Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei, Politik
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Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei, Politik
Politik Jenni Egenolf Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei Vergleich des wissenschaftlichen Diskurses mit der in den deutschen Medien geführten Debatte Magisterarbeit Abschlussarbeit zur Erlangung der Magistra Atrium im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe Universität Institut für Politikwissenschaft und politische Soziologie Thema: Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei Vergleich des wissenschaftlichen Diskurses mit der in den deutschen Medien geführten Debatte vorglegt von: Jennifer Egenolf Einreichungsdatum: 27.09.2007 Gliederung Einleitung S. 1 1. Ziel und Aufbau der Arbeit S. 2 Die Türkei – Ein Kurzüberblick S. 4 2.1 2.2 S. 4 S. 5 S. 5 S. 7 3. Die Entwicklung des institutionellen Anschlusses der Türkei an die Europäische Union 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10 3.11 4. Geostrategische Lage Die Wurzeln der Westorientierung 2.2.1 Das Osmanische Reich 2.2.2 Die Jungtürken 2.2.3 Der Niedergang des Osmanischen Reiches und die Gründung der türkischen Republik 2.2.4 Die Kulturrevolution Atatürks und ihre Ziele 2.2.5 Die sechs Prinzipien des Kemalismus Das Assoziierungsabkommen Die problematische Entwicklung der türkischen Integration bis zum Ende der 80er Jahre Der Antrag auf Vollmitgliedschaft Die veränderte Ausgangssituation der Türkei - EU Beziehungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Die weitere Entwicklung der Beziehungen bis zur Realisierung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei Das Zollunionsabkommen zwischen der Türkei und der EU Wichtige Entwicklungen im Vorfeld des Europäischen Rates von Luxemburg Das Gipfeltreffen der Europäischen Union in Luxemburg Der Beschluss von Helsinki Das Dokument über die Beitrittspartnerschaft und die weiteren Entwicklungen bis 2004 Die Erlangung des Beitrittskandidatenstatus und die weitere Entwicklung bis heute 2 S. 8 S. 9 S. 9 S. 11 S. 12 S. 17 S. 20 S. 23 S. 24 S. 25 S. 28 S. 29 S. 32 S. 34 S. 37 Europäische Perspektiven – Chancen und Risiken für die EU im Falle eines EU-Beitritts der Türkei S. 41 4.1 Geopolitische und geostrategische Dimension 4.1.1 Von der anti- Riegelfunktion zur multidimensionalen strategischen Partnerschaft 4.1.2 Geopolitische Bedeutung – Außenbeziehungen der Türkei 4.1.3 Geostrategische Bedeutung 4.1.4 Energie- und Sicherheitspolitik 4.1.4.1 Die Türkei als Energieversorger 4.1.4.2 Die Türkei als sicherheitspolitischer Stabilisator 4.1.4.3 Politische und soziale Stabilisierung der Türkei S. 42 S. S. S. S. S. S. S. 43 45 48 50 50 51 55 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 5. 6. Institutionelle Dimension S. Ökonomische und soziale Dimension S. 4.3.1 Die wirtschaftliche Situation der Türkei S. 4.3.2 Wirtschaft S. 4.3.3 Migration S. Geographische Dimension S. Kulturelle Dimension S. 4.5.1 Kultur S. 4.5.2 Politische Kultur S. 4.5.3 Religion S. Identität S. 4.6.1 Definition europäischer Identität durch geschichtlichen und religiösen Hintergrun S. 4.6.2 Definition europäischer Identität durch Willenserklärung zur Zugehörigkeit S. 4.6.3 Definition europäischer Identität - EU als Werte- und Rechtsgemeinschaft S. 4.6.4 Identität – Die allgemeine Diskussion S. 4.6.5 Die europäische Identität S. 4.6.6 Die türkische Identität S. Mögliche Alternativen zu einer EU-Vollmitgliedschaft der Türkei S. 4.7.1 Privilegierte Partnerschaft S. 4.7.2 Erweiterte Assoziierte Mitgliedschaft S. 4.7.3 Abgestufte Integration S. 56 57 57 62 66 69 72 73 76 79 85 85 86 87 88 89 91 92 92 93 94 Türkische Perspektiven – Chancen und Risiken für die Türkei im Falle eines EU-Beitritts S. 96 5.1 5.2 5.3 S. 97 S.100 S.102 Politik Wirtschaft Gesellschaft Die Debatte um den EU-Beitritt der Türkei in den deutschen Medien 6.1 6.2 S.104 Theoretisch-methodische Zuordnung der Analyse S.104 6.1.1 Die wissenssoziologische Diskursanalyse S.105 6.1.1.1 Die Medieninhaltsanalyse S.107 6.1.2 Allgemeine methodische Vorüberlegungen S.108 6.1.2.1 Forschungspraktische theoretische Herangehensweise S.108 6.1.2.2 Quantitative und qualitative Elemente der Inhaltsanalyse S.109 6.1.2.3 Qualitative Forschung - Interpretation und Kontrolle – hermeneutischer Zirkel und seine methodische Umsetzung S.109 6.1.2.4 Qualitative Analyseinstrumente I Frames, Argumentationsmuster, Argumentationsebene/stil, Bias S.112 6.1.2.5 Qualitative Analyseinstrumente II und quantitative Gewichtung von Frames, Argumenten und Schlüsselbegriffen S.113 Untersuchungsvorgehen S.114 6.3 7. 8. 6.2.1 Untersuchungszeitraum 6.2.2 Untersuchungseinheiten 6.2.3 Ausschlusskriterien Ergebnisse 6.3.1 Vergleich der Relevanz des Themas 6.3.1.1 Querschnitt- und Symbolanalyse 6.3.1.2 Längsschnittanalyse 6.3.2 Feinanalyse und Rekonstruktion der Frames 6.3.3 Codierung, Identifizierung und Gewichtung der Frames 6.3.3.1 Codierschema für die Inhaltsanalyse 6.3.3.2 Identifizierte Frames S.114 S.114 S.115 S.116 S.116 S.117 S.124 S.125 S.144 S.144 S.145 Vergleich und Bewertung des wissenschaftlichen Diskurses mit der in den Medien geführten Debatte S.146 Schlussbemerkung S.151 Literaturverzeichnis Monographien und Sammelbände Aufsätze und unselbstständige Veröffentlichungen Offizielle Dokumente S.154 S.154 S.157 S.161 Abkürzungsverzeichnis S.163 Einleitung „Eine Türkei, die in die EU eintreten kann, wird eine andere sein, als die, die wir kennen. (...) Eine EU, in die die Türkei eingetreten ist, wird auch eine andere sein.“1 Als Grenzland zwischen Europa und Asien, zwischen Christentum und Islam und zwischen westlichem und östlichem Kulturkreis, lässt die Türkei in ihrer Geschichte bereits seit dem Ende des 16. Jahrhunderts ein großes Interesse an Europa erkennen. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bewegt sich die Türkei kontinuierlich auf Europa zu, indem sie westliche Gesellschaftsentwürfe zum Leitbild für die Modernisierung des türkischen Staates, der Gesellschaft und der Wirtschaft erklärte. Zur Vollendung dieser Entwicklung, strebt die Türkei nun den Beitritt in die Europäische Union (EU) an. Der Beschluss des Europäischen Rates von Brüssel am 3. Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen, hat europaweit kontroverse Debatten ausgelöst. Die öffentliche und fachliche Aufmerksamkeit für den möglichen Beitritt der Türkei ist geradezu überwältigend. Die Debatte wird vor allem im Kreis der Altmitglieder der Europäischen Union in zahlreichen tagespolitischen Medien, in politischen Zentren, in Fachjournalen und Expertenrunden heftig ausgetragen. Je greifbarer die Beitrittsperspektive für die Türkei wurde, desto heftiger wurden die geführten Diskussionen. In der auf breiter Basis geführten Debatte, die durch satte Polemik, flammende Plädoyers, sowie neutrale Problemskizzen charakterisiert ist, werden eine Vielzahl von Argumenten für das Für und Wider einer EU-Mitgliedschaft der Türkei vorgetragen. Hier ist eine Aufteilung in zwei verschiedene Argumentationsebenen zu beobachten. Einerseits verläuft die Debatte auf der Ebene der von der EU vorgegebnen Beitrittskriterien, den Kopenhagener Kriterien. Hier werden in erster Linie die politischen, rechtlichen, ökonomischen und sozialen Aspekte eines EU-Beitritts der Türkei näher beleuchtet. Andererseits thematisiert eine andere Ebene der Argumentationen die kulturelle und religiöse Andersartigkeit der Türkei. Damit wird 1 Meyer, T.: Die Identität Europas, Shurkamp, Frankfurt am Main, 2004, S.148. 1 die Beitrittsmöglichkeit eines Landes zum ersten Mal mit kulturell-religiösen Fragestellungen verbunden. Gleichzeitig gewinnen die offenen Fragen nach der Identität und Finalität der EU und ihren Grenzen sowie die Diskussion welches Ausmaß an Erweiterung für die Union finanziell und strukturell überhaupt erwünscht und verkraftbar ist, im Rahmen der türkischen Beitrittsdebatte wieder an Bedeutung. Keine Aspiration eines anderen Landes auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union hat die Meinungen in den EU-Staaten, sowohl auf politischer und wissenschaftlicher, als auch auf gesellschaftlicher Ebene, so sehr gespalten, wie die Frage um die Aufnahme der Türkei in die EU. Dies hat mein Interesse geweckt, und mich dazu bewogen, mich in meiner Magisterarbeit näher mit der Debatte um den möglichen EU-Beitritt der Türkei zu befassen. 1. Ziel und Aufbau der Arbeit Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich einerseits den wissenschaftlichen Diskurs um einen möglichen EU-Beitritt der Türkei und andererseits den <gesellschaftlichen> Diskurs in den deutschen Medien näher beleuchten. Die wissenschaftliche Debatte soll aus europäischer und türkischer Perspektive auf ihre Argumente für und gegen den Beitritt der Türkei untersucht werden, um so die Chancen und Risiken für die Türkei und die EU im Falle eines Beitritts zu verdeutlichen. Diesen Ergebnissen soll dann die Debatte in den deutschen Medien gegenübergestellt werden. Im Rahmen dieses Vergleiches, möchte ich der Frage nachgehen, ob die in der Wissenschaft und in den Medien geführten Debatten mit den gleichen oder ähnlichen Argumentationslinien und Themenschwerpunkten arbeiten, oder ob es Unterschiede gibt. Sollten Unterschiede festgestellt werden, stellt sich wiederum die Frage wodurch diese begründet sein könnten und welche Auswirkungen verschieden starke Gewichtungen einzelner Argumente haben könnten. Um die komplexen Zusammenhänge verständlich zu machen, werde ich als Einstieg in die Thematik zunächst einen kurzen Überblick über die geschichtlichen Hintergründe der Türkei geben (Kapitel 2). Anschließend sollen die verschiedenen Phasen der Annäherung der Türkei an die EU bis zur Erlangung des Beitrittskandidatenstatus der 2 Türkei nachgezeichnet werden. Ziel ist die Darlegung des rechtsvertraglichen Status zwischen der EU und der Türkei und der Motive und Interessen der EU und der Türkei, die mit den jeweiligen Annäherungsschritten verbunden waren (Kapitel 3). Der Hauptteil der Arbeit besteht aus zwei Schwerpunkten. Im ersten Teil möchte ich die Debatte um den EU-Beitritt auf Basis wissenschaftlicher Sekundärliteratur näher beleuchten. Dazu werde ich in Kapitel 4 die aus europäischer Perspektive vorgetragenen Argumente der Beitrittsgegner und –befürworter gegenüberstellen und vertiefend untersuchen, um so die Chancen und Risiken der EU im Falle eines Beitritts der Türkei im Hinblick auf die geopolitische und geostrategische, die institutionelle, die geographische und die kulturelle Dimension, sowie die europäische Identität herauszuarbeiten. Analog dazu sollen dann die Chancen und Risiken der Türkei im Falle einer EU-Vollmitgliedschaft auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene anhand der vorgebrachten Argumente für und gegen den Beitritt erläutert werden (Kapitel 5). Den zweiten Schwerpunkt bildet eine Diskursanalyse zum EU-Beitritt der Türkei, die ich im Rahmen meines Empiriepraktikums gemeinsam mit Nicole Schuler erstellt habe. Diese Diskursanalyse beleuchtet die Debatte um den EU-Beitritt der Türkei auf Basis von Kommentaren und Stellungsnahmen, die aus verschiedenen deutschen Zeitungen entnommen wurden. Sie soll dazu dienen, dem zuvor dargestellten wissenschaftlichen Diskurs die Debatte in den deutschen Medien gegenüberzustellen (Kapitel 6). Abschließend möchte ich dann die in der wissenschaftlichen Diskussion vorgebrachten Argumente und die Bedeutung, die ihnen zugemessen wird, mit den in den Medien vertretenen Positionen vergleichen (Kapitel 7). 3 2. Die Türkei – Ein Kurzüberblick Abb. 12 2.1 Geostrategische Lage Die Türkei umfasst ein Gebiet von 779.452 Quadratkilometern. Das Land erstreckt sich geographisch auf zwei Kontinenten und besteht daher aus einem europäischen und einem asiatischen Teil. Anatolien, der asiatische Teil des türkischen Staatsgebiets, nimmt ca. 97% der Gesamtfläche ein. Den europäischen Teil bildet das östliche Thrakien. Er umfasst etwa 3% der Landesfläche. Istanbul, die größte Stadt der Türkei, mit ca. 9 Mio. Einwohnern, ist weltweit die einzige Stadt, die sich über zwei Kontinente erstreckt. Die Hauptstadt des Landes ist die in Anatolien gelegene Stadt Ankara. Die Gesamtbevölkerung umfasst ca. 69 Mio. Menschen. 7200 km der insgesamt ca. 9.850 km langen Landesgrenzen der Türkei sind von Wasser umgeben. Im Westen der Türkei liegt das Ägäische Meer, im Süden das Mittelmeer und im Norden das Schwarze Meer. Die Türkei hat außerdem gemeinsame Grenzen mit 8 Nachbarländern. Im Nordwesten grenzt sie an Griechenland (206 km Grenze) und Bulgarien (240 km), im Nordosten an Georgien (252 km), Armenien (268 km) und Aserbaidschan (9 km). Im Osten grenzt sie an den Iran (499 km) und im Süden an den Irak (352 km) und Syrien (822 km). 2 Entnommen aus: http://www.onlineproduction.de/turkey.html (20.06.2007) 4 2.2 Die Wurzeln der Westorientierung Die frühesten türkisch- europäischen Begegnungen, die damals meist in Form militärischer Konfrontationen stattfanden, können bis zur Schlacht von Malazgirt 1071 zwischen dem Reich der türkischen Seldschuken und dem byzantinischen Reich zurückverfolgt werden. Nach dem Sieg der türkischen Seldschuken beschleunigte sich die Türkifizierung Anatoliens und seit dem 13. Jahrhundert bestand in Anatolien ununterbrochen ein türkisches Staatswesen unter der Herrschaft der Römischen bzw. Anatolischen Seldschuken, türkischer Fürstentümer, dem Osmanischen Imperium und schließlich der Republik Türkei.3 2.2.1 Das Osmanische Reich Die Eroberung Istanbuls stellte das Ende des tausendjährigen Oströmischen Reichs dar und markierte zugleich den Beginn der osmanischen Großmacht in Europa. Das Osmanische Imperium, das sich auf drei Kontinente, nämlich Europa, Asien und Afrika erstreckte, verstand sich jedoch von Beginn an im politischen und diplomatischen Sinne eher als eine europäische und nicht als eine asiatische Macht.4 Spätestens im 16. Jahrhundert hatte das osmanische Reich unter Süleyman (1520-1566) begonnen, eine Rolle als europäische Großmacht zu spielen und sich auf Europa zuzubewegen, als ein Vertrag mit Frankreich unterzeichnet wurde, der sich in erster Linie gegen das Habsburgreich, den gemeinsamen Gegner in Zentraleuropa richtete.5 In der Blütezeit des Osmanischen Reiches konnte jedoch keinesfalls von einer Suche nach europäischen Modellen die Rede sein, denn die osmanischen Türken betrachteten sich als kulturell und zivilisatorisch gegenüber dem christlichen Europa überlegen. Doch zu Beginn des 17.Jahrhunderts begann sich die osmanisch-türkische Vormachtstellung zu relativieren. Als das Osmanische Reich dann 1768 in Folge des türkisch-russischen Krieges große Gebietsverluste auf dem Balkan und im Kaukasus hinnehmen musste, war diese Vormachtstellung in der Europapolitik endgültig verloren. Grund hierfür war die mangelnde militärische Konkurrenzfähigkeit des Osmanischen 3 Vgl.: Rill, B.: Die Türkei zwischen Europa und Asien. Von der Schlacht von Malazgirt bis zum Beitrittsgesuch zur Europäischen Gemeinschaft, in: Politische Studien, September-Oktober 1999, Nr. 367, S.53. 4 Vgl.: Ebd., S. 52. 5 Vgl.: Steinbach, U.: Die Türkei im 20. Jahrhundert. Schwieriger Partner Europas, Lübbe, Bergisch Gladbach, 1996, S.30. 5 Reiches gegenüber den anderen europäischen Großmächten, die auf die abendländischen Fortschritte im Bereich Wissenschaft und Technik zurückzuführen war. Der osmanische Hof und seine Führungseliten waren dadurch zu technischen und organisatorischen Reformen gezwungen und nahmen dabei das europäische Modell zum Vorbild. Diese Reformen bezogen sich jedoch nicht nur auf den Militärapparat, sondern auch auf die bürokratische Organisationsstruktur des Bildungssystems und des Rechtswesens. 6 Im Jahre 1856 wurde das Osmanische Reich mit dem Vertrag von Paris als eine europäische Macht im völkerrechtlichen Sinne anerkannt, denn seine Beziehungen zu den europäischen Nachbarn bestanden längst nicht mehr ausschließlich aus kriegerischen Auseinandersetzungen, vielmehr waren politische und diplomatische Beziehungen sowie militärische Kooperationen und Bündnisse entstanden.7 Die Reformverordnungen von 1839, 1866 und schließlich die erste osmanische Verfassung von 1876 modernisierten das politische System des Osmanischen Reiches nach europäischem Vorbild. Die Verfassung war stark an die belgische Verfassung von 1831 und die preußische Verfassung von 1850 angelehnt und sah die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie und eines Zweikammernparlaments vor.8 Die osmanischen Reformer stießen jedoch auf starken Widerstand von Seiten der muslimischen Bevölkerung, der sich besonders nach der Niederlage im Krieg gegen Russland 1877/78 verstärkte. Die neue Regierung unter Abdulhamides II. (1876-1909) war bestrebt, diese Unzufriedenheit für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und setze umgehend die Verfassung von 1876 außer Kraft. Die säkularisierenden Reformen der vorangegangenen Epoche wurden als die Wurzel aller Probleme dargestellt und angesichts der überlegenen Kultur des modernen Europas wurden die großen Leistungen der islamischen Zivilisation in der Vergangenheit immer wieder hervorgehoben.9 6 Vgl.: Kreiser, K. / Neumann, Ch. K.: Kleine Geschichte der Türkei, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 2005, S.199. 7 Vgl.: Faroqhi, S.: Geschichte des Osmanischen Reichs, Beck, München, 2000, S. 74 ff. 8 Vgl: Yesilyurt, Z.: Die Türkei und die Europäische Union. Chancen und Grenzen der Integration, Der andere Verlag, Osnabrück 2000, S.21. 9 Vgl.: Adanir, F.: Der Weg der Türkei z einem modernen europäischen Staat, in: Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Der Bürger im Staat, 50. Jahrgang, Heft 1 2000, Stuttgart, 2000, S.10. 6 2.2.2 Die Jungtürken Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte unter den Intellektuellen des Osmanischen Reiches eine Auseinandersetzung um ein Konzept der Neugestaltung von Staat und Gesellschaft begonnen. Hier konkurrierten lange Zeit die drei Hauptkonzepte bezüglich der Identität der osmanischen Gesellschaft, nämlich das der islamischen, der osmanischen und der ethnischen bzw. der türkischen Identität.10 Mit der Zeit übernahm das Türkentum gegenüber dem Osmanismus und dem Islamismus jedoch eine immer stärkere identitätsstiftende Rolle unter den intellektuellen Eliten. Durch die Revolution der Jungtürken, einem Zusammenschluss jungtürkischer Intellektueller im Schweizer und Pariser Exil im Jahre 1908 gewann der Nationalismus in Form des Turkismus an Relevanz. Die Jungtürken übernahmen durch die Revolution die Führung des Osmanischen Reichs und erreichten die Absetzung des Sultans Abdühamid II. sowie die Wiedereinführung und Liberalisierung der Verfassung von 1876.11 Die Hinwendung zu Europa wurde in dieser Zeit nicht nur als eine Befreiung von der Diktatur der Sultane, sondern als überlebensnotwendig wahrgenommen. „There is no second civilisation; civilisation means European civilisation, and it must be imported with both its roses and its thorns“.12 Die Jungtürkische Revolution läutete das Ende des Osmanischen Reiches und gleichzeitig den Beginn der modernen Geschichte der Türkei ein. In vieler Hinsicht bereiteten sie den Weg für die späteren Reformen Atatürks vor. Dennoch scheiterten die Jungtürken. Ein wichtiger Grund hierfür war die Tatsache, dass ein muslimisches Bürgertum, das als Träger des neuen konstitutionellen Systems hätte dienen können, nicht vorhanden war. Daher musste sich die Reformbewegung auf die grundbesitzende Schicht und die Militärs stützen, während man sich von den Interessen der muslimischen Bevölkerung, die die Jungtürken vertreten wollten, entfremdet hatte.13 10 Vgl.: Steinbach, U.: Die Türkei im 20. Jahrhundert. Schwieriger Partner Europas, Lübbe, Bergisch Gladbach, 1996, S.45-48. 11 Vgl.: Kreiser, K. / Neumann, Ch. K.: Kleine Geschichte der Türkei, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 2005, S.359f. 12 Aussage des türkischen Journalisten A. Cevdet zitiert nach: Lewis, B.: The Emergence of Modern Turkey, Oxford Uni. Press, London, 1968, S. 235. 13 Vgl.: Adanir, F.: Der Weg der Türkei z einem modernen europäischen Staat, in: Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Der Bürger im Staat, 50. Jahrgang, Heft 1 2000, Stuttgart, 2000, S.10. 7 2.2.3 Der Niedergang des Osmanischen Reiches und die Gründung der türkischen Republik In Folge der engen Beziehungen zum Deutschen Reich, kam es zu einer Beteiligung des Osmanischen Reiches am Ersten Weltkrieg an der Seite der Mittelmächte. Im Oktober 1918 musste das Osmanische Reich bedingungslos kapitulieren. Die Folge war die Verpflichtung zur Demobilisierung des osmanischen Heeres und zur Öffnung des gesamten Reiches für die Okkupation der Alliierten. Gleichzeitig war eine Aufteilung der besetzten türkischen Gebiete an Griechenland, Italien und Frankreich vorgesehen, während Istanbul in der Hand der Alliierten bleiben sollte.14 Zu dieser Zeit entstand der türkische Befreiungskampf als Widerstandsbewegung gegen die Versailler Friedensordnung. Er begann als Bewegung jener Kreise, die befürchteten von Repressalien oder Vertreibung betroffen zu sein. Es kam immer wieder zu Massendemonstrationen und die vordringenden Griechen wurden nach und nach in eine Art Partisanenkrieg verwickelt. Mustafa Kemal (später Atatürk) stieg schnell zum Führer dieser türkischen Nationalbewegung auf, die die territoriale Integrität des Landes mit allen Mitteln wahren wollte. In den folgenden Jahren wuchs der türkische Befreiungskampf zu einem türkischen Unabhängigkeitskrieg heran, der erst durch die Beschlüsse der Friedenskonferenz von Lausanne beendet werden konnte. Im Rahmen der Friedenskonferenz wurden die Staatsgrenzen der Türkei festgelegt und sie erlangte volle territoriale, politische, finanzielle und ökonomische Souveränität. So fand die türkische Widerstandsbewegung mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Lausanne am 24. Juli 1923 ihren erfolgreichen Abschluss und eine Elite unter der Führung Mustafa Kemals konnte beginnen die Türkei zu einem modernen Nationalstaat nach westlichem Vorbild umzugestalten. Am 29. Oktober 1923 lies Mustafa Kemal die Republik ausrufen und wurde am gleichen Tag einstimmig zum ersten Präsidenten gewählt.15 14 Vgl.: Kreiser, K. / Neumann, Ch. K.: Kleine Geschichte der Türkei, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 2005, S.364ff. 15 Vgl.: Adanir, F.: Der Weg der Türkei z einem modernen europäischen Staat, in: Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Der Bürger im Staat, 50. Jahrgang, Heft 1 2000, Stuttgart, 2000, S.12. 8 2.2.4 Die Kulturrevolution Atatürks und ihre Ziele Die Ära Atatürk war durch radikale Transformationen, Reformen und Innovationen in allen gesellschaftlichen, kulturellen und vor allem politischen Bereichen geprägt, die unter der Einparteienherrschaft der Republikanischen Volkspartei (CHP), deren Gründer und Vorsitzender Atatürk selbst war, durchgeführt wurden. Durch die Abschaffung des Sultanats im Jahr 1922 und des Kalifats 1924 versuchte man, die Türkei dem arabisch-asiatischen Einfluss auf Kultur und Tradition zu entziehen, um sie zu einem modernen, westlich geprägten Staat zu machen. Atatürks Reformen stellten eine konsequente Ausrichtung nach Europa dar und hatten das Ziel einer Anpassung des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Standards an die europäischen Staaten.16 Die besondere Bedeutung des von Atatürk angestoßenen Reformprozesses lag in der Tatsache, dass die Reformen nicht auf die Modernisierung in begrenzten Gesellschaftsbereichen beschränkt waren, sondern die türkische Gesellschaft allumfassend veränderten. Die osmanischen und jungtürkischen Reformversuche unterscheiden sich von den kemalistischen Reformen der Republik nicht in ihrer europäisierenden oder modernisierenden Richtung, sondern in ihrem Umfang und ihrer Vergangenheitsperzeption.17 2.2.5 Die sechs Prinzipien des Kemalismus Das Modernisierungsprogramm Atatürks wurde in sechs kemalistische Prinzipien zusammengefasst: Laizismus bzw. Säkularismus, Republikanismus, Populismus, Nationalismus, Etatismus und Revolutionismus. Der Laizismus bzw. Säkularismus stellte die deutlichste Abwendung vom osmanischen Kulturerbe dar. Durch die Trennung von Staat und Religion betonte die Türkei mit aller Deutlichkeit ihre Abwendung von der Tradition des islamischen Kulturkreises und die Hinwendung zu den europäischen Staaten. Im Jahre 1928 wurde dann der Islam als Staatsreligion abgeschafft. Gleichzeitig wurde eine Kleiderreform durchgeführt, die 16 Vgl.: Moser, B. / Weitmann, M.: Die Türkei. Nation zwischen Europa und dem Nahen Osten, Pustet, Regensburg, 2002, S.83-88. 17 Ahmad, F.: The Making of Modern Turkey, Routledge, London / New York, 1993, S.14f. 9