich dadurch vor Augen geführt, dass sie nicht nur außergewöhnliche Abenteuer gegen Monster in der weiten Ferne bestehen, sondern das tun, was auch die Sterblichen tun sollen. Als Leitbilder für Verhaltensweisen und als Ausdruck geltender Normen zu dienen, das ist eine der wichtigen Aufgaben von Mythenbildern, und das macht sie zu so wichtigen Zeugnissen für die Vorstellungswelt der damaligen Zeit. Literatur: N. Himmelmann-Wildschütz, Erzählung und Figur in der archaischen Kunst (Mainz 1967) L. Giuliani, Bild und Mythos (München 2003) K. Junker, Griechische Mythenbilder. Eine Einführung in ihre Interpretation (Stuttgart 2005)