Der hermeneutische Ansatz Eugen Drewermanns am Beispiel der

Transcription

Der hermeneutische Ansatz Eugen Drewermanns am Beispiel der
Der hermeneutische Ansatz Eugen
Drewermanns am Beispiel der
Wunderexegese
2
„Was kann die Religion anderes tun, als daß sie Bilder der Hoffnung bietet, die uns helfen,
einander gegen den Tod anzulieben, die Angst vor dem Sterben zu überwinden und ohne
falsches Kalkül auf äußeren Erfolg die Wahrheit zu leben, die in uns liegt? - Die Welt wäre
ein ewiger Sarg, wenn es diese Bilder nicht gäbe.“
3
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ........................................................................................................................5
2. Kurzbiografie: Eugen Drewermann ................................................................................7
3. Drewermanns Kritik an der historisch-kritischen Bibelexegese .....................................9
4. Interpretation von Wundergeschichten innerhalb der biblischen Überlieferung ..........12
4.1. Drewermanns Kritik an der der historisch-kritischen Wunderexegese .................12
4.2. Drewermanns Regeln und Erkenntnisse zur Interpretation
der Wundererzählungen ........................................................................................14
4.2.1. Die Wahrheit der Topik und Typik der Wundererzählungen ......................15
4.2.2. Die Allgemeinheit menschlicher Not in den Wundererzählungen ..............16
4.2.3. Der Gegensatz von Angst und Vertrauen
als Parameter der Hermeneutik .................................................................16
4.2.4. Die psychosomatische Diagnostik der Angstzustände ................................16
4.2.5. Die Methode der Einfühlung sowie die Verdichtungsregel ........................17
4.2.6. Die Symbolik der Umstände ........................................................................18
4.2.7. Die symbolische Antwort des Heilungsvorgangs ........................................18
4.2.8. Die Einheit von priesterlichem und ärztlichen Tun .....................................18
4.2.9. Die Einheit von Gottfindung und Selbstfindung .........................................19
4.3. Inhaltsangabe der Wundererzählung:
4
„Die Heilung der blutflüssigen Frau und der Tochter des Jairus“ (Mk 5,21-43) ...20
4.4. Die historisch-kritische Wunderinterpretation (bzgl. Mk 5,21-43) .......................21
4.5. Wunderdeutung Drewermanns (bzgl. Mk 5,21-43)
4.5.1. Von Alter und Jugend im Leben von Frauen ...............................................23
4.5.2. Die blutflüssige Frau ....................................................................................24
4.5.3. Die offene Bejahung ....................................................................................26
4.5.4. Des Vaters armes Töchterlein ......................................................................27
5. Konklusion ....................................................................................................................31
6. Literaturverzeichnis .......................................................................................................32
5
1. Einleitung
„Die einen halten ihn für den größten Reformer seit Martin Luther, reisen ihm durch
deutsche Vortragssäle hinterher und hängen gebannt an seinen Lippen, wenn er ihnen die
Bibel auslegt. Für die anderen ist er nichts weiter als ein Häretiker zweiter Klasse, der
ausgekaute Argumente der Kirchenkritik aus vergangenen Jahrzehnten aufwärmt und die
Menschen allenfalls "besoffen redet".“ 1
Die Rede ist von Eugen Drewermann, auch genannt „Der Kirchenrebell aus Paderborn“2,
der zu den prominentesten und schärfsten Kirchenkritikern Deutschlands gerechnet wird.
Der studierte Theologe, Psychoanalytiker, Philosoph und renommierter Repräsentant der
tiefenpsychologischen Exegese erregte in den letzten Jahren ein enormes Aufsehen,
angesichts seiner von der Kirchenführung stark abweichenden Meinung und seinen
hierdurch provozierten exorbitanten Streit mit der katholischen Amtskirche.
Diese Kontroverse begann primär mit der Veröffentlichung seines Buches „Kleriker.
Psychogramm eines Ideals“3, in dem er darauf plädiert, „dass der Zölibat der psychischen
Gesundheit der katholischen Priester schade“4 und darüber hinaus versucht, den „Priestern
und der Amtskirche zwangsneurotische Strukturen nachzuweisen.“5 Im Übrigen führten
auch viele andere disputable Sichtweisen Drewermanns, wie z.B. das Anzweifeln der
Jungfrauengeburt und auch der allgemeinen, von der katholischen Kirche verwendeten,
Methode der Bibelexegese, sowie sein Ausspruch: „Jesus hat diese Kirche nicht gewollt“ 6,
letztendlich am 8.Oktober 1991 zum Entzug seiner kirchlichen, katholischen Lehrerlaubnis
durch den Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt. Dieser ordnete außerdem im Jahr
1992 ein Predigtverbot und ein kirchliches Strafverfahren an.
Doch trotz dieser Maßnahmen hält Drewermann obligatorisch an seinen Überzeugungen
fest und verfasste bis heute, in seiner Tätigkeit als Schriftsteller, ca. 70 Bücher, in denen er
1
2
3
4
5
6
http://www.lfs.bsb-muenchen.de/gedenktage/detail.jsp?ID=5000023
http://www.wdr.de/online/news2/drewermann/
http://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Drewermann
http://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Drewermann
http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/11/0,1872,2053579,00.html
http://www.wdr.de/online/news2/drewermann/index.phtml
6
unter anderem Themen wie Moraltheologie und Bibelexegese, Krieg, Umweltkrisen,
tiefenpsychologische Märcheninterpretationen und Naturwissenschaften behandelt.
Darüber hinaus hält er viele Vorträge, arbeitet als Psychotherapeut und beschäftigt sich
außerdem in jüngster Zeit auch mit dem Fachgebiet der Gehirnforschung.
Viele
Menschen,
die
sich
mit
Eugen
Drewermann
und
seinen
Gedanken
auseinandergesetzt haben, vertreten die Meinung, dass es kaum eine Person von solch
umfangreicher Belesenheit gibt, deren „Zitierfähigkeit aus der Weltliteratur“ 7 zusätzlich
noch so phänomenal und unerreichbar ist. Infolgedessen zählt er wohl auch zu den
begehrtesten Rednern in Europa im Fachgebiet Religion/Theologie. Eines seiner
elementaren Anliegen war bzw. ist es, das Wissen der Theologie mit dem der
Psychotherapie zu verbinden, und demzufolge den Menschen seelsorgerisch zur Seite zu
stehen, sowie persönliche Unterstützung zu geben. Diesen Wunsch realisiert er heute auch
in seinen seelsorgerlichen Gesprächen, doch er ist enttäuscht, „(...) dass das in der
katholischen Kirche nicht möglich war.“ 8
Diese Arbeit beschäftigt sich im Folgenden mit der Biografie Eugen Drewermanns und
greift seine wesentlichen Gedanken, sowie seine Kritik an der derzeitigen, biblischen
Hermeneutik auf. Zur Konkretisierung seiner Vorgehensweise in Bezug auf die
Bibelexegese soll exemplarisch eine seiner Wunderinterpretationen des Neuen Testaments
dargelegt und dem Deutungsansatz der katholischen Kirche gegenübergestellt werden.
7
8
http://www.vobro-wuppertal.homepage.t-online.de/index2.html#Sekund%E4rliteratur
http://www.wdr.de/online/news2/drewermann/interview.phtml
7
2. Kurzbiografie: Eugen Drewermann
Am 20. Juni 1940 kam Eugen Drewermann in der westfälischen Stadt namens Bergkamen
bei Dortmund auf die Welt. Drewermann wurde von seiner katholischen Mutter und
seinem evangelischen Vater, der ihm zufolge jedoch „nicht religiös“9 war, katholisch
getauft und aufgezogen. Bei dem Bombenangriff der Alliierten auf seine Heimatstadt im
Jahr 1944 machte er eine Erfahrung, die ihn und seine Theologie stark prägen sollte. Diese
Grunderfahrung der Angst brachte Drewermann später dazu sich dem Existentialismus zu
widmen. Dies führte ihn zwangsläufig zu einer Auseinandersetzung mit den Werken Søren
Aabye Kierkegaards, der zu den ersten Existenzphilosophen zählt und dessen Philosophie
Drewermann schließlich zum Teil in seine Theologie aufnahm. Wie viel Einfluss dieser
Philosoph schon auf den 17jährigen Drewermann hatte, wird durch ein Zitat deutlich:
„Kierkegaard war derjenige, der die Worte fand für das, was ich erlebte. Sein ganzes
Denken ging um Angst, um Verzweiflung, um Krankheit zum Tode. Genau das entspricht
mir sehr und war für mich damals der einzige Weg, um zu überleben. Und es war wichtiger
als jeder Papst, jeder Religionslehrer. Es war die einzige geistige Autorität, die ich damals
hatte“10. Im Jahr 1966 absolvierte er dann das Studium der katholischen Theologie in
Paderborn und das Studium der Philosophie in Münster und wurde auch im gleichen Jahr
noch zum Priester geweiht. Außerdem war er zu diesem Zeitpunkt Studentenseelsorger und
Präfekt des Erzbischöflichen Theologenkonvikts Paderborn und arbeitete bis 1968 als
Kaplan im lippischen Kurort Bad Driburg bei Paderborn. Dort hatte er engen Kontakt zu
psychisch kranken und verzweifelten Menschen, was für ihn den Beweggrund darstellte,
sich mit den Enunziationen der Psychoanalyse zu befassen und die ethische Gesinnung der
katholischen Kirche kritisch zu betrachten: „Es war deutlich, dass die Menschen litten,
aber nicht schuldig waren, und dass ich, wenn ich sie verstehen wollte, Bereiche des
Daseins kennen lernen müsste, die mir im gesamten Theologiestudium nicht vertraut
geworden waren, die Bereiche des Unbewussten. So bin ich damals zur Psychoanalyse
gekommen“11. Diese Erfahrung veranlasste ihn nun also Psychoanalyse in Göttingen zu
studieren und darüber hinaus war er ab 1974 als Subsidiar in der Gemeinde St. Georg tätig.
Nach seiner Promotion (1976) und Habilitation im Fach Dogmatik (1978) unterrichtete er
9
10
11
zitiert nach: http://www.bible-only.org/german/handbuch/Drewermann_Eugen.html
zitiert nach: http://www.bible-only.org/german/handbuch/Drewermann_Eugen.html
zitiert nach: http://www.bible-only.org/german/handbuch/Drewermann_Eugen.html
8
als Privatdozent für Religionsgeschichte und Dogmatik an der Theologischen Fakultät
Paderborn. Gleichzeit war er auch noch als Psychotherapeut tätig. Da sich seine Ansicht
jedoch immer mehr von der der Amtskirche unterschied und er begann, Kritik gegenüber
der Kirche auszuüben, wurde ihm im Oktober 1991 die kirchliche Lehrerlaubnis durch
Erzbischof J.J. Degenhardt entzogen. Kurze Zeit später ordnete dieser auch das
Predigtverbot und die Suspendierung vom Priesteramt an. Als konkrete Gründe für den
Entzug der Predigtbefugnis nannte Erzbischof Degenhardt die Folgenden: „Abweichungen
von der Glaubenslehre der katholischen Kirche über die Einsetzung der Sakramente, vor
allem auch der Eucharistie und des Priestertums durch Jesus Christus, über das katholische
Verständnis des Kreuzestodes Christi, über die Feier der Eucharistie und des priesterlichen
Dienstes, über die Geburt aus der Jungfrau Maria (Jungfrauengeburt), über die Autorität
der Kirche und der Bischöfe in Sachen des Glaubens und der Sitten sowie erneut aber die
sittliche Beurteilung der Abtreibung durch das kirchliche Lehramt.“12 Seitdem ist
Drewermann als freier Schriftsteller tätig und hält zudem Vorlesungen und Seminare über
Soziologie und Kulturanthropologie an der Universität/Gesamthochschule Paderborn.
Pünktlich zu seinem Geburtstag trat Eugen Drewermann am 20. Juni 2005 offiziell aus der
katholischen Kirche aus.
12
zitiert nach: http://www.bible-only.org/german/handbuch/Drewermann_Eugen.html
9
3. Drewermanns Kritik an der historisch-kritischen Bibelexegese
Bevor auf die Kritik Eugen Drewermanns an der historisch-kritischen Bibelexegese
eingegangen wird, erfolgt zunächst eine kurze Begriffsklärung des Termini „historischkritische Methode“: Der Begriff historisch-kritische Methode bezeichnet ein Verfahren zur
Untersuchung historischer Texte und ist darüber hinaus die bekannteste Form der
biblischen Exegese. Als sich diese Form der Exegese im 18. und 19. Jahrhundert
entwickelte, erfuhr sie zunächst eine immense Zurückweisung. Mittlerweile zählt sie
jedoch in der Bibelwissenschaft, trotz stets vorhandener Opposition, zu der einzig
akkreditierten Methode zur sinngemäßen Erschließung der Bibel. Es gehört z.B. zu den
wesentlichen
Aufgaben
der
historisch-kritischen
Methode
herauszufinden,
wie
glaubwürdig ein Text ist, ob sich der Text durch seine Überlieferung verändert hat, wer der
Autor war und aus welchen Quellen dieser sein Wissen bezog. Ihre Intention ist die
Interpretation
eines
biblischen
Textes
in
seinem
damaligen
geschichtlichen
Zusammenhang.
Eugen Drewermann kann eindeutig den vehementen Kritikern dieser historisch-kritischen
Bibelauslegung zugeordnet werden, denn er ist der Meinung, dass sich die Bibelexegese
trotz großer Notwendigkeit nicht mehr weiterentwickelt und eben auf diesem Stand der
historisch-kritischen Methode verharrt. Er beanstandet, dass sich alle Exegeten
ausschließlich mit der Frage beschäftigen: „was in der Bibel an historischer Wirklichkeit
in den einzelnen Überlieferungen (...) zum Ausdruck kommt und welche historische
Bedingungen die jeweiligen Aussageabsichten geformt haben.“ 13 Diese „Frage nach der
historischen Wirklichkeit ist für Drewermann die äußerlichste und oberflächlichste aller
Fragen, die man an einen religiösen Text stellen kann“.14 Außerdem stellt die historischkritische
Methode
für
Drewermann
keine
theologische
Verfahrensweise
zur
Bibelauslegung dar, sie würde für ihn theologisch nur eine Bedeutung haben, wenn sie
zeigen würde, dass „Religion niemals nur Geschichte, niemals nur Vergangenheit und
niemals nur etwas Gesellschaftsabhängiges ist.“ 15 Denn die Realität, die religiös relevant
ist, „liegt nicht in etwas Vergangenem, sondern unmittelbar in jedem Menschen.“16 In
diesem Sinne greift Drewermann die Ansicht Sören Kierkegaards auf, der für ihn der
13
14
15
16
Drewermann, Tiefenpsychologie u. Ex. I., S. 23
zitiert nach: Fehrenbach, Drewermann verstehen, S. 146 f.
Fehrenbach, Drewermann verstehen, S.147
a.a.O., S. 147
10
„letzte wirkliche Philosoph“17 war. Dieser behauptete, dass es entweder die Aufgabe der
Theologie ist, „möglichst viel an historischem Wissen über Jesus Christus anzuhäufen“18,
oder aber „ohne geschichtliches Vorwissen in existentiellem Sinn ein Gleichzeitiger zu
sein.“ 19 Aufgrund dessen ist diese Art der Exegese, die sich nur auf historisches Wissen
bezieht und nicht versucht, ein „Gleichzeitiger“ zu werden, nach Drewermanns Auffassung
unreligiös und „prinzipiell gottlos“20, da sie eben nicht mit Gefühlen verbunden ist, sich
vom Individuum absondert und außerdem nicht in der Lage ist, zu erkennen, dass „die
innere, psychische Realität“ 21 viel bedeutungsvoller ist, als die oberflächlichen Fakten. Sie
verwehrt geradezu „eigene Empfindungen und Gefühle, innere Spannung und persönliche
Fragen bei der Interpretation der Hl. Schrift mit einzubringen.“ 22 Deswegen muss man
nach Drewermann bei der Hermeneutik dahin zurückkehren, wo jedes religiöses Erleben
beginnt: „im inneren Erfahrungsraum seelischer Zustände.“23 Dies führt zu einem weiteren
Kritikpunkt Drewermanns an der historisch-kritischen Exegese. Er behauptet nämlich, dass
diese ihre Aufmerksamkeit auch nur auf die verwendete Sprache im Text richtet und es
folglich nicht schafft „die Welt der Bilder und Träume, der alle wahrhaft religiösen Worte
ihren Ursprung verdanken, (...) im eigentlichen Sinne zur Sprache zu bringen.“ 24
Deswegen gelangt man durch dieses Verfahren auch nicht zu dem eigentlichen Sinn eines
religiösen Textes. Dieser Sinn und beständige Wert eines Textes für die Gegenwart wird
Drewermann zufolge komplett außer Acht gelassen. Mit Hilfe der historisch-kritischen
Methode wird allein die Bedeutung für die Vergangenheit aufgezeigt und zwar dadurch,
dass die Akzentuierung so stark auf die historische Einmaligkeit des Geschehens liegt.
Laut Drewermann ist das Ergebnis der geschichtlichen Betrachtung der Bibel, theologisch
gesehen, lediglich eine „monströse[-] Inhaltslosigkeit.“ 25 Eine provokative Aussage aus
seinem Werk „Tiefenpsychologie und Exegese“ verdeutlicht seine Einstellung gegenüber
der gegenwärtigen Bibelwissenschaft: „auf diese Weise werden Menschen, die Gläubige
und Theologen sein möchten, unfehlbar zu Schriftgelehrten und Religionswissenschaftlern
herangebildet,
die
(...)
ehrlicherweise
besser
in
der
gesellschaftswissenschaftlichen Abteilung untergebracht wären.“ 26
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
Drewermann, Tiefenpsychologie u. Ex. I., S. 12
a.a.O., S. 13
a.a.O., S. 13
a.a.O., S. 12
a.a.O., S. 12
a.a.O., S. 25
Drewermann, Tiefenpsychologie u. Ex. I., S. 14
zitiert nach: Drewermann, Tiefenpsychologie u. Ex. I., S. 12
Drewermann, Tiefenpsychologie u. Ex. I., S. 24
a.a.O., S. 25
altorientalischen
oder
11
Trotz all der kritisierten Aspekte der historisch-kritischen Exegese sieht Drewermann nicht
nur Negatives in ihrer Vorgehensweise, denn er setzt partiell ihre Arbeit am Text z.B. bei
der Deutung des Lukasevangeliums voraus. Des Weiteren liegt für ihn der „unbestreitbare
Wert“27 dieser Methode in dem Beweis, „dass die sehr unterschiedlichen Aussageformen
der Bibel in einem bestimmten historischen Kontext stehen.“ 28 Drewermann bezieht sich
auch auf zwei Entwicklungen innerhalb der historisch-kritischen Exegese: Einerseits
nimmt er die „Einteilung der Erzählformen und Gattungen“29 von Martin Dibelius auf, das
bedeutet er analysiert die biblischen Texte angesichts ihrer Textgattung. Er entwickelt
diese aber nicht, wie Dibelius, historisch sondern anhand der menschlichen Psyche.
Andererseits ist er entschlossen mit „seiner archetypischen Hermeneutik die existentiale
Hermeneutik Rudolf Bultmanns“ 30 fortzusetzen und schließt sich dementsprechend dessen
Verfahren der Entmythologisierung an. Doch im Gegensatz zu Bultmann will Drewermann
nicht „die Tatsachen der mythologischen Sprechweise(...) historisch verständlich
machen.“ 31 Er möchte die „existentiale Hermeneutik Bultmanns mit Hilfe der
Tiefenpsychologie so (...) vertiefen, dass sie der konkreten Inhaltlichkeit der mythischen
Bilder adäquat wird.“ 32 All seinen Deutungen liegen folglich die Entmythologisierung und
die existentiale Interpretation des Theologen Rudolf Bultmann zugrunde.
Doch auch wenn er dem erbrachten Werk der Bibelwissenschaft große wissenschaftliche
Anerkennung zuspricht, ist er der Ansicht, dass die Methode theologisch inkorrekt ist und
„eine solche Exegese (...) einen Menschen weder zu Gott noch zu sich selbst“ 33 den Weg
weist.
Aufgrund all dieser Kriterien hält er eine Reformierung der Exegese für unerlässlich,
insbesondere weil die derzeitige Deutung keine wahrhaftigen Gefühle und keine tiefere
Erkenntnis zulässt. Sein Wunsch ist es die historisch- kritische Methode der Exegese mit
Hilfe der Tiefenpsychologie zu überarbeiten. Aus diesem Grund entwickelte er „auf der
Basis seiner Überlegungen zu Angst und Glauben (...) eine theologische Hermeneutik, die
jenseits der historischen Vermittlung eine neue Unmittelbarkeit und Absolutheit in die
Auslegung der Hl. Schrift hineinträgt“ 34
27
28
29
30
31
32
33
34
zitiert nach: Fehrenbach, Drewermann verstehen, S. 146
Fehrenbach, Drewermann verstehen, S. 146
a.a.O., S. 148
a.a.O., S. 148
a.a.O., S. 148
a.a.O., S. 149
Drewermann, Tiefenpsychologie u. Ex. I., S. 25
zitiert nach: Fehrenbach, Drewermann verstehen, S. 147
12
4. Interpretation von Wundergeschichten innerhalb der biblischen
Überlieferung
Die Überlieferungen der Wundergeschichten im Neuen Testament sind für viele Theologen
mit Schwierigkeiten in der Auslegung verbunden. Diese Probleme beruhen auf dem
heutigen Wunderverständnis, das im Unterschied zur Wundervorstellung der Antike sein
Augenmerk fast ausschließlich auf das Rätselhafte des Wunders und die Aufhebung der
Naturgesetzte legt. Der moderne, von Naturwissenschaft und Empirismus geprägte
Mensch, steht der
Durchbrechung von Naturgesetzten von vornherein skeptisch
gegenüber, während der Menschen der Antike vorrangig die Erfahrung von Göttlichem im
Wunder sah und das Außergewöhnliche in den Hintergrund stellte.
4.1. Drewermanns Kritik an der historisch-kritischen Wunderexegese
(vgl. im Folgenden: Drewermann, Tiefenpsychologie u. Exegese, Band II, S.
64 ff.)
Eugen Drewermann geht bei seiner profunden Kritik an der historisch-kritischen
Bibelexegese besonders auf die Wunderinterpretation dieser Methode ein. Hierbei ist es
nach Drewermann theologisch gang und gebe, die Wunder als Zeichen aufzufassen, die
„auf die überragende Bedeutung des Wundertäters, auf die göttliche Macht seiner Person
und auf die Wahrheit seiner Botschaft hinweisen sollen“35 und die Bedeutung des Wunders
damit z.B. nicht auf der Heilung eines Kranken beruht. Somit wäre die Glaubwürdigkeit
der Christologie abhängig von „dem Nachweis, dass Jesus besondere, nur ihm eigene
Wundertaten vollbracht hat.“ 36 Die daraus abgeleiteten Aufgaben wären einerseits, einen
Nachweis für die Wirklichkeit der berichteten Wundergeschichten zu erbringen, sowie
andererseits „der theologischen Argumentation Gründe für den Beweis an die Hand
(zu)geben, daß, im NT etwa, Jesus gesandt von Gott, ja selbst göttlicher Natur war“ 37. Mit
diesen Aufgaben wird die historisch-kritische Methode laut Drewermann jedoch nicht
fertig.
35
36
37
Drewermann, Tiefenpsychologie u. Ex. II, S. 65
a.a.O., S. 65
a.a.O., S. 65
13
Für diese Art der Exegese steht es außer Zweifel, dass Wunder, die die Naturgesetze
durchbrechen, nicht existieren können und deshalb braucht sie auch keine Untersuchungen
bezüglich der Vorkommnisse von Wundern anzustellen. Sie konzentriert sich nur noch auf
die Problematik, „wieso man dazu kam, von Wundern im Umkreis des Propheten Elisäus,
der Person Jesu, seiner Jünger o.a. zu berichten.“ 38 Dieses Vorgehen der historischkritischen Methode stößt bei Drewermann auf Missbilligung. Er vertritt daher die
Meinung, dass die in dieser Weise analysierte Geschichte nur noch eine Beschreibung
angeblicher Geschehnisse und kein tatsächliches Ereignis mehr ist. Somit wird konstatiert,
dass „so wenig wie Jesus, dem Mythos nach, über das Wasser gewandelt sein kann, so
wenig wird auf sein Wort hin ein Blinder sehend oder ein Lahmer gehend geworden
sein.“ 39 Diese Deutungsmethode widerspricht Drewermanns hermeneutischen Ansatz in
jeder Hinsicht, vor allem weil sie den Inhalt der Geschichte „zum an sich Unwesentlichen
erklärt, das nur als Aussagemittel, nicht als Aussage an sich von Bedeutung ist“40 und
damit gleichzeitig „der Begriff des Bedeutungsvollen (...) vom Erfahrungsbereich weg ins
rein Literarische, ins im Grunde Fiktive“ 41 verlegt wird. Aufgrund dessen befindet sich die
historisch-kritische Exegese in der sonderbaren Situation, im Bereich des Unhistorischen
„umherzuirren“42. Drewermann geht davon aus, dass diese Art der Wunderexegese noch
längere Zeit weitergeführt und „die Kunst des leeren historisierenden Hypothesenschmiedens weitergeübt werden wird.“ 43 Er ist besorgt, da dies dazu führt, dass die
Wundererzählungen vollständig zu literarischen Texten verkommen, die nur darauf
ausgerichtet sind, den Wundertäter zu preisen, anstatt Botschaften zu vermitteln.
Außerdem spricht diese Methode nur von Gläubigen und von Berichten mit denen andere
zum Glauben gebracht werden sollen, obwohl es laut Drewermann viel wichtiger ist, zu
verdeutlichen wie jemand „für sich selbst zum Wunder des Glaubens kommt“ 44.
Letztendlich ist der Schluss zu ziehen, dass Eugen Drewermann die historisch kritische
Wunderexegese konsequent ablehnt und insofern der Ansicht ist, dass durch deren
„Unvermögen, die Wunder des Glaubens in der eigenen Lebenswirklichkeit von innen her
38
39
40
41
42
43
44
Drewermann, Tiefenpsychologie u. Ex. II, S. 65
a.a.O., S. 66
a.a.O., S. 66
a.a.O., S. 66
a.a.O., S. 66
a.a.O., S. 73
a.a.O., S. 73
14
zu begreifen“45, deutlich wird, „wie weit die Geisteshaltung der historisch-kritischen
Methode sich von dem Glauben der Bibel entfernt hat.“46
4.2. Drewermanns Regeln und Erkenntnisse zu Interpretation der
Wundererzählungen
(vgl. im Folgenden: Drewermann, Tiefenpsychologie u. Exegese, Band II, S.
239-246)
In seinen Predigten über die Wunder Jesu mit dem Titel „Und legte ihnen die Hände auf“
stellt Eugen Drewermann die Behauptung auf, dass nur wer sich wundert, das Wunder
kennen lernt. Er kommt damit zu dem Fazit: „Wer jene Fähigkeit, sich zu verwundern,
ganz und gar verlernt hat, dem kann selbst Gott nicht mehr mit einem Wunder dienen,
sowenig wie ein Kellner einem Magenkranken mit dem Lieblingsdiner des Hauses.“47
Des Weiteren ist er der Meinung, dass sowohl der Wissenschaftler als auch der Gläubige
eben diese Fähigkeit des Wunderns besitzt.
Es soll das Anliegen der Menschen sein, sich vor Augen zu führen, dass das Elementare
des Wunders nicht das „äußere, sondern das innere Geschehen“48 ist und, dass sich in
diesem Geschehen ein beständiges Vertrauen in und zwischen Menschen entwickelt, das
die Basis dazu bildet, Krankheiten von Körper und Seele zu besiegen. Das Erlebnis eines
Wunders ist also „nicht nur das Wunderbare einer versunkenen Epoche, in der es noch
Wunder gab, es ist wunderbar, auch heute noch - als Erinnerung an den Christus und als
Utopie einer Welt, in der Menschen einander heilend, tröstend und helfend begegnen.“49
Im Allgemeinen ist es das Anliegen Eugen Drewermanns Theologie und Religion sowohl
mit den Erkenntnissen der Psychotherapie als auch mit denen der Human- und
Naturwissenschaften zusammenzuführen. Aus diesem Grund bringt er tiefgehendes Wissen
aus
vielen
wissenschaftlichen
Bereichen,
wie
der
Philosophie,
Soziologie,
Sozialpsychologie, Psychologie/Psychoanalyse, Anthropologie, Biologie, Physik, Chemie
und Physik in seinen religiösen und theologischen Untersuchungen zur Sprache. Ihm geht
es grundsätzlich darum, die Bibel nicht wortgetreu aufzufassen, sondern sie mythisch und
45
46
47
48
49
Drewermann, Tiefenpsychologie u. Ex. II, S. 74
a.a.O., S. 74
Drewermann, Und legte ihnen, S. 10
Drewermann, Und legte ihnen, Klappentext
zitiert nach: Drewermann, Und legte ihnen, Klappentext
15
psychoanalytisch zu deuten. Besondere Beachtung schenkt er dabei der Methode der
Tiefenpsychologie. Die Grundlage dieser Verfahrensweise ist die Auseinandersetzung mit
dem Traum und dem Unbewussten, also die Verwendung der menschlichen Psyche als
Ausgangspunkt der Hermeneutik.
In seinem renommierten Werk „Tiefenpsychologie und Exegese“ machte er deutlich, in
welchem
Maß
und
auf
welche
Art
die
Tiefenpsychologie
im
Bereich
der
Wunderinterpretation eine Rolle spielen muss. Sie stellt die Basis für seine Regeln und
Erkenntnisse zur Interpretation der Wundererzählungen dar.
4.2.1. Die Wahrheit der Topik und Typik der Wundererzählungen
Zunächst konstatiert Drewermann, dass die historische Wirklichkeit der Wundergeschichten durch deren gleichförmige, formale Struktur und die dargestellte emotionale
Wunschwelt prinzipiell unglaubwürdig gemacht wird. Deswegen ist er der Ansicht, dass
nur eine „tiefere psychologische Betrachtung (...) die Wundererzählungen wieder in ihre
Rechte einsetzen“50 kann. Die Wundererzählungen zeichnen sich seiner Meinung nach
durch die „Topik“ 51 (Wissenschaft, Lehre von den Topoi, vgl. Topos: festes Denk- und
Ausdrucksschema) ihrer Motive aus und machen damit auf die in aller Welt einheitlichen
menschlichen Vorstellungen und Emotionen aufmerksam. Diese aktivieren eigentlich erst
die „Kräfte im Menschen (...), die das «Wunder» einer Heilung ermöglichen.“ 52 Die allzeit
und allerorts auftretenden „Krankheitsformen und Behandlungsmethoden“53, die für
Wundererzählungen spezifisch sind, verdeutlichen dass es sich in der Religionsgeschichte
permanent um vergleichbare Erscheinungen und Erfahrungen dreht. Demzufolge sind
Wundererzählungen von beständiger, unvergänglicher Signifikanz, annullieren außerdem
durch die Eigenschaft ihrer „Typik und Topik (...) das geschichtlich Einmalige“ 54 und
machen so die Wunder zu etwas „Ewig-Gültige(m).“ 55
50
51
52
53
54
55
Drewermann, Tiefenpsychologie u. Ex. II, S. 239
a.a.O., S. 239
a.a.O., S. 239
a.a.O., S. 239
a.a.O., S. 240
a.a.O., S. 240
16
4.2.2. Die Allgemeinheit menschlicher Not in den Wundererzählungen
Mit seiner psychologischen Untersuchung der Wundergeschichten offeriert Drewermann
eine Perspektive, die es ermöglicht, die Beschwerden und das Elend der Menschen
nachzuvollziehen. Die Betroffenen suchen klagend und bittend, aber immer mit Vertrauen
und Optimismus die Hilfe Jesu. Es handelt sich hierbei nicht um ungewöhnliche,
exklusive, sondern um häufig auftretende charakteristische Problemsituationen, die jeden
zu jeder Zeit an jedem Ort betreffen können. In dieser Hinsicht sind die
Wundererzählungen „prinzipiell Geschichten von und für jedermann.“56
4.2.3. Der Gegensatz von Angst und Vertrauen als Parameter der Hermeneutik
Drewermann setzt einen Akzent seiner Hermeneutik auf die Auswahlmöglichkeit zwischen
Angst und Vertrauen, die in den Geschichten immer wieder aufgezeigt wird. Er ist davon
überzeugt, dass die ständig wiederkehrende, neutestamentliche Aussage: „Dein Glaube hat
dich gerettet“ 57, ein essenzielles Vertrauen im Gegensatz zu einer essenziellen Angst zum
Ausdruck bringen will, anstatt den christlichen Glauben an sich zu apostrophieren. Der
Wundertäter, der dieses hier angesprochene Vertrauen auf Gott überträgt, wird von
Drewermann als „Mittler (...) zwischen den Mächten des Göttlichen und dem Herzen des
Menschen“58 tituliert. Damit bezeichnet er die biblischen Wundergeschichten auch als
Erlösungsgeschichten.
4.2.4. Die psychosomatische Diagnostik der Angstzustände
In jedem Menschen ruht eine Existenzangst, die in Krankheitssituationen zum Ausdruck
kommt und sich in diesen intensiviert. Um das Symptomatische der jeweiligen Angst zu
begreifen, werden die vielen Krankheitsvariationen in den Wundergeschichten ausführlich
und bildhaft dargestellt. Keinesfalls darf diese detaillierte Schilderung als „«unreligiöses»,
56
57
58
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 240
zitiert nach: Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 240
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 240
17
«weltliches» Interesse dieser Erzählgattung“ 59 abgewertet werden. Drewermann will die in
den Wundergeschichten geschilderten Krankheitsmerkmale, nach dem Vorbild der
Psychosomatik bzw. der Tiefenpsychologie verstehen. Demzufolge stellen sich manche der
beschriebenen Krankheiten als Konversionssymptome heraus. Dies bedeutet, dass die
Krankheiten ihre Ursache in einer falschen Verarbeitung von Ängsten haben und durch die
innere Haltung des Menschen entstehen. Nach Drewermann sind Krankheiten oft
psychisch bedingt und es kommt darauf an, die ätiologischen verborgenen Ängste
aufzudecken. Er missbilligt daher auch die Auffassung, die dem Erleben von Angst und
Vertrauen Unchristlichkeit unterstellt. Seiner Meinung zufolge drückt gerade die
Darstellung eines von Angst erfüllten Menschen, der zu einem Vertrauen zu sich selbst und
zu Gott findet, eine tiefgründige Religiosität aus.
4.2.5. Die Methode der Einfühlung sowie die Verdichtungsregel
Drewermann vertritt den Standpunkt, dass Wundergeschichten langjährige „innere
Entwicklungen“60 wiedergeben und diese auf den Punkt bringen, weswegen er sie auch als
„Verdichtungen“61 bezeichnet. Er postuliert, in Bezug auf die Vorgehensweise der
Psychotherapie, dass man sich das in den Wundergeschichten gebündelte Geschehen
zeitlich in die Länge gezogen vorstellen müsse. Diese Verfahrensweise wird von ihm als
„«Zeitzerdehnung»“62 bezeichnet, da es sich über Jahre hinziehen kann, einen Menschen
psychotherapeutisch zu behandeln und zum Erfolg der „«Selbstfindung»“63 zu führen.
Abgesehen
davon
ist
es
Drewermann
auch
wichtig,
dass
man
menschliche
Verhaltensweisen nicht vom Zufall gesteuert betrachtet, da sich der Angstzustand von
Menschen die Jesu Hilfe ersuchen, in ihrer Krankheit und ihrem Handeln widerspiegelt.
Somit ist es Drewermanns Anliegen, sich in das Handeln der Personen einzufühlen, um
ihren Charakter und das jeweilige Krankheitsbild analysieren zu können.
59
60
61
62
63
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 241
a.a.O., S. 242
a.a.O., S. 242
a.a.O., S. 242
a.a.O., S. 242
18
4.2.6. Die Symbolik der Umstände
Die verschiedenen Krankheiten in den Wundergeschichten, werden nach Drewermann, als
Spezifika typischer Ängste verstanden. Die Angstverarbeitung der Menschen und deren
Charakter drücken sich in spezifischen Handlungsweisen aus. Neben diesen Erkenntnissen
Drewermanns, wird von ihm jetzt auch „die Ganzheitlichkeit der Umstände“64 bei der
Wunderdeutung beachtet, denn auch die äußeren Umstände sind als Symbole zu verstehen
und keineswegs irrelevant. Es ist also nicht belanglos, ob eine Heilung „im Dunkeln oder
am Tage, an einem Fluß oder einem Teich, (...), im Gewühl der Volksmenge oder abseits
vom Volk“ 65 vollbracht wird. Also bedingt auch das jeweilige Umfeld die heilende
Wirkung des Glaubens.
4.2.7. Die symbolische Antwort des Heilungsvorgangs
Die Methode der Heilung ist als „symbolische Form der Angstbearbeitung“66 aufzufassen
und der Heilungsvorgang lässt laut Drewermann Rückschlüsse über die Besonderheit der
Erkrankungsursache zu. Es ist also auch erheblich, ob die „Heilung durch Waschung oder
Handauflegung, (...), durch Fragen nach dem Namen oder durch einfachen Befehl
erfolgt.“ 67 So müssen die jeweiligen Geschichten daraufhin analysiert werden, auf welche
Ausprägung der Angst und Krankheit, der Glaube eine Antwort gibt. Die Intention der
Wundergeschichten ist es, anhand vieler Beispiele zu verdeutlichen, wie der Glaube eines
durch Angst und Zweifel erkrankten Menschen heilende Kräfte in ihm hervorbringen kann.
4.2.8. Die Einheit von priesterlichem und ärztlichen Tun
Auch der Wunderheiler darf bei der Wunderauslegung nicht außer Acht gelassen werden,
selbst wenn es nicht das Bestreben der Geschichten ist die Fähigkeiten und das Besondere
64
65
66
67
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 243
a.a.O., S. 243
a.a.O., S. 243
a.a.O., S. 243
19
des Wundertäters hervorzuheben, wie es die historisch-kritische Methode behauptet. Im
Mittelpunkt der Erzählungen steht hauptsächlich die Darstellung der Heilung. Es ist
nebensächlich, ob der Wunderheiler die Heilung als „Schamane, Prophet, Messias,
Menschensohn“68 vollführt, denn er bekommt sein unvergleichliches Ansehen und seine
Bedeutung allein durch seine Rolle als Vermittler und den ihm entgegenkommenden
Glauben an Gott überträgt. Er erweckt den Anschein ein „göttlicher Mensch“69 zu sein,
weil er es dem Leidenden ermöglicht, durch den von ihm kommenden Glauben Vertrauen
in Gott zu legen. Durch dieses Vertrauen kann die Angst und auch die Krankheit bewältigt
werden. Drewermann bezeichnet den Wundertäter auch als „Priester und Arzt“70 in einer
Person, die den Menschen durch Beschwichtigung der Angst sowie durch Hand auflegen
heilt und dabei die helfende Nähe Gottes zum Menschen prophezeit.
4.2.9. Die Einheit von Gottfindung und Selbstfindung
Drewermann lehnt die Trennung von Theologie und Psychologie innerhalb der
Hermeneutik vollständig ab. Eine Isolation der beiden Bereiche ist nicht möglich, da
Krankheit durch Angst entsteht und Heilung durch den Glauben erfolgt. Die
Wundergeschichten
teilen
keine
speziellen,
einzigartigen
Glaubensinhalte
einer
spezifischen Religion mit, sondern sie beschreiben Ängste, die jeden betreffen und die
Selbstfindung des Menschen verhindern können. Allein durch den Glauben kann der
Mensch zu Gott und zu sich selbst finden, dabei agieren „Gottfindung und Selbstfindung
(...) zueinander wie Grund und Folge“ 71
In jeder Religion, an jedem Ort und zu jeder Zeit gibt es Wunderheiler in
Wundergeschichten, die die Zuversicht geben, dass zukünftig „priesterliche(s) und (...)
ärztliche(s) Bemühen um den Menschen als Einheit eines Wesens und eines Grundes zu
verstehen“72 sein wird.
Im Folgenden, wird anhand der Wundergeschichte, „Die Heilung der blutflüssigen Frau
und der Tochter des Jairus“, verdeutlicht, wie Eugen Drewermann mit Hilfe seiner zuvor
aufgeführten Regeln der Wunderexegese biblische Wundererzählungen konkret deutet.
68
69
70
71
72
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 244
a.a.O., S. 244
a.a.O., S. 244
a.a.O., S. 245
a.a.O., S. 246
20
4.3. Inhaltsangabe der Wundererzählung:
„Die Heilung der blutflüssigen Frau und der Tochter des Jairus“ (Mk 5,
21-43)
Die Heilung der blutflüssigen Frau und der Tochter des Jairus sind eng miteinander
verknüpfte Heilungsberichte, die Drewermann auch als „Schachtelperikope“73 bezeichnet,
denn die Jairusgeschichte wird kurz nach ihrem Beginn durch die Erzählung von der
Heilung der blutflüssigen Frau unterbrochen. Diese Perikope liefert, gemäß Drewermann,
ein gutes Beispiel, um „die Fragen psychosomatischer Erkrankungsformen und ihrer
Heilungen in den Wundererzählungen (...) zu studieren.“ 74
Die Geschichte handelt davon, dass der Synagogenvorsteher Jairus den von einer
Menschenmenge umdrängten Jesus anfleht, seine im Sterben liegende Tochter zu heilen.
Jesus und alle, die ihn umgeben, folgen Jairus unverzüglich, um so schnell wie möglich bei
der Tochter zu sein. Auf dem Weg bemerkt Jesus, wie ihn jemand von hinten anfasst. Er
dreht sich um und fragt, wer ihn berührt habe, doch die Jünger können ihm keine Antwort
geben, da ihn zu viele Menschen umringen. Da kniet sich eine verängstigte Frau vor ihm
nieder und sagt ihm, dass sie es gewesen sei. Zuvor hat man erfahren, dass diese Frau seit
zwölf Jahren an einer Blutung leidet und kein Arzt ihr bis jetzt hat helfen können. Jesus
antwortet auf ihr Geständnis nur mit: „Meine Tochter, dein Vertrauen hat dir geholfen.
Geh in Frieden und sei frei von deinem Leiden!“75
Während Jesus noch spricht, kommen der Menschenmenge einige Leute entgegen, die vom
Tod der Tochter des Jairus berichten. Jesus will dennoch zu dem Mädchen gehen. Als er
das Haus des Jairus erreicht, und er das Weinen der Angehörigen hört, sagt er zu ihnen:
„Was soll der Lärm? Warum weint ihr? Das Kind ist nicht tot - es schläft nur.“ 76 Da er
wegen dieser Aussage von den Anwesenden verlacht, wird schickt er diese bis auf den
Vater, die Mutter und die drei Jünger hinaus und begibt sich in das Zimmer in dem das
Kind liegt. Sobald Jesus die Hand des Mädchens nimmt und zu ihr sagt: „Talita kum!“77,
73
74
75
76
77
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 246
a.a.O., S. 246
Mk 5,34
Mk 5,38
Mk 5,40
21
übersetzt, „Steh auf, Mädchen!“ 78, erhebt sich das Kind auf der Stelle und läuft umher. Das
Erstaunen unter den Anwesenden ist groß, doch Jesus legt den Menschen ans Herz,
niemandem von der Heilung zu erzählen und bittet noch darum, dem Kind zu essen zu
geben.
4.4. Die historisch-kritische Wunderinterpretation
(bzgl. Mk 5,21-43)
Wie bereits herausgestellt, werden bei der historisch-kritischen Methode im Vergleich zu
Eugen Drewermanns Vorgehensweise grundverschiedene Akzente bei der Wunderexegese
gesetzt.
Bei der Exegese der Heilungsgeschichte der blutflüssigen Frau und der Tochter des Jairus
wird die Aufmerksamkeit zunächst auf die Rekonstruktion der mutmaßlichen
Entstehungsgeschichte der Perikope gelegt. Die beiden Geschichten gehörten nicht schon
immer zusammen, sondern waren ursprünglich unabhängig voneinander. Dies wird
deutlich, da die Menschenansammlung in der Geschichte des Jairus, im Gegensatz zur
Heilungsgeschichte der blutflüssigen Frau, nicht notwendig ist. Es entsteht der Eindruck,
dass Jesus während des hastigen Fußmarsches von der Frau berührt wird, doch nach
Meinung der historisch-kritischen Interpreten wäre die versteckte Berührung in einer
ruhigen Situation eher angebracht gewesen.
Im weiteren Vorgehen der historisch-kritischen Exegese wird im Sinne einer Literarkritik
die Frage gestellt, ob „Markus oder ein vormarkinischer Redaktor“79 die beiden
Geschichten verknüpft hat. Es finden sich in den Geschichten einige Details, die für
typische Merkmale des Schreibstils eines vormarkinischen Erzählers gehalten werden, wie
z.B. „Motive des Niederfallens des Bittstellers, der Furcht, des Glaubens, die
Ausführlichkeit, die Tatsache, dass beide Male weibliche Wesen Hilfe erfahren und die
Zahl Zwölf eine Rolle spielt.“ 80 Doch diese Gemeinsamkeiten sind, der historischkritischen Exegese zufolge, Motive, die in den meisten Wundergeschichten vorkommen
und somit einfach zur deren Form gehören. Damit ergibt sich Schlussfolgerung, dass der
Evangelist selbst die Geschichten verknüpft hat, was z.B. dadurch belegt wird, dass Mk
78
79
80
Mk 5,40
Gnilka, EKK, II/1, S. 209
a.a.O., S. 210
22
5,21 stilistisch absolut markinisch ist und sich auf vorhergehende Verse (Mk 5,1 f.18; 4,1)
bezieht.
Mit Hilfe eines synoptischen Vergleichs wird außerdem die Frage untersucht, ob die
Jairusgeschichte eine vormarkinische Entwicklung durchgemacht hat. Es lässt sich jedoch
keine literarische Abhängigkeit des Textes nachweisen.
Darüber hinaus liegt die Konzentration bei der historisch-kritischen Analyse noch auf
vielen anderen Aspekten. Es wird z.B. die Satz- und Erzählstruktur der Perikope, die
verwendete Grammatik, deren Wirkung und außerdem die Intention des Autors ermittelt.
Zusätzlich beurteilen die Exegeten die beiden Geschichten auch historisch und bezeichnen
sie in dem Sinne als ein „instruktives Beispiel für geschichtliche Erinnerung“81. Da die
„Erzählform bis in Details hinein vorgeprägten Strukturen und Motiven entspricht“82, wird
vermutet „daß beide Geschichten nicht konkrete Erinnerungen aufbewahren, sondern die
allgemeine Erinnerung an Jesu Wundertätigkeit konkretisieren.“83 Es wird zwar als
Prämisse der Geschichten angenommen, dass Jesu Wunder vollbracht hat, doch die
Exegeten fragen sich trotzdem: „Hat Jesus Tote auferweckt?“ 84 Ihre Antwort lautet, dass
man dies nicht dementieren darf, „nur weil man heute so etwas nicht für möglich hält“85.
Gemäß der historisch-kritischen Exegese besitzt die Perikope heute noch einen
theologischen Wert, da „Jesus als der Gekreuzigte und als erster von Gott vom Tod zum
Leben Auferweckte das Tor zum Leben ist.“ 86
Letztendlich ist zu erwähnen, dass diese Art der Wunderexegese zwar betont, dass „das
theologische Anliegen der Doppelperikope der auf Christus gerichtete Glaube ist“87,
jedoch konzentriert sie sich ausschließlich auf das äußere Geschehen und die historischen
Tatsachen der Wundergeschichten. Die Bedeutung des Wunders wird darauf beschränkt,
den Nimbus Jesu als Wundertäter, der das menschliche Leid überwindet, aufzuzeigen.
81
82
83
84
85
86
87
Gnilka, EKK, II/1, S. 218
a.a.O., S. 219
a.a.O., S. 219
a.a.O., S. 219
zitiert nach: Gnilka, EKK, II/1, S. 219
Gnilka, EKK, II/1, S. 219
a.a.O., S. 221
23
4.5. Wunderdeutung Drewermanns (bzgl. Mk 5,21-43)
(vgl. im Folgenden: Drewermann, Tiefenpsychologie u. Exegese, Band II, S.
279-310)
4.5.1. Von Alter und Jugend im Leben von Frauen
Drewermann übt in seinem Werk „Tiefenpsychologie und Exegese“ konkrete Kritik an der
historisch-kritischen Analyse der Geschichte von der Heilung der blutflüssigen Frau und
der Tochter des Jairus. Er vertritt die Ansicht, dass die Bedeutung dieser Wundererzählung
nur zu erfassen ist, wenn man sich von der historisch-kritischen Frage nach dem
äußerlichen Arrangement der Perikope, distanziert. Im Grunde genommen ist es nur
signifikant, sich auf den Gehalt und nicht auf die historischen Fakten der Geschichte zu
konzentrieren.
Allein die Tatsache, dass die Erzählung von zwei Frauen handelt, bei denen die Zahl zwölf
eine große Rolle spielt, kann laut Drewermann schon die Bedeutung der Geschichte
verständlich machen. Er interpretiert die Situation der Frauen hinsichtlich ihres Leids als
Frauen in Israel leben zu müssen. Während die eine bereits seit zwölf Jahren unter ihrem
Dasein als Frau leidet, will die andere im Alter von zwölf Jahren aus Angst vor diesem
Dasein nicht mehr weiterleben. Für Drewermann spielt daher die Frage, „wie es möglich
ist, als Frau zu leben bzw. sich mit der Rolle als Frau positiv zu identifizieren“88, eine
zentrale Rolle.
Zwischen der blutflüssige Frau und der Tochter des Jairus besteht eine Verbindung, die im
Verlauf der Erzählung immer deutlicher wird. So stellt Drewermann die verschiedenen
Umstände und Aspekte der Frauen gegenüber und erkennt folgende „umgekehrt
symmetrische Zuordnung“ in ihnen. Die blutflüssige Frau versucht seit Jahren alles
Mögliche, um gesund zu werden, während die Tochter des Jairus sich keineswegs um ihre
Heilung bemüht. Im Gegensatz zur blutflüssigen Frau, die Jesus aktiv aufsucht, um
Heilung zu erfahren, wird Jesus zur Tochter des Jairus gerufen. Ein weiterer Unterschied
besteht darin, dass Jesus den Anwesenden untersagt über die Heilung der Tochter des
Jairus zu sprechen, während die Frau ihre Heilung öffentlich bekannt geben muss. Im
88
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 280
24
Gegensatz dazu stellt die Tatsache, dass beide Heilungen im Geheimen vollbracht und der
„Öffentlichkeit erst post festum mitgeteilt“ 89 werden eine Übereinstimmung dar.
Diese Zusammenhänge, die darauf hinweisen, dass das Leben der beiden Frauen als
„innerlich zusammengehörig zu betrachten“90 ist, nimmt Drewermann als Voraussetzung
für die Auslegung des Wunders. Die beiden Heilungen sind als Gegenstücke zu sehen, die
ergänzt die gleiche Frage aufwerfen: „wie man als Frau inmitten einer Gesellschaft von
Männern leben und ein gewisses Maß an Glück und Gesundheit finden kann.“91
4.5.2. Die blutflüssige Frau
Drewermann entsprechend ist bei der Wunderinterpretation zu beachten, dass die
betroffenen Personen in den kritischen und entscheidenden Situationen in denen sie sich
befinden, ganz nach ihrem Wesen handeln und reagieren. Dies wiederum erfordert, sich so
gut wie möglich in die Lage der Betroffenen hineinzuversetzen, um jeden Augenblick zu
durchschauen und nachvollziehen zu können. Darüber hinaus ist auch hier von zentraler
Bedeutung, die zuvor erwähnte Verdichtungsregel im Hinterkopf zu behalten, da die
Geschichten eine „Verdichtung von Konflikten und Lösungswegen“92 sind, „die gerade so
(...) ihre bleibende gültige Wahrheit erfahren“93.
Betrachtet man die Situation der blutflüssigen Frau zunächst oberflächlich, kann man ihre
Krankheit als Abnormität der weiblichen Menstruation identifizieren. Diese Dysregulation
ist häufig auf psychische Ursachen zurückzuführen. Nach Drewermann ist es von großer
Bedeutung herauszufinden, welche Ängste diese Krankheit bedingen und was dadurch
über das Leben der Frau ausgesagt wird. Man muss also in Erfahrung bringen, „welch ein
Schicksal sich in einer bestimmten Krankheit bis in die Physis hinein manifestiert.“ 94
Genauso wichtig ist es sich in den Kranken hineinzufühlen und seine Krankheit als
individuell anzusehen. Denn letzten Endes strebt jeder dieser kranken Menschen nach
Liebe und nicht vordergründig nach physischem Wohlbefinden. Die Geschichte der
blutflüssigen Frau liefert ein gutes Beispiel dafür, diese Erkenntnisse Drewermanns zu
veranschaulichen.
89
90
91
92
93
94
a.a.O., S. 280
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 280
a.a.O., S. 280
a.a.O., S. 281
a.a.O., S. 281
a.a.O., S. 282
25
Die folgende Beschreibung in Lev 15,25-27 lässt nachfühlen, wie diese Frau durch ihre
zwölfjährige Leidensgeschichte beeinträchtigt ist:
„Wenn ein Weib Blutfluß lange Zeit hindurch hat, nicht zur Zeit ihres
Monatsflusses, oder über die Zeit ihres Monatsflusses hinaus, so ist sie während
der ganzen Zeit ihres unreinen Flusses unrein, wie in den Tagen ihres
Monatsflusses.(...) jedes Gerät, auf dem sie sitzt, wird unrein, (...). Und wer dieses
Dinge berührt, der wird unrein, und er soll seine Kleider waschen und sich in
Wasser baden, und er ist unrein bis zum Abend.“95
Nach Drewermann ist es offensichtlich, dass eine Frau, die sich diesem Gesetz unterwerfen
muss, zu einer ausgestoßenen, verachteten Person wird, die als Außenseiter ohne
Berührung, Liebe und Kontakt zu anderen lebt.
Psychoanalytisch betrachtet hat diese ungewöhnliche Krankheit ihren Ursprung meist in
einem diffizilen Vater-Tochter Verhältnis, in dem die Tochter sowohl Liebe als auch Angst
gegenüber ihrem Vater empfindet, wobei meist noch eine psychische Desillusionierung in
einer Liebesbeziehung zu dieser Krankheit beitragen kann.
In Bezug auf die blutflüssige Frau spricht Drewermann von einer „hysterischen
Ambivalenz“96. Es handelt sich hierbei um das widersprüchliche Phänomen, das bei den
meisten psychosomatischen Leiden zum Vorschein kommt, insofern, dass der Erkrankte
seine Krankheit sowohl beklagt als auch gleichzeitig ohne sie nicht zurecht kommt.
Die häufigen Arztbesuche der blutflüssigen Frau interpretiert Drewermann als deren
einzige Kontaktmöglichkeit zu anderen Menschen. Ihre Krankheit ist ein Symbol für die
„Erfahrung, die sie bei den Ärzten immer wieder macht (...): sie muß angeben, abgeben,
hergeben, hingeben, vergeben, aufgeben, bis alle anderen immer reicher, sie aber immer
ärmer, einsamer und hinfälliger wird.“ 97
Als die Frau erfuhr, dass Jesus in die Stadt kommt, muss in ihr eine Hoffnung gewachsen
sein, die sie zum Gesetzesbruch bewegte und ihre Scheu vor anderen Menschen
überwinden ließ. Im Vertrauen auf Jesus lässt sie sich auch nicht von der großen
Menschenmenge, die sie sonst unter allen Umständen meidet, von ihrem Vorhaben
abbringen. Da sie trotzdem unsicher und ängstlich ist, macht sie sich das Gedränge zu
nutze und berührt Jesus heimlich von hinten an seinem Gewand. Obwohl Jesus in dem
Tumult wohl ständig gestreift oder angefasst wird, bemerkt er die Berührung der Frau
sofort, da diese so viel zärtlicher und vorsichtiger ist als alle anderen. In der Berührung der
95
96
97
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 282 f.
a.a.O., S. 283
a.a.O., S. 286
26
beiden kommt es, Drewermann zufolge, zu einer „äußersten Verdichtung seelischer
Intensität“98. Die Frau fühlt sich nicht mehr verstoßen oder unrein, weil ihr von Jesus
soviel Herzlichkeit und Anteilname entgegengebracht wird. Denn im Moment der
Berührung „dringt in den Glauben, der ihre Hand bewegt, und in das Vertrauen, das ihre
Finger nach dem Saum des Gewandes greifen lässt, gänzlich die Kraft des Herrn ein“99.
Drewermann stellt nun die Frage, ob eine einzige Berührung wirklich so viel Wirkung
hervorrufen kann und kommt zu dem Fazit, dass dies dann stattfindet, wenn Berührungen
genügend liebvoll und „rein genug sind, einem Menschen das Gefühl für seine
ursprüngliche Unschuld zurückzugeben.“100
4.5.3. Die offene Bejahung
Nach der These Drewermanns ist die Heilung erst dann vollkommen, wenn die Berührung,
mit dem Wort Jesu in Verbindung steht. So diskutiert er zunächst die Wirkung der Frage
Jesu: „Wer hat meine Kleider angerührt?“101 Obwohl die Frage auf den ersten Blick den
Eindruck erweckt, als ob Jesus über die Berührung verärgert wäre, ist sie eher ein
Ausdruck der Verwunderung, da die Berührung so ungewöhnlich im Vergleich zu allen
anderen ist. Gleichzeitig möchte Jesus mit dieser Frage ein Vertrauensverhältnis aufbauen,
in dem sich die ihm unbekannte Person wagt zu offenbaren. In seinem Sinne bedeutet die
Frage eher: „Du brauchst Dich doch nicht zu ängstigen, wenn Du meine Nähe suchst“102,
oder auch, „Du brauchst Dich doch nicht zu schämen, wenn Du meine Hilfe benötigst.“ 103
Da die Frau sich nach dieser langen Zeit der Krankheit aber selbst schon für unrein hält,
hat sie ihre Tat im Geheimen vollzogen. Auf die Frage Jesu kommt sie völlig verängstigt
zu ihm, mit der Befürchtung, er würde ihre Heilung wieder rückgängig machen wollen.
Doch wider ihre Erwartung und gegen das Gesetz teilt er der Frau mit, dass sie nun erlöst
sei, denn Jesu ist nichts wichtiger, als einem leidenden Menschen zu helfen. So macht er
der Frau bewusst, dass weder ihre Tat noch ihr Schicksal als Frau zu leben etwas
Verachtenswertes ist. Durch die Anrede mit „«meine Tochter»“ 104 und dadurch, dass er ihr
mit Liebe und Zuversicht begegnet, nimmt er die Rolle ein, die ihr Vater hätte
98
99
100
101
102
103
104
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 290
a.a.O., S. 290
a.a.O., S. 290
zitiert nach: Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 290
zitiert nach: Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 291
zitiert nach: Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 291
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 293
27
wahrnehmen müssen. Drewermann vermutet, dass dieser seiner Tochter immer nur
Verständnislosigkeit, Brutalität und Gefühllosigkeit entgegengebracht hat und somit der
Auslöser ihrer Krankheit war. Jesus nimmt ihr durch seine Zuwendung die dadurch
hervorgerufenen „Ängste, die Zerstörung, die Minderwertigkeitsgefühle“ 105 und befreit sie
somit von ihrem Leiden, eine Frau zu sein und als Frau zu leben.
Mit dieser Wunderinterpretation lässt Drewermann die wahre Intention der Erzählung zum
Vorschein kommen, nämlich die Vermittlung von Humanität, Hilfsbereitschaft,
Gutherzigkeit und Einfühlungsvermögen. Zudem soll sie bewusst machen, dass es
ausschließlich „menschliches Vertrauen der Liebe gegen die Angst [ist], das solche
Wunder göttlicher Heilung bewirkt“ 106 und dieses Vertrauen keinesfalls „als einen
«Glauben an die Messianität» Jesu“107 ausgelegt werden darf.
4.5.4. Des Vaters armes Töchterlein
Ungeduldig und verärgert über den für ihn bedeutungslosen Zwischenfall drängt Jairus, der
Synagogenvorsteher zur Eile, da seine Tochter im Sterben liegt. Nach Meinung
Drewermanns ist dieser Vorfall, der Jairus überflüssig erscheint, für die Heilung der
Tochter allerdings unbedingt erforderlich, da die beiden Frauen enger in Verbindung
stehen, als es im ersten Moment sichtbar wird. Drewermann interpretiert die beiden als
eine Person, da sie sowohl seelisch als auch literarisch „ineinander «verschachtelt»“ 108
sind. Nach seiner Ansicht soll die Tochter des Jairus die blutflüssige Frau im Kindesalter
darstellen, während die Frau für die diese ein abschreckendes Zukunftsbild verkörpert. Da
die Schilderung von der Tochter des Jairus kaum Hintergrundinformationen enthält, legt
Drewermann bei der Wunderinterpretation größten Wert auf die Berücksichtigung dieser
korrelativen und innerlichen Zusammenhörigkeit der beiden Figuren, sowie auf den
vermittelten Gefühlseindruck.
Auf dem Hintergrund dieser bestehenden Verbindung der beiden Frauen deutet
Drewermann die Heilungsgeschichte der Tochter des Jairus folgendermaßen:
Die zwölfjährige Tochter des Jairus fürchtet sich das Leben einer Frau zu führen bzw.
dieses Leben zu beginnen, da bei den Rabbinen mit diesem Alter die Jugend eines
105
106
107
108
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 293
a.a.O., S. 293
a.a.O., S. 292
a.a.O., S. 295
28
Mädchens beendet war. Ab diesem Zeitpunkt wurde es als heiratsfähig und somit als Frau
bezeichnet. Drewermann bezeichnet dies als immensen „Einschnitt und Wechsel im Leben
eines Mädchens“109 oder auch, als „Tod der Kindheit!“ 110
Die Aussage dieser Wundergeschichte ist, Drewermann zufolge, dass die Angst des
Mädchens allein durch die Liebe bewältigt werden kann. Die Angst deutet er wiederum als
Auslöser einer psychosomatischen Erkrankung, in diesem Fall eines „hypnoiden
Zustandes“ 111. Allerdings betont er, dass diese Diagnose nicht entscheidend für die
Betrachtungsweise der Geschichte ist, denn hier spielt die Synopse aller Aspekte eine
gewichtigere Rolle.
Aus der Tatsache, dass das Mädchen eigentlich schon eine Frau ist, aber immer nur als die
„«Tochter des Jairus»“ 112 bezeichnet wird, kann man schließen, dass dieses Mädchen
„nichts als das Spiegelbild der Wünsche und der Eigenarten ihres Vater, ein Wesen ohne
eigenen Willen (...) eben nur die «Tochter des Jairus»“113 ist. Für das bessere Verständnis
schildert Drewermann zunächst einmal die psychische Situation, in der sich das Kind eines
Synagogenvorstehers damals befand. Jenes musste ein Idealbild von Moral darstellen und
durfte sich kein Missgeschick oder Ungehorsam leisten, da sich dieses Verhalten auf das
hohe Ansehen des Vaters auswirken konnte. Für Drewermann kommt auch in der
Titulierung „Töchterlein“, welche der Vater seiner Tochter in der Erzählung gibt, dessen
Haltung gegenüber dem Kind zum Ausdruck: „für ihn ist sie nach wie vor das (...) brave
Ding, sein Ein und Alles, sein Stolz und seine Freude.“ 114 Nach dieser Feststellung ist es
offensichtlich, dass ein so umsorgtes Kind, das behütet seine Kindheit verbringt, sich davor
fürchtet selbstständig und frei zu werden, da es unentwegt Sorge trägt, Fehler begehen zu
können. Die Unabhängigkeit einer erwachsenen Frau überfordert es vollkommen und
deshalb besteht für dieses Kind kaum die Möglichkeit sich von der Fürsorglichkeit des
Vaters loszureißen. Drewermann macht auf diese Weise deutlich, dass „damit das
Todesurteil über eine Entwicklung gesprochen [ist], die in lauter Verantwortung und
Fürsorge erstickt zu werden droht, kaum, dass sie beginnen könnte.“115 Denn das Mädchen
sieht im Tod, die einzige Möglichkeit vor dem Vater zu fliehen, der ihr die Luft zum
Atmen nimmt. Infolge dieser angeführten Gründe, ist Drewermann der Meinung, dass das
Mädchen vermutlich an einer psychosomatischen Erkrankung, einer so genannten
109
110
111
112
113
114
115
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 296
a.a.O., S. 296
a.a.O., S. 297
a.a.O., S. 297
a.a.O., S. 297
a.a.O., S. 298
a.a.O., S. 299
29
hypnoiden Starre, leidet. Dabei handelt es sich nicht nur um ein flüchtiges Symptom,
sondern um eine ausgeprägte Vagotonie, „wie sie in Situationen der Ausweglosigkeit von
der Natur“116 vorgesehen ist. Dies ist ein „Zustand des vegetativen Nervensystems, bei
dem das Gleichgewicht zwischen Sympathikus und Parasympathikus in Richtung des
Parasympathikus verschoben ist. Daraus ergibt sich ein klinisches Syndrom mit niedrigem
Blutdruck, langsamem Puls, engen Pupillen und oft kalten Händen und Füßen sowie
gelegentlich Antriebslosigkeit.“ 117 Drewermann beschreibt den psychischen Widerstand
gegen die Entwicklung des eigenen Körpers zur Frau, sowie „geheime(r) Todeswünsche
und -sehnsüchte“ 118 als Auslöser für diese plötzliche Verfassung des Kindes. Aus diesem
Grund muss „eigentlich ein Mädchen gerettet werden (...), das den Tod förmlich
herbeisehnt (...), um sich die «Reinheit» der Kindertage zu bewahren.“119
Letztendlich geht Drewermann auf das Verbot Jesu ein, das immer wieder im
Markusevangelium nach einer Heilung auftaucht, und die Anwesenden dazu anleitet, kein
Wort über die Wunderheilungen zu verlieren. Er ist der Meinung, dass das
„Schweigegebot“120 in Bezug auf dieses Wunder eine unerlässliche Konsequenz darstellt,
da eine Abhängigkeit des Glaubens von der Beurteilung der Masse auf ein autonomes
Leben nur eine verhängnisvolle Wirkung hätte. Was bedeuten würde, andauernd die Frage
danach zu stellen: „was die anderen sagen, was die anderen tun, was die anderen
wollen“121. Deswegen will Jesus auch keine Bestätigung und kein Urteil der Menge, da
dies ein Risiko für die geheilte Person darstellen würde.
Dementsprechend kommt Drewermann zu einem dezisiven Fazit der „«Verkündigung»“ 122
dieser Wundergeschichte:
„man gelangt zum Glauben und zum Leben nur durch einen anderen Menschen,
dessen Hände und Worte uns so berühren, dass sie die Seele zu erwecken und dem
Dasein seine ursprüngliche Reinheit zurückzugeben vermögen. Die Menge aber,
(...), ist etwas gänzlich anderes; sie können Leben nicht begründen, sondern nur
ersticken, und wenn der Glaube Macht hat, so zeigt er sich gerade darin, von dem
Urteil anderer in alle Zeiten unabhängig zu werden.“123
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121
122
123
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 300
http://de.wikipedia.org/wiki/Vagotonie
Drewermann, Tiefenpsychologie und E. II, S. 300
a.a.O., S. 301
a.a.O., S. 308
a.a.O., S. 308
a.a.O., S. 309
a.a.O., S.309
30
5. Konklusion
Nach der Auseinandersetzung mit der Person und dem hermeneutischen Ansatz Eugen
Drewermanns, ergibt sich folgendes Fazit. Nach ausgiebiger Lektüre hinterlässt Eugen
Drewermann als Person einen bleibenden Eindruck. Das immense Wissen sowie seine
eindrucksvollen und anschauliche Sprache kommen in seinen Werken deutlich zum
Vorschein und rufen eine gewisse Faszination hervor. Darüber hinaus bietet sein Vorgehen
bei der Bibelexegese meiner Meinung nach eine adäquate Alternative zur historischkritischen Exegese. Im Vergleich zu dieser Methode geht er bei seinen Interpretationen
direkt auf die Gefühle und die Psyche des Menschen ein, spricht ihn also konkret an und
erreicht damit eine Empathie. Diese Interpretation bietet viel mehr als das Vorlegen
historischer Fakten. Nach meiner Auffassung hat sein Wunderverständnis besonderen
Respekt verdient, genauso wie seine Betrachtungsweise gegenüber der Person Jesu Christi.
Er stellt die heilende Kraft des Wunders, ausgelöst durch die Liebe und Zuwendung Jesu
und
das
daraus
entstehende
Vertrauensverhältnis
in
den
Mittelpunkt
seiner
Wunderexegese. Außerdem erklärt er das Geschehen der Heilung sehr überzeugend und
logisch durch den Bezug zu psychosomatischen Erkrankungen. Er fasst das Wunder nicht
als etwas Übernatürliches auf, sondern als Auswirkung des Vertrauens der Menschen
gegenüber der Person Jesu. Im Gegensatz zur Glaubenslehre der christlichen Kirchen, sieht
Drewermann in Jesus nicht den Sohn Gottes und keinen „übermächtigen Alleskönner“124.
Für ihn ist er ein Mensch, dessen Handeln durch das Vertrauen, das er in den Menschen
hervorruft und ihnen entgegenbringt, göttlich zu sein scheint. Drewermann erreicht mit
seinem hermeneutischen Ansatz, dass die Menschen die biblischen Aussagen
nachvollziehen, auf ihr eigenes Leben übertragen und ihre individuelle Essenz aus ihnen
ziehen können.
124
Sudbrack, Eugen Drewermann, S.101
31
Literaturverzeichnis
Bibel:
Gute Nachricht. Altes und Neues Testament. Ohne die
Spätschriften des alten Testaments (Deuterokanonische
Schriften / Apokryphen), Stuttgart 1997
Drewermann, Eugen:
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Märchen, Sagen und Legenden, Olten (Walter-Verlag) 1984
Drewermann, Eugen:
Tiefenpsychologie und Exegese Band II. Wunder, Vision,
Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis, Olten
(Walter-Verlag) 1985
Drewermann, Eugen:
Und legte ihnen die Hände auf. Predigten über die Wunder
Jesu, Hrsg. Marz, M., Düsseldorf (Patmos Verlag) 1993
Gnilka, Joachim:
Das Evangelium nach Markus, in: Evangelisch-katholischer
Kommentar zum neuen Testament Bd. II/1,Solothurn und
Düsseldorf 19944
Fehrenbach, Gregor:
Drewermann verstehen. Eine kritische Hinführung, Olten
(Walter-Verlag) 1991
Sudbrack, Josef:
Eugen
Drewermann
-
um
die
Menschlichkeit
des
Christentums, Würzburg (Echter Verlag) 19923
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http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/11/0,1872,2053579,00.html; aufgerufen am 23.01.2007