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„…bizarr, wie chinesisch“
Falsche Töne? Falsches Hören? Falsche Ausgaben?
Peter Revers
Falsche Töne?
In seinen 1922 veröffentlichten Erinnerungen aus meinem Leben berichtet der österreichische Komponist Karl Goldmark über eine Szene, die wir heute reichlich komisch
oder gar absurd fänden, die uns aber direkt in die Thematik dieses Symposiums
führt. Es handelt sich um einen Besuch, den Brahms und Goldmark am 26. August
1882 dem befreundeten Gynäkologen Rudolf Chrobak in Grundlsee (Steiermark) abgestattet haben:1
„Andern Morgens forderte Brahms mich auf, mit nach Grundlsee zu gehen, vielleicht dort die ihm befreundete Familie des Dr. Chrobak zu besuchen. […] Wir kamen
zur Villa der genannten Familie, alle Türen in der schönen Morgensonne standen offen, kein Mensch zu sehen. Wir treten direkt ins Musikzimmer, das Klavier ist offen,
auf dem Pulte liegt das erste Heft der ‚Schule der Geläufigkeit‘ von Czerny. Brahms
setzt sich ans Klavier, spielt die erste Skalenreihe voller Fehler, falscher Noten, stolpernd, stockend, diese Note dreimal anschlagend, im nächsten Takte stecken bleibend. Da ruft eine Stimme (Mama) aus dem Nebenzimmer: ‚Aber Franzi, was machst
du denn? Langsamer!‘ Brahms spielt schneller und hudelt und schmiert noch ärger.
‚Aber Franzi, du hudelst ja entsetzlich. Warum denn fis? F, f! Langsamer!‘ Brahms
treibt’s immer fürchterlicher. ‚Nein, das ist ja nicht auszuhalten, du hast es schon so
gut gespielt – das ist Mutwille!‘ Die Türe wird aufgerissen und wütend stürzt Mama
herein. Tableau! – Allgemeines Gelächter.“2
Wir wissen natürlich nicht, in welchem Maße Brahms sich hierbei einen Spaß gemacht hat, Czernys Klavierschule einen ironischen Seitenhieb zu verpassen: er als
„unbegabter“ Klavierschüler, der sich mit dem Skalenspiel quält, offenbar den Takt
nicht halten kann und jeden Verbesserungsvorschlag mit noch schlechterem Spiel beantwortet. Erfrischend ist vor allem, auf welche Weise die Fehler eine „Szenerie“ in
Gang setzen, in der überdeutlich wird, wie unser Hören und unsere Reaktion auf „falsche Noten“ geprägt ist von expliziten Erwartungshaltungen wie richtiges (nämlich
langsames) Üben und präzise Ausführung des Notentextes, selbst bei einigen wenigen Takten, die nicht mehr als eine rein klaviertechnische Studie sind. Brahms hinge189
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gen hat sich offenbar einen Spaß erlaubt und mit diesen wenigen Takten eine Karikatur lustlosen Übens unbegabter Klavieradepten geboten.
Die geschilderte Episode wirft andererseits Licht auf die „Kontextbezogenheit“
dessen, was wir als Fehler zu erkennen glauben. Im Fall von Czerny ist es eine einfache, interpretatorischen Spielraum kaum ermöglichende spieltechnische Übung,
bei der jegliche (auch geringfügige) Abweichung vom Notentext als fehlerhaft aufgefasst werden kann. Charakterisiert man Fehler – wie dies jüngst Wolfgang Gratzer getan hat – als „unerwünschte Abweichung von einem erwünschten Zustand“,3 so wird
deutlich, dass unsere Vorstellung des idealen (erwünschten) Zustands einer Interpretation eine erhebliche Rolle in unserem ästhetischen Referenzrahmen spielt. Bei Czerny
mag dies vermutlich wenig von Belang sein, da der erwünschte Zustand kaum mehr
als die akkurate Umsetzung des Notentextes sein dürfte. Anders verhält es sich freilich dort, wo der Rahmen der möglichen ästhetischen Diskrepanz zwischen Erwartungshaltung und einer dieser widersprechenden kompositorischen Textur oder auch
Interpretation deutlich komplexer angelegt ist.
In Giovanni Artusis Kritik an Monteverdis Madrigalen, festgehalten in seiner Abhandlung L’Artusi overo delle imperfettioni della moderna musica, parte seconda
(Venedig 1603), wird exemplarisch deutlich, wie sich der Referenzrahmen dessen,
was noch im Bereich des ästhetisch Zulässigen liegt bzw. als fehlerhafte Abweichung
davon aufgefasst wird, innerhalb kürzester Zeit markant verändern kann. Es wäre
allerdings zu einfach, Artusi als lediglich „fundamentalistischen“ Hüter einer für alle
Zeiten festgelegten Werteordnung musiktheoretischer (und aus seiner Sicht auch
kompositorischer) Regulative abzutun. Was Artusi durchsetzen wollte, war letztlich
der Primat musiktheoretischen Denkens und Handelns vor der kompositorischen Praxis.4 Und das heißt: Die Musiktheorie gibt eine rational begründete Satzlehre vor,
innerhalb derer sich die Komposition bewegen kann. Was über diesen Rahmen hinausgeht, ist für ihn unzulässig und infolge eines fehlerhaften musikalischen Handwerks dilletantisch. Insofern brandmarkt Artusi frei einsetzende Dissonanzen (wie sie
in Monteverdis IV. und V. Madrigalbuch gehäuft vorkommen) als „castelli in aria“
(Luftschlösser), die für ihn einen nicht rechtfertigbaren Satzfehler darstellen (siehe
Notenbeispiel).
Freilich wurden diese „Fehler“ von Monteverdi bewusst und in Kenntnis der Tatsache, dass er damit gegen tradierte musiktheoretische Systeme verstößt, begangen.
Denn nur durch solche Verstöße gelang es ihm, den Fokus der Rezipienten auf eine
Ebene zu lenken, die für ihn von vorrangiger Bedeutung war: nämlich die absolute
Vorherrschaft der Textausdeutung, die – als expressives Stilmittel – fallweise die
Normen eines regelkonformen Tonsatzes außer Kraft setzen kann. Der Satzfehler als
figura, als etwas, das die übergreifende Integrität des Satz-Ganzen vorübergehend
aufbricht, um die Aufmerksamkeit auf einen bedeutsamen Augenblick des Text190
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Claudio Monteverdi: Cruda Amarilli (aus: Il quinto libro di madrigali), T. 11-14
ahi
d’a- mar,
8
las
ahi
so,
las
las
ahi
ahi
so,
las
so,
so,
geschehens zu lenken, zeigt exemplarisch, wie massiv das auf der einen Seite als
Satzfehler (Artusi), auf der anderen Seite als gerechtfertigtes Mittel der Textausdeutung aufgefasste Abweichen von der Satznorm (Monteverdi) von den jeweils zugrunde
liegenden Systemen musikalischer Grammatik abhängig ist. Ein Fehler setzt also
zuerst einmal unabdingbar ein konsistentes Bezugssystem voraus, innerhalb dessen
überhaupt etwas als Fehler aufgefasst werden kann. Dieses „Fehlerhafte“ kann auf
unterschiedlichen Ursachen basieren. Es kann Konsequenz unzureichender spieloder kompositionstechnischer Kompetenz sein, es kann aber auch – und darauf hat
Sigmund Freud in seiner Psychopathologie des Alltagslebens nachdrücklich aufmerksam gemacht – ein bedeutendes kreatives Potenzial freisetzen, nämlich nicht
weniger als die ständige Herausforderung, auf neue, unvorhergesehene Situationen
reagieren zu müssen und damit eine Dynamik permanenter Weiterentwicklung freizusetzen. Das erwähnte Bezugssystem ist freilich eng gebunden an das, was wir als Stil
bezeichnen, nämlich eine innerhalb einer bestimmten musikhistorischen Periode
konstitutive Auswahl an Möglichkeiten des „Sagens und Schreibens, die je nach dem
Zweck und Inhalt am Platze sind und ihre spezifischen Forderungen stellen“.5
Die Diskussion um „richtige“ oder „falsche“ Töne in Zusammenhang mit dem Begriff des Stils hat Niko Strobach dargestellt: „Warum braucht es den Stil für richtige
und falsche Töne? Weil gilt: Von einem Ton kann man nur relativ auf einen Stil sagen,
ob er richtig oder falsch ist. Er mag etwa für eine Harmonisierung im Stil des 19. Jahrhunderts passen, für eine im Stil des 17. Jahrhunderts nicht.“6
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Freilich ist sich Strobach der Grenzen, die die Bindung des Urteils über richtige
oder falsche Töne auf der Basis des Stils mit sich bringt, in hohem Maße bewusst.
Denn jedes einzelne Element muss sich vor der Gesamtheit der Elemente legitimieren, muss also innerhalb des jeweiligen Kontextes bestehen können, der sich aus der
Relation des Einzelelements mit dem Rest des Werks ergibt. Damit ist freilich kein
einfach bestimmbares Kriteriensystem geschaffen, das ein konsistentes Urteilen über
„richtig“ und „falsch“ problemlos ermöglicht. Wenn Strobach argumentiert: „Ein gelungenes Stück Musik besteht aus lauter richtigen Tönen und keinem falschen Ton;
und richtig sind sie, indem sie alle zusammenstimmen“,7 so erweitert dies zwar den
Fokus eines jeweils historisch bedingten und definierbaren Regelsystems. Trotzdem
erhebt sich die Frage, ob damit der Beantwortbarkeit nach der Frage „richtig“ oder
„falsch“ größerer Raum gegeben wird. Vermutlich wird man gerade an dieser Frage
mit jenem vielleicht wenig trostvollen, umso mehr aber die Grenzen des ästhetischen Urteils deutlich machenden Befund Vorlieb nehmen müssen, den Hans Georg
Gadamer am Ende seines Exkurses über Stil wie folgt zusammenfasst: „Eine stilgeschichtliche Betrachtungsweise des Geschehens vermöchte so wenig wie eine
kunstwissenschaftliche Betrachtung, die nur stilgeschichtlich denkt, der entscheidenden Bestimmung gerecht zu werden, dass in ihr etwas geschieht und sich nicht
nur verständliche Abläufe abwickeln. Es ist die Grenze der Geistesgeschichte, an die
wir hier stoßen.“8
Wenn Helmut Glück und Wolfgang Sauer in ihrer Abhandlung Gegenwartsdeutsch
darauf aufmerksam machen, dass „die Fehler von heute […] die Regeln von morgen
sein“ können,9 so wird damit deutlich, dass das, was wir als Fehler bezeichnen,
durchaus fragwürdig sein kann, indem nämlich nicht nur die Abweichung von einer
Norm, sondern auch die vorausgesetzte Norm selbst als Fehler aufgefasst werden
kann und es somit „falsch wäre, weiter daran festzuhalten“.10 Wenn wir von „Fehlern“ reden, sollten wir also stets auch die Rahmenbedingungen klarmachen, warum
wir etwas als Fehler beurteilen. Und wir sollten uns vor allem ständig bewusst sein,
dass Kunst eine zutiefst dynamische menschliche Denk- und Lebensweise ist, in der
wir jeglicher Dogmatik (das ist „richtig“ oder das ist „falsch“) zumindest mit Skepsis
gegenüberstehen sollten. Dies hat zur Folge, das eigene Denken und die gewohnten
Beurteilungskriterien vor dem Hintergrund einer sich permanent wandelnden Wirklichkeit zu beurteilen und es dieser (nach kritischer Überprüfung) anzupassen.
Die Fähigkeit, Fehler in neue und konstruktive Erfahrungen zu verwandeln, ist somit stets an eine Beweglichkeit des Denkens und Handelns gebunden, die im Gegensatz zu unreflektierter dogmatischer Verfestigung steht. Insofern erscheint Otto Neumaiers Resümee zuzutreffen, wenn er folgert: „Die Antwort auf die Frage, wer bei einem Fehler fehlt, d. h. fehl geht, lautet […]: jemand, der wider besseres Wissen bzw.
objektive Evidenz nicht bereit ist, sich geistig zu bewegen. Auch bei diesen Annah192
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men setzen wir eine Norm voraus, doch mag jeder und jede für sich überlegen, mit
welchen Folgen zu rechnen ist, wenn wir darauf verzichten.“11
Falsches Hören?
Falsche Töne, wie sie Brahms in Grundlsee gespielt hat, wie sie bei Artusi zum Ausgangspunkt massiver Kritik an Monteverdi wurden, sind unumgänglich mit der Frage
verbunden, ob unsere Einschätzung von Fehlern nicht unter Umständen auch Konsequenz eines falschen Hörens sein kann (oder sagen wir es etwas pointierter: eines
Hörens, das den jeweiligen kompositorischen Herausforderungen nicht – oder noch
nicht – gewachsen ist): Beispielhaft zeigt sich dies in einer 1826 in der Allgemeinen
musikalischen Zeitung erschienenen Rezension von Beethovens B-Dur-Quartett op.
130 (mit der Großen Fuge op. 133). Während die Sätze 1, 3 und 5 als „ernst, düster,
mystisch, wohl auch mitunter bizarr, schroff und capriciös“ beurteilt wurden, heißt es
über die Sätze 2 und 4, sie seien „voll von Muthwillen, Frohsinn und Schalkhaftigkeit“. Zunächst gänzlich unverstanden blieb allerdings der Schlusssatz:
„Aber den Sinn des fugirten Finale wagt Ref. nicht zu deuten: für ihn war es unverständlich, wie Chinesisch. Wenn die Instrumente in den Regionen des Süd- und
Nordpols mit ungeheurn Schwierigkeiten zu kämpfen haben, wenn jedes derselben
anders figurirt und sie sich per transitum irregularem unter einer Unzahl von Dissonanzen durchkreuzen, wenn die Spieler, gegen sich selbst misstrauisch, wohl auch
nicht ganz rein greifen, freylich, dann ist die babylonische Verwirrung fertig. […] Doch
wollen wir damit nicht voreilig absprechen: vielleicht kommt noch die Zeit, wo das,
was uns beym ersten Blicke trüb und verworren erschien, klar und in wohlgefälligen
Formen erkannt wird.“ ( AmZ 1826, Sp. 310f.)
Die anonyme Rezension macht deutlich, welch ungeheure Herausforderung dieses
Werk für die zeitgenössischen Rezipienten bedeutete. „Fehlerhafte“ (nicht regelkonforme) Stimmführungen („per transitum irregularem“) und eventuelle Fehlintonationen
seitens der Interpreten werden allerdings, und das macht das besondere dieser Wertung aus, durchaus als zeitbedingt und möglicherweise in Zukunft differenziert zu bewertende Merkmale beschrieben. Das, was als Fehler erscheint, ist also möglicherweise nur für die Gegenwartsperspektive relevant, oder anders gesagt: Mit der
Weiterentwicklung des musikalischen Hörens relativieren sich vermutlich auch Fehler.
Können wir daher überhaupt von einem „falschen Hören“ sprechen? Oder müssen wir
nicht radikal das Hören im Kontext einer geschichtlichen Perspektive ins Blickfeld
nehmen?
Eine „Geschichte des musikalischen Hörens“, innerhalb derer auch die Frage
nach der Adäquatheit des Wahrgenommenen und der darauf basierenden Wertungs193
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kriterien eine wesentliche Rolle spielt, ist bislang allenfalls in Ansätzen erkennbar. Eine
solche Fragestellung könnte aber einiges Licht auf das Phänomen „Fehler“ werfen.
Vor allem würde dessen unabdingbare Bindung an einen jeweils spezifischen Kontext
von musikalischen Erwartungshaltungen evident werden. „Falsches Hören“ wäre
demnach entweder nur in einer rein retrospektiven Sicht und einer veränderten Zugangsweise des musikalischen Hörens möglich oder man müsste ein normatives (und
letztlich auch ahistorisches Hören) voraussetzen. Letzteres hat man durchaus getan
und zwar bis weit in das 20. Jahrhundert hinein: Für Adorno etwa war die Folge der
Laute (in der Musik) der Logik verwandt und es gab somit Kriterien für „richtig“ und
„falsch“. Und in der Tat ist ein mögliches „falsches Hören“ und – eng damit verbunden – das Konstatieren von „falschen Tönen“ an derartige ästhetische Implikationen
gebunden. Dabei wird wesentlich sein, wie flexibel die entsprechenden ästhetischen
Konstrukte für Veränderungen sind bzw. wie groß die Bereitschaft ist, ästhetische
Wertungssysteme zu relativieren und sie letztlich dem Gang der geschichtlichen
Entwicklung anheimzustellen. Letzteres tat der Rezensent der Allgemeinen musikalischen Zeitung.
Nun könnte man vermuten, dass es ein „falsches Hören“ vielleicht gar nicht gibt,
sondern nur unterschiedliche Grade von ästhetischen Vorurteilen, die eine Annäherung an die Intentionen der Komponisten erleichtern oder erschweren. Dies mag auch
weitgehend zutreffen. Prekär wird es freilich, wenn die an eine Komposition angelegten ästhetischen, musiktheoretischen und Hörvoraussetzungen den Notentext selbst
wesentlich verändern. Gerade dies allerdings ist in der Musikgeschichte des Öfteren
geschehen. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür beschreibt Hector Berlioz in seinen
Memoiren, und zwar Bezug nehmend auf Eingriffe, die der französische Musiktheoretiker François-Joseph Fétis an Beethoven-Symphonien vorgenommen hat (vgl. Notenbeispiel):
„Eine meiner Haupteinnahmequellen vor der Abreise nach Italien [1833] war das
Korrekturlesen von Druckbögen für den Verleger Troupenas gewesen. Dabei gerieten
mir auch die Partituren Beethovenscher Symphonien, herausgegeben von besagtem
Fétis, in die Hände, versehen mit den frechsten Änderungen, die die Absichten des
Komponisten völlig verzerrten, und mit noch unverschämteren Anmerkungen des
Herausgebers verziert. Alles, was von Beethovens Harmonien nicht in den Rahmen
der von Fétis gelehrten Theorien hineinpasste, war mit unglaublicher Dreistigkeit geändert. Beim gehaltenen Es der Klarinette über dem Akkord Des-F-B im Andante der
Fünften hatte Fétis in aller Unschuld an den Rand der Partitur geschrieben. ,Dieses Es
ist offenbar ein F; Beethoven kann unmöglich einen solch groben Fehler gemacht haben.‘ […] folglich hatte der Herausgeber ein banales F an die Stelle des markanteren,
dissonierenden Es gesetzt, das sich erst später über E und F auflöst, und so die großartige Wirkung dieser chromatischen Stelle zerstört.“12
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Ludwig van Beethoven: 5. Symphonie, 2. Satz (Andante con moto), T. 50-56
Auf frappante Weise wird hier deutlich, wie die Annahme „falscher Noten“, ein –
im Kontext von Beethovens Notentext – offensichtlich „falsches Hören“ letztlich in eine
„falsche Ausgabe“ mündet. Dass es nicht dazu gekommen ist, kann man wohl in erster Linie auf Berlioz’ Drohung, im Falle der Publikation dieser „Verfälschungen“ einen
Skandal heraufzubeschwören, zurückführen. In vielen anderen Fällen hat sich eine
derartige Vorgangsweise – zieht man die Autorität in Betracht, die Fétis innerhalb der
französischen Musikszene hatte – vermutlich unredigiert durchgesetzt.
Dies war freilich eine Situation, die sich keineswegs auf das 19. Jahrhundert, also
eine Zeit, in der philologische Akkuratesse sich noch eher in den Anfangsstadien befunden hat, beschränkt. Noch im 20. Jahrhundert klagt der amerikanische Komponist
Charles Ives bitter über die von seinem Kopisten George Price vorgenommenen „Korrekturen“ vermeintlicher „Fehler“: „Price never made a mistake! What mistakes he
made were yours. If he thought you had put down the wrong note, he would put it
right (right or wrong), and blame you […]. Then he would get mad and want to charge
you for correcting your right notes into mistakes.“ Und geradezu legendär ist sein
prophylaktischer Eintrag in die Partiturskizze seines Orchesterstücks The Fourth of
July: „Mr. Price: Please don’t try to make things nice: All the wrong notes are right.
Just copy as I have – I want it that way“, um allerdings an anderen Stellen auch Ab195
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schreibfehler unverändert stehen zu lassen: „Ives left in an editor’s errors; they seemed to be as good an idea as anyone else’s, so why not leave them in?“13
Ives’ Bitte wurde jedoch so gut wie nicht umgesetzt, er selbst kümmerte sich wenig
um die Verbreitung seiner Werke, die Kopien waren weitaus besser lesbar als Ives’
Manuskripte und so mündete die Kausalitätskette „Falsche Töne“ ➔ „Falsches Hören“ geradezu zwingend in das Endprodukt „Falsche Ausgaben“: eine Situation, die
im Grunde bis in die 1970er Jahre gegeben war.
Falsche Ausgaben?
Der gerade 26 Jahre alt gewordene Robert Schumann muss sich vermutlich sehr darüber gefreut haben, dass exakt zu seinem Geburtstag am 8. Juni 1836 ein Inserat des
Verlags Friedrich Kistner in der Neuen Zeitschrift für Musik eine „soeben erschienene“
Sonate von „Florestan und Eusebius“ ankündigte.14 Eher peinlich berührt indessen
die Tatsache, dass Schumann bereits zwei Monate später, nämlich in einer Beilage
zur Nr. 12 der Neuen Zeitschrift für Musik eine Druckfehleranzeige beilegen musste,
die nicht weniger als 20 Korrekturen umfasste. Kistner, zu Recht verärgert über diese
Nachlässigkeit des jungen Komponisten, verlangte im Folgeheft eine diesbezügliche
Erklärung Schumanns zu publizieren, die wie folgt lautete: „Unser Hr. Verleger fürchtet, die ‚Druckfehleranzeige‘ in der letzten Beilage könne seiner Firma schaden, und
ersucht uns, nachzubemerken, dass wir die Correctur selbst gemacht. Daran liegt es
eben; Bretter haben die Componisten vor den Augen beim Durchsehen ihrer Compositionen. Das Publicum muß es aber erfahren, dass sie es gehabt; daher die Anzeige.
Wer würde denn seiner schönen Firma etwas anhaben wollen? Bei leibe Niemand: da
hätte man es mit uns zu thun. F. u. E.“15
Schumanns lakonische Bemerkung könnte man auf viele Komponisten ausdehnen, die in völliger Konzentration auf ihr Schaffen die Textredaktion eher als lästige
Pflicht angesehen und sich um editorische Aspekte oft nur wenig gekümmert haben.
Dass Autoren gemeinhin die schlechtesten Korrektoren ihrer Texte sind, ist bekannt.
Und so ist Schumanns schöner bildhafter Vergleich mit den „Bretter[n] vor den Augen
beim Durchsehen ihrer Compositionen“ durchaus glaubhaft. Bald schon, nämlich ab den
1830er Jahren, ist allerdings „Schumanns kompositorisches Schaffen mit Zuarbeiten
zahlreicher Kopisten verknüpft“.16 Dabei spielen „Arbeits- und Werkstattkopien“,17
also Kopien, die unmittelbar in die Werkentstehung mit einbezogen wurden, eine erhebliche Rolle: „Der Kopist ‚bereinigte‘ Schumanns Arbeitsmanuskripte (z. B. […] durch
die Neuschrift überarbeiteter Textteile), […] korrigierte offenkundige Fehler und vervollständigte die Werktexte (z. B. einen lückenhaften Singtext) und schuf dadurch eine
Werkgrundlage, auf welcher der Komponist das Werk weiter ausarbeiten konnte.“18
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Zwar bildeten diese Assistenzleistungen der Kopisten eine für Schumann willkommene Unterstützung im Arbeitsprozess, andererseits ist bei Veränderungen im
Notentext meist nicht klar auszumachen, ob diese autorisiert wurden oder nicht.
Denn einerseits verlangte Schumann, offensichtliche Schreibfehler zu tilgen, andererseits finden sich immer wieder Stellungnahmen Schumanns, in denen er sich klar von
wohlgemeinten „Verbesserungen“ seiner Kopisten distanzierte. So schrieb er in einem Brief an Julius Kistner vom 14. Juni 1849 in Bezug auf sein Adagio und Allegro für
Klavier und Horn op. 70: „Mein Copist hat, wie ich hinterher gesehen, […] in der Hornstimme ohne mein Wissen Änderungen gemacht, wahrscheinlich um den Hornisten
es bequem zu machen. Die Schreibart ist aber wahrhaft barbarisch – u. ich bitte die
auf dem kleinen Blättchen bemerkte frühere herzustellen.“19
Andererseits hat Schumann Veränderungen und zum Teil auch Schreibfehler
durchaus belassen oder gar – wie etwa im Requiem – Fehler des Kopisten konstruktiv
aufgegriffen und die übrigen Chorstimmen der neuen, vom Kopisten eingebrachten
Lesart angepasst (siehe Notenbeispiele auf der nächsten Seite). Vor allem bei den
vokalsymphonischen Werken Schumanns sind – wie Annette Müller beschrieben hat –
„enge Verzahnungen sich wechselseitig beeinflussender Arbeitsphasen zwischen
Schumann und seinen Kopisten“ signifikant.20 Und es wäre kaum übertrieben zu
behaupten, dass Kopistenabschriften, die oft als Resultat reinen Abschreibens einer
Vorlage betrachtet werden, nicht selten auch eine Gemengelage von tatsächlichen
Schreibfehlern oder willkürlichen Eingriffen in den Notentext, von Schumann akzeptierten Fehlern (ohne Konsequenzen für den Tonsatz) und Fehlern, die eine nachträgliche Korrektur des Tonsatzes erforderlich machen, darstellen.
Im Grunde finden wir also hier eine Situation vor, die sich nicht wesentlich von jener von Charles Ives geschilderten unterscheidet. Das was der Verlag somit als Druckvorlage erhalten hat, ist in vieler Hinsicht exakt jene eben beschriebene Gemengelage.
Was wir daraus aber an Schlussfolgerungen mitnehmen können ist die Tatsache, dass
Fehler häufig zwar unerwünscht und zu berichtigen sind, ebenso häufig aber auch als
zwar nicht intendierte, aber akzeptierte Lesart stehen gelassen werden und bisweilen sogar den Tonsatz selbst modifizieren können.
Wie hartnäckig sich offensichtliche Schreibfehler bis in die jüngste Vergangenheit
gehalten haben, beweist etwa der erst im Zuge der Urtextausgabe des Klavierauszugs
von Schumanns Klavierkonzert a-Moll op. 54 (Henle) korrigierte Fehler im 1. Takt des
Intermezzo, dessen vorletztes Sechzehntel in der Altstimme des Soloparts in bislang
sämtlichen Ausgaben (und Einspielungen) e' statt f ' lautet.21 Während Schumanns
autografe Partitur eindeutig f ' vorschreibt, hat sich seit der 1846 erschienenen Erstausgabe an Stelle des f ' ein e' eingeschlichen, das sich auch im posthumen Partiturdruck niedergeschlagen hat und auf dessen Basis man von einer diesbezüglichen
„Korrektur“ Schumanns ausgegangen ist.
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Robert Schumann: Requiem op. 148, II. Te decet hymnus, T. 118 f. (Vokalsatz) 22
1) Transkription von Schumanns Entwurf
Ky
ri e
2) Abschrift von Peter Fuchs mit Revisionen Robert Schumanns
3) Transkription der von Schumann korrigierten Fassung
Ky
ri e,
Ky
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Ky
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Ky
ri e,
Ky
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198
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Hierzu äußert sich der Herausgeber der erwähnten Urtextausgabe im Henle-Verlag, Peter Jost, wie folgt: „Also hat Schumann korrigiert und e' ist richtig? So halten
es bisher alle Ausgaben, wobei sich die wenigsten den Kopf über solche ‚Lesarten‘
zerbrechen und immer und immer wieder bis heute den alten Text der Erstausgabe
nachdrucken. Ich bin mir sicher, dass in diesem Fall die Lesart des Autographs korrekt
ist und der Druck einen unbemerkten Stichfehler enthält. Mein Argument: Nur hier, in
Takt 1, sticht die Erstausgabe das e'. An allen anderen Stellen, wo diese Stelle erneut
erklingt, ob im Klavier oder im Orchester, steht immer ein f '.“23
Resümee
Es wäre sicherlich verfehlt, im Unterricht einem „anything goes“ das Wort zu reden.
Selbstverständlich sind wir den Werken gegenüber verantwortlich und sollten uns eine
möglichst gewissenhaft an der „res facta“ des Notentextes orientierte Interpretation
auferlegen. Aber philologische Sachverhalte (und unter diesen auch das komplexe
Feld des Fehlerhaften) sind meist weitaus vertrackter (und oft auch schwammiger),
als uns dies eine von der Autorität der Urtexte geprägte Editionsgeschichte vermuten
lässt. „Fehler“ und „Fehler“ lassen sich eben nicht einfach über einen Kamm scheren,
sondern bewegen sich stets in einem letztlich flexiblen Spannungsfeld, das entscheidend von einer Vielfalt möglicher Lesarten eines Textes geprägt ist. Die Differenzen
verschiedener Lesarten sind aber eben nicht einfach nur als defizitär zu beurteilen,
sondern sie können auch Anreiz sein, die scheinbar „fehlerbedingte“ kompositorische
Gestalt aufzugreifen, die Komposition in eine neue, unerwartete Richtung zu lenken,
den „Fehler“ somit als konstruktive Quelle schöpferischer Arbeit bewusst zu integrieren.
Exzellenz können wir vielleicht dann erst erreichen, wenn wir uns diese differenzierte Sichtweise des Fehlers zu Eigen machen und in ihm stets auch seine immanente
Doppelgesichtigkeit erkennen: als zu korrigierende und ästhetisch nicht begründbare
„Fehlleistung“ einerseits, als Katalysator für neue kreative Impulse andererseits. Die
Schwelle zwischen beiden auszuloten, ist freilich die größte Herausforderung, der wir
gleichermaßen als KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und PädagogInnen zu begegnen haben. Aber gerade darin, dass wir uns im Grunde ständig auf ungesichertem
Terrain bewegen müssen, liegt ja auch das Faszinosum unserer Tätigkeit!
1 siehe hierzu Wolfgang Ebert: Brahms in Aussee, Bad Aussee 1997, S. 51 und 64.
2 Karl Goldmark: Erinnerungen aus meinem Leben, Wien 1922, S. 91 f.
3 „Gibt es Fehler in der Kunst? Ein Gespräch“ (Wolfgang Brunner, Wolfgang Gratzer, Otto Neu-
maier und Christian Ofenbauer), in: Otto Neumaier (Hg.): Fehler in Wissenschaft und Kunst,
Möhnesee 2010, S. 167.
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4 siehe hierzu Joachim Steinheuer: Artikel „Artusi, Giovanni Maria“, in: Musik in Geschichte
und Gegenwart (MGG2), Personenteil Bd. 1, Kassel 1999, Sp. 1053.
5 Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 41975, S. 466.
6 Niko Strobach: „Richtige und falsche Töne“, in: Musikphilosophie (Musikkonzepte Neue Fol-
ge, Sonderband), hg. von Ulrich Tadday, München 2007, S. 109.
7 ebd., S. 111.
8 Gadamer, a. a. O., S. 469.
9 Helmut Glück/Wolfgang W. Sauer: Gegenwartsdeutsch, Stuttgart 21997, S. X.
10 Otto Neumaier: „Der Umgang mit Fehlern in Wissenschaft und Kunst“, in: ders. (Hg.):
Fehler in Wissenschaft und Kunst, a. a. O., S. 14.
11 Otto Neumaier: „Wer oder was fehlt bei einem Fehler“, in: ders. (Hg.): Was aus Fehlern zu
lernen ist in Alltag, Wissenschaft und Kunst, Wien 2010, S. 30.
12 Hector Berlioz: Memoiren, hg. von Wolf Rosenberg, München 1979, S. 102 f.
13 zit. nach Thomas Giebisch: Take-off als Kompositionsprinzip bei Charles Ives, Kassel 1993, S.
20 f.
14 siehe hierzu wie im Folgenden Bernhard R. Appel: „Zur Editionsgeschichte von Robert Schumanns Klaviersonate Opus 11“, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae,
T. 34, Fasc. 3/4 (1992), S. 369-375.
15 zit. nach Appel, S. 375.
16 Annette Müller: Komponist und Kopist. Notenschreiber im Dienste Robert Schumanns,
Hildesheim 2010, S. 325.
17 ebd.
18 ebd.
19 zit. nach ebd., S. 329.
20 ebd., S. 351.
21 Robert Schumann: Klavierkonzert a-moll, op. 54 (Klavierauszug), hg. von Peter Jost,
München 2010.
22 Notenbeispiele wiedergegeben nach Müller, a. a. O., S. 350.
23 Schumanns Klavierkonzert op. 54 – Die neue Urtextausgabe (Gespräch mit dem Herausgeber Peter Jost), http://www.henle.de/files/interview_jost_de.pdf (Stand: 25.2.2012).
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