Jakob van Hoddis - Jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller in
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Jakob van Hoddis - Jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller in
Jakob van Hoddis IRENE STRATENWERTH Stille Tage in Wolbeck – Am Wendepunkt Jakob van Hoddis in »Dr. Lackmanns Kurhaus« Wie an unsichtbaren Fäden Rennt er immer hin und her. Gestern wollte er noch reden, Heute weiß er es nicht mehr. »Ist es Irrsinn, ist’s Erleben, Daß man so ins Leere rennt? Darf man wie ‘ne Sonne schweben Brennend hoch am Firmament?«1 Am 5. September 1912 wird Hans Davidsohn, der als Dichter unter dem Namen Jakob van Hoddis bekannt ist, als Patient in »Dr. Lackmann’s Kurhaus« in Wolbeck bei Münster aufgenommen. Nach den Aufzeichnungen seines Arztes bleibt er hier bis zum 8. Oktober. Ein Brief, den er seinem Freund Erwin Loewenson schreibt, wird allerdings noch am 20. Oktober 1912 in Wolbeck abgestempelt. Zehn Tage später aber ist Hoddis ganz sicher in Berlin: Am 31. Oktober wird er dort unter Zwang in die Heilanstalt »Waldhaus Nikolassee« eingewiesen. Es sind also nur ein paar Wochen, die Jakob van Hoddis in Westfalen verbracht hat, und doch sind es Wochen, die einen lebensgeschichtlichen Wendepunkt markieren: Bis zum Herbst 1912 war Jakob van Hoddis ein verbummelter Student, ein Bohemien und ein nicht mehr ganz unbekannter Dichter. Nach diesem September und Oktober, nach dem gescheiterten Versuch, in der ländlichen Stille von Wolbeck zur Ruhe zu kommen, nach der Zwangseinweisung in die Berliner Psychiatrie aber wird man in Hoddis immer auch den geisteskranken Patienten sehen: Einer, der in Freiheit nur noch auf Widerruf lebt, dessen Gedichte vielleicht genial sein mögen – in denen manche nun aber auch die Vorboten einer Schizophrenie zu entdecken meinen. 1 Alle Rechte am Werk von Jakob van Hoddis liegen bei der Erbengemeinschaft. Abdruck in diesem Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Irene Stratenwerth 30 Nachtgesang (Auszug) Das Abendroß zerriß die blauen Himmel Blut fiel aufs Meer. Und Fieber flammten auf. Die Lampen stachen durch die junge Nacht. Auf Straßen und in weißen Zimmern hell. Und Menschen winden sich vom Lichte wund. Die Strolche schreien. Kleine Kinder schluchzen, Von Wäldern träumend, ängstlich. Ein Verrückter Hockt lauernd auf im Bette: Soll ich fliehen? Über jene Wochen, die der 27-Jährige in Wolbeck verbrachte, ist wenig überliefert. Das Kurhaus war für damalige Verhältnisse eine eher fortschrittliche Einrichtung für Nervenkranke. Sein ärztlicher Leiter Wilhelm Lackmann war bei Robert Binswanger im Sanatorium Bellevue am Bodensee zum Psychiater ausgebildet worden, eine renommierte Adresse. Neben »milden Wasserkuren, Bädern, Massagen, Gymnastik, Luft- und Sonnenbädern«, wie sie ein Hausprospekt verspricht, wurde deshalb in Wolbeck auch schon Psychotherapie angeboten. Wichtiger für Jakob van Hoddis aber ist vermutlich die katholische Kapelle, die in den Parkanlagen des Kurhauses den Patienten offen steht, denn im Katholizismus sucht der Sohn einer jüdischen Familie jetzt einen neuen Halt. So erinnert sich Wilhelm Lackmann, als er 1958 von Paul Pörtner aufgesucht und über seinen Patienten befragt wird: Er hielt sich schief und schlich an den Wänden entlang, leise und verschüchtert. [...] Ihm gefiel die ländliche Umgebung, der große Park, die Ruhe, das gute Essen. Es fiel mir auf, daß er nie seine Kleider wechselte und immer bis drei Uhr nachts arbeitete. Er sprach mit niemandem, außer mit dem Kaplan von der Beck, denn ihn beschäftigten hauptsächlich religiöse Fragen. Er war, kurz bevor er hierher kam, Katholik geworden und war von einer übersteigerten Gläubigkeit.2 2 Zitiert nach: Irene Stratenwerth/Stiftung »Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum«: All meine Pfade rangen mit der Nacht. Jakob van Hoddis/Hans Davidsohn (1887-1942). Frankfurt/M. 2001, S. 130. Jakob van Hoddis 31 Zwei Briefe, die der damals 27jährige Hoddis aus Wolbeck an seinen Freund Erwin Loewenson schickte, zeugen mit Handschrift und Inhalt vom inneren Aufruhr ihres Verfassers: Krieg der Aufklärung, der Kabbala, dem Talmud, dem Hoffmansthal [sic!], der protestantischen Mystik, dem Protestantismus, Will Wundt etc. Im Übrigen darf jeder glauben was er will. Nur Geld muß ich haben.3 Dass sich seine Freunde schon seit einiger Zeit Sorgen um den Dichter machen, den sie für den Begabtesten in ihren Reihen halten, dokumentiert ein anderer Brief, der in München geschrieben wird, während Hoddis in Wolbeck weilt. Loewenson hat noch erreicht, die Familie willigt nun ein, Hoddis nach Abschluß der ärztlichen Beobachtungen, aber ohne Rücksicht auf die Diagnose, aus dem Sanatorium weg- und mit jemandem zusammenziehen zu lassen, der Geduld, Genie und die unbedingte Hochachtung Hoddis’ besäße und sich dafür zu sorgen verpflichtete, daß Hoddis äße, schliefe, sich zum Schlafen umkleide und das Geld besser verwende. So suchen wir den Mann. Hardekopf –? Feininger –?4 schreibt Simon Guttmann am 3. Oktober 1912 an David Baumgardt. Wie aber ist es zu dieser Situation gekommen, in der selbst seine stets zum Radikalismus geneigten Freunde aus dem expressionistischen Neuen Club es für angebracht halten, Jakob van Hoddis fürsorglich zu entmündigen? Morgens Ein starker Wind sprang empor. Öffnet des eisernen Himmels blutende Tore. Schlägt an die Türme. Hellklingend laut geschmeidig über die eherne Ebene der Stadt. Die Morgensonne rußig. Auf Dämmen donnern Züge. Durch Wolken pflügen goldne Engelpflüge. Starker Wind über der bleichen Stadt. Dampfer und Kähne erwachen am schmutzig fließenden Strom. 3 Zitiert nach Stratenwerth (Anm. 2), S. 131. 4 Simon Guttmann an David Baumgardt am 3. Oktober 1912, s. Stratenwerth (Anm. 2), S. 132. 32 Irene Stratenwerth Verdrossen klopfen die Glocken am verwitterten Dom. Viele Weiber siehst du und Mädchen zur Arbeit gehen. Im bleichen Licht. Wild von der Nacht. Ihre Röcke wehn. Glieder zur Liebe geschaffen. Hin zur Maschine und mürrischem Mühn. Sieh in das zärtliche Licht. In der Bäume zärtliches Grün. Horch! Die Spatzen schrein. Und draußen auf wilderen Feldern Singen Lerchen. So sah Hans Davidsohn die Stadt, in die er 1887 hineingeboren wurde und in der er aufwuchs: Berlin. Seine Eltern waren unabhängig voneinander um 1860 aus Westpreußen und Schlesien in die Großstadt gekommen. Hermann Davidsohn, aus eher kleinbürgerlich-orthodoxen Verhältnissen stammend, hatte sich die Möglichkeit erkämpft, Medizin zu studieren, erhoffte sich von der Welt der Wissenschaft die Befreiung aus den Fesseln einengender Traditionen. Er wurde ein sozial engagierter Arzt, der in den Armenkliniken von Friedrichshain praktizierte. Und das gefiel Doris Kempner, deren Vater in Berlin um ein Auskommen als Getreidehändler kämpfte, während sie Goethe las, Beethoven auf dem Klavier spielte und mit sozialistischen Ideen liebäugelte. Lehrerin wollte sie werden und musste dann doch den Haushalt der Eltern führen, bis sie 1885 Hermann Davidsohn heiratete. Fünf Kinder gehen aus dieser Ehe hervor, Hans ist der Erste und bleibt der kleinste: Weil er nicht größer wird als einen Meter und 52 cm, muss er nicht nur den Spott seiner Mitschüler ertragen, sondern später auch den der Feuilletonisten. Von Anfang an entfaltet sich dieses Leben in einem gewaltigen Spannungsfeld: Da sind die schöngeistigen Bildungsideale der Mutter und die raue Wirklichkeit auf den Straßen und Hinterhöfen von Friedrichshain und Kreuzberg. Da ist Doris Davidsohns unbedingtes Streben danach, ihre Kinder zu guten Deutschen und guten Juden zugleich zu erziehen – und die antisemitischen Angriffe, die diese schon in der Schule erleben. Da sind bald auch scharfe Konflikte zwischen Mutter und Vater, zwischen der distinguierten, stets wohltemperierten Goethe-Verehrerin und dem skeptischen Materialisten, dessen Unzufriedenheit sich oft poltrig entlädt. Und Hans, der Älteste, versucht es beiden recht zu machen. Die Welt außerhalb von Schule und Familie jedoch ist voll der schönsten Versprechungen. Eisenbahn, Telegramm, Telefon, Automobile, Zeppelin, Flugzeuge und Kinematographen – alles scheint plötzlich möglich, alle Widerstände und Entfernungen sind scheinbar spielend zu überbrücken. Von Jakob van Hoddis 33 diesem Geist einer neuen Zeit ist allerdings im Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, das Hans Davidsohn in der Berliner Kochstraße besucht, wenig zu spüren: Die ganze Schule war eine Art militärisch-preußischer Vorbereitungsanstalt mit all dem Drum und Dran, das sich nach 1914 so herrlich bewährt hat. Hier galt auch schon die »rassische Auslese«. So konnte z.B. kein Jude Zugführer werden – man konnte es höchstens bis zum Unteroffizier bringen. Es herrschte bereits der so beliebte Schnarrton, es ging alles nach Kommando [...] Der Drill beherrschte die ganze Schule, auch während der Unterrichtsstunden. Auch hier gab es eine »Rangordnung«. Der Primus konnte, durfte nie ein Jude sein – das verstieß gegen den »Geist« der Schule. Die Lehrer erlaubten sich gerne antisemitische Witze.5 So erinnert sich Karl Schwarz, ab 1933 Direktor des ersten Jüdischen Museums von Berlin, an jenes Lehrinstitut. Sein Mitschüler Hans Davidsohn rebelliert bald gegen den Kasernenhof-Ton, der seine Schule beherrscht. Freunde findet er in einem literarisch-philosophischen Gymnasiastenzirkel, in dem sich vor allem jüdische Schüler engagieren. 1905 schmeißt er die Schule, macht sein Abitur aber bald darauf als Externer, fängt an zu studieren, erst Architektur, dann Altphilologie. Er engagiert sich in der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung, einer liberalen, nicht-schlagenden Studentenvereinigung, und gründet, als auch dieser Verein ihm zu konservativ wird, gemeinsam mit den Freunden aus der Schulzeit 1909 den Neuen Club. Den gewaltigen Widersprüchen, die auf ihr Leben einwirken, haben diese jungen Männer nichts anderes entgegenzusetzen, als ihren scharf geschliffenen Geist, ihren Lebensmut und das geschriebene und gesprochene Wort. Sie sind Sprachverzückte, sie schreiben, lesen, korrespondieren, diskutieren Tage und Nächte. Das große schriftstellerische Talent unter ihnen aber bleibt eher wortkarg. Jakob van Hoddis – so nennt er sich ab 1910 – verfasst keine seitenlangen Briefe, wie es seine Freunde zeitweise mehrmals täglich tun. Und seine gesammelten Werke kann er stets in einer einzigen abgegriffenen Kladde mit sich herumtragen. 5 Karl Schwarz: Jüdische Kunst – Jüdische Kultur. Erinnerungen des ersten Direktors des Berliner Jüdischen Museums. Hg. von Chana C. Schütz und Herrmann Simon. Berlin 2001, S. 35. Irene Stratenwerth 34 »Van Hoddis war der sparsamste Lyriker«6, wird sein Freund Erwin Loewenson später sagen. Vielleicht ahnte er früh, dass ihm die Worte bald fehlen würden. »Die Sprache ist die Bureaukratie der Seele«, schreibt Hans Davidsohn bereits im allerersten Text, den er 1908 in einem Studentenblatt publiziert, und weiter: »Ebensowenig wie man in Worten zu denken braucht, braucht man in Worten zu dichten.«7 Knapp sieben Jahre seines Lebens, von etwa 1908 bis 1915, gelingt es Jakob van Hoddis dennoch, das zu sein, was er sein Leben lang sein wollte: Ein Schriftsteller. In diesen sieben Jahren entstehen jene rund einhundert Gedichte, die wir heute von ihm kennen. Bilderreich, wortgewaltig, lakonisch, lustig, tieftraurig und immer irgendwie unbegreiflich bringt er darin das Lebensgefühl seiner Generation auf den Punkt. Tristitia ante… Schneeflocken fallen. Meine Nächte sind Sehr laut geworden, und zu starr ihr Leuchten. Alle Gefahren, die mir ruhmvoll deuchten, Sind nun so widrig wie der Winterwind. Ich hasse fast die helle Brunst der Städte. Wenn ich einst wachte und die Mitternächte Langsam zerflammten – bis die Sonne kam –, Wenn ich den Prunk der weißen Huren nahm, Ob magrer Prunk mir endlich Lösung brächte, War diese Grelle nie und dieser Gram. »Tristitia ante« – als Jakob van Hoddis dieses Gedicht verfasst, ist er 22 Jahre alt. »Es ist doch eigentlich etwas merkwürdiges,« wird seine Freundin Emmy Hennings 30 Jahre später über Hoddis schreiben, »dass junge Menschen auf eine Art und Weise durchaus die bekannten Eigenschaften, das Unreife der Jugend zeigen – und dabei sind ihre Gedichte vollkommen reif, weder jung noch alt.«8 Sehr jung und sehr alt zugleich – tatsächlich scheint es so, als habe sich in jenen sieben Jahren, in denen Jakob van Hoddis dichtete, ein ganzes Leben 6 Erwin Loewenson, zit. nach Stratenwerth (Anm. 2), S. 12. 7 Hans Davidsohn: »Vom Mir und vom Ich.« In: Beigaben zu den Monatsberichten der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung, Februar 1908. Zit. nach: Stratenwerth (Anm. 2), S. 49. 8 Emmy Hennings an Carl Seelig, 1946. Zit. nach Stratenwerth (Anm. 2), S. 119. Jakob van Hoddis 35 vollzogen: Alles passierte gleichzeitig und in solcher Intensität, dass es noch immer schwierig ist, die Ereignisse zwischen 1908 und 1915 chronologisch zu ordnen. In diese Zeit fallen seine großen Liebesgeschichten und die ersten Begegnungen mit der Psychiatrie, die Gründung und der Niedergang des Neuen Clubs, die Freundschaft und Zusammenarbeit mit so unterschiedlichen bildenden Künstlern wie Ludwig Meidner, Kay Nebel und Richard Seewald, die religiöse Suche zwischen Judentum und Katholizismus und die Diskussion um Jahrhundertideen wie Sozialismus, Zionismus und die Psychoanalyse. Jakob van Hoddis balanciert in jenen Jahren wahrlich nicht allein an der Grenze zum Irrsinn. All seine Freunde sind in einer nervösen und nicht selten verzweifelten Verfassung, hin- und hergerissen zwischen Depression und Größenwahn. Sie ringen um ein neue Haltung, ein neues Lebensgefühl jenseits der Dekadenz der blasierten Dandys, erst recht jenseits der erstarrten Attitüde des gelangweilten Bürgertums, das sich nur noch seinem eigenen Untergang entgegensehnt. Sie experimentieren mit allem, was das Nachtleben einer Stadt wie Berlin hergibt und ihre Nervosität noch steigert, berauschen sich an Drogen, wechselnden Liebschaften und durchwachten Nächten, an der verwirrenden Schönheit der großen Stadt und einer neuen Lebensgeschwindigkeit. Noch nie zuvor hat ein »Kollektiv« sich mit so unermüdlichem, heiter-verbissenem Ernst durch die einschläfernden Nebelschwaden ihrer gegenwärtigen Geschichtssituation durchgearbeitet9, schreibt Erwin Lowenson über jene Aufbruchsjahre des Neuen Clubs. Weltende Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut. Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken. 9 Erwin Loewenson über den Neuen Club (1958), s. Stratenwerth (Anm. 2), S. 57. 36 Irene Stratenwerth Zu Beginn des Jahres 1911 wird Hoddis zum ersten Mal gedruckt – in den Zeitschriften Der Sturm, Die Aktion und Der Demokrat. Vor allem »Weltende« schlägt unter den Studenten und Caféhausliteraten in Berlin ein wie eine Bombe. Glaubt man den Schilderungen des späteren DDR-Kulturstaatsministers Johannes R. Becher, so waren »diese acht Zeilen« der Hit der Saison: Wir riefen sie uns gegenseitig über die Straße hinweg zu wie Losungen, wir saßen mit diesen acht Zeilen beieinander, frierend und hungernd, und sprachen sie gegenseitig vor uns hin, und Hunger und Kälte waren nicht mehr.10 Doch Jakob van Hoddis wird das Leben nach diesem Erfolg nicht leichter. Im Januar 1911 wird er wegen »Unfleiß« von der Universität exmatrikuliert. Im Februar kommt es zum Streit im Neuen Club, Hoddis überwirft sich mit der intellektuellen Vaterfigur der Gruppe, Kurt Hiller. Im April 1911 stirbt Hermann Davidsohn nach längerer Krankheit. Möglicherweise wird von Hans, dem ältesten Sohn, jetzt erwartet, dass er den Platz des Familienoberhauptes einnehme – er aber zerstreitet sich erst einmal mit der ganzen Familie und flieht nach München. Es folgen wirre Monate, über die wenig bekannt ist. Erst im November tritt Hoddis wieder in Berlin im Neopathetischen Cabaret auf. Kaum ordnet sich sein Leben in Berlin wieder etwas, kaum hat er hier eine gemeinsame Wohnung mit dem Zeichner John Höxter bezogen, geschieht erneut etwas, das ihn zutiefst erschüttert: Georg Heym verunglückt tödlich beim Schlittschuhlaufen auf der Havel. Heym – sein literarischer Zwilling, Freund und Rivale zugleich. Hoddis, der Heym manchmal scherzhaft den Tod gewünscht hatte, fühlt sich schuldig. Einst war der kleine Hans Davidsohn gemeinsam mit einem toten Zwillingsbruder zur Welt gekommen – und auch jetzt ist er wieder derjenige, der überlebt hat. Das macht ihm sehr zu schaffen, zumal die Rivalität mit dem tragischen Tod Georg Heyms nicht endet. Denn während dessen Werk nun größte Aufmerksamkeit zuteil wird, gelingt Hoddis der literarische Durchbruch nicht. Nur wenige seiner Gedichte werden in jenen Jahren gedruckt. Der Versuch seiner Freunde, einen HoddisGedichtband herauszugeben, scheitert – wie immer am Geld. Im Frühsommer hält sich Hoddis wieder in München auf. Erich Mühsam notiert am 15. Mai 1912 über eine flüchtige Begegnung in einer Gastwirtschaft: »die abgeschabte Gestalt des jungen van Hoddis, trotz der Hitze in 10 Johannes R. Becher: Das poetische Prinzip. Berlin 1957, S. 101f. Jakob van Hoddis 37 einen uralten, dicken Überzieher gehüllt.«11 Wenig später entflieht Hoddis in eine Pension in Lohhof/Oberbayern, und Guttmann teilt Loewenson per Postkarte mit, der gemeinsame Freund sei »in Nerven gesetzt«.12 Im Juli und August 1912 ist der Dichter gemeinsam mit Emmy Hennings bei einer Zimmerwirtin in der Münchner Theresienstraße polizeilich gemeldet. Die Wanderschauspielerin und Diseuse aus Flensburg, die ihren Lebensunterhalt und oft auch den ihrer Freunde durch Prostitution aufbessert, ist selbst nicht in der besten Verfassung – sie hat ein Drogenproblem: »Ich bin seit einiger Zeit äthersüchtig und vollkommen auf dem Hund«13, teilt sie ihrem Freund Reinhold Junghanns im August 1912 mit und bittet dringend um Geld. Später wird auch Jakob van Hoddis berichten, »im Juni dieses Jahres habe er sich tgl. Ätherräusche beigebracht.«14 Wie zwei Ertrinkende müssen sich Hoddis und Hennings in diesen Sommermonaten aneinander geklammert haben, umeinander besorgt und doch unfähig, füreinander zu sorgen. Emmy bleibt dabei die Lebenstüchtigere, die sich schließlich rettet, indem sie auf Tournee geht. An die Sommermonate mit Jakob van Hoddis erinnert sie sich dreißig Jahre später in einem Brief an Carl Seelig: Er hing ganz unglaublich an mir, und ich hatte ihn lieb, wie man ein kluges, krankes Kind liebt, das ich elend zugrunde gehen sah: je kränker er wurde, um so mehr klammerte er sich an mich. [...] Er hatte im Beginn seiner Krankheit einen richtigen Verfolgungswahn, hat seine Familie beschuldigt und konnte dies recht glaubhaft vortragen, so dass Leute, die nicht um seinen Zustand wussten ihm Glauben schenkten. Doch stimmte buchstäblich nichts von dem, was er sagte. Er klagt mir zum Beispiel, meine Mutter schickt mir Schuhe mit Nägeln darin, die mich drücken, ja vielleicht vergiften müssen. Er gab mir die Schuhe in die Hand, damit ich sie untersuche. Nichts drin. Nämlich Hoddis habe ich wochenlang 11 Erich Mühsam: Tagebücher 1910-1924, zitiert nach Stratenwerth (Anm. 2), S. 121. 12 Wilhelm Simon Guttmann, zit. nach Jakob van Hoddis: Dichtungen und Briefe. Hg. von Regina Nörtemann. Zürich 1987, S. 332. 13 Emmy Hennings, zit. nach Stratenwerth (Anm. 2), S. 124. 14 Aus der Krankenakte »Waldhaus Nikolassee«, s. Stratenwerth (Anm. 2), S. 136. 38 Irene Stratenwerth »aufbewahrt«, ihn abends, wenn ich singen ging, eingeschlossen, denn er gefährdete sich und andere, wenn man ihn allein ließ.15 Auf welchem Wege Hans Davidsohn Anfang September 1912 nach Wolbeck kam, ist unbekannt. Der Arzt Dr. Lackmann erwähnt, er sei »auf Rat einer meiner Patientinnen gekommen, mit der er im Briefkontakt stand«. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um Laura Henschel, die höchst eigenwillige und etwas exzentrische Tante und Freundin der Familie, der Hoddis vertraute. Auch als er Ende Oktober aus Wolbeck flieht, weil ihm der Besuch seiner Familie angekündigt wird, führt einer seiner ersten Wege wieder zu Laura Henschel. Doch die tut, was Hoddis von seiner Mutter befürchtet hatte, und veranlasst seine gewaltsame Einweisung in die Psychiatrie. Vielleicht bringt der erzwungene Aufenthalt im Waldhaus Nikolassee, einer ebenfalls renommierten Privatklinik unter der Leitung jüdischer Nervenärzte, trotz allem die ersehnte Beruhigung. Anfang Dezember jedenfalls gelingt Hoddis nicht nur die Flucht aus der Klinik, er ist auch in der folgenden Zeit offenbar durchaus fähig, sein Leben wieder zu organisieren. Monatelang hält er sich bei Freunden in Berlin, München und Paris versteckt, bis er sicher ist, dass er nicht von der Polizei gesucht wird. Er kehrt nach Berlin zurück, handelt ein Friedensabkommen mit seiner Familie aus, schließt Freundschaft mit dem Maler Ludwig Meidner, schmiedet gemeinsame Wohnungspläne mit Freunden aus dem Neuen Club. Doch kein Vorhaben hat lange Bestand, der Neue Club bricht nach einer letzten gemeinsamen Landpartie im Sommer 1913 auseinander. Im letzten Friedenssommer 1914 irrlichtert Hoddis zwischen München und Berlin hin und her, lebt teilweise wieder bei seiner Familie, bei der Mutter in Berlin und beim Onkel in München. Seine ausgeprägte Schwerhörigkeit scheint voranzuschreiten, sein Kontakt zur Welt allmählich verloren zu gehen. Zum vorläufig letzten Mal druckt die Aktion im Juli 1914 eines seiner Gedichte: »Indianisch Lied«. Aus heutiger Sicht erscheint es wie ein Vermächtnis – ein Streit- und Selbstgespräch des Dichters Jakob van Hoddis mit dem jungen Menschen Hans Davidsohn, der Abschied nimmt von einer Welt, in der es für seine Lust am Leben keinen Ort, und für seinen Empfindungen keine Sprache mehr gibt. 15 Emmy Hennings an Carl Seelig, 1946, s. Stratenwerth (Anm. 2), S.120. Jakob van Hoddis 39 Indianisch Lied (Auszug) [...] Du nanntest dich Pumperpuckel auf Erden, »Denn man muß als häßlicher Satan erscheinen«. Schüsse in Kneipen und Diebstahl von Pferden, Schmutziges Stöhnen in Häusern aus Steinen, Lächelnde Tage und ruchloses Weinen, Armselige Täuschung, die ich erlitt. Pumperpuckel, du hattest Einen. Hinter den Wolken das Mondlicht schreit. Doch der trampt auf im Galgentritt: Nu, warum blust de die Trompeit? Du, Schulmeister, sagtest: »Du denkst nur in Worten, Doch alle Worte sind Trug nur und Leid. Du, du denkst nur in Worten, in Taten und Orten, Da der Gott aller Wahrheit dein Reden bestritt, Und der Unsinn den Weg alles Sinnens verschneit.« Ich denke nicht Worte und rede doch mit, Und der Traum meines Daseins träumt Wahrheit und Traum. Das bleibt doch ein prächtiger Galgenschnitt, Was bleibst du nur hängen am hölzernen Baum, Wie sehr ich dich bitte: komm mit, komm mit? [...] Im Herbst 1914 vollzieht sich der endgültige Abschied Hoddis’ aus der Existenz des Großstadtdichters: Nach dem Aufenthalt in einer Kurklinik in Elgersburg, die 1915 geschlossen wird, wird er als dauerhafter Pensionsgast zu einer Lehrerfamilie in Thüringen gebracht, in die ländliche Abgeschiedenheit des Bauerndorfes Frankenhain. Von nun an soll er sein Alter stets mit 28 angegeben haben – vielleicht ein Versuch, die Zeit aufzuhalten, die doch gnadenlos gegen ihn läuft. Und während er noch auf dem Schulhof mit den Dorfkindern spielt oder durch die Thüringer Wälder streift, vermuten ihn viele Freunde längst hinter den undurchdringlichen Mauern einer Irrenanstalt. »Gewaltsam in Irrenhaus« hatte Franz Pfemfert im Dezember 1912 in der Aktion getitelt und damit eine Artikelreihe von Jakob van Hoddis angekündigt, die nie erschien. Seit diesem effektvollen Titel ist das Schicksal des Hans Davidsohn immer wieder Gegenstand von Spekulation, Mystifikationen und Vereinnahmungsversuchen gewesen: Ist der junge, überaus sensible 40 Irene Stratenwerth Dichter an den Widersprüchen seiner Zeit und seinen visionären Ahnungen des Kommenden zerbrochen? Litt er schlicht an einer genetisch bedingten Geisteskrankheit, die man heute mit Medikamenten in den Griff bekommen würde? Oder ist er aus freier Entscheidung verstummt, als es mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges endgültig nichts mehr zu sagen gab? Alle diese Deutungen erschließen sich weniger aus den spärlichen Krankenakten und Erinnerungen von Zeitgenossen, die als Quellen erhalten sind – sie verweisen vielmehr auf die Weltanschauung des Betrachters. Zumindest einer Legende muss aufgrund der heute bekannten Fakten aber deutlich widersprochen werden – der Vorstellung, Jakob van Hoddis sei Opfer einer Familie geworden, die ihn aufgrund von »Erbschaftsstreitigkeiten« oder ähnlicher Motive möglichst schnell in eine Anstalt abschieben wollte. Von 1915 lebt Hans Davidsohn zwölf Jahre lang als Pensionär bei Privatleuten, zunächst in Thüringen, dann in Tübingen. Dort kommt es dann 1926 zur Entmündigung, 1927 zu einer Zwangseinweisung in die UniversitätsNervenklinik. Sechs Jahre lang lebt Hans Davidsohn anschließend als Patient im Christophsbad Göppingen, ein unauffälliger, oft heiter gestimmter Patient, der viel im Park herumgeht, raucht, Schach spielt und sich selbst Postkarten schreibt. 1933 emigrieren seine Schwestern und die Mutter nach Palästina: Den kranken Bruder und Sohn, den sie nicht mitnehmen können, bringen sie jetzt in den Israelitischen Heil- und Pflegeanstalten Bendorf bei Koblenz unter. Hier gelingt es jüdischen Ärzten und Pflegern, bis zum Jahre 1942 eine humane Behandlung jüdischer Patienten aus dem gesamten Reichsgebiet aufrechtzuerhalten16. Dann wird die Klinik aufgelöst, Patienten und Personal werden in den Distrikt Lublin verschleppt und ermordet. Jakob van Hoddis stirbt im Mai oder Juni 1942 im Vernichtungslager Sobibor. 16 Vgl. hierzu u.a.: Irene Stratenwerth: »Verfolgt. Lebenswege ab 1933.« In: Stratenwerth (Anm. 2).