Dokumentation der Fachtagung „Leben mit Handicap – Ohne

Transcription

Dokumentation der Fachtagung „Leben mit Handicap – Ohne
Dokumentation der Fachtagung
„Leben mit Handicap –
Ohne Einschränkung!?
Traum und Wirklichkeit“
am 31.08. und 01.09.2006 in Essen
IH-NRW-Projektpapier Nr. 10
bearbeitet von
Laurenz Aselmeier & Peter Zier
Veranstalter der Fachtagung:
Integrationsmodell OV Essen e.V.
in Kooperation mit der Volkshochschule Essen und dem Zentrum für
Planung und Evaluation Sozialer Dienste der Universität Siegen
Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen
Dokumentation der Fachtagung „Leben mit Handicap – Ohne Einschränkung!?“
Aselmeier, Laurenz & Zier, Peter (Bearb.): Dokumentation der Fachtagung „Leben
mit Handicap – Ohne Einschränkung!? Traum und Wirklichkeit“ am 31.08. und
01.09.2006 in Essen. Siegen: IH-NRW-Projektpapier Nr. 10
Kontakt:
Forschungsprojekt ‚Selbständiges Wohnen behinderter Menschen - Individuelle
Hilfen aus einer Hand’ (IH-NRW)
Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste der Universität Siegen
Adolf-Reichwein-Straße 2
57076 Siegen
Tel. 0271/740-2228
[email protected]
www.ih-nrw.uni-siegen.de
Siegen, November 2006
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Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen
Dokumentation der Fachtagung „Leben mit Handicap – Ohne Einschränkung!?“
Inhaltsverzeichnis
1.
Anlass und konzeptionelle Idee......................................................................... 4
2.
Durchführung der Fachtagung .......................................................................... 6
2.1
Erster Tag: Arbeit in Arbeitsgruppen ..................................................................... 6
2.2
Zweiter Tag: Plenumsveranstaltung...................................................................... 8
2.3
Organisatorischer Rahmen ................................................................................... 9
3.
Ergebnisse der Fachtagung............................................................................... 9
3.1
Konkrete Ergebnisse der Arbeitsgruppen ...........................................................10
3.2
Kernthesen der Arbeitsgruppen ..........................................................................12
3.3
Anstöße der Fachtagung..................................................................................... 13
4.
Auswertung und Ausblick................................................................................ 15
-3-
Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen
Dokumentation der Fachtagung „Leben mit Handicap – Ohne Einschränkung!?“
1.
Anlass und konzeptionelle Idee
Die Fachtagung „Leben mit Handcap – Ohne Einschränkung!? Traum und Wirklichkeit“
wurde von Nutzern und Mitarbeitern des Integrationsmodell Ortsverband Essen e.V.
anlässlich des 20jährigen Vereinsjubiläums veranstaltet. Das Integrationsmodell kooperierte hierbei mit der Volkshochschule Essen und dem Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste der Universität Siegen (ZPE).
Zum Veranstalter:
Das Integrationsmodell Ortsverband Essen e.V. ist anerkannter Träger des betreuten
Wohnens für Erwachsene mit „geistigen und/oder körperlichen Behinderungen“ und
darüber hinaus ambulanter Pflegeträger. 1986 wurde das Integrationsmodell Essen als
eigenständiger Ortsverband des 1971 unter dem Motto „Miteinander leben lernen“ in
Münster entstandenen „Integrationsmodell“ gegründet. Schwerpunktmäßig entwickelt
das Integrationsmodell Essen die Einrichtung gemeinwesenorientierter, differenzierter
Wohnformen – von Gemeinschaftswohnformen in Wohn- oder Hausgemeinschaften bis
hin zum Single- und Paarwohnen. Derzeit nehmen ca. 135 geistig, sinnes- und/oder
körperlich behinderte Menschen bedarfsgerechte Unterstützungsleistungen im Rahmen
des betreuten Wohnens und/oder der ambulanten Pflege durch das Integrationsmodell
Essen in Anspruch.
In den Gesprächen zur Vorbereitung des Vereinsjubiläums wurde durch Mitarbeiter/innen des Teams „Einzel- und Paarwohnen“ die Idee formuliert, anlässlich des Festes eine große Fachtagung für Menschen mit Handicap zu veranstalten. Ausgangspunkt
war die Überlegung, dass Menschen mit Behinderungen bis heute in starkem Maße
abhängig und damit oftmals vergleichsweise fremdbestimmt leben. Die Grundannahme,
dass Partizipation und Selbstbestimmung, sowie nachhaltige Einflussnahme auf die
eigenen Lebensbedingungen und Entwicklungschancen auch nach jahrzehntelanger
Diskussion des Normalitätsprinzips noch heute eher die Ausnahme darstellen, motivierte die Organisatoren, ein Forum zu schaffen, bei dem Betroffene von Beginn an „das
Sagen“ haben sollten.
Das Team des „Ambulanten Einzel- und Paarwohnens“ übernahm mit Unterstützung
des Vereinsvorstands die konzeptionelle und organisatorische Vorbereitung der Tagung. Ausgangs- sowie Dreh- und Angelpunkt sollten die Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Zielgruppe sein. So wurde gleich in der Anfangsphase die Initiative „Mensch
zuerst – Netzwerk People First, Kassel“ beteiligt, um von den dortigen Erfahrungen mit
der Organisation ähnlicher Tagungen zu lernen. Durch die Einbindung und Mitarbeit
interessierter Nutzer/innen sowie die Diskussion und den Austausch mit den Kooperationspartner/innen entstand ein Tagungsdesign mit sehr offenem und experimentellem
Charakter. Als grundlegende Eckpunkte für die konzeptionelle Idee sind zu nennen:
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Dokumentation der Fachtagung „Leben mit Handicap – Ohne Einschränkung!?“
-
Die Tagung sollte die Selbstvertretung und Vernetzung von Menschen mit Einschränkungen fördern und soll in diesem Sinne Anlass für die Entstehung von
Projekten, Kooperationen und Initiativen in Essen sein.
-
Die Fachtagung wurde gemeinsam durch Nutzer/innen – als Expert/innen in eigener Sache – und Mitarbeiter/innen des Vereins konzeptionell entwickelt, vorbereitet und durchgeführt.
-
Die Tagung fand – als eine Bildungsveranstaltung für Bürger der Stadt – trotz der
infrastrukturellen Nachteile des Gebäudes in der Volkshochschule der Stadt Essen statt.
-
Die Arbeitgruppen wurden durch Nutzer/innen des Vereins moderiert und geleitet, sie wurden hierbei z.T. durch Assistenten unterstützt.
-
Die eingeladenen Referent/innen der Arbeitsgruppen und Fachbeiträge waren zu
einem großen Teil Menschen mit Handicap.
-
Zum zweiten Tag der Fachtagung wurde zusätzlich die Essener Fachöffentlichkeit eingeladen.
-
Den Teilnehmer/innen der Fachtagung stand während der gesamten Veranstaltung ein kleines Assistententeam für Unterstützungsleistungen zur Verfügung.
-
Für alle Teile der Fachtagung galten die Grundsätze der „einfachen Sprache“.
In den ersten Treffen der Vorbereitungsgruppe wurde immer wieder über den Titel der
Tagung und die Bezeichnung der Zielgruppe diskutiert. Viele Mitglieder des Vorbereitungsgremiums empfanden Begriffe wie „behindert“ oder „Menschen mit Behinderung“
als diskriminierend. Es ergab sich die Problematik, die Zielgruppe der Fachtagung ohne
den Rückgriff auf die etablierten Begriffe allgemeinverständlich zu beschreiben. Ein
Konsens konnte durch die Begriffe „Handicap“ und „Einschränkung“ gefunden werden.
Durch die Vorbereitungsgruppe wurden vier Themenbereiche für die inhaltliche Arbeit
festgelegt, die zu folgenden Statements verdichtet wurden:
-
Ich will nicht immer allein sein! - Zwei oder mehr sind besser als einer; Kontakt, Liebe, Partnerschaft und Sexualität.
-
Ich weiß selber, was ich will und brauche! - Wenn die Unterstützungsperson
für mich etwas anderes will, als ich; Das Leben im Spannungsfeld zwischen Assistenzbedarf und Selbstbestimmung.
-
Ich will mobil sein! - Unterstützung so wie ich sie brauche; Die Freiheit und die
Hemmnisse am kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.
-
Ich bin ich! – Der Umgang mit der eigenen Einschränkung.
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Die Fachtagung wurde für die Durchführung an zwei Tagen konzipiert. Der erste Tag
richtete sich ausschließlich an Essener Bürger/innen mit geistiger bzw. körperlicher Einschränkung. Der zweite Tag der Fachtagung war öffentlich, d.h. er richtete sich darüber
hinaus an die Essener Fachöffentlichkeit, bzw. die im Arbeitsfeld handelnden Fachkräfte und Multiplikatoren. Darüber hinaus waren bestimmte Funktionsträger eingeladen
(Behindertenbeauftragter der Stadt Essen, Vertreter/innen der Kostenträger, Vertreter/innen anderer Träger, Presse usw.).
Aus methodischer Perspektive diente der erste Tag der Bewusstmachung, Klärung und
Darstellung der Lebensbedingungen von Menschen mit Einschränkung in Essen durch
die Betroffenen selbst. Am zweiten Tag wurden die Ergebnisse des ersten Tags der
Fachöffentlichkeit präsentiert und diskutiert. Gemeinsam wurden neue Ansätze entwickelt und Verabredungen für weitergehende Projekte, Kooperationen und Initiativen getroffen.
2.
Durchführung der Fachtagung
2.1
Erster Tag: Arbeit in Arbeitsgruppen
In der Ausschreibung zur Fachtagung wurden den Teilnehmer/innen elf Arbeitsgruppenthemen angeboten, jedes zugeordnet zu einem der oben genannten Themenbereiche.
Insbesondere der erste Themenbereich („Ich will nicht immer allein sein“) wurde bei den
Anmeldungen besonders nachgefragt. Durch die Abfrage eines Zweitwunsches war es
möglich, die Anmeldungen auf zehn Arbeitgruppen zu verteilen, nur die Arbeitsgruppe 5
(Ich bezahle meinen Unterstützter selber – Arbeitgebermodell und Persönliches Budget)
wurde von den Teilnehmer/innen nicht nachgefragt und konnte deswegen nicht stattfinden.
Jede Arbeitsgruppe wurde von einem Referent/innen/Moderator/innen(-team) begleitet,
die die Bearbeitung methodisch einleiteten, unterschiedliche Arten der Themenbearbeitung anboten sowie einsetzten und mit den Teilnehmer/innen gemeinsam die Ergebnisse der Arbeitsgruppe für den zweiten Tag aufarbeiteten. Der Anspruch, die Arbeitsgruppen von Betroffenen selbst moderieren zu lassen, stellte zunächst eine Herausforderung dar, da diese Personengruppe keinerlei entsprechende Erfahrungen in der Anleitung und Moderation von Gruppen aufwies. Zehn Gesprächleiter/innen mit sehr unterschiedlichem Handicap sollten binnen einiger Monate dazu befähigt werden, eine Gruppe fremder Menschen nebst den dazugehörigen Referenten durch eine gemeinsame
Arbeitsphase zu leiten. Da sich dieses Vorhaben sehr schnell als äußerst schwierige
Aufgabe entpuppte, wurde es von den beiden Referentinnen des Organisatorenteams
mithilfe eines individuellen Unterstützungskonzepts gelöst: Jede/r Moderator/in erhielt
eine/n persönliche/n Begleiter/in (i.d.R. interessierte und engagierte Pädagogen/innen
des Vereins), der in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Referent/innen der Arbeitsgruppe und dem/der Moderator/in ein Konzept für die Gestaltung des Arbeitsablaufes
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erarbeitete. Die Aufgabe bestand darin, sich selbst nach Möglichkeit im Hintergrund zu
halten und lediglich die individuellen Handicaps der Moderator/innen zu kompensieren.
Nach der Durchführung der Tagung berichteten alle an diesem Konzept Beteiligten vom
Erfolg und der gegenseitigen Bereicherung dieser Form der Zusammenarbeit.
Im Folgenden sind die Arbeitsgruppen und Referent/innen der Fachtagung aufgeführt:
Übersicht über die Arbeitsgruppen:
Themenbereich I: Ich will nicht immer allein sein!
Gruppe 1:
Verliebt bis über beide Ohren - Liebe, Partnerschaft und mehr
Gruppe 2:
Schmusekatze sucht Schmusekater - Wie finde ich einen Partner/eine
Partnerin
Gruppe 3:
Verdammt ich brauch dich, ich brauch dich nicht …- Leben in einer Beziehung
Gruppe 4:
Ein Freund, ein guter Freund… - Kontakte knüpfen und Freundschaften
pflegen
Themenbereich II: Ich weiß selber, was ich will und brauche!
Gruppe 5:
Ich bezahle meine Unterstützer selber - Arbeitgebermodell / Persönliches
Budget (ausgefallen)
Gruppe 6:
Du sollst mich unterstützen! - Was ist eine gute Unterstützung?
Gruppe 7:
Jetzt plane ich meine Zukunft! - Modelle der individuellen Zukunftsplanung
Gruppe 8:
Wir sprechen für uns selber! - Gründung einer Selbstvertretungsgruppe
Themenbereich III: Ich will mobil sein!
Gruppe 9:
Ich lass mich nicht behindern! - Barrieren und Einschränkungen
Gruppe 10: Ich will was unternehmen! - Freizeitangebote und Vernetzung
Themenbereich IV: Ich bin ich!
Gruppe 11: Bin ich anders? - Grenzen haben – erfüllt leben
Referent/innen der Arbeitsgruppen:
-
Annette Wilke, Lore-Agnes-Haus Essen
-
Ludger Reinders, Schatzkiste Köln
-
Bärbel Schön, Integrationsmodell Essen
-
Sabine Ahrens, PTI Bonn
-
Referenten von WIBS (Wir informieren, beraten & bestimmen selbst) / Österreich
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-
Anke Orbitz, People First, Kassel
-
Referenten von Inclucity Cologne, Köln
-
Uwe Schnitzler, Essen
-
Philipp Neßling, Integrationsmodell Essen
-
Rainer Schmidt, PTI Bonn
Die Gruppen arbeiteten vor und nach der Mittagspause jeweils 90 Minuten. In einem
darauf folgenden Abschlussplenum wurde aus den Arbeitsgruppen berichtet, eine Kernthese der Arbeitsgruppe wurde vorgestellt und die Präsentationen für den zweiten Tag
wurden vorbereitet und abgestimmt.
2.2
Zweiter Tag: Plenumsveranstaltung
In zwei Blöcken von 90 min. wurden die Arbeitsergebnisse der zehn Gruppen präsentiert. Zusätzlich wurden fünf Fachreferate gehalten:
-
Ludger Reinders, Schatzkiste Köln (zu Themenbereich I)
-
Michael Spörke, Interessensvertretung Selbstbestimmt Leben (zu Themenbereich II)
-
Carl-Wilhelm Rößler, Zentrum Selbstbestimmt Leben, Köln (zu Themenbereich
II)
-
Hans-Jürgen Behrens, Mensch Zuerst – Netzwerk People First, Hamburg (zu
Themenbereich III)
-
Rainer Schmidt, PTI Bonn (zu Themenbereich IV)
Abgeschlossen wurde die Fachtagung durch die Diskussion der Ergebnisse im Rahmen
einer Podiumsdiskussion. Teilnehmer/innen des Podiums waren:
-
Susanne Jonen–Gebhardt, Landschaftsverband Rheinland
-
Susanne Wolff, Landschaftsverband Rheinland
-
Gregor B. Hüsken, Amt für Soziales und Wohnen
-
Philipp Neßling, Integrationsmodell OV Essen e.V.
-
Dr. Harald Pfannkuch, Diakoniewerk Essen
-
Hans-Jürgen Behrens, Netzwerk ‚People First’ Deutschland
-
Michael Spörke, Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben
-
Birgit Osthoff-Prause, Kontakt, Koordinierung und Beratungsstelle
-
Dr. Georg Herrmann, Behindertenreferat der ev. Kirche
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2.3
Organisatorischer Rahmen
Zur Ankündigung der Veranstaltung wurde ein Flyer entwickelt und in hoher Auflage
über die Werkstätten für behinderte Menschen, die Träger für Wohnangebote und die
Essener Gremien verteilt. Der zweiseitige Flyer bot auf der einen Seite einen plakativen
Überblick über die vier Themenbereiche und auf der anderen Seite einen detaillierten
Überblick über die gesamte Veranstaltung.
Die Teilnehmer/innen erhielten eine Anmeldebestätigung, auf der die jeweilige Arbeitsgruppe genannt war. Am ersten Veranstaltungstag entrichteten die Teilnehmer/innen
den Unkostenbeitrag und erhielten eine Mappe mit ihren Tagungsmaterialien (u.a. Ablaufpläne in einfacher Sprache, Teilnahmebestätigung, Namensschild usw.).
Die Tagung fand statt in Räumlichkeiten der Volkshochschule Essen. In ihren Abläufen
war sie an den infrastrukturellen Gegebenheiten des Veranstaltungsortes und an der
Zielgruppe orientiert. Die Ausgabe der Mahlzeiten und Getränke z.B. erfolgte auf verschiedenen Etagen, um Wartezeiten vor den Fahrstühlen zu minimieren. Zur besseren
Orientierung wurden mehrere Hilfestellungen gegeben, z.B. wurden die Etagen des
Gebäudes verschiedenfarbig gekennzeichnet und jeder Arbeitsgruppe wurde ein Symbol zugeordnet - die Namenschilder der Teilnehmer/innen trugen dementsprechend
dieses Symbol und die Farbe der Etage, auf der die Arbeitsgruppe stattfand.
Während des gesamten Verlaufs der Fachtagung stand ein kleines Team erfahrener
Pflege- und Assistenzkräfte bereit, um ggf. Teilnehmer/innen Hilfestellungen oder Orientierungshilfen zu bieten. Die Mitglieder dieses Teams waren durch gelbe T-Shirts
deutlich erkennbar. Ein Raum des Hauses wurde als Rückzugsraum (Ruhe- bzw. Pflegemöglichkeit) genutzt.
Am ersten Tag der Veranstaltung arbeiten 90 Teilnehmer/innen in den 10 Arbeitsgruppen. Sie wurden dabei von ca. 30 Referent/innen, Unterstützer/innen, Organisator/innen
und Assistent/innen begleitet. Am zweiten Tag erweiterte sich der Kreis um 50 Personen der Essener Fachöffentlichkeit, so dass an den Plenumsveranstaltungen etwa 170
Personen teilnahmen. Die Tagung wurde moderiert vom Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste der Universität Siegen.
3.
Ergebnisse der Fachtagung
Zielsetzung für die Arbeitsgruppen war es, die Ergebnisse der Gruppenarbeit so aufzubereiten, dass sie dem Plenum präsentiert werden konnten. Zudem sollten die Arbeitsgruppen ihre Ergebnisse in einer Kernthese zusammenfassen. Zunächst ist festzuhalten, dass diese Zielsetzungen erreicht werden konnten. Alle zehn Arbeitsgruppen haben die Ergebnisse ihrer Gruppenarbeit unter Zuhilfenahme verschiedenster methodischer Vorgehensweisen und Visualisierungsmöglichkeiten aufbereitet und dem Plenum
zugänglich gemacht. Auch die Zuspitzung auf eine Kernthese wurde in jeder Arbeits-9-
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gruppe realisiert. In einigen Arbeitsgruppen wurden Ziele erarbeitet, die in ihrer Wirkung
über die Fachtagung hinausgehen sollen. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Arbeitsgruppen und ihre Konsequenzen für eine über die Fachtagung hinausgehende
Weiterarbeit an den Themenstellungen der Fachtagung dargestellt.
3.1
Konkrete Ergebnisse der Arbeitsgruppen
Themenbereich I „Ich will nicht immer allein sein“
•
Die erste Arbeitsgruppe mit dem Titel „Verliebt bis über beide Ohren“ behandelte
die Themenstellung „Liebe, Partnerschaft und mehr“ und stellte ihre Ergebnisse in
einem Rollenspiel unter der Überschrift „Das geht dich gar nichts an“ vor. In diesem
Rollenspiel wurde die Problematik behandelt, dass sich Unterstützungspersonal in
Wohngemeinschaften häufig in Beziehungen der unterstützten Menschen mit Behinderungen einmischen. Die Arbeitsgruppenteilnehmer/innen fühlen sich dadurch
entmündigt und fordern in ihrem Stück, dass eine Einmischung von Mitarbeiter/innen
in Beziehungen der unterstützten Menschen unterbleiben soll.
•
Die zweite Arbeitsgruppe mit dem Titel „Schmusekatze sucht Schmusekater“ erörterte die Frage „Wie finde ich eine/n PartnerIn?“. Die Arbeitsgruppe präsentierte
ihre Ergebnisse auf einer Stellwand. Darauf waren Möglichkeiten zur Kontaktsuche
und Formen der Verbreitung dieser Möglichkeiten aufgelistet. Weiterhin forderten die
Mitglieder dieser Arbeitsgruppe eine bessere Vernetzung und Bündelung von Kontaktmöglichkeiten in Essen.
•
Die dritte Arbeitsgruppe mit dem Titel „Verdammt ich brauch dich, ich brauch
dich nicht…“ beschäftigte sich mit dem Thema „Leben in einer Beziehung“. Die Arbeitsgruppe stellte ihre Ergebnisse dar, indem ein großes Herz mit Kärtchen behängt wurde, auf denen Worte und Aspekte gesammelt wurden, die das Thema
Partnerschaft und Liebe betreffen. Die Teilnehmer/innen der Arbeitsgruppe wünschen sich eine Beratungsstelle für Paare mit Behinderungen.
•
Die vierte Arbeitsgruppe mit dem Titel „Ein Freund – ein guter Freund“ diskutierte
über Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu pflegen. Auch diese Arbeitsgruppe präsentierte ihre Ergebnisse auf einer Stellwand. Zudem wurde ein
Text verlesen. Die Idee der Arbeitsgruppe mündete in dem Wunsch, eine Zeitung zu
gestalten, in der Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen und gemeinsame Unternehmungen durchzuführen aufgezeigt werden sollen. Auf der Stellwand konnten sich Interessent/innen zur Mitarbeit an dieser Zeitung eintragen.
Themenbereich II: „Ich weiss selber, was ich will und brauche“
•
Die fünfte Arbeitsgruppe mit dem Titel „Ich bezahle meine Unterstützer selber“
kam mangels ausreichender Anmeldungen nicht zustande.
•
Die sechste Arbeitsgruppe mit dem Titel „Du sollst mich unterstützen“ befasste
sich mit der Thematik, was eine gute Unterstützung ist. Die Arbeitsgruppe verdeut- 10 -
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lichte anhand eines Rollenspiels, wie aus ihrer Sicht am Beispiel eines Arztbesuchs
Unterstützung nicht ablaufen sollte. In dem Stück wurde dargestellt, dass Arzt und
Betreuer in einer Krankensache über den Kopf des betroffenen Menschen mit Behinderung hinweg sprachen und entschieden, was bei dem Menschen mit Behinderung eine Situation der Ohnmacht verursachte. Gefühle der Machtlosigkeit in eigenen Belangen bzw. der Ohnmacht gegenüber Personal und Dritten sind in dem Erleben der Arbeitsgruppenmitglieder an der Tagesordnung. Auf einem Plakat stellte
die Arbeitsgruppe zudem dar, was sie unter einer idealen Unterstützung verstehen.
Demnach sollen Unterstützer/innen ausreichend Zeit haben, einen respektvollen
Umgang pflegen und auf die Fertigkeiten der zu Unterstützenden eingehen. Außerdem war es der Arbeitsgruppe wichtig darauf hinzuweisen, dass gute Unterstützer/innen auch gutes Geld kosten.
•
Die siebte Arbeitsgruppe mit dem Titel „Jetzt plane ich meine Zukunft“ setzte sich
mit Modellen der individuellen Zukunftsplanung auseinander. Jede/r Teilnehmer/in
der Arbeitsgruppe erstellte einen persönlichen Zukunftsplan unter Zuhilfenahme verschiedener Materialien und persönlicher Unterstützung. Bei der Erstellung eines
persönlichen Zukunftsplans geht es nicht um die Planung individueller Hilfen, sondern allein um die Ideen und Ziele, die ein Mensch in seinem Leben erreichen möchte. Im Kern ähneln die Zukunftswünsche der Teilnehmer/innen der Arbeitsgruppe:
Alle wünschen sich, in einer eigenen Wohnung zu leben und eine Unterstützung sowie Menschen zu haben, die zu ihnen passen.
•
Die achte Arbeitsgruppe mit dem Titel „Wir sprechen für uns selbst“ stand unter
dem Ziel, eine Selbstvertretungsgruppe für Menschen mit Behinderungen nach dem
Vorbild der Gruppe „Inclucity Cologne“ in Essen zu gründen. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe präsentierten zunächst, was aus ihrer Sicht nicht gut für Menschen mit
Behinderungen in Essen läuft. Dabei wurde insbesondere kritisiert, dass im öffentlichen Raum zu wenig barrierefrei zu erreichen ist. Weiterhin gab die Arbeitsgruppe
bekannt, eine Selbstvertretungsgruppe in Essen gründen zu wollen und forderte die
Teilnehmer/innen der Tagung dazu auf, sich an der Gruppe zu beteiligen (Inzwischen fanden die ersten Treffen der Gruppe statt).
Themenbereich III „Ich will mobil sein“
•
Die neunte Arbeitsgruppe mit dem Titel „Ich lass mich nicht behindern“ beschäftigte sich mit Barrieren und Einschränkungen. Im Mittelpunkt standen hier weniger
bauliche Barrieren als vielmehr solche, die in den Köpfen von Menschen mit Behinderungen selbst und der Mitmenschen herrschen. Die Ergebnisse ihrer Arbeit präsentierte die Gruppe in Form einer Fotostrecke, in der Negativ- und äquivalente Positivbeispiele für den Umgang zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen
dargestellt wurden. Die Gruppe verdeutlichte erwünschte Verhaltensweisen im Umgang mit Menschen mit Behinderungen, beispielsweise indem
gefragt wird, wie man helfen kann,
Menschen mit Behinderungen nicht auf die Behinderung reduziert werden,
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Menschen mit Sehbehinderung freundlich von vorne angesprochen werden oder
Menschen in einem Rollstuhl nicht einfach wohin geschoben werden.
Die Arbeitsgruppe macht den Vorschlag, die Fotostrecke in öffentlichen Schaukästen in Essen auszustellen, um so Mitmenschen ohne Behinderung auf respektvolle
Umgangsweisen aufmerksam zu machen.
•
Die zehnte Arbeitsgruppe mit dem Titel „Ich will was unternehmen“ befasste sich
mit Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und der Vernetzung von Menschen mit ähnlichen Interessen. Die Gruppe präsentierte ihre Ergebnisse auf Stellwänden. Zudem
erstellte die Gruppe einen Stadtplan von Essen, auf dem Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, mit denen die Teilnehmer/innen der Arbeitsgruppe positive Erfahrungen
gemacht haben, nach verschiedenen Kategorien (Disco, Gastronomie, Kultur, Parks,
Sport und Naturerleben) eingetragen waren. Weiterhin konnten alle Teilnehmer/innen der Tagung individuelle Kärtchen mit Wünschen zur Freizeitgestaltung
ausfüllen, um so Menschen mit ähnlichen Interessen zusammenzubringen. Darüber
hinaus erstellt das Behindertenreferat des ev. Stadtkirchenkreises einen Freizeitführer mit dem Titel „Freizeittipps in Essen für Menschen mit Handicap und deren
Freunde“, in dem die Vorschläge der Arbeitsgruppe aufgenommen werden. Außerdem übergab die Arbeitsgruppe an den Behindertenkoordinator der Stadt Essen ein
Kästchen, in dem auf Karteikarten Barrieren bezüglich eines Lebens ohne Einschränkung aufgeschrieben waren. Damit verbunden wurde die Aufforderung an die
Stadt Essen, sich dieser Barrieren anzunehmen.
Themenbereich IV: Ich bin ich
•
3.2
Die elfte Arbeitsgruppe mit dem Titel „Ich will mich meines Lebens freuen“ setzte
sich damit auseinander, trotz Grenzen erfüllt leben zu können. Die Grenzen wurden
symbolisiert durch Steine. Was das Leben für die Teilnehmer/innen der Arbeitsgruppe an Erfüllungen bietet, wurde auf einer Stellwand mit einer großen Sonne dargestellt. Der Schwere der Steine als Symbole für Grenzen und Barrieren wurden Luftballons als Symbole für Wünsche an ein erfülltes Lebens entgegengestellt. Diese
Wünsche kreisen sich um Barrierefreiheit, Begegnung und Kommunikation zwischen
Menschen mit und ohne Behinderungen.
Kernthesen der Arbeitsgruppen
Jede der Arbeitsgruppen hat ihr Arbeitsergebnis zu einer Kernthese zusammengefasst.
Die Thesen stellen die zentralen Botschaften der Tagungsteilnehmer/innen dar. In den
Thesen sind Forderungen enthalten, die sich an verschiedene Adressaten richten. Angesprochen werden die Stadt Essen, Tätige und Organisationen der Behindertenhilfe,
die Kostenträger, Eltern und Verwandte aber auch die allgemeine Öffentlichkeit. Die
Kernthesen lauten im Einzelnen:
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Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen
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1.
Jeder Mensch – egal ob behindert order nicht – hat das Recht auf Partnerschaft.
Eltern und andere Leute dürfen sich nicht einmischen.
2.
Wir wollen nicht alleine sein, alleine kämpfen. Wir wollen, dass Angebote, die es
gibt, besser bekannt und vernetzt werden.
3.
Lasst uns ungehindert Liebe leben. Denn Liebe unterscheidet sich nicht, ob mit
oder ohne Behinderung.
4.
Traut Euch aus dem Mauseloch! Wir wollen eine Zeitung, um Kontakte zu knüpfen.
5.
Gute Unterstützer/innen brauchen Zeit, Respekt und Zuverlässigkeit. Sie sollten
jede/n Klient/in so nehmen, wie sie/er ist und ihre/seine Fähigkeiten unterstützen.
Gute Unterstützung kostet gutes Geld.
6.
Wir wollen eine eigene Wohnung und eine Unterstützung, die zu uns passt. Dazu
brauchen wir Menschen, denen wir Vertrauen, als Unterstützung.
7.
Wir gründen eine Selbstvertretungsgruppe in Essen.
8.
Durch Kommunikation fallen Barrieren.
9.
Runter vom Sofa, rein in die Stadt.
10. Barrierefreiheit macht das Leben leichter. Begegnung hilft, dass man aufeinander
zugeht. Miteinander reden, damit man einander versteht.
3.3
Anstöße der Fachtagung
In den Arbeitsgruppen sind viele Initiativen entstanden, die weit über die Fachtagung
hinaus weisen und Impulse setzen können zur Gestaltung eines behindertenfreundlichen Gemeinwesens, in dem Barrieren für Menschen mit Behinderungen immer weiter
abgebaut werden. Diese Initiativen sind im Einzelnen:
•
Gründung einer Selbstvertretungsgruppe in Essen. Diese Gruppe agiert unabhängig von einem Anbieter der Behindertenhilfe. Die Gruppe trifft sich regelmäßig im
Haus der Begegnung und steht allen interessierten Menschen mit Behinderung zur
Teilnahme offen. Ziel der Gruppe ist es, auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen in Essen aufmerksam zu machen und Gleichberechtigung einzufordern. Die Gruppe wird in der Anfangsphase von Mitarbeiter/innen der Essener Koordinierungs-, Kontakt- und Beratungsangebote (KoKoBe) unterstützend begleitet, ohne dass diese eine maßgebliche Rolle übernehmen. Zudem besteht die Idee, über
das Netzwerk „Mensch zuerst“ Beratung zum Aufbau einer Selbstvertretungsgruppe
einzuholen. Die KoKoBe-Verbünde stellen Ressourcen zur Organisation der Selbstvertretungsgruppe bereit.
•
Anlegen einer Adressdatei zur Kontaktaufnahme für Freizeitaktivitäten. Die auf
der Fachtagung gesammelten Karteikarten der Tagungsteilnehmer/innen, auf denen
diese Interesse zur gemeinsamen Freizeitgestaltung bekunden konnten, werden in
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der KoKoBe gesammelt und ausgewertet. Dadurch sollen Menschen mit ähnlichen
Freizeitinteressen miteinander verbunden werden. Die Koordination soll über die
KoKoBe-Verbünde laufen.
•
Übergabe von Hinweisen auf Barrieren an den Behindertenkoordinator der
Stadt Essen. Durch diese Initiative wurden an einen verantwortlichen Repräsentanten der Stadt Essen Hinweise weitergegeben, wo Menschen mit Behinderungen in
der Stadt Essen Barrieren vorfinden, die ein Leben ohne Einschränkung erschweren
oder verhindern. Der Behindertenkoordinator hat zugesagt, diesen Hinweisen nachzugehen und dafür Sorge zu tragen, dass Barrieren abgebaut werden.
•
Einführung von Erwachsenenbildungskursen in Kooperation mit der Volkshochschule. Die Volkshochschule hat sich bereit erklärt, im kommenden Sommersemester unter ihrem Dach Erwachsenenbildungskurse für Menschen mit geistiger
Behinderung stattfinden zu lassen. Die Volkshochschule stellt den organisatorischen
Rahmen (Veröffentlichung im Programm, Anmeldeverfahren) und Räumlichkeiten,
die inhaltliche Vorbereitung und Durchführung der Kurse wird vom Integrationsmodell Essen organisiert (Referent/innen, Didaktik). Kurzfristig angedacht sind ein
Computerkurs und ein Kochkurs, längerfristig könnten auch ein Gesprächskreis oder
ein (Wochenend-)kurs zur persönlichen Zukunftsplanung angeboten werden.
•
Gründung einer Zeitungsgruppe. Hinter dieser Initiative steht die Idee, dass Menschen mit Behinderungen eine eigene Zeitung für Menschen mit Behinderungen herausgeben. Maßgebliches Ziel ist es, dadurch Kontaktmöglichkeiten zu schaffen. Da
dies ein schwer zu realisierendes Projekt ist, soll überlegt werden, ob es Möglichkeiten zur Andockung an bereits bestehende Zeitungsprojekte (bspw. von Wiese e.V.)
gibt.
•
Veröffentlichung eines Freizeitführers. Über das Behindertenreferat des ev.
Stadtkirchenverbands Essen wird ein Freizeitführer für Menschen mit Behinderungen und deren Freunde veröffentlicht. In diesen Freizeitführer fließen Vorschläge der
Tagungsteilnehmer/innen mit ein.
•
Veröffentlichung der Fotoserie. Ziel ist es, die Fotoserie, die die Arbeitsgruppe 9
erstellt hat, der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um so einen Beitrag zur Sensibilisierung gegenüber den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen zu leisten. Der Rahmen ist noch zu überlegen. Möglich wäre bspw. eine
Ausstellung in der Volkshochschule oder aber eine Kooperation mit der Essener
Marketing Gesellschaft, um so einen höchstmöglichen Streuungsgrad zu erreichen.
•
Durchführung von Singleparties. Organisiert durch die KoKoBe-Verbünde sollen
in Essen regelmäßig Singleparties für Menschen mit Behinderungen stattfinden. Kooperationspartner ist eine Diskothek in Essen.
•
Gründung der Schatzkiste Essen. Die Schatzkiste ist eine Partnervermittlung für
Menschen mit geistiger Behinderung. Erstmalig etabliert durch die ev. Stiftung Alsterdorf in Hamburg gibt es solche Partnervermittlungen inzwischen bundesweit in
mehreren Städten. Die Idee ist, die Schatzkiste bei den KoKoBe-Verbünden zu verorten.
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Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen
Dokumentation der Fachtagung „Leben mit Handicap – Ohne Einschränkung!?“
•
4.
Durchführung einer Nachfolgetagung. Durch die Tagung erhielten die Tagungsteilnehmer/innen einen Raum zum gegenseitigen Austausch und gemeinsamen
Nachdenken. Dies wurde von den Teilnehmer/innen sehr positiv bewertet. Viele erlebten es erstmalig, dass sie mit ihren Wünschen, Bedürfnissen, Ängsten und Fragen ernst genommen wurden und Gehör fanden. Vielfach wurde der Wunsch geäußert, im kommenden Jahr eine weitere Fachtagung ähnlichen Zuschnitts durchzuführen. Zudem könnte eine Nachfolgetagung auch dazu dienen, Bilanz zu ziehen,
inwieweit die Impulse und Initiativen der ersten Tagung Früchte tragen. Um eine
weitere Fachtagung auf eine breitere Basis zu stellen und weitere Träger einzubeziehen, sollte diese organisatorisch unter dem Dach der KoKoBe-Verbünde verortet
werden.
Auswertung und Ausblick
Mit der Fachtagung „Leben mit Handicap – ohne Einschränkung!?“, die das Integrationsmodell Essen anlässlich seines zwanzigjährigen Bestehens in Kooperation mit der
Volkshochschule Essen und dem Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste
der Universität Siegen durchgeführt hat, wurde weitgehend konzeptionelles Neuland
betreten. Es fand eine Tagung statt, bei der die inhaltliche Gestaltung der Arbeitsgruppen und die Erarbeitung sowie Präsentation von Ergebnissen maßgeblich durch Menschen mit Behinderungen selbst gestaltet wurden. Menschen ohne Behinderungen fungierten vor allem als Assistent/innen, hielten sich im Hintergrund und griffen nur dort
ein, wo Unterstützung gewünscht wurde. Damit konnten die Teilnehmer/innen der Tagung sich als Expert/innen in eigener Sache erleben und erfahren, in ihren Anliegen
ernst genommen und wert geschätzt zu werden.
Während der Tagung entwickelte sich eine erhebliche Dynamik, die eine Aufbruchstimmung mit sich brachte. Insofern erscheint es als unbedingt geboten, die Initiativen und
Impulse, die von der Tagung ausgehen, aufzugreifen und in kontinuierliche Aktivitäten
umzusetzen. Von diesen Aktivitäten können mittelfristig Wirkungen zur Sensibilisierung
der Stadtverwaltung, Dienst- und Einrichtungsträger sowie der allgemeinen Öffentlichkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen und ihren Vorstellungen zur Lebensgestaltung in Essen ausgehen. Langfristig kann dies zur Gestaltung eines behindertenfreundlichen Gemeinwesens beitragen.
Dafür, dass die Impulse der Tagung nicht wirkungslos verpuffen, ist nun Sorge zu tragen. Wichtig ist, dass dies losgelöst von einem einzelnen Träger geschieht. Sonst droht
die Gefahr, dass die über die Tagung hinausgehenden Aktivitäten in der Essener (Fach)öffentlichkeit als Werk eines einzelnen Trägers wahrgenommen und nicht unterstützt
werden. Vorwürfe der Profilierung eines Trägers anhand einer wichtigen Thematik auf
Kosten anderer Träger könnten so schnell im Raum stehen. Dies wäre gerade in einer
Situation des Umbruchs, in der sich die Behindertenhilfe in Nordrhein-Westfalen derzeit
befindet, wenig förderlich. Nicht die Interessen einzelner Träger, sondern die Interessen
der betroffenen Menschen sollten handlungsleitend für die Weiterführung solcher Im- 15 -
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Dokumentation der Fachtagung „Leben mit Handicap – Ohne Einschränkung!?“
pulse sein, wie sie von der Fachtagung ausgingen. Es muss also auf eine Situation hingearbeitet werden, in der alle relevanten Akteure in Essen die auf der Tagung geäußerten Bedürfnisse und Forderungen ernst nehmen und es zu ihrem Anliegen machen, zu
deren Umsetzung beizutragen. Dies richtet sich bei weitem nicht nur an die Essener
Trägerorganisationen der Behindertenhilfe, auch wenn diesen sicher eine Schlüsselrolle
zukommt. Sie sind es, die durch Betreuungsverhältnisse vielen Menschen mit Behinderungen sehr nahe sind. Somit sind es die Mitarbeiter/innen der Behindertenorganisationen, die häufig in einer Situation sind, nicht nur geäußerte Wünsche und Bedürfnisse
aufzugreifen, sondern auch dazu zu ermutigen, Wünsche und Bedürfnisse zu artikulieren.
Vor diesem Hintergrund erscheint es als positiver Ansatz, die aus der Fachtagung hervorgegangenen Initiativen über die Essener Koordinations-, Kontakt- und Beratungsangebote zu koordinieren und zu organisieren. In den KoKoBe-Verbünden sind die maßgeblichen Trägerorganisationen der Behindertenhilfe zusammengeschlossen und können somit Verantwortung übernehmen, die Impulse der Tagung zu realisieren. Zu berücksichtigen ist vor diesem Hintergrund jedoch auch, welches Aufgabenspektrum die
KoKoBe zu erfüllen haben. Von der Idee her, die KoKoBe als Scharnierstelle zu sehen,
die Zugänge zu einem behindertenfreundlichen Gemeinwesen sucht und erschließt1,
sind die Aufgaben, die sich aus den Ergebnissen der Tagung erschließen, an dieser
Stelle richtig verortet. Zu bedenken ist jedoch auch, dass sich das Anforderungsprofil an
die KoKoBe nach wie vor vergleichsweise diffus darstellt. Zu vermeiden ist eine Überforderung der in den KoKoBe Mitarbeitenden. Dies kann nur durch eine genaue Klärung
dessen geschehen, was neben den anderen Aufgaben wie bspw. allgemeiner Beratung
und Hilfeplanerstellung leistbar ist.
Gefordert sind neben Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe auch Stadtverwaltung, Kostenträger, Eltern und Angehörige, öffentliche Einrichtungen außerhalb der
Behindertenhilfe sowie nicht zuletzt die allgemeine Öffentlichkeit, die Essener Bürger/innen selbst. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, eine Öffentlichkeit herzustellen
und Wünsche, Meinungen, Forderungen von Menschen mit Behinderungen deutlich im
Gemeinwesen sichtbar zu machen. Dass Menschen mit Behinderungen selbst öffentlichkeitswirksame Maßnahmen initiieren, wie es sich in einigen Initiativen bereits andeutet, ist dabei sicher von großem Vorteil. Davon geht das Signal aus, dass nicht – wie so
oft – Dritte für die vermeintlich hilflose Gruppe der Menschen mit Behinderungen aktiv
werden, sondern Menschen mit Behinderungen selbst Initiativen ergreifen und sich aus
der Ecke der nur allzu häufig von außen aufoktroyierten Passivität heraus begeben.
Dazu sind Hilfestellungen nötig, diese aber sollten wenig sichtbar im Hintergrund stattfinden und auch nur da, wo ein Wunsch und ein Bedarf an Unterstützung besteht. Damit
begeben sich sowohl Menschen mit Behinderungen als auch ihre Unterstüzer/innen in
einen gemeinsamen Lernprozess, der für beide Seiten das Einüben und Ausfüllen neuer Rollen beinhaltet.
1
vgl. Aselmeier, L. (2006): Die Koordinierungs-, Kontakt- und Beratungsangebote in einem behindertenfreundlichen Gemeinwesen. In: Aselmeier, L. & Schwarte, N. (Hrsg.): „Das Gemeinwesen mitdenken“. Dokumentation des Workshops zu den Koordinierungs-, Kontakt- und Beratungsangeboten im
Rheinland am 12. Dezember 2005. Siegen, Online-Dokument: www.ih-nrw.uni-siegen.de
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Dokumentation der Fachtagung „Leben mit Handicap – Ohne Einschränkung!?“
Ein weiterer wichtiger Impuls, der von der Tagung ausgeht, ist, Räume zu haben, um
sich über die eigene Situation, das eigene Erleben auszutauschen und zu reflektieren.
Die Fachtagung bot einen solchen Raum. Und wie sich zeigte, ist der Bedarf, sich auszutauschen und sich zu artikulieren immens groß. Viele der Teilnehmer/innen schienen
erstmalig die Erfahrung machen zu können, ein Forum für ihre Angelegenheiten zu erhalten. Dies löst Prozesse des sich selbst bewusst Werdens und der Selbstbestärkung
aus.
Eine nachfolgende Fachtagung etwa nach Ablauf eines Jahres durchzuführen erscheint
als sehr sinnvoll. Eine solche Tagung bietet die Möglichkeit, Bilanz darüber zu ziehen,
welche Impulse der ersten Tagung umgesetzt und welche Ziele erreicht werden konnten. Zudem kann auch hier erneut ein Raum des Austauschs und der gegenseitigen
Bestärkung geschaffen werden. Wichtig ist in jedem Fall, diese Tagung organisatorisch
von einem einzelnen Träger zu lösen, um für eine breitere Akzeptanz in der Szene der
Essener Behindertenhilfe zu sorgen. Das Ziel, Menschen mit Behinderungen dabei zu
unterstützen, ein Leben möglichst ohne Einschränkungen führen zu können, sollte zu
einer gemeinsamen Aufgabe aller Behindertenhilfeorganisationen werden. Eine solche
Tagung durch die KoKoBe-Verbünde zu organisieren und zu veranstalten, erscheint
hier als geeigneter Ansatzpunkt. Wichtig wäre indes auch, die Stadt Essen als Mitveranstalterin zu gewinnen, um so zu unterstreichen, dass es der Stadt selbst ein wichtiges Anliegen ist, ihren Bürger/innen mit Handicap ein Leben ohne Einschränkungen zu
ermöglichen.
Als Fazit lässt sich ziehen:
Die Fachtagung „Leben mit Handicap – ohne Einschränkung!?“ war ein konzeptionelles Experiment, welches ohne Einschränkung als gelungen zu bezeichnen
ist. Die Tagung bot einerseits Raum zum Austausch, zur Reflexion und diente
dem Empowerment der Teilnehmer/innen, andererseits wurden durch die Tagung
eine Vielzahl an Impulsen geweckt und Initiativen ins Leben gerufen, die ihren
Beitrag dazu leisten können, Barrieren und Einschränkungen weniger werden zu
lassen. Wichtig erscheint, für die aus der Tagung hervorgehenden Aktivitäten eine möglichst breite Öffentlichkeit sowohl innerhalb der Essener Behindertenhilfe,
aber auch darüber hinaus herzustellen, damit diese Aktivitäten auch Wirkungen
erzielen können. Die KoKoBe als Ressource im Hintergrund für die Koordinierung
und Organisation der einzelnen Maßnahmen zu nutzen erscheint sinnvoll. Zu achten ist jedoch darauf, dass es dabei einerseits bei einer assistierenden Rolle der
KoKoBe bleibt, andererseits die KoKoBe in ihren Kapazitäten nicht überfordert
werden. Eine regelmäßige Widerholung einer Fachtagung von Menschen mit Behinderungen für Menschen mit Behinderungen erscheint angeraten, sowohl um
Bilanz zu ziehen, als auch um neue Impulse auf dem Weg zu einem behindertenfreundlichen Gemeinwesen in Essen zu bringen.
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