Der Flächentarifvertrag in der Kritik - IW Medien
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Der Flächentarifvertrag in der Kritik Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg.) Der Flächentarifvertrag in der Kritik Dokumentation des wissenschaftlichen Kolloquiums vom 10. Februar 2004 in Berlin Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-602-14666-9 © 2004 Deutscher Instituts-Verlag GmbH Gustav-Heinemann-Ufer 84–88, 50968 Köln Postfach 51 06 70, 50942 Köln Telefon (02 21) 49 81-4 52 Telefax (02 21) 49 81-4 45 Internet: www.divkoeln.de E-Mail: [email protected] Druck: Bercker Graphischer Betrieb GmbH & Co. KG, Kevelaer Inhalt Eröffnung Gerhard Fels 6 Der Flächentarifvertrag: unverzichtbare Ordnungsfunktion oder Tarifkartell? Ulrich Brocker 11 Der Flächentarifvertrag im Meinungsbild der Unternehmen Renate Köcher 22 Dezentrale oder zentrale Verhandlungen – Was sagt die Empirie zur Effizienz von Lohnfindungssystemen? Claus Schnabel 39 Podiumsdiskussion 56 Die Autoren 79 5 Gerhard Fels Eröffnung Wir haben heute ein heikles Thema vor uns. Die Reformdebatte in Deutschland hat gezeigt, dass wir beim eigentlichen harten Kern der Arbeitsmarktregulierung noch nicht recht vorangekommen sind. Es hat Fortschritte gegeben in einigen sozialpolitischen Bereichen der Arbeitsmarktpolitik, aber noch nicht bei der eigentlichen Organisation des Arbeitsmarktes. In erster Linie ist dabei der Flächentarifvertrag Gegenstand von Kontroversen und Kritik. Mit diesem und mit dem so genannten Tarifkartell wollen wir uns heute befassen. Die These vom Kartell ist ja inzwischen schon Allgemeingut geworden. Man weist dieser Regulierung eine große Verantwortung für die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit zu. Es gibt Leute, die den Flächentarifvertrag abschaffen wollen, indem etwa § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes gestrichen werden soll. Wir werden heute zu prüfen haben, ob das eine vernünftige Position ist oder ob der Flächentarifvertrag nicht vielleicht doch einige Meriten hat, die man auf den ersten Blick übersieht. Sicher ist dieser Vertrag kein Wert an sich. Er hat so lange Bedeutung, wie die Akteure ihn für nützlich erachten und wie er nicht sozialschädlich ist. Er muss also gesamtwirtschaftlich zu verantworten sein. Aber es gibt Symptome für einen schwindenden Rückhalt des Flächentarifvertrags. Auf der Arbeitgeberseite ist dies der Zustrom zu Verbänden ohne Tarifbindung, auf der Arbeitnehmerseite der Mitgliederschwund der Gewerkschaften. Zu der unternehmerischen Begründung für den Flächentarif wird Herr Dr. Brocker sprechen. Frau Professor Köcher wird uns im Anschluss ein Meinungsbild der Unternehmer zeichnen – ich glaube, da wird es einige interessante Resultate geben, auf die wir gespannt sein können. Ich war jedenfalls von vielen Ergebnissen sehr überrascht, die ich so nicht erwartet hätte. Wenn man die Ratio des Flächentarifvertrags auf Basis der neoklassischen Theorie hinterfragt, dann sieht er meistens nicht ganz gut aus. Herr Professor Berthold wird uns hierzu einiges sagen. Aber es ist nicht 6 nur die Neoklassik, auf die es ankommt. Es gibt auch andere Theoriezweige in der Ökonomie, die in Betracht kommen können. Ich denke zum Beispiel an die Spieltheorie, begründet von Oskar Morgenstern und John von Neuman mit dem Mini-Max-Prinzip. Nichtkooperative Spiele, und darum handelt es sich bei Tarifauseinandersetzungen offenbar, hat John Nash untersucht, ist darüber verzweifelt und wahnsinnig geworden. Nach vielen Jahren in der Psychiatrie hat er dann den Nobelpreis bekommen. Vielleicht ist aber auch noch eine andere – etwas weniger komplizierte – Disziplin für die Frage des Flächentarifvertrags maßgebend: die Transaktionskostentheorie von Roland Coase, dem dafür auch ein Nobelpreis verliehen wurde. Man kann argumentieren, dass der Flächentarifvertrag Transaktionskosten mindert, weil er eine Frieden stiftende Funktion hat und Konflikte aus dem Betrieb auf eine überbetriebliche Ebene verlagert. Auf diese Weise wird das betriebliche Klima nicht dadurch vergiftet, dass dort über Löhne und Arbeitszeiten verhandelt werden muss. Aber es gibt natürlich auch Gegenargumente, wonach der Flächentarifvertrag zu überhöhten Lohnabschlüssen führt. Das war in den fünfziger und sechziger Jahren noch nicht der Fall. Damals hatte man – in dem ersten Gutachten des Sachverständigenrates ist das sehr schön beschrieben – die Philosophie, dass Tariflöhne eigentlich immer unterhalb der markträumenden Gleichgewichtslöhne liegen müssen, damit Spielraum für die Lohndrift bleibt. So konnte dem Flexibilisierungsbedarf – regional, qualifikatorisch oder sektoral – durch unterschiedliche Zuschläge entsprochen werden. Aber wenn die Tariflöhne heute über den Gleichgewichtslöhnen liegen, ist nach oben hin kaum noch Spielraum. Damit stellt sich die Frage: Gibt es Spielraum nach unten? Und das heißt dann: Öffnung des Flächentarifs, Neuinterpretation des Günstigkeitsprinzips. Möglichst viele Bündnisse für Arbeit müssen zugelassen werden, um auf betrieblicher Ebene zu korrigieren, was die Tarifvertragsparteien falsch gemacht haben. Alles dies sind Themen, die uns heute hier beschäftigen. Für die Gewerkschaften ist der Flächentarifvertrag quasi ein Dogma, das vehement verteidigt wird. Wer daran rüttelt, gerät fast in den Ver7 dacht der Verfassungsfeindlichkeit. Aber man muss sich fragen, was mit dem System nicht in Ordnung ist, wenn vier Millionen Arbeitslose zum Dauerproblem werden. Man kann dann nicht einfach darauf verweisen, dass das bestehende Tarifsystem in der Verfassung stehe. Es ist ja letztlich auch nicht unumstritten, ob es genau so in der Verfassung festgelegt ist. Wenn man das System als unangreifbar definiert, beginnt man, an der Zählung der Arbeitslosen oder ähnlichen Stellschrauben zu drehen. Angelsächsischer Pragmatismus hätte längst gefragt, was mit dem System nicht stimmt. Hierzu gibt es natürlich verschiedene Hypothesen. Eine greift die Starrheit des Systems an. Daher wird um Öffnungsmöglichkeiten hart gerungen, auch bei den laufenden Tarifverhandlungen. Hier spielt die Verschiebung des Kräftegleichgewichtes zwischen den Tarifparteien eine wesentliche Rolle, die sich so in den siebziger und achtziger Jahren nicht zuletzt aufgrund der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts herausgebildet hat. Stichworte sind die Warnstreiks oder die Verhältnismäßigkeit der Aussperrung. Bei Streiks gibt es keine Verhältnismäßigkeitsprüfung, nur bei der Aussperrung. Die Verschiebung der Machtbalance, die freilich auch mit der internationalen Verflechtung der Unternehmen zusammenhängt, hat zu hohe Abschlüsse produziert. Hätte es diese Entwicklung nicht gegeben, würden wir heute nicht über Öffnungsklauseln reden. Wären wir noch in der Situation der sechziger Jahre, würde das System recht gut funktionieren. Neben der Starrheit des Tarifsystems und der Verschiebung der Machtbalance werden auch die hohen Lohnnebenkosten als wesentliche Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit genannt. Aber sind diese nicht vielleicht auch eine Folge der Arbeitslosigkeit? Beispielsweise führt die Frühverrentung, auch eine Form von Arbeitslosigkeit, zu höheren Sozialversicherungsbeiträgen. Es gibt hier ein interdependentes System der Fehlsteuerung. Was ist nun für uns das bessere System der Lohnfindung? Zentrale Verhandlungen oder betriebliche Vereinbarungen? Herr Professor Schnabel wird über empirische Befunde im internationalen Vergleich berichten. Manche Leute sagen, wenn wir § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes abschaffen, also das Regelungsverbot für den Betrieb mit dem Betriebsrat, dann werden unsere Probleme weitgehend gelöst sein. Aber 8 es gibt internationales Anschauungsmaterial für dezentrale Systeme der Lohnfindung, die auch nicht unbedingt optimal funktionieren. Im Augenblick verhandelt man über eine Korridorlösung. Praktisch wäre dies eine Art Öffnungsklausel, nach der man auf betrieblicher Ebene innerhalb bestimmter Korridore vom Flächentarifvertrag abweichen darf. Es geht dabei um die Arbeitszeiten, um Mehrarbeit mit oder ohne Lohnausgleich. Gerade Letzteres wäre eine recht elegante Form der Kostensenkung, ohne dass die Einkommen der Beschäftigten sinken müssen. Natürlich wird darüber räsoniert, ob man denn allein durch eine Arbeitszeitverlängerung mehr Beschäftigung schaffen kann. Im Primäreffekt bedeutet dies ja nur, dass diejenigen mehr arbeiten, die schon in Beschäftigung sind. Aber das Modell hat ja auch den Vorteil, dass damit die Kosten sinken. Auf Grundlage dieses Kostensenkungseffekts ist errechnet worden, dass rund 100.000 neue Arbeitsplätze entstehen können. Nun haben zwei Kollegen, Herr Professor Wiegard und Herr Professor Kromphardt, gesagt, Arbeitszeitverlängerung brächte nicht mehr Arbeitsplätze. Ich weiß nicht, welches Modell der Mehrarbeit sie vor Augen hatten. Jedenfalls war es nicht das Modell, das von Gesamtmetall vorgestellt worden ist und das die Kostensenkung in den Vordergrund rückt. Der Sachverständigenrat, dem ja beide angehören oder bis vor kurzem angehört haben, hat nie in Frage gestellt, dass Kostensenkung mehr Arbeitsplätze schafft. Insofern habe ich die Äußerung der beiden Herren, auch wenn sie journalistisch etwas verkürzt sein sollte, nicht recht verstanden. Vielleicht schafft man durch Mehrarbeit nicht schon in der ersten Runde neue Arbeitsplätze, aber mindestens in der zweiten Runde, wenn die Kostenentlastung wirksam wird. Im Übrigen geht es ja auch nicht um eine nationale Einheitskost. Es geht vielmehr darum, dass die Betriebe die Möglichkeit erhalten sollen, sich im Rahmen dieser Korridore zu bewegen. Es mag ja auch Betriebe geben, die ihre Arbeitszeit reduzieren, weil sie Absatzschwierigkeiten haben. Andere, die eine zusätzliche Nachfrage auf sich zukommen sehen, können die Arbeitszeit verlängern und können auf diese Weise ganz anders kalkulieren. Aber wir stellen heute die Ordnungspolitik in den Vordergrund. Zunächst werden wir jetzt Herrn Dr. Brocker hören, der als Praktiker der 9 Tarifpolitik seine Überlegungen vorträgt. Ist dieses Tarifkartell eigentlich ein Kartell? Es gibt ja immerhin Wettbewerb von Außenseitern, außerhalb und auch innerhalb der Bundesrepublik. Außerdem fordern diejenigen, die diesem angeblichen Kartell angehören, Öffnungsklauseln. Aus einem wirklichen, ordentlichen Kartell würden sie sofort rausfliegen. Die Arbeitgeber fordern Öffnungsklauseln – eigentlich ein widersinniges Kartellverhalten. Wir werden dazu doch einiges hören. Anschließend wird Frau Professor Köcher uns das Meinungsbild der Unternehmer zu dieser Frage darlegen. Später erläutert dann Herr Professor Schnabel seinen empirischen Befund, bevor wir auf dem Podium über die aufgeworfenen Fragen diskutieren können. Ich kann Ihnen versprechen, es wird spannend und kontrovers sein. Freuen wir uns jetzt auf interessante Vorträge und eine intensive Diskussion über den Flächentarifvertrag und die Kritik an dieser Institution. 10 Ulrich Brocker Der Flächentarifvertrag: unverzichtbare Ordnungsfunktion oder Tarifkartell? I Die Tarifautonomie hat ihre Zukunft hinter sich, sagen viele Kritiker. Vier Millionen Arbeitslose seien Beweis dafür, dass die Tarifparteien lange genug Verträge zu Lasten Dritter gemacht haben. Wie sollte es auch anders sein bei einem „bilateralen Monopol aus Kartellen“, wie der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium unlängst festgestellt hat. Andere fordern „das Knacken des Tarifkartells“ oder „eine allgemeine Befreiung vom Tarifzwang“. Stimmen diese Aussagen? Sind Unternehmen tatsächlich gezwungen, sich den Flächentarifverträgen zu unterwerfen? Schließen die Flächentarifverträge Wettbewerb aus? Haben wir es also tatsächlich mit einem Kartell zu tun, wenn Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände über Regelungen der Arbeitsbedingungen in den Unternehmen verhandeln? Ich will versuchen, auf diese Fragen plausible Antworten zu geben. Dabei antworte ich aus der Sicht eines Arbeitgeberverbandes der Metallund Elektroindustrie. Andere Branchen, in denen das gleiche Flächentarif-System besteht, werden ausgenommen – manchmal sogar lobend gegenübergestellt. II Kartelle sind in Deutschland grundsätzlich verboten. Es gibt allerdings Ausnahmen. Eine davon ist das Konditionenkartell. Konditionenkartelle sind Vereinbarungen, die die einheitliche Anwendung von Normen zum Inhalt haben. Wirtschaftlich gesehen sind Flächentarifverträge auf dem Arbeitsmarkt Mindestkonditionenkartelle; denn die demselben Flächen11 tarif unterworfenen Wettbewerber unterliegen denselben Mindestarbeitsbedingungen. Doch das sollte auch den Kritikern bekannt sein. Deshalb ist ihre Aussage auch weitergehend. Sie schildern ein Kartell, das den Wettbewerb bei den Arbeitsbedingungen für den gesamten Arbeitsmarkt in Deutschland ausschließt. Niedrigere Löhne und längere Arbeitszeiten seien daher nicht möglich. Liest man ein Flugblatt der IG Metall, das sie vor einiger Zeit bei politischen, also rechtswidrigen Streiks bei Bosch, DaimlerChrysler und Porsche gegen die Ankündigung der Bundesregierung und gegen Gesetzesentwürfe der Oppositionsparteien verteilt hatte, unter bestimmten Voraussetzungen gesetzliche Tariföffnungsklauseln anzustreben, dann könnte man solche Aussagen als bestätigt empfinden; denn in diesem Flugblatt heißt es: „Tarifautonomie und Flächentarifvertrag … schaffen einheitliche Wettbewerbsvoraussetzungen für alle Unternehmen der Branche und dämmen die Unterbietungskonkurrenz ein.“ „Einheitliche Wettbewerbsvoraussetzungen“ – das klingt nach Ausschluss von Wettbewerb. Haben wir es also tatsächlich mit einem Kartell zu tun? Der Flächentarifvertrag könnte, wenn überhaupt, allenfalls unter den deutschen Wettbewerbern die gleichen Voraussetzungen schaffen. Aber die Unternehmen der global ausgerichteten Metall- und Elektroindustrie erwirtschaften zwei Drittel ihrer Wertschöpfung auf dem Weltmarkt. Auf dem heimischen Markt sind sie starker Auslandskonkurrenz ausgesetzt. Da könnte die Ausschaltung des Kostenwettbewerbs per Flächentarifvertrag überhaupt keinen Schutz vor Konkurrenz bieten. In Wahrheit schafft der Flächentarifvertrag nicht einmal unter allen deutschen Wettbewerbern gleiche Bedingungen. Denn mehr als die Hälfte der M+E-Firmen bewegt sich außerhalb des Flächentarifvertrags. In diesen Betrieben ist rund ein Drittel der M+E-Arbeitsplätze. Zwei Drittel der Beschäftigten unterliegen also dem Flächentarifvertrag. Insofern bietet der Flächentarifvertrag heute auch vor der inländischen Unter12 bietungskonkurrenz keinen Schutz. Die von den Kritikern behauptete Kartell-Wirkung besteht also schon nicht in dem behaupteten Umfang. Ich möchte darüber hinaus einige Gründe nennen, warum die Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie aus ihrem Selbstverständnis und tatsächlich mit einem Kartell nichts gemein haben: Kartelle haben das Ziel, ihren Gewinn durch Ausschaltung des Wettbewerbs zu optimieren. Dabei schreiben sie Preise und andere Wettbewerbsparameter auf einem Niveau fest, das oberhalb dessen liegt, was sich bei funktionierendem Wettbewerb auf dem Markt ergeben würde. Fünf Indizien möchte ich nennen, wonach die Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie kein kartellartiges Verhalten an den Tag legen und dass sie politische Positionen vertreten, die aus sich heraus kartellwidrig sind: 1. Die M+E-Arbeitgeber sind gegen einen gesetzlichen Mindestlohn. Diese Position ist grob kartellwidrig, denn das Fehlen gesetzlicher Mindestlöhne fördert den Außenseiter-Wettbewerb. Nicht im Tarifträgerverband organisierte Firmen können mangels Mindestlohngesetzgebung ihren Mitarbeitern diesseits der Wuchergrenze beliebige Konditionen bieten und dabei die Tarifstandards tief unterschreiten. Diese Möglichkeit war in Zeiten der Vollbeschäftigung zwar eher theoretischer Natur, aber das lag nicht an irgendeinem Kartell, sondern an der Arbeitskräfteknappheit. Heute dagegen, bei deutlich mehr als 500.000 Arbeitslosen in den M+E-Berufen, eröffnet das Fehlen von gesetzlichen Mindestlöhnen echte Spielräume für Außenseiter. 2. Die M+E-Arbeitgeber verlangen nicht, dass ihre Tarifverträge allgemein verbindlich sein sollen. Diese Position ist grob kartellwidrig, denn die M+E-Verbände verzichten damit auf die im Tarifvertragsgesetz ausdrücklich vorgese13 hene Möglichkeit (§ 5 TVG), die Außenseiter-Konkurrenz zur Übernahme der M+E-Tarifstandards zu zwingen. Unser Dachverband Gesamtmetall hat sich in der Vergangenheit als Mitglied im Tarifausschuss des Bundesarbeitsministeriums immer wieder auch gegen Allgemeinverbindlicherklärungen in anderen Branchen eingesetzt. 3. Die M+E-Arbeitgeber machen sich für die Anpassung des Günstigkeitsprinzips stark. Auch diese Position ist grob kartellwidrig, denn dadurch wird auch Mitgliedern des Tarifträgerverbandes die Möglichkeit eingeräumt, auf rechtssicherem Boden die Tarifnormen zu unterschreiten, um Arbeitsplätze zu retten. Solche betrieblichen Bündnisse für Arbeit, die es heute in großer Zahl gibt, sind nach geltendem Recht juristisch nicht wasserdicht. 4. Die M+E-Arbeitgeber kämpfen für Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen. Diese Position ist grob kartellwidrig, denn der Kostenwettbewerb wird auf diesem Weg definierter Bestandteil des Tarifvertrags. Gerade in diesem Punkt wird deutlich, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Früher wäre es ausgeschlossen gewesen, dass Tarifunterschreitungen geduldet, geschweige denn verbandspolitisch unterstützt werden. Die gewandelte Einstellung der M+E-Arbeitgeber zu tariflichen Öffnungsklauseln hat sehr viel mit dem globalen Wettbewerb zu tun, der den deutschen M+E-Betrieben mit ihren hohen Tarifstandards heftig zusetzt. Das ist auch die Begründung für unsere Forderung in der aktuellen Tarifrunde, tarifvertragliche Öffnungsklauseln auch dafür vorzuse- 14 hen, dass zur Senkung der Arbeitskosten die Betriebsparteien eine längere Arbeitszeit auch ohne oder nur mit teilweiser Bezahlung vereinbaren können. 5. Die M+E-Arbeitgeber haben sich für Verbandsmitgliedschaften ohne Tarifbindung geöffnet. Diese Position ist ebenfalls grob kartellwidrig, denn der Verband vertritt auch die Interessen von Betrieben, die sich den Normen des Flächentarifvertrags nicht unterwerfen wollen und sich dadurch einen Wettbewerbsvorteil verschaffen können. Dieser strukturelle Wandel in der M+E-Verbandslandschaft hebt den kartelltypischen Interessengegensatz zwischen Insidern und Outsidern völlig auf. Die M+E-Arbeitgeber haben sich damit von der klassischen Ordnungsfunktion des Flächentarifvertrags, die noch am ehesten etwas mit dem Kartellgedanken zu tun hatte, endgültig verabschiedet. So viel zu den Gründen, aus denen klar hervorgeht, dass die M+EArbeitgeber nicht zu einem Kartell gezählt werden können. III Wenn es somit nicht die Ausschaltung des Wettbewerbs ist, welche Gründe sind es dann, warum fast 6.000 Unternehmen der M+E-Industrie den Flächentarifvertrag anwenden und ihn auch in Zukunft erhalten wollen? Ich nenne einige Stichworte. • Produktionssicherheit Die Sicherung des sozialen Friedens während der Laufzeit von Tarifverträgen ist für die M+E-Industrie von großem Gewicht. Die deutsche Metall- und Elektroindustrie ist produktionstechnisch untereinander sehr dicht und tiefgehend vernetzt. 15 Die Friedenspflicht während der Laufzeit des Tarifvertrags für eine ganze Branche bewahrt die Produktion dieser Branche vor Unterbrechungen durch Arbeitskampfmaßnahmen in einzelnen Unternehmen. Sie sichert somit eine ungestörte Produktion und trägt deshalb bei zur Verlässlichkeit der Lieferbeziehungen. Das ist wegen der vernetzten M+E-Industrie ein äußerst wichtiger Standortvorteil, um den uns die ganze Welt beneidet. Den sollten wir uns auch erhalten. Das ist ein wesentlicher Grund für die Anwendung des Flächentarifvertrags. • Entlastungsfunktion Die Flächentarife halten soziale Konflikte aus dem Betrieb heraus und entlasten den Betrieb davon, die „kritischen“ Arbeitsbedingungen, wie Lohn und Urlaub, auf betrieblicher Ebene selbst aushandeln zu müssen. Die Flächentarife verhindern, dass die Betriebsräte zur Tarifpartei werden und ihre gesetzlichen Mitbestimmungsrechte mit Tarifthemen verbinden können. Dieser Grundsatz wird auch nicht durch unser Lösungsmodell in der aktuellen Tarifrunde geändert, denn der Tarifvertrag gibt den Rahmen vor. Innerhalb dieses Rahmens wird entschieden. Wenn die Betriebsparteien, also Arbeitgeber und Betriebsrat, sich im Rahmen einer freiwilligen Betriebsvereinbarung nicht einigen, dann gilt weiterhin der Flächentarifvertrag. Dies ist ein ganz wichtiges Kriterium. • Kalkulationssicherheit Die Flächentarife geben den Arbeitskosten im Betrieb einen festen Rahmen gegen Wünsche Einzelner. Der Arbeitgeber kann sich gegenüber dem Einzelbegehren eines Arbeitnehmers auf den Inhalt des Tarifvertrags berufen. 16 • Rechtssicherheit Ein weiterer wichtiger Grund ist: Die Betriebe wenden den Flächentarifvertrag an, weil sie rechtssichere und anwendungsreife Regelungen für ihre Arbeitsbedingungen haben wollen. • Akzeptanz bei den Mitarbeitern Die Flächentarife geben den Arbeitnehmern Sicherheit, dass sie ohne weiteres Verhandeln die üblichen Leistungen bekommen. Sie erhöhen dadurch Arbeitszufriedenheit und Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter. Gerade das Vertrauen in diese seit Jahrzehnten gewachsene Struktur ermöglicht immer wieder, dass auf Betriebsebene Abweichungen vom Flächentarifvertrag möglich sind. Weil man eben weiß: Wenn es nicht klappt, habe ich auf jeden Fall den Tarif. Im Übrigen – und das ist wichtig: Dieses Verständnis von im Wesentlichen bewährter Ordnungsfunktion der Flächentarifverträge ist der Grund dafür, dass sich die M+E-Arbeitgeber für die Beibehaltung des § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes aussprechen, der Betriebsvereinbarungen zu Themen verbietet, die tatsächlich oder üblicherweise in Tarifverträgen geregelt werden. Der Betriebsrat verfügt heute in Deutschland bereits über international absolut einzigartige Mitbestimmungsrechte. Das Tarifverhandlungsrecht würde ihn noch einflussreicher machen, als er heute schon ist. Das würde betriebswirtschaftliche Entscheidungen tendenziell verzögern. Es würde das Konfliktpotenzial und damit das Risiko von Störungen in der Produktionsvernetzung und sonstigen Wertschöpfungskette erhöhen. Ausländische Investoren würden davon abgehalten, sich in Deutschland zu engagieren. 17 Das Verhältnis zwischen Tarif- und Betriebsautonomie in Sachen kollektive Vereinbarung wird sich in der Zukunft mit Sicherheit neu justieren – unabhängig davon und auch, wenn § 77 Abs. 3 BetrVG weiterhin besteht, denn der moderne Tarifvertrag muss für mehr Betriebsnähe sorgen. IV Wenn es auch viele – und mit wachsender Größe sehr viele – Unternehmen sind, so sind es doch nicht wenige, insbesondere kleinere mittelständische Unternehmen, die aus den Arbeitgeberverbänden ausgetreten oder gar nicht erst Mitglied geworden sind. Sie kritisieren die tarifvertraglichen Mindeststandards als zu hoch. Es ist allerdings nicht nur die Nicht-Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband; es gibt viel drastischere Reaktionen der Unternehmen auf das hohe deutsche Kostenniveau, zu dem natürlich auch der Flächentarifvertrag beigetragen hat: • Eine Möglichkeit ist die Arbeit sparende Prozessinnovation. Im Durchschnitt kostet die Einrichtung eines Arbeitsplatzes in der M+E-Industrie 100.000.– Euro. Die Rationalisierungsinvestition ist also nicht billig; aber der wegrationalisierte Arbeitsplatz ist auf Dauer verloren. • Eine immer stärker genutzte Möglichkeit ist die Auslagerung von Wertschöpfungsteilen, das heißt, ein Unternehmen verringert seine Wertschöpfungstiefe durch Auftragsvergabe an tarifungebundene Betriebe im In- oder Ausland. Die Automobilindustrie hat seit 1995 ihre diesbezügliche Auslagerung allein in Deutschland mit einem Volumen von 25 Milliarden Euro verdreifacht. Das entspricht 100.000 Arbeitsplätzen. 18 Diese Wertschöpfungsauslagerung ist übrigens der Grund für das Absinken der Lohnquote. • Ein dritter Weg schließlich ist die Verlagerung von Produktion und übriger Wertschöpfung ins Ausland. Seit Mitte der neunziger Jahre haben deutsche M+E-Unternehmen jährlich etwa 50.000 Arbeitsplätze im Ausland geschaffen. Insgesamt sind es rund 6.700 Produktionsstätten mit etwa 1,2 Millionen Beschäftigten. Das ist ein Drittel der deutschen M+E-Beschäftigten. Bereits das ist dramatisch. Umso mehr muss es dann erschrecken, wenn ein Drittel der deutschen M+E-Unternehmen aktuell überlegt, weitere Wertschöpfung ins Ausland zu verlagern. V In diesem Zusammenhang wird immer wieder das Bild von den zwei Unterschriften unter jedem Tarifvertrag verwandt. Kritisiert werden „die Tarifvertragsparteien“. Dies ist undifferenziert und oberflächlich. Die Kritiker nehmen zu wenig zur Kenntnis, welche Ziele Inhalt der Tarifpolitik der Arbeitgeberverbände sind. Sie schauen nur auf das Ergebnis, ohne zu berücksichtigen, unter welchen auch äußeren Bedingungen es zustande gekommen ist. Dabei ignorieren sie vor allem die Tatsache, dass besonders die Rechtsprechung die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften immer wieder erweitert und die Rechte der Arbeitgeber immer stärker beschnitten hat. Wegen der gebotenen Zeit verweise ich hier nur in Stichworten auf Folgendes: • Das Ultima-Ratio-Prinzip beim Streik ist ausgehöhlt; die Eröffnung eines Streiks nach Ablauf eines Tarifvertrags ist in das Belieben der Gewerkschaft gestellt. 19 • Die Möglichkeiten der Arbeitgeber, auf einen Streik mit eigenen Kampfmitteln zu reagieren, sind durch die Aussperrungsentscheidungen des BAG stark eingeschränkt. • Die von der Rechtsprechung zuerkannten Informationsansprüche des Betriebsrats im Arbeitskampf bevorzugen die Gewerkschaft. • Unabhängig davon missbrauchen gewerkschaftsnahe Betriebsräte während Tarifrunden und im Arbeitskampf immer wieder ihre betriebsverfassungsrechtliche Position durch unzulässige Koppelungsmaßnahmen, vor allem durch Verweigerung von Mehrarbeit: das alles bei zu häufig leidvoll erlebter Zurückhaltung der Arbeitsgerichte im einstweiligen Rechtsschutz. Angesicht derart institutionalisierter Privilegierung der Gewerkschaften könnte man fast Verständnis dafür entwickeln, dass die IG Metall mit dem Wort „Streik“ immer schnell dabei ist. Unser Standortvorteil ist eine äußerst weitverzweigte und sensibel vernetzte Wertschöpfungskette. Sie ist daher aber auch einfach und schnell zu stören. Deshalb ist es tatsächlich schon länger weder wirtschaftlich vertretbar noch Ausdruck glaubwürdiger Sorge um Beschäftigung, mit Streik bestimmte Verhandlungsergebnisse abpressen zu wollen. Auch zu diesem Thema spricht das Ausmaß der Standortverlagerung eine beredte Sprache. Der Streik passt in unsere Zeit wie der Neandertaler ins Cyberspace. Die Arbeitgeberverbände der M+E-Industrie haben Vorschläge zur Vereinbarung anderer Konfliktlösungsmechanismen gemacht. Ein erster Versuch, mit der IG Metall hierüber zu einem Konsens zu kommen, ist vor einigen Jahren misslungen. Wir werden uns weiter bemühen. VI Wir sind uns bewusst, dass Kooperation nur erfolgreich sein kann bei einer Win-win-Situation. Hierfür muss allerdings die Situation der Mit20 glieder und nicht die der Organisation entscheidend sein. Für uns Arbeitgeberverbände ist es die Wettbewerbsfähigkeit unserer Mitgliedsunternehmen, für die IG Metall müsste es die Beschäftigungsmöglichkeit ihrer Mitglieder sein. Tatsächlich jedoch scheint für die Gewerkschaft vor allem der Machterhalt der Organisation im Vordergrund zu stehen. Die allgemeine Reformdiskussion ist diesem auf ihr Organisationsinteresse verkürzten Selbstverständnis der IG Metall weit voraus. Unser aktueller Lösungsvorschlag nach mehr Flexibilität bei Zeitvolumen und Kosten durch einen von den Tarifvertragsparteien eingeräumten größeren Gestaltungsspielraum der Betriebsparteien ist ein Angebot. Wir wollen den Weg zu einem den Anforderungen der heutigen Zeit angepassten Flächentarifvertrag gemeinsam gehen. Wir haben es beide – in Person: Herr Peters für die IG Metall und Herr Kannegiesser für Gesamtmetall – dem Gesetzgeber zugesagt. Mögen gerade diese Tage zeigen, dass die IG Metall ihre Kraft für diesen Weg nicht beim Blasen schriller Trillerpfeifen verausgabt hat. 21 Renate Köcher Der Flächentarifvertrag im Meinungsbild der Unternehmen In den diesjährigen Tarifverhandlungen ist grundsätzlicher diskutiert worden als bei den meisten früheren Verhandlungen. Es ging diesmal nicht nur um Details der Lohnfindung, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen, sondern um das System der Vereinbarung an sich, um die Zukunft des Flächentarifs. In diesem Zusammenhang fand eine Befragung von Unternehmensleitungen aus der Metall- und Elektroindustrie statt, um zu prüfen, wie die Unternehmen die Leistungsfähigkeit, die Vor- und Nachteile des Flächentarifs beurteilen, wie die Forderung nach Öffnungsklauseln, und wie es um die Tariftreue bestellt ist. Zunächst sollte man sich jedoch die ökonomische und psychologische Ausgangslage vor Augen führen, die die Erwartungen an die Tarifpartner bestimmt, die Chancen und Risiken des Standortes Deutschland, wie sie zurzeit von den Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie erlebt und bewertet werden. Ein beachtlicher Anteil der Unternehmen hofft zurzeit auf eine Aufwärtsentwicklung der Konjunktur, sieht sie teilweise auch schon in den Auftragsbüchern. Das Bild ist allerdings wesentlich ambivalenter als die optimistischen Konjunkturszenarien, die zurzeit von den Wirtschaftsforschungsinstituten und den Medien gezeichnet werden. Zurzeit halten sich Optimismus und Skepsis bei den Unternehmensleitungen der Metall- und Elektroindustrie noch annähernd die Waage: 47 Prozent der Unternehmen rechnen auf Sicht von sechs Monaten mit einem Aufschwung, 37 Prozent mit einem weitgehend unveränderten konjunkturellen Umfeld, 14 Prozent sogar mit einem Abwärtstrend. Auch in anderen Branchen ist festzustellen, dass die Stimmungslage noch sehr ambivalent und von großen Unsicherheiten geprägt ist. Zu dieser Verunsicherung trägt auch das historische Ereignis der bevorstehenden Osterweiterung der EU bei. In der Metall- und Elektroindus22 trie befürchten derzeit weitaus mehr Unternehmen Nachteile von der Vergrößerung der EU, als sich Unternehmen Vorteile erhoffen: Jedes dritte Unternehmen geht davon aus, dass sich die Osterweiterung in den eigenen Auftragsbüchern positiv niederschlagen wird, 45 Prozent rechnen dagegen mit Nachteilen. Mit der Osterweiterung wird die Verlagerung von Produktionskapazitäten noch einfacher, als sie es bereits ist. Die große Mehrheit der Bevölkerung wie auch der Führungskräfte aus der Wirtschaft geht davon aus, dass die Verlagerungen von Unternehmen beziehungsweise Unternehmensteilen nach Osteuropa in den kommenden Jahren zunehmen werden. Der Wettbewerb der Standorte wird sich verschärfen und den Druck auf Deutschland erhöhen, sich diesem Wettbewerb zu stellen. Zurzeit wird der Standort Deutschland von den Unternehmen nach wie vor überwiegend kritisch eingeschätzt. Über 60 Prozent der Unternehmensleitungen der Metall- und Elektroindustrie ziehen die Bilanz, dass der Standort Deutschland für die eigene Branche gravierende Schwächen aufweist. Damit fällt das Urteil noch kritischer aus als bei der letzten Bestandsaufnahme im Oktober 2002. Dies ist sicher auf den ersten Blick überraschend, da in der Zwischenzeit doch einige durchaus bedeutungsvolle Reformen verabschiedet wurden. Die überwältigende Mehrheit der Unternehmensleitungen zieht jedoch die wenig erfreuliche Bilanz, dass die bisher durchgeführten Reformen nicht ausreichen, um den Standort Deutschland im erforderlichen Umfang aufzuwerten. Nur 15 Prozent der Unternehmensleitungen sind überzeugt, dass die beschlossenen und noch bevorstehenden Reformen Deutschland als Standort attraktiver machen, während 82 Prozent wesentlich tiefgreifendere Maßnahmen für notwendig halten, um Deutschlands Aussichten in dem härter werdenden Standortwettbewerb entscheidend zu bessern. Bei der Bewertung dieser Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass die Interviews vor der Ankündigung von Bundeskanzler Schröder stattfanden, den SPD-Vorsitz niederzulegen. Dieser Beschluss dürfte von der 23 Wirtschaft kaum als positives Signal aufgenommen werden. Vielmehr wird sich die Sorge verstärken, dass der Reformkurs der Regierung, dessen Garant Schröder in den letzten Jahren war, in Frage gestellt wird. Die Verteilung der Aufgaben von Kanzlerschaft und Parteivorsitz auf zwei Personen löst ja nicht das Kernproblem, dass der Bundeskanzler offenkundig einen anderen Kurs für richtig hält als weite Teile seiner Partei. Die Mehrheit der Bevölkerung geht davon aus, dass sich der Bundeskanzler in Zukunft schwerer tun wird, die Richtung und Leitlinien der Politik zu bestimmen. Die mühsamen Diskussionen und langwierigen Entscheidungen über Veränderungen wecken zunehmend Unbehagen und Zweifel, ob dieses politische System und seine Entscheidungsstrukturen den gestellten Aufgaben noch gewachsen sind. Drei Viertel der Unternehmensleitungen der Metall- und Elektroindustrie sind überzeugt, dass wirklich tief greifende Reformen erst dann möglich sein werden, wenn das politische System und seine Entscheidungsstrukturen von Grund auf verändert werden. Trotzdem haben die bisherigen Beschlüsse und durchgeführten Maßnahmen zumindest dazu beigetragen, den Pessimismus der Unternehmen etwas einzudämmen. Der Anteil der Unternehmensleitungen, die eine weitere Verschlechterung der Standortbedingungen in Deutschland befürchten, hat sich in den letzten anderthalb Jahren von 50 auf 38 Prozent verringert. Zwar hoffen nur 15 Prozent auf eine wirkliche Verbesserung der Standortbedingungen; dies bedeutet jedoch immerhin eine Verdopplung gegenüber dem Stimmungsbild im Herbst 2002. Damit geht jedoch die überwältigende Mehrheit der Unternehmensleitungen auch heute davon aus, dass die Rahmenbedingungen für ihr Unternehmen im besten Fall stabil bleiben werden oder sich in den nächsten Jahren weiter verschlechtern. Immer wieder wird betont, in welch hohem Maße Wirtschaft auch eine Frage der Psychologie ist: Der Mut zu Konsum wie der Mut zu Investitionen kann nur auf dem Fundament von Zukunftsvertrauen gedeihen. Das Stimmungsbild der Unternehmen zeigt, wie viel noch zu tun ist, bis sich die Ausgangsbedingungen für Investitionen wieder signifikant verbessern. 24 Die Mehrheit der Unternehmensleitungen ist durchaus überzeugt, dass Deutschland mit den richtigen Maßnahmen instand gesetzt werden kann, den Standortwettbewerb zu bestehen. 56 Prozent der Unternehmensleitungen gehen davon aus, dass die Abwanderung von Unternehmen aus Deutschland mit den richtigen Maßnahmen gestoppt werden könnte, weitere 28 Prozent halten es sogar für möglich, die Abwanderungsbewegung umzukehren. Diese Einschätzung ist unabhängig davon, ob in den Unternehmen selbst bereits Verlagerungsmaßnahmen vorgenommen wurden. Auch die Mehrheit der Unternehmensleitungen, die bereits Unternehmensteile ins Ausland verlagert haben, ist überzeugt, dass Deutschland mit den geeigneten Maßnahmen als Standort gravierend aufgewertet werden könnte. Die Maßnahmen müssten jedoch rasch getroffen werden. Wir befinden uns zurzeit in einer ganz entscheidenden Phase, in der die Abwanderung für Unternehmen attraktiver wird. Wenn die nächsten vier bis sechs Jahre ungenutzt verstreichen, wird es immens schwer sein, von dem hohen Arbeitslosensockel auf absehbare Zeit wieder herunterzukommen, da dann die Abwanderungsbewegung zu weit vorangeschritten ist. Zurzeit haben die Unternehmensleitungen auch aus Gesprächen mit anderen Eigentümern und Managern den Eindruck, dass viele Unternehmen über Abwanderung oder zumindest eine Verlagerung von Unternehmensteilen nachdenken. Herr Dr. Brocker hat bereits die eindrucksvollen und auch erschreckenden Zahlen vorgetragen: Die deutsche Metall- und Elektroindustrie hat im Ausland 1,2 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Unsere Probleme auf dem Arbeitsmarkt wie bei den sozialen Sicherungssystemen wären ungleich geringer, wenn auch nur die Hälfte oder ein Drittel dieser Arbeitsplätze in Deutschland entstanden wären. Die aktuelle Befragung bei den Unternehmensleitungen zeigt, dass knapp jedes vierte Unternehmen bereits Produktionsteile ins Ausland verlagert hat und weitere 22 Prozent überlegen, dies in nächster Zeit zu tun. Der DIHK hat kürzlich branchenübergreifende Trendanalysen veröffentlicht, die belegen, dass die Abwanderungsneigung der Unternehmen zurzeit wächst. Das ist ein Menetekel für den Arbeitsmarkt wie für die gesamte wirtschaftliche Entwicklung. Die Aufwertung des Standortes ist zurzeit die größte wirtschaftliche Heraus25 forderung für Deutschland. Gerade vor diesem Hintergrund haben die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie und die laufende Diskussion über die Zukunft des Arbeitsmarktes und die Rolle der Tarifparteien eine ganz besondere Bedeutung. Zurzeit der Befragung im Januar 2004 sah knapp die Hälfte der Unternehmensleitungen dem Tarifabschluss mit Befürchtungen entgegen. Besonders besorgt zeigten sich die größeren Unternehmen mit 300 und mehr Mitarbeitern. Die Prioritäten der Unternehmen für die laufende Tarifrunde sind eindeutig: Sie setzen die Flexibilisierung von Tarifvereinbarungen mit Abstand an die Spitze der wichtigsten Ziele, gefolgt von moderaten Lohnabschlüssen und einer Verlängerung der Arbeitszeiten. 79 Prozent stufen die Flexibilisierung von Tarifvereinbarungen als besonders wichtiges Ziel ein, 55 Prozent moderate Lohnabschlüsse, 45 Prozent eine Verlängerung der Arbeitszeit. Die übrigen halten diese Ziele für keineswegs unwichtig; addiert man die Einstufungen als ganz besonders wichtige Ziele und auch noch wichtige Ziele auf, so erklären 95 Prozent moderate Lohnabschlüsse für wichtig, 83 Prozent eine Verlängerung der Arbeitszeit. Durchgängig zeigen die Ergebnisse der Befragung, dass den Unternehmen vor allem daran gelegen ist, mehr Gestaltungsspielraum zu gewinnen, bei den Löhnen wie bei den Arbeitszeiten. 71 Prozent der Unternehmensleitungen sind beispielsweise überzeugt, dass ein größerer Spielraum für betriebsindividuelle Verhandlungen über Löhne und Gehälter mehr Nutzen als Risiken bringen würde. Besonders die kleineren Unternehmen versprechen sich weit überwiegend Vorteile, während das Interesse der größeren Unternehmen an eigenständigen Verhandlungen deutlich geringer ist – aus nahe liegenden Gründen. Da der Organisationsgrad in den großen Unternehmen wesentlich höher ist, laufen betriebsindividuelle Verhandlungen dort naturgemäß anders ab als in den kleinen Unternehmen. Entsprechend kann es nicht überraschen, dass 71 Prozent der Unternehmensleitungen aus Betrieben mit weniger als 100 Mitarbeitern betriebsindividuelle Lohnverhandlungen favorisieren, dagegen nur 49 Prozent der Unternehmensleitungen von Betrieben mit 300 und mehr Mitarbeitern. 26 Die Präferenz der Mehrheit der Unternehmensleitungen für betriebsindividuelle Vereinbarungen hat nicht zuletzt mit dem Unbehagen über die Rolle und Stärke der Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen zu tun. Die Verhandlungsposition von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden wird nicht als gleichgewichtig eingestuft, sondern die Gewerkschaften werden als die dominierende, durchsetzungsfähigere Verhandlungspartei eingestuft. 56 Prozent der Unternehmensleitungen haben den Eindruck, dass sich die Gewerkschaften in Tarifverhandlungen im Allgemeinen besser durchsetzen als die Arbeitgeber; nur 16 Prozent schreiben die stärkere Position der Arbeitgeberseite zu, 22 Prozent empfinden beide Parteien als gleich stark. Die Gewerkschaften gelten als Hauptnutznießer des Flächentarifs: 67 Prozent der Unternehmensleitungen sind überzeugt, dass die Aufrechterhaltung eines einheitlichen Flächentarifs vor allem im Interesse der Gewerkschaften ist; als zweiten Nutznießer sieht die Mehrheit die großen Unternehmen, während nur eine kleine Minderheit überzeugt ist, dass einheitliche Tarifverträge auch den Arbeitnehmern und den kleinen Unternehmen nutzen. Bei der Bewertung der Rolle der Gewerkschaften machen Unternehmensleitungen wie auch die Bevölkerung einen deutlichen Unterschied zwischen den Gewerkschaftsfunktionären und den Betriebsräten vor Ort. Den Betriebsräten wird von Unternehmensleitungen wie von Arbeitnehmern ein deutlich besseres Urteil ausgestellt als den Gewerkschaften, denen in hohem Maße vorgeworfen wird, dass sie sich zu sehr an ihren Organisationsinteressen und zu wenig an der Interessenlage der Betriebe und Arbeitnehmer orientieren. Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Flächentarif muss natürlich berücksichtigt werden, dass Abweichungen vom Flächentarif in den Unternehmen eher die Regel als die Ausnahme sind. Herr Dr. Brocker hat bereits darauf hingewiesen, dass der Flächentarifvertrag nur für einen Teil der Unternehmen bindend ist. Bei der Befragung wurde deutlich, dass die überwältigende Mehrheit der Unternehmen, insgesamt 76 Prozent, bei Arbeitszeiten, Löhnen oder Zusatzleistungen 27 vom Tarifvertrag abweicht; in diesem hohen Anteil sind Anpassungen nach oben wie nach unten enthalten. Der Flächentarif wird auch heute schon als eine Leitlinie gesehen, die durchaus Abweichungen gestattet. Das wirft natürlich die Frage auf, ob es überhaupt Sinn hat, an Flächentarifverträgen festzuhalten. Grundsätzlich haben die Unternehmensleitungen großes Vertrauen, dass sie sich auch bei einer Abschaffung des Flächentarifs weitgehend problemlos mit ihren Mitarbeitern einigen könnten. 81 Prozent sind überzeugt, dass sich abseits der Flächentarifverträge mit den eigenen Mitarbeitern vernünftigere Einigungen herbeiführen ließen. Immerhin 43 Prozent befürchten jedoch bei einer Abschaffung des Flächentarifs verstärkte Konflikte in den Unternehmen; genauso fürchten viele, dann verstärkt mit Konditionen, die in anderen Unternehmen ausgehandelt wurden, unter Druck gesetzt zu werden. Je größer die Unternehmen sind, desto stärker verbinden sie eine Aufgabe des Flächentarifs mit handfesten Nachteilen. So ist nur die Mehrheit der Unternehmen mit weniger als 100 Mitarbeitern sicher, dass eine Aufgabe des Flächentarifs nicht zu vermehrten Konflikten im Unternehmen führen würde; schon in der Größenklasse der Unternehmen mit 100 bis 300 Mitarbeitern rechnen 51 Prozent mit vermehrten Konflikten, bei den größeren Unternehmen sogar 66 Prozent. Auch die Sorge, mit Konditionen, die in anderen Unternehmen verhandelt wurden, unter Druck gesetzt zu werden, nimmt mit der Größe des Unternehmens steil zu, wie auch die Sorge, viel Zeit und Mühe in die betriebsindividuellen Verhandlungen investieren zu müssen.Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die große Mehrheit der Unternehmensleitungen der Metall- und Elektroindustrie den Flächentarif nicht abschaffen, sondern nur öffnen will. Bei allem Vertrauen in die Einigungsmöglichkeiten mit der eigenen Belegschaft und bei aller Kritik an den Nachteilen des Flächentarifs plädieren nur 23 Prozent der Unternehmen für die Abschaffung des Flächentarifs, dagegen 73 Prozent für eine flexiblere Gestaltung. Bei den Wünschen nach einer stärkeren Flexibilisierung steht zurzeit die Gestaltung der Arbeitszeit im Mittelpunkt des Interesses. Die Mehr28 heit der Unternehmen verspricht sich große oder sogar sehr große Vorteile von einer stärkeren Flexibilisierung der Arbeitszeitvereinbarungen, die großen Unternehmen tendenziell noch mehr als die kleineren. Fast drei Viertel der Unternehmen mit 300 und mehr Mitarbeitern erhoffen sich große oder sehr große Vorteile von Öffnungsklauseln für die Arbeitszeiten, von den Unternehmen bis 99 Mitarbeitern immerhin auch 49 Prozent. Die Mehrheit der Unternehmensleitungen in der Metall- und Elektroindustrie ist überzeugt, dass eine Arbeitszeitverlängerung Wachstum und Beschäftigung merkliche Impulse geben würde; 41 Prozent sind hier skeptisch. Diese Skepsis hängt unter anderem damit zusammen, dass die Hälfte der Unternehmen eine Arbeitszeitverlängerung nur ohne Lohnausgleich für sinnvoll hält; gleichzeitig halten dies nur 28 Prozent für durchsetzbar. Der großen Mehrheit der Unternehmen geht es jedoch nicht um die bloße Festschreibung längerer Arbeitszeiten. Sie möchten nicht die bisherigen starren Regelungen durch neue Festlegungen ersetzen, sondern wünschen flexiblere Lösungen, mehr Spielraum bei der Gestaltung der Arbeitszeit. Dafür plädieren 81 Prozent aller Unternehmen, besonders ausgeprägt die kleineren Betriebe mit weniger als 100 Mitarbeitern. Lediglich 12 Prozent der kleinen Unternehmen und 30 Prozent der größeren Unternehmen mit 300 und mehr Mitarbeitern wünschen eine generelle Verlängerung der Arbeitszeiten. Das Kernergebnis der Untersuchung ist damit der ausgeprägte Wunsch der Unternehmen nach mehr Freiraum für individuelle Lösungen innerhalb eines Rahmens, der ihnen eine gewisse Sicherheit gibt und sie teilweise entlastet von Konflikten und Verhandlungen mit ihren Belegschaften. Die große Mehrheit will den Flächentarif nicht abschaffen, aber wesentlich stärker öffnen, als dies bisher der Fall ist. Vor dem Hintergrund der Abwanderungspläne und der derzeitigen Lage auf dem Arbeitsmarkt wäre es sträflich, diesen Ruf der Unternehmen nach mehr Freiheit zu missachten. 29 Abbildungen und Tabellen Abbildung 1 Sorgen über EU-Osterweiterung Frage: „Erwarten Sie von der EU-Osterweiterung für Ihr eigenes Unternehmen alles in allem eher Vorteile oder eher Nachteile?“ Unternehmensleitungen insgesamt (in Prozent) Unentschieden 5 Weder noch Vorteile 17 33 45 Nachteile Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 Abbildung 2 Bisherige Reformen machen Standort noch nicht attraktiver Frage: „Erwarten Sie, dass die beschlossenen und bevorstehenden Reformen Deutschland als Standort attraktiver machen, oder werden sich diese Beschlüsse auf die Attraktivität des Standorts Deutschland nicht wesentlich auswirken?“ Unternehmensleitungen insgesamt (in Prozent) Attraktiver Unentschieden, keine Angabe 15 3 82 Werden sich nicht wesentlich auswirken Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 30 Abbildung 3 Zweifel an der Reformfähigkeit des politischen Systems … „Wirklich tief greifende Reformen werden erst möglich sein, wenn wir unser politisches System und seine Entscheidungsstrukturen grundlegend ändern.“ (in Prozent) Unentschieden Sehe das nicht so 4 21 75 Sehe das auch so Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 Abbildung 4 Die laufende Tarifrunde verfolgen insbesondere größere Unternehmen mit Besorgnis Frage: „Und erwarten Sie, dass es zu einer vernünftigen Einigung kommen wird, oder sehen Sie dem Tarifabschluss mit Befürchtungen entgegen?“ (in Prozent) Sehe Abschluss mit Befürchtungen entgegen 47 46 45 55 Vernünftige Einigung Unternehmensleitungen Mitarbeiter am Standort – bis 99 Mitarbeiter 100–299 Mitarbeiter 300 und mehr Mitarbeiter 46 47 45 44 Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 31 Abbildung 5 Beurteilung der Ziele der laufenden Tarifverhandlungen Frage: „Bei den laufenden Tarifverhandlungen geht es ja nicht nur um Löhne, sondern auch um Arbeitszeiten, Flexibilisierung usw. Welche Ziele sollen die Arbeitgeber bei den laufenden Tarifverhandlungen Ihrer Ansicht nach vor allem vertreten?“ (in Prozent) Auch wichtig 16 40 38 Ganz besonders wichtig 79 55 Flexibilisierung von Tarifvereinbarungen 45 Moderate Lohnabschlüsse Verlängerung der Arbeitszeit Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 Abbildung 6 Stärkere Autonomie bei der Lohngestaltung vorteilhaft? Frage: „In letzter Zeit ist ja oft über die Flexibilisierung von Tarifverträgen oder sogar die Aufhebung des Flächentarifs diskutiert worden. Wenn die Unternehmen verstärkt über Löhne und Gehälter selbst verhandeln: Überwiegen da aus Ihrer Sicht die Risiken oder der Nutzen?“ (in Prozent) Es überwiegen: Risiken Nutzen Unterneh19 71 mensleitungen Mitarbeiter am Standort – 15 bis 99 Mitarbeiter 76 24 100–299 Mitarbeiter 63 40 300 und mehr Mitarbeiter 46 Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 32 Abbildung 7 Tarifverhandlungen gelten als zu stark von den Gewerkschaften dominiert Frage: „Wer setzt sich Ihrer Meinung nach im Allgemeinen bei Tarifverhandlungen im Metallbereich besser durch, die Gewerkschaften oder die Arbeitgeber?“ Unternehmensleitungen insgesamt (in Prozent) Keine Angabe 6 Beide gleich 22 56 Die Gewerkschaften 16 Die Arbeitgeber Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 Abbildung 8 Gewerkschaften und Großunternehmen als Hauptnutznießer des Flächentarifs Frage: „Wie sehen Sie das: In wessen Interesse ist es vor allem, dass es einheitliche Tarifverträge gibt? Ist das vor allem im Interesse der größeren Unternehmen, der kleineren Unternehmen, der Arbeitnehmer, der Gewerkschaften oder der Verbände?“ (in Prozent) 67 59 33 23 12 Gewerkschaften Große Unternehmen Verbände Arbeitnehmer Kleinere Unternehmen Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 33 Abbildung 9 Die meisten weichen schon jetzt ab Frage: „Hält sich Ihr Unternehmen strikt an den Tarifvertrag, oder haben Sie in einzelnen Bereichen Anpassungen an die Situation Ihres Unternehmens vorgenommen?“ Unternehmensleitungen insgesamt (in Prozent) Anpassungen vorgenommen 76 und zwar bei: Arbeitszeiten Löhnen Zusatzleistungen 55 54 42 Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 Abbildung 10 Die Mehrheit will den Flächentarif nicht abschaffen, aber öffnen Frage: „Wenn Sie jetzt einmal die Vor- und Nachteile von Flächentarifverträgen gegeneinander abwägen: Was wäre dann aus Unternehmenssicht das Beste? Die Flächentarifverträge ganz abzuschaffen, sie flexibler zu gestalten oder sie weitgehend beizubehalten?“ (in Prozent) Ganz abschaffen 23 Weitgehend beibehalten 4 73 Flexibler gestalten Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 34 Abbildung 11 Wachstumsimpulse durch längere Arbeitszeiten Frage: „Was meinen Sie: Wenn man in Deutschland die Arbeitszeiten verlängern würde, würde das relativ rasch zu mehr Wachstum und Beschäftigung führen, oder halten Sie das für unwahrscheinlich?“ Unternehmensleitungen insgesamt (in Prozent) Unentschieden, keine Angabe 7 Unwahrscheinlich 41 52 Mehr Wachstum, Beschäftigung Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 Tabelle 1 Nach wie vor kritische Bewertung des Standorts Deutschland – in Prozent – Es beurteilen Deutschland als Standort für Betriebe der eigenen Branche als – Unternehmensleitungen insgesamt Oktober 2002 Januar 2004 4 2 sehr gut 37 33 gut 35 42 weniger gut 22 19 schlecht geeignet 2 4 unentschieden Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 4258/U, 4281 Tabelle 2 ... trotzdem wächst die Hoffnung auf bessere Rahmenbedingungen – von niedrigem Niveau – in Prozent – Frage: „Glauben Sie, dass sich die Standortbedingungen für Ihr Unternehmen in den nächsten Jahren verbessern oder verschlechtern Unternehmensleitungen insgesamt Oktober 2002 Januar 2004 7 15 verbessern 50 38 verschlechtern 42 44 gleich bleiben 1 3 unentschieden Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 4258/U, 4281 35 Tabelle 3 Abwanderung lässt sich stoppen ... – in Prozent – Frage: „Was meinen Sie: Kann man mit den richtigen Maßnahmen die Abwanderung von Unternehmen aus Deutschland stoppen oder sogar umkehren, oder kann man nicht viel dagegen tun?“ Verlagerung der Produktion ins Ausland Unternehmensleitungen bereits geschehen wird überlegt weder noch insgesamt stoppen umkehren nicht viel tun unentschieden 56 22 22 x 56 28 15 1 54 30 13 3 58 30 12 x Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 4281 Tabelle 4 . . . und dies ist dringend notwendig – in Prozent – Frage: „Was sind Ihre Beobachtungen: Denken zurzeit viele Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie über eine Verlagerung von Teilen der Produktion ins Ausland nach, oder sind das eher wenige?“ Mitarbeiter am Standort – Unternehmensleitungen insgesamt viele eher wenige unentschieden 72 21 7 bis 99 Mitarbeiter 100–299 Mitarbeiter 300 u. mehr Mitarbeiter 68 24 8 82 15 3 84 13 3 Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 Tabelle 5 Mehr als jedes fünfte Unternehmen denkt über Verlagerungen nach – in Prozent – Frage: „Und wie ist das bei Ihnen im Unternehmen: Haben Sie Teile der Produktion ins Ausland verlagert, oder überlegen Sie, das zu tun, oder würden Sie sagen, ,weder noch´?“ Mitarbeiter am Standort – Unternehmensleitungen insgesamt verlagert überlegen, das zu tun weder noch 23 22 55 bis 99 Mitarbeiter 100–299 Mitarbeiter 300 u. mehr Mitarbeiter 20 19 61 26 30 44 44 21 35 Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 36 Tabelle 6 Vor allem kleinere Unternehmen versprechen sich Vorteile – in Prozent – Frage: „Was ist aus Sicht Ihres Unternehmens vorteilhafter: Wenn Sie die Löhne und Arbeitszeiten selbst aushandeln, oder wenn Sie sich weitgehend am Flächentarifvertrag orientieren und dadurch nicht selbst Lohnverhandlungen führen müssen?“ Mitarbeiter am Standort – Unternehmensleitungen insgesamt Löhne, Arbeitszeiten selbst aushandeln am Flächentarifvertrag orientieren unentschieden bis 99 Mitarbeiter 100–299 Mitarbeiter 300 u. mehr Mitarbeiter 67 71 60 49 29 4 25 4 35 5 45 6 Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 Tabelle 7 Großes Vertrauen in die Konsensfindung mit den eigenen Mitarbeitern – in Prozent – Unternehmensleitungen insgesamt Abschaffung des Flächentarifs Dadurch gibt es mehr Möglichkeiten, die Lage des eigenen Unternehmens zu berücksichtigen Man kann sich dann mit den eigenen Mitarbeitern leichter auf vernünftige Regelungen einigen Eine Abschaffung des Flächentarifvertrags würde zu verstärkten Konflikten in den Unternehmen führen 93 81 43 Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 Tabelle 8 Mehr Skepsis in den größeren Unternehmen – in Prozent – Mitarbeiter am Standort – Abschaffung des Flächentarifs Eine Abschaffung des Flächentarifvertrags würde zu verstärkten Konflikten in den Unternehmen führen Man wird dann mit den Konditionen, die in anderen Unternehmen ausgehandelt wurden, unter Druck gesetzt Es würde die Unternehmen zu viel Zeit und Mühe kosten, mit den eigenen Mitarbeitern zu verhandeln bis 99 100–299 300 u. mehr Mitarbeiter Mitarbeiter Mitarbeiter 37 51 66 39 47 61 23 36 48 Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 37 Tabelle 9 Die Mehrheit der Betriebe verspricht sich große Vorteile von Öffnungsklauseln bei Arbeitszeiten – in Prozent – Frage: „Gesamtmetall fordert ja Öffnungsklauseln bei den Arbeitszeiten, so dass je nach Betrieb Wochenarbeitszeiten zwischen 35 und 40 Stunden vereinbart werden können. Würden solche Öffnungsklauseln bei den Arbeitszeiten für Ihr Unternehmen sehr große, große, weniger große oder gar keine Vorteile bringen?“ Mitarbeiter am Standort – Unternehmensleitungen bis 99 Mitarbeiter insgesamt sehr große Vorteile große Vorteile weniger große Vorteile gar keine Vorteile unentschieden, keine Angabe 14 39 53 17 25 5 12 37 49 17 29 5 100–299 300 u. mehr Mitarbeiter Mitarbeiter 17 42 59 17 18 6 26 47 73 20 4 3 Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 Tabelle 10 Mit oder ohne Lohnausgleich? – in Prozent – Frage: „Zurzeit wird ja darüber diskutiert, ob es in Deutschland längere Wochenarbeitszeiten geben soll. Wenn es dazu kommt, sollte es dann für die Mehrarbeit einen teilweisen Lohnausgleich geben, oder sind längere Arbeitszeiten nur ohne Lohnausgleich sinnvoll?“ Unternehmensleitungen insgesamt 43 teilweiser Lohnausgleich 50 nur ohne Lohnausgleich sinnvoll 28 • und dies halten für durchsetzbar 21 • es sind eher skeptisch 7 unentschieden Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 Tabelle 11 Hauptziel: mehr Spielraum für flexible Lösungen – in Prozent – Frage: „Glauben Sie, dass eine generelle Verlängerung der Arbeitszeiten notwendig ist, oder muss es eher das Ziel sein, von starren Arbeitszeitregelungen wegzukommmen, so dass jeder Betrieb individuelle Arbeitszeiten aushandeln kann?“ Mitarbeiter am Standort – Unternehmensleitungen bis 99 100–299 300 u. mehr Mitarbeiter Mitarbeiter Mitarbeiter insgesamt Verlängerung der Arbeitszeit individuelle Arbeitszeiten unentschieden, keine Angabe 14 81 5 12 84 4 Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281 38 16 76 8 30 67 3 Claus Schnabel Dezentrale oder zentrale Verhandlungen – Was sagt die Empirie zur Effizienz von Lohnfindungssystemen? Das deutsche Lohnfindungssystem wird heute in diesem Kolloquium, wie auch seit einiger Zeit in Wirtschaft, Politik und Medien, sehr kritisch hinterfragt. Früher dagegen wurden Flächentarifverträge wegen ihrer unbestreitbaren Verdienste fast schon als „heilige Kuh“ betrachtet. Wir leben heute in Zeiten von Geflügelpest und BSE, und da haben es natürlich auch „heilige Kühe“ schwer, zu überleben. Der schärfere globale Wettbewerb gibt ebenso Anlass zur Sorge wie die hohe und lang anhaltende Arbeitslosigkeit. Diese Arbeitslosigkeit wurde zwar nicht allein von den Tarifparteien verursacht, sie dürfte aber ohne eine beschäftigungsfördernde Tarifpolitik nicht abzubauen sein. Allerdings regen sich zunehmend Zweifel, ob eine moderate, differenzierte, flexible Tarifpolitik im bestehenden System überhaupt noch möglich ist. Die dominierenden Flächentarifverträge gelten als zu teuer, zu undifferenziert, zu unflexibel und überreguliert. Damit stellen sich zwei Fragen, denen ich heute gerne nachgehen möchte. Erstens: Sind zentrale überbetriebliche oder dezentrale betriebliche Regelungen besser geeignet, mit unseren Problemen fertig zu werden? Zweitens: Ist zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit unseres Systems ein völliger Systemwechsel erforderlich oder kommen hierfür auch systemimmanente Reformen in Frage? Um diese Fragen beantworten zu können, möchte ich folgendermaßen vorgehen: Ich werde ganz kurz eingehen auf die tarifrechtlichen Rahmenbedingungen und die Tarifbindung sowie die Kritik an den Flächentarifverträgen. Dann diskutiere ich die Vor- und Nachteile betrieblicher und überbetrieblicher Regelungen, und zwar die theoretischen Erkenntnisse, die sehr wichtig sind, aber auch die empirische Evidenz, die dazu ganz gut passt. Und zum Schluss möchte ich daraus einige Konsequenzen für das deutsche System der Lohnfindung ableiten. 39 Lassen Sie mich mit den Rahmenbedingungen anfangen. In der Bundesrepublik Deutschland gilt das Prinzip der Tarifautonomie. Unabhängige Gewerkschaften (oder einzelne Arbeitnehmer) auf der einen und Arbeitgeberverbände oder einzelne Unternehmen auf der anderen Seite regeln selbstständig die Ausgestaltung der Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen. Der Staat verzichtet auf aktive Mitwirkung und Eingriffe und beschränkt sich auf die Festlegung des rechtlichen Rahmens. Die vereinbarten Tarifnormen stellen Mindestarbeitsbedingungen dar, das heißt, sie dürfen durch freiwillige Leistungen des Arbeitgebers überschritten werden (Günstigkeitsprinzip), nicht aber unterschritten werden (Ausnahme: Öffnungsklausel liegt vor). Jedes Jahr werden in Deutschland über 7.000 Tarifverträge abgeschlossen; insgesamt gelten momentan fast 60.000 Tarifverträge, davon sind 480 allgemein verbindlich, allerdings mit rückläufiger Tendenz. Übersicht 1 Regelung von Löhnen und Arbeitsbedingungen individualrechtlich kollektivrechtlich mit einzelnem Arbeitnehmer mit Gewerkschaft mit Betriebsrat Arbeitsvertrag Tarifvertrag (TV) Betriebsvereinbarung (nicht über Löhne etc.) Branchen-TV 40 Firmen-TV Tarifverträge sind aber nicht die einzige Option, um Arbeitsbedingungen zu regeln. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Eine Firma kann individualrechtlich mit einem einzelnen Arbeitnehmer einen Arbeitsvertrag abschließen oder kollektivrechtlich mit einer Gewerkschaft einen Branchen- oder Firmentarifvertrag vereinbaren. Daneben gibt es noch die Möglichkeit, mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung abzuschließen. Allerdings gilt dies wegen eines Tarifvorbehalts in § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) nur für bestimmte Arbeitsbedingungen. Wegen dieses Vorbehalts können Sie mit dem Betriebsrat zum Beispiel nicht über Löhne und andere Arbeitsbedingungen verhandeln, die üblicherweise durch Tarifverträge geregelt werden. Das deutsche Arbeitsrecht räumt Tarifverträgen einen gewissen Vorrang ein. Damit stellt sich natürlich die Frage nach den wichtigsten Vorund Nachteilen von Tarifverträgen aus ökonomischer und juristischer Sicht. Übersicht 2 Wichtige Vor- und Nachteile von Tarifverträgen (aus juristischer und ökonomischer Sicht, verglichen mit Einzelarbeitsverträgen) + Tarifverträge senken Transaktionskosten (Verhandlungsaufwand, Standardisierung von Arbeitsbedingungen und Qualifikationen etc.) + Schutz der Arbeitnehmer, Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen + kanalisieren Interessenkonflikte zwischen Arbeit und Kapital (Friedenspflicht etc.) +/– Ausschaltung von Wettbewerb (gilt insbesondere für allgemein verbindliche und branchenweite Flächentarifverträge) – je größer der Geltungsbereich von Tarifverträgen, desto undifferenzierter und unflexibler sind sie üblicherweise – Überregulierung kann Gestaltungsspielraum der Betriebe beschneiden 41 Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass Tarifverträge Transaktionskosten senken. Sie verringern den Verhandlungsaufwand, da sie Möglichkeiten bieten, Arbeitsbedingungen und Qualifikationen zu standardisieren. Tarifverträge dienen auch dem Schutz der Arbeitnehmer, indem sie Mindestarbeitsbedingungen festlegen. Man sollte nicht vergessen, dass es in Deutschland, außer in der Bauwirtschaft, keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt. Tarifverträge kanalisieren zudem die Interessenkonflikte zwischen Arbeit und Kapital. Herr Dr. Brocker hat die Friedenspflicht in seinem Vortrag betont. Dies sind alles Punkte, wo ein dickes Plus vorne steht. Tarifverträge schalten in gewisser Weise aber den Wettbewerb aus. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie branchenweit gelten wie Flächentarifverträge oder wenn sie für allgemein verbindlich erklärt werden. Aus der Sicht einzelner Unternehmen und Arbeitnehmer mag das positiv sein, da die Löhne aus dem Wettbewerb genommen werden. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ist dies aber negativ, weil es zu IneffiTabelle 1 Tarifbindung nach Betriebsgröße 2002 – Anteil der jeweils betroffenen Betriebe in Prozent – Beschäftigte (am 30. 6. 2002) Branchentarifvertrag Kein Tarifvertrag (davon Orientierung an einem Tarifvertrag) West Ost West Ost 9 39,4 16,2 1,7 2,7 58,9 (38,6) 81,1 (43,2) 10 bis 49 54,8 30,0 3,5 7,9 41,7 (52,6) 62,1 (52,7) 50 bis 199 62,6 46,4 7,4 15,4 30,0 (59,1) 38,2 (53,3) 200 bis 499 70,1 60,9 11,7 18,7 18,3 (60,0) 20,3 (59,3) 500 und mehr 82,1 72,2 9,1 18,7 8,7 (59,9) 9,1 (72,1) Insgesamt 44,1 20,2 2,4 4,2 53,5 (41,5) 75,6 (44,9) 1 bis Quelle: IAB-Betriebspanel 2002 42 Firmentarifvertrag West Ost zienzen führen kann. Problematisch bei Flächentarifverträgen ist, dass sie mit wachsendem Geltungsbereich zwangsläufig undifferenzierter und unflexibler werden. Ein weiteres Problem, das auch in der Umfrage von Frau Prof. Köcher deutlich zum Ausdruck kam, ist die tarifvertragliche Überregulierung. Sie kann den Gestaltungsspielraum der Betriebe beschneiden. Angesichts dieser Vor- und Nachteile wäre es natürlich gut, zu wissen, welcher Anteil der Unternehmen sich für welche Vertragsart entschieden hat. Darüber gibt es keine offiziellen Statistiken, wohl aber repräsentative Daten des Betriebspanels des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Sie beziehen sich auf ungefähr 14.000 Betriebe. Wir stellen fest, dass von allen Möglichkeiten, die ich aufgezeigt habe, reger Gebrauch gemacht wird. Insgesamt 44 Prozent der westdeutschen und 20 Prozent der ostdeutschen Betriebe haben sich für einen Branchentarifvertrag entschieden. Rund 3 Prozent der Betriebe bevorzugen Firmentarifverträge, und die Mehrheit – die Hälfte der westdeutschen und drei Viertel der ostdeutschen Betriebe – schließt Einzelarbeitsverträge ab. Allerdings orientiert sich ein großer Teil dieser Unternehmen am Tarifvertrag. Wir wissen allerdings nicht genau, was unter „Orientierung“ zu verstehen ist, eher stark oder nur sehr locker? Gleichwohl muss man diese Funktion von Tarifverträgen sehen, wenn man über ihre Reform diskutiert. Tarifverträge sind ein gewisser Anker im System. Es gibt allerdings sehr deutliche Unterschiede nach der Betriebsgröße. Kleinbetriebe mit 1 bis 9 Beschäftigten kommen überwiegend ohne Tarifverträge aus. Sie stellen einen beachtlichen Teil aller Betriebe. Der Flächentarifvertrag kommt deutlich besser weg, wenn die Tarifbindung auf die davon betroffenen Beschäftigten hochgerechnet wird, da größere Betriebe häufiger tarifgebunden sind und die Tarifbindung bezogen auf die Beschäftigten somit höher ausfällt. 43 Tabelle 2 Tarifbindung west- und ostdeutscher Beschäftigter 2002 – Anteil der jeweils betroffenen Beschäftigten in Prozent – Branchentarifvertrag Firmentarifvertrag Kein Tarifvertrag (davon Orientierung an einem Tarifvertrag Branche West Ost West Ost Landwirtschaft u.a. 58,8 21,3 2,4 5,2 Bergbau/Energie 66,7 * Grundstoffverarbeitung 71,6 39,4 7,3 14,8 21,1 (66,1) 45,7 (55,6) Investitionsgüter 64,9 29,8 9,1 13,2 26,1 (71,0) 57,0 (55,1) Verbrauchsgüter 69,8 33,1 6,0 10,4 24,2 (56,9) 56,5 (49,1) Baugewerbe 79,1 35,4 2,1 9,6 18,8 (73,4) 54,9 (69,3) Handel/Reparatur 63,6 35,5 4,1 5,6 32,3 (55,6) 58,9 (45,9) Verkehr/Nachrichten 50,8 24,6 14,6 36,1 34,5 (52,1) 39,4 (51,3) Kredit/Versicherung 86,4 81,6 4,7 4,1 9,0 (46,8) 14,3 (62,3) Dienste für Unternehmen 30,6 34,9 4,0 7,6 65,4 (32,0) 57,5 (41,1) Sonstige Dienste 60,7 43,3 7,8 12,0 31,6 (56,3) 44,8 (54,1) Org. ohne Erwerbszweck 56,3 30,7 10,6 21,2 33,1 (49,0) 48,1 (46,2) 27,0 * West Ost 38,8 (44,0) 73,6 (47,2) 6,3 (50,6) * (*) Gebietskörperschaften/ Sozialversicherung 86,3 90,7 9,9 8,5 Insgesamt 62,9 42,7 7,1 11,8 3,8 (*) 0,7 (*) 30,0 (51,8) 45,5 (52,1) Hinweis: Mit * gekennzeichnete Stellen können aufgrund zu geringer Fallzahlen nicht ausgewiesen werden. Quelle: IAB-Betriebspanel 2002 Rund 63 Prozent der westdeutschen Beschäftigten und knapp 43 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten werden von einem Branchentarifvertrag erfasst. Andererseits zeigen die Zahlen auch, dass 30 Prozent der westdeutschen Beschäftigten und fast die Hälfte der ostdeutschen 44 Beschäftigten keinem Tarifvertrag mehr unterliegen. Die Streuung bei der Nutzung der unterschiedlichen Möglichkeiten ist also groß. Trotzdem kann man sagen, dass der Flächentarifvertrag kein Schattendasein führt, sondern immer noch dominiert, insbesondere wenn man auf die Beschäftigten schaut. Der Hinweis ist deshalb wichtig, weil die Kritik an den Tarifverträgen, insbesondere den Flächentarifverträgen, zunimmt und man sich wundert, warum überhaupt noch Betriebe Flächentarifverträge abschließen. Deshalb möchte ich einen kurzen Blick auf die Kritik am Flächentarifvertrag werfen. Übersicht 3 Kritik an branchenweiten Verbandstarifverträgen (Flächentarifen) • Tariflöhne (= juristische Mindestlöhne) zu hoch festgesetzt; Folge: Beschäftigungsverluste (insbesondere bei Geringqualifizierten) • beschränken damit Spielraum für knappheitsgerechte übertarifliche Differenzierungen • orientieren sich häufig an „Pilotabschlüssen“ und behindern damit die volkswirtschaftlich gebotene Lohndifferenzierung nach Branchen und Regionen • können die unterschiedliche Situation einzelner Betriebe kaum berücksichtigen • versuchen zu viele Einzelheiten bis ins letzte Detail zu regeln • beschneiden Flexibilität und Gestaltungsspielraum der Betriebe Hauptkritikpunkt ist die Lohnhöhe. Bemängelt wird, dass Verbandstarifverträge die Tariflöhne, die im juristischen Sinne Mindestlöhne sind, zu hoch festsetzen und sie nicht mehr Mindestlöhne im ökonomischen Sinne sind. Die Folgen sind Beschäftigungsverluste, insbesondere im Bereich der Geringqualifizierten. Eine Folge der zu hohen Löhne ist, dass der Spielraum für eine übertarifliche Entlohnung und damit für eine marktgerechte Differenzierung fehlt. Ein Indiz dafür ist zum Beispiel die rückläufig übertarifliche Entlohnung. Dies ist Reflex der Tatsache, 45 dass die Tarifabschlüsse sich oft an den Pilotabschlüssen orientieren und damit die gebotene Differenzierung nicht zustande kommt. Auf unterschiedliche Situationen einzelner Betriebe kann keine Rücksicht genommen werden. Im Gegenteil: Der Versuch, viele Einzelheiten bis ins letzte Detail zu regeln, engt die Gestaltungsspielräume der Betriebe stark ein. Mit anderen Worten: Flächentarifverträge gelten als zu teuer, zu undifferenziert, zu wenig flexibel und als überreguliert. Eine natürliche Konsequenz aus dieser Kritik wäre ein Wechsel zu einem anderen System der Lohnfindung. Sind also dezentrale Verhandlungen die bessere Alternative? Ein rasches Ja auf diese Frage wäre vorschnell und möglicherweise ein Trugschluss. Die Tatsache, dass manche Unternehmen Flächentarifverträge, andere aber Firmentarifverträge oder gar keine Tarifverträge bevorÜbersicht 4 Vor- und Nachteile überbetrieblicher und betrieblicher Regelungen überbetriebliche Regelungen 46 betriebliche Regelungen • senken Transaktionskosten (zum Beispiel Verhandlungsaufwand, Standardisierung) • erhöhen Transaktionskosten (insbesondere durch jährliche Lohnverhandlungen) • nehmen Löhne aus dem Wettbewerb • erlauben differenzierte Abschlüsse • orientieren sich meist an gesamtwirtschaftlichen Daten oder „Pilotabschlüssen“, können u.U. gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung besser im Griff halten • erlauben genaue Orientierung an der wirtschaftlichen Lage und Leistungsfähigkeit eines Betriebes (falls Mitarbeiter sich nicht anderweitig orientieren) • können Betriebsspezifika nicht berücksichtigen, beschränken betrieblichen Spielraum • hoher Gestaltungsspielraum, erlaubt flexible Reaktion auf neue Herausforderungen • halten Arbeitskonflikte weitgehend von den Betrieben fern • belasten Betriebsklima durch Verhandlungen, erhöhen das Arbeitskampfrisiko • können Widerstandskraft der Arbeitgeber erhöhen (falls diese solidarisch) • Gefahr: Übermacht starker Gewerkschaften gegenüber einzelnen Arbeitgebern zugen, sollte nachdenklich stimmen. Sie deutet nämlich darauf hin, dass es unterschiedliche Vor- und Nachteile von betrieblichen und überbetrieblichen Regulierungen gibt. Ich habe versucht, diese Vor- und Nachteile grob zusammenzufassen. Mit überbetrieblichen Regelungen meine ich in erster Linie den Flächentarifvertrag, bei betriebliche Regelungen geht es um Firmentarifverträge und Einzeltarifverträge oder – soweit zulässig – um Betriebsvereinbarungen. Überbetriebliche Regelungen senken Transaktionskosten, betriebliche Regelungen erhöhen sie, insbesondere wenn sie jedes Jahr neu verhandelt werden müssen. Die überbetrieblichen Regelungen nehmen die Löhne aus dem Wettbewerb, dagegen erlauben die betrieblichen Regelungen differenziertere Abschlüsse, die sich genauer an der wirtschaftlichen Lage und an der Leistungsfähigkeit eines Betriebes orientieren. Dies gilt allerdings nur so lange, wie sich die Mitarbeiter bei ihren Forderungen nicht anderweitig orientieren. Dann nämlich besteht eine gewisse Gefahr des gegenseitigen Aufschaukelns von Forderungen, und es wird wesentlich schwerer, die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung im Griff zu halten. Dezentrale Regelungen haben den Vorteil, flexibel auf neue Herausforderungen reagieren zu können, und davon haben wir bekanntlich sehr viele. Ein anderes Problem, das heute schon angesprochen wurde, sind Arbeitskonflikte. Überbetriebliche Regelungen halten diese Konflikte weitgehend von den Betrieben fern. Sie werden bewusst auf eine höhere Ebene verlagert, weil eben solche Konflikte das Betriebsklima belasten können. Dann stellt sich noch die Frage der Machtverteilung. Überbetriebliche Regelungen können die Wiederstandskraft der Arbeitgeber erhöhen, allerdings nur dann, wenn diese sich auch wirklich solidarisch verhalten. Man kann natürlich unterschiedlicher Meinung darüber sein, inwieweit diese Solidarität in der Praxis wirklich durchzuhalten ist. Andererseits muss man die Gefahr sehen, dass bei Verhandlungen auf betrieblicher Ebene starke Gewerkschaften, wie zum Beispiel die 47 IG Metall, eine Übermacht gegenüber einzelnen Arbeitgebern haben können. Angesichts dieser Vor- und Nachteile stellt sich die Frage, was eigentlich die Wissenschaft empfiehlt. Darauf gibt es keine einfache Antwort – oder haben Sie von einem Wissenschaftler schon mal eine einfache Antwort gehört? Das Problem ist, dass unsere theoretischen Erkenntnisse ziemlich komplex sind. Ökonomen, Soziologen und Politologen haben sich in den vergangenen 20 Jahren verstärkt mit der Problematik der Verhandlungsebenen beschäftigt. Die Forschung bestätigt die Erkenntnis, dass sowohl zentrale überbetriebliche als auch dezentrale betriebliche Regelungen der Löhne und Arbeitsbedingungen jeweils spezifische Vor- und Nachteile aufweisen, die zudem je nach Betrieb und Branche von unterschiedlicher Bedeutung sein können. Das bedeutet, bei der Wahl einer optimalen Ebene gibt es so etwas wie einen „trade off“. Allgemein gültige Lösungen für alle Betriebe und für alle Branchen werden nur schwer zu finden sein. Überdies können die erwähnten Vor- und Nachteile verschiedener Ebenen im Zeitablauf ein anderes Gewicht bekommen. So kommt es zum Beispiel durch die Globalisierung der Wirtschaft, aber auch durch den technischen und strukturellen Wandel, zu immer mehr neuen Situationen und zu Verwerfungen, die verschiedene Branchen, verschiedene Betriebe oder Arbeitnehmergruppen ganz unterschiedlich treffen und entsprechend differenzierte Lösungen erfordern. Im globalen Wettbewerb wird eine differenzierte Anpassungsfähigkeit der Unternehmen immer wichtiger. Die Produktionsstruktur entwickelt sich weg von den weitgehend standardisierten Massengütern hin zu eher differenzierten Hochtechnologieprodukten. Damit einher geht eine Veränderung in der Arbeitsorganisation. Für die Mitarbeiter heißt dies eine größere Selbstverantwortung und einen erweiterten Aufgabenbereich. Damit kommt einer erfolgsorientierten, differenzierten Entlohnung zwangläufig größere Bedeutung zu. Das heißt, die Präferenz der Unternehmen für ein überbetriebliches System der Lohnfindung nimmt ab, wenn dessen Beschränkungen die Berücksichtigung betrieblicher Spezifika erschweren. In dem Maße, wie die Unterschiede zwischen den 48 Branchen und zwischen den Betrieben zunehmen, verliert also der Transaktionskostenvorteil zentraler Regelungen zugunsten der Informations- und Reaktionsvorteile von dezentralen Regelungen an Bedeutung. Man könnte somit die theoretisch abgeleitete Hypothese wagen, dass wir einen tendenziellen Rückzug aus Flächentarifverträgen beobachten müssten. Die Empirie bestätigt diese Hypothese. Wir stellen fest, dass bezogen auf die Beschäftigten die Flächentarifbindung in Westdeutschland seit 1995 um fast 10 Prozentpunkte und in Ostdeutschland sogar um über 13 Prozentpunkte zurückgegangen ist. Das Schlagwort von der Erosion des Flächentarifvertrags hat somit einen realen Hintergrund. Darüber hinaus gibt es auch die anekdotische Evidenz oder persönliche Individualempirie. Jeder von uns kennt mindestens ein Unternehmen, das den Flächentarifvertrag anwendet und davon überzeugt ist. Aber jeder kennt auch ein Unternehmen, das einen Firmentarifvertrag hat und davon überzeugt ist. Daraus kann man den Schluss ziehen: Firmentarifverträge sind für manche Betriebe mit speziellen Anforderungen durchaus hilfreich, aber sie sind keineswegs automatisch besser als Flächentarifverträge. Welche Antwort gibt uns nun die statistische Evidenz in Form relativ komplexer ökonometrischer Analysen? Es gibt eine ganz interessante Untersuchung für Westdeutschland von Wolfgang Meyer von der Universität Hannover. Sie ist zwar schon zehn Jahre alt, aber nichtsdestotrotz aktuell. Meyer hat 30 Firmentarife mit 30 Branchentarifbereichen verglichen und festgestellt, dass die Tariflohndynamik bei Firmentarifverträgen keineswegs generell flexibler ist. Aufschlussreich ist auch der Blick über die nationalen Grenzen hinaus ins Ausland. Dabei zeigt sich ein differenziertes Bild hinsichtlich der bevorzugten Tarifverhandlungsebene. Es gibt Länder, in denen die branchenübergreifende Ebene dominiert, und es gibt Länder, wo die Branchenebene dominiert, dazu zählt auch Deutschland. In anderen Ländern wiederum spielt die Unternehmens- oder Betriebsebene die Hauptrolle. Eine klare Tendenz ist nicht erkennbar. Manche Länder, die 49 Übersicht 5 Tarifverhandlungsebenen im internationalen Vergleich Branchenübergreifende Ebene Branchenebene Unternehmens-/ Betriebsebene XXX X X XX XX X XXX X XX X X XXX XXX X X XXX X X XXX X Luxemburg XX XX Niederlande XXX X Österreich XXX X Portugal XXX X Schweden XXX X Spanien XXX X Japan X XXX USA X XXX Belgien Dänemark Deutschland Finnland XX Frankreich Griechenland X Großbritannien Irland Italien XXX Hinweis: XXX = vorherrschende Tarifverhandlungsebene XX = wichtige, aber nicht vorherrschende Tarifverhandlungsebene X = bestehende Tarifverhandlungsebene Quelle: EIRO (2000), ergänzt um eigene Recherchen 50 früher branchenübergreifend, zum Teil sogar für die ganze Volkswirtschaft verhandelt haben, wie Dänemark oder Schweden, verhandeln inzwischen auf der Branchenebene. Einige Länder, die früher auf der Branchenebene verhandelt haben, bevorzugen heute die Unternehmens- beziehungsweise Betriebsebene. Das beste Beispiel hierfür ist Großbritannien. Dort hat der Flächentarifvertrag außerhalb des öffentlichen Sektors praktisch völlig an Bedeutung verloren. Ähnliche Tendenzen gibt es auch in anderen Ländern. Im Großen und Ganzen aber sind diese Systeme in den letzten 10 bis 20 Jahren doch recht stabil geblieben. In einer Reihe ökonometrischer Analysen wurde der Frage nachgegangen, in welchem Zusammenhang die unterschiedlichen Verhandlungsebenen mit bestimmten betrieblichen oder gesamtwirtschaftlichen Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Lohnentwicklung, Beschäftigung etc. stehen. Die Untersuchungen kommen alle zum gleichen, vielleicht erstaunlichen Ergebnis, nämlich dass der wirtschaftliche Erfolg letztendlich nicht abhängig ist von der Ebene der Tarifverhandlungen. Das gilt insbesondere für Löhne, für Beschäftigung, für Arbeitslosigkeit und für das Wirtschaftswachstum. Wir können nicht feststellen, dass Länder, die zentral oder dezentral verhandeln, besser abschneiden beim Wirtschaftswachstum, dass sie besser oder schlechter abschneiden bei der Beschäftigungsentwicklung, dass sie besser oder schlechter abschneiden bei der Reallohnentwicklung. Man findet keine Ergebnisse, die wirklich stabil wären über längere Zeiträume hinweg. Allerdings gibt es zwei Ausnahmen. Zum einen gilt, dass zentrale Verhandlungen einhergehen mit einem geringeren Streikvolumen. Zum anderen kann man zeigen, dass zentrale Verhandlungen eine geringere Lohnspreizung mit sich bringen. In vielen europäischen Ländern wurden in den vergangenen Jahren vermehrt betriebliche Bündnisse für Arbeit abgeschlossen. Auch zu ihren ökonomischen Auswirkungen liegt eine ganze Reihe von Studien vor. Die Ergebnisse sind ziemlich eindeutig: Betriebliche Bündnisse sichern Beschäftigung. Sie schaffen zwar nicht unbedingt zusätzliche Beschäftigung, sind aber ein relativ erfolgreiches Instrument zur Stabilisierung von Arbeitsplätzen. 51 Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Ergebnissen ziehen? Die erste Erkenntnis ist, dass es kein optimales, allen anderen überlegenes Lohnfindungssystem gibt, das als Blaupause für alle Länder dienen könnte. Speziell für Deutschland heißt das zweite Ergebnis: Das deutsche System ist nicht grundsätzlich überholt, es ist aber dringend überholungsbedürftig. Diese beiden Schlussfolgerungen lassen sich auch anders ausdrücken: Man kann eine gute oder eine schlechte Tarifpolitik in jedem System durchführen. Das System sollte aber am besten so gestaltet sein, dass es bei einer schlechten Tarifpolitik den Betrieben noch Ausweichmöglichkeiten eröffnet. Das bringt mich natürlich zu der Frage nach den Konsequenzen für das deutsche System der Lohnfindung. Eine Konsequenz solle meines Erachtens sein, dass die verschiedenen Regelungsmöglichkeiten gleichberechtigt nebeneinander gestellt werden sollten. Es gibt keinen Grund, das eine oder andere System rechtlich zu begünstigen. Aus ökonomi- Abbildung Unternehmen mit Firmentarifverträgen 8000 2117 7000 1985 1961 1923 6000 1843 5000 1588 4000 1685 4817 3998 1178 3606 850 450 2100 5102 4492 1404 1445 3000 2000 5423 1765 1652 2562 2689 2300 2422 2924 3081 3293 1000 0 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 Westdeutschland 52 Ostdeutschland scher Sicht haben Allgemeinverbindlicherklärungen zur Stützung des Flächentarifvertrags keine Berechtigung. Wir sollten uns auch darüber Gedanken machen, inwieweit wir an dem Tarifvorrang festhalten wollen. Herr Dr. Brocker hat eine dezidierte Pro-Meinung geäußert. Wir sollten aber zumindest eine behutsame Reform des § 77 Abs. 3 BetrVG diskutieren. Firmen- statt Flächentarifverträge können für einzelne Firmen mit spezifischen Problemen sinnvoll sein. Immer mehr Unternehmen schließen Firmentarifverträge ab. (Allerdings sollte man den Schub im Jahr 2003 nicht überbewerten, da sich viele Zeitarbeitsfirmen schnell noch in den Firmentarifvertrag gerettet haben, weil die Alternative wesentlich schlechter ausgesehen hätte.) Man kann aber davon ausgehen, dass mittelfristig viele der Unternehmen diese Entscheidung revidieren und doch wieder in den Flächentarifvertrag eintreten. Ich habe jedoch große Zweifel, dass eine generelle Verlagerung der Tarifverhandlungen auf die Betriebsebene in jedem Fall von Vorteil ist. Es ist allerdings auch klar, dass die Flächentarifverträge reformiert werden müssen. Dazu gehört eine gewisse Entrümpelung der Tarifverträge und eine Erweiterung betrieblicher Gestaltungsspielräume. Die Faustregel könnte lauten: So viele überbetriebliche Rahmenvereinbarungen wie nötig, aber auch so viele betriebliche Gestaltungsmöglichkeiten wie möglich. Das klingt ein bisschen nach der Quadratur des Kreises, ist aber grundsätzlich machbar. Ein Weg dahin besteht im Einbau von Öffnungsklauseln in den Tarifvertrag – und zwar in jeden Tarifvertrag. Damit können die Betriebsparteien in bestimmten Fällen abweichende Regelungen innerhalb eines gesetzten Rahmens treffen. Wenn die Tarifparteien dies nicht selbst vereinbaren, dann ist meiner Ansicht nach der Gesetzgeber gefordert. Der Vermittlungsausschuss hat Ende 2003 in diese Richtung gedacht, hat für den Fall der Nichterfüllung dieses Versprechens durch die Tarifparteien aber keine Sanktionen angedroht. Es geht nicht nur um Öffnungsklauseln, sondern damit verbunden auch um die Erleichterung betrieblicher Bündnisse für Arbeit. Dies setzt eine Neuinterpretation des 53 Günstigkeitsprinzips voraus. Heute werden durch eine zu enge Auslegung des Günstigkeitsprinzips Beschäftigte faktisch daran gehindert, ihre Arbeitsplätze durch Zugeständnisse bei Löhnen oder Arbeitszeit zu sichern. Die Einschätzung der Betroffenen sollte daher ein größeres Gewicht erhalten. Das mir vorgegebene Thema lautete „Dezentrale oder zentrale Verhandlungen – Was sagt die Empirie zur Effizienz von Lohnfindungssystemen?“. Ich möchte es zum Schluss abändern in dezentrale und zentrale Verhandlungen, da mein Vortrag gezeigt hat, dass keine der beiden Alternativen ein durchweg besseres Problemlösungspotenzial aufweist. Vielmehr sollten beide Wege für die Vereinbarung von Löhnen und Arbeitsbedingungen zur Verfügung stehen. Die Wahl zwischen Flächentarifvertrag, Firmentarifvertrag und anderen Regelungen wie Betriebsvereinbarung und Einzelarbeitsvertrag, die im deutschen Arbeitsrecht grundsätzlich möglich sind – aber im Fall der Betriebsvereinbarung gleich wieder eingeschränkt wird –, kann als eine Stärke unseres Systems der Arbeitsbeziehungen betrachtet werden. Sie sollte noch ausgebaut werden, indem die verschiedenen Regelungsmöglichkeiten gleichberechtigt nebeneinander gestellt werden und keine rechtlich begünstigt wird. Die Tarifparteien mögen sich dann überlegen, wie sie diese Wahl der Unternehmen durch eine geeignete Tarifpolitik beeinflussen können. Die flexiblere Gestaltung des deutschen Lohnfindungssystems ist ein wichtiger, jedoch nicht der einzige Ansatzpunkt zur besseren Ausnutzung von Beschäftigungsmöglichkeiten. Unabdingbar sind darüber hinaus Änderungen in der langjährig verfolgten, nicht gerade beschäftigungsfördernden Lohnpolitik. Durch eine zurückhaltende Festlegung der tariflichen Mindestarbeitsbedingungen und einen entsprechend größeren Spielraum für die übertarifliche Entlohnung, durch differenziertere Abschlüsse und eine Spreizung der Lohnstruktur ließen sich die Differenzierungsmöglichkeiten, die Flexibilität sowie die Leistungsfähigkeit des derzeitigen Lohnfindungssystems erhöhen und damit Beschäftigung sichern und schaffen. 54 Die Tarifparteien haben es in der Hand, durch rasches eigenes Handeln dem Gesetzgeber zuvorzukommen und endlich wieder der großen gesellschafts- und beschäftigungspolitischen Verantwortung gerecht zu werden, die sich aus der Gewährung der Tarifautonomie ergibt. 55 Podiumsdiskussion Professor Fels Meine Damen und Herren, es geht in die letzte Runde. Zunächst mal vielen herzlichen Dank an Herrn Schnabel, der uns den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis der Frage „Zentral oder dezentral oder beides“ präsentiert hat. Wir werden uns sicher im Laufe der Diskussion mit der Frage beschäftigen, wie weit wir in Deutschland von dem, was Sie als optimal bezeichnet haben, entfernt sind. Manchmal hat man das Gefühl, viele unserer Probleme in Deutschland rühren daher, dass wir uns nicht zu einem Pragmatismus verstehen. Wir sind immer sehr prinzipientreu, etwa in Bezug auf den Flächentarifvertrag oder die Handwerksordnung oder den Ladenschluss. Der renommierte US-Ökonom Paul Krugman hat kürzlich in der New York Times geschrieben, dass der Gegensatz zwischen den USA und Deutschland in puncto ökonomischer Performance nicht so sehr durch Adam Smith auf der einen Seite und Karl Marx auf der anderen Seite erklärt werden kann. Das wäre die falsche Alternative. Die Alternative sei eher Immanuel Kants kategorischer Imperativ versus William James´ aufgeklärten Pragmatismus. Man merkt das ja auch daran, dass die Gesetze oder die Richtlinien, die von Brüssel kommen, in Deutschland ziemlich genau beachtet werden. In weiter südlicheren Regionen herrscht dagegen mehr Pragmatismus im Umgang mit diesen Dingen. Das Sonntagsarbeitsverbot spielt zum Beispiel in Italien überhaupt keine Rolle. Das ist nach Europarecht zwar genauso verboten, aber man hat da halt mehr Flexibilität. Ich würde jetzt vorschlagen, dass wir zunächst Herrn Berthold hören, wie er das Tarifsystem sieht. Es gibt doch einen weitgehenden Konsens, dass man mehr Flexibilität braucht, aber dass man den Flächentarifvertrag als solchen nicht in Frage stellen sollte. Professor Berthold Vielen Dank, Herr Fels. Jagdish Bhagwati, der bekannte Außenhandelstheoretiker, hat über Paul Krugman einmal gespottet, dessen Mei56 nungen seinen volatiler als die Wechselkurse. Ich wäre daher vorsichtig, mich auf Krugman zu beziehen. Dass wir hier sitzen und über den Flächentarifvertrag diskutieren, hat in der Tat mit Volatilität zu tun. Hätten wir eine wirtschaftliche Entwicklung wie in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren, dann bräuchten wir hierüber überhaupt nicht diskutieren. Dann wäre der Flächentarif sicherlich der sinnvolle Rahmen, um die Lohn- und Tariffindung zu bewerkstelligen. Nur, wir leben nicht mehr in dieser Welt, und die Dinge haben sich geändert. Im Wesentlichen sind es drei Entwicklungen. Erstens: Wir haben eine stärkere Öffnung der Märkte, vor allen Dingen der Kapitalmärkte – europaweit durch die europäische Integration und die EU-Osterweiterung und weltweit durch die Globalisierung. Das bedeutet für die Unternehmen eine größere Unsicherheit der Produktion. Es muss mit größeren Risiken produziert werden, und das erfordert mehr Flexibilität. Zweitens: Wir haben eine Veränderung in der Struktur der Arbeitsnachfrage der Unternehmen. Branchenmäßige Entwicklungen sind völlig unterschiedlich, ja selbst die Entwicklung von Unternehmen in einer Branche unterscheiden sich. Und das bedeutet: Wir brauchen aufgrund dieser stärkeren Heterogenität eine größere Differenziertheit. Drittens: Wir haben ein Arbeitsmarktproblem, das daher rührt, dass die Unternehmen aufgrund des schärferen internationalen Wettbewerbs immer weniger Möglichkeiten haben, steigende Kosten auf die Preise zu überwälzen. Wenn es zu Produktivitätsschocks kommt, und dazu kommt es heutzutage permanent, trifft das vor allem die eine Gruppe von Arbeitnehmern, die wegrationalisiert werden, die Geringqualifizierten. Wenn wir das alles zusammennehmen, kommt man zur Schlussfolgerung, dass der Flächentarif, diese Institution, die in den fünfziger und sechziger Jahren zu den wirtschaftlichen Gegebenheiten passte, heute nicht mehr passt. Wir haben ein Geflecht von Institutionen, das verhindert, dass wir flexibel und differenziert genug auf Entwicklungen reagieren können. Es geht nicht allein um den Flächentarif, es sind viele institutionelle Hemmnisse, die uns daran hindern, mit diesen Problemen adäquat umgehen zu können. 57 Herr Brocker hat in seinem Vortrag vorhin die These vertreten, dass es kein Tarifkartell gibt, weil das System auf Freiwilligkeit basiert. Niemand sei gezwungen, einem Arbeitgeberverband anzugehören. Ich bin da anderer Ansicht. Der Staat stützt solche Institutionen am Arbeitsmarkt. Er stützt sie dadurch, dass er in zunehmendem Maße die aufgrund einer verfehlten Lohn- und Tarifpolitik überschüssigen Mengen am Arbeitsmarkt über die Sozialpolitik herauskauft. Das geht über die Arbeitslosenversicherung, das geht aber in viel stärkerem Maße noch über die Rentenversicherung, über Frühverrentungsmaßnahmen und vieles andere mehr. Der Staat greift vehement ein und stützt dieses Kartell dadurch, dass er über die Sozialhilfe faktische Mindestlöhne einführt. Das betrifft gerade die Problemgruppe der Geringqualifizierten am Arbeitsmarkt. Wir haben ein institutionelles Geflecht mit dem Flächentarif auf der einen Seite und einem Staat auf der anderen Seite, der die negativen Drittwirkungen am Arbeitsmarkt ausgleicht. Diese Entwicklung trifft nicht so sehr die großen Unternehmen, sondern es sind vor allen Dingen die kleineren Unternehmen, die darunter leiden. Deshalb gibt es so etwas wie eine Notwehrreaktion der kleineren und mittleren Unternehmen – in Form von betrieblichen Bündnissen für Arbeit. Diese sind zwar unter dem gegenwärtigen rechtlichen Rahmen in der Regel mehr oder weniger illegal, aber die Betriebe wissen sich nicht mehr anders gegen dieses institutionelle Geflecht zur Wehr zu setzen. Wir haben in einer Untersuchung für den VDMA eine Befragung aller Mitgliedsfirmen durchgeführt und festgestellt, dass 40 Prozent der Unternehmen vom Flächentarif abweichen. Davon regeln dies nur 23 Prozent einzelvertraglich, 10 Prozent über Haustarife oder tarifliche Öffnungsklauseln. Mit anderen Worten: Zwei Drittel der Unternehmen mit betrieblichen Bündnissen handeln auf einer wackligen rechtlichen Basis. Das zeigt: Wir brauchen dringend eine Legalisierung der betrieblichen Wirklichkeit. Damit kommen wir zur spannenden Frage, ob die Öffnungsklauseln tariflich sein müssen oder gesetzlich. Wenn die Tarifparteien nicht in der 58 Lage sind, sich zu bewegen, dann bleibt dem Gesetzgeber gar nichts anderes übrig, als eine gesetzliche Regelung zu schaffen. Im Prinzip können wir das über beide Varianten installieren, eine gesetzliche Öffnungsklausel oder eine Neufassung des Günstigkeitsprinzips. Spätestens hier fängt der Streit an. Denn beide Lösungen kommen nur für tarifgebundene Unternehmen in Betracht. Für die tarifungebundenen Firmen reichen weder die gesetzliche Öffnung noch ein neu definiertes Günstigkeitsprinzip aus. Sie brauchen eine Veränderung der Regelungsabrede, also einen geänderten Tarifvorbehalt. Die tarifungebundenen Unternehmen benötigen eine Abschaffung des Tarifvorbehalts, um auch auf betrieblicher Ebene eine Vereinbarung zwischen Unternehmensleitung und dem Betriebsrat oder einer Mehrheit der Beschäftigten generieren zu können. Wir brauchen mehr institutionellen Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Formen von Arbeitsverträgen. Wir sollten das Subsidiaritätsprinzip nicht, wie es gegenwärtig geschieht, auf den Kopf stellen. Wir tun das, indem wir dem Flächentarifvertrag den Vorrang geben, erst dann kommen Haustarife und dann Einzelarbeitsverträge. Die betrieblichen Bündnisse für Arbeit kommen so gar nicht vor. Ich will mehr Wettbewerb zwischen diesen Möglichkeiten, Tarifverträge oder Arbeitsverträge abzuschließen. Was einzelvertraglich geregelt werden kann, soll einzelvertraglich geregelt werden. Wenn es, aus welchen Gründen auch immer, Schwierigkeiten gibt, sei es auf Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite, kommt die nächsthöhere Instanz ins Spiel. Zunächst also betriebliche Bündnisse für Arbeit. Wenn das nicht geht, dann kommen Haustarife in Betracht und – wenn dann immer noch Bedarf besteht – dann in Gottes Namen auch Flächentarife. Ich denke, wir brauchen einen institutionellen Wettbewerb in diesem Bereich der Lohn- und Tariffindung. Mehr fordere ich gar nicht. 59 Professor Fels Danke schön, Herr Berthold. Wir sind jetzt zu dem Kern dessen vorgestoßen, was möglicherweise kontrovers diskutiert wird. Ich würde jetzt gerne Herrn Streeck fragen, wie er sich dazu stellt. Herr Berthold möchte an den Tarifvorbehalt ran, § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes. Dieser Paragraph gilt ja für Tarifgebundene wie für Nicht-Tarifgebundene. Auch wer nicht im Arbeitgeberverband ist, darf mit seinem Betriebsrat keine Regelungsabreden treffen, die etwa Löhne und Arbeitszeit betreffen. Herr Streeck, ist es sinnvoll, da nun Hand anzulegen? Professor Streeck Ich möchte eigentlich zwei Punkte betonen. Der erste Punkt ist: Das Flächentarifvertragssystem – oder das Tarifvertragssystem, denn es gibt ja sehr viel mehr Haustarifverträge als Flächentarifverträge – ist im Wandel begriffen. Da ist eine ungeheure Dynamik drin, und sehr viel von dem, was Herr Berthold gerade eingefordert hat – zum Teil zu Recht, etwa Wettbewerb zwischen verschiedenen Regulierungsebenen und Regulierungsformen –, gibt es bereits. Wettbewerb ist ein kreativer Prozess, in dem auch Regelverletzungen oder Versuche der Weiterentwicklung von Regelungen stattfinden müssen. Jede Innovation ist etwas Unvorhergesehenes, das mit dem in Konflikt geraten kann, was schon besteht. Es ist deshalb ganz normal, dass es Fälle gibt, bei denen man nicht genau weiß, ob sie dem Tarifvertrag entsprechen oder unter den § 77 Abs. 3 fallen oder unter andere Bestimmungen. Mein zweiter Punkt ist der folgende: Wir reden in Deutschland sehr viel über die Notwendigkeit zur Flexibilisierung. Ich glaube aber, dass Arbeitsmärkte etwas Besonderes sind und dass sie sicherlich nicht so flexibel sein können wie Kapitalmärkte. Die Einzigen, die das nicht verstehen, sind auf Lebenszeit verbeamtete Professoren, bei denen das Gehalt gewissermaßen aus der Steckdose kommt. Arbeitsmärkte müssen anders als andere Märkte für ein gewisses Maß an Sicherheit sorgen, so wie es im Begriff der Flexicurity zum Ausdruck kommt. Flexibilität muss ergänzt werden durch Stabilität. Herr Brocker hat vorhin sehr zu60 treffend von der Konfliktsicherheit, der Produktionssicherheit etc. gesprochen, die die Tarifverträge den Unternehmen geben. Eine ebensolche Sicherheit erwächst für die Beschäftigten aus Tarifverträgen oder anderen Regelungen, die nicht einseitig von der Gegenseite diktiert werden können. Einkommen müssen heute zunehmend variabel werden, je nach Leistung und Unternehmenssituation. Das ist auch völlig richtig so. Aber Variabilität kann nicht unbegrenzt sein. Man kann vielleicht 10 oder 12 Prozent der Einkommen flexibilisieren. Wenn es aber mehr wird und man den Arbeitnehmern zugleich sagt, sie müssen jetzt viel mehr als früher für ihr Alter selbst vorsorgen und der Vollversorgungsstaat bei der Gesundheit ist nicht mehr finanzierbar, dann kommt man in eine Situation, wo die Erwartungssicherheit der Beteiligten den Wirtschaftsprozess nicht mehr garantieren kann. Dann bekommt man mehr Rigidität als Flexibilität – aus Unsicherheit. Und wie kann man erwarten, dass Arbeitnehmer sich ein Auto auf Raten kaufen – was sie sollen, damit es mit der Konjunktur wieder aufwärts geht –, wenn sie nicht wissen, was sie im Monat verdienen oder wie lange sie überhaupt noch beschäftigt sein werden? Lassen Sie mich ein anderes Beispiel ausführen: In der heutigen Arbeitswelt hängt vieles davon ab, dass Arbeitnehmer selbst in ihre Qualifizierung investieren und es nicht nur dem Arbeitgeber überlassen, dies zu tun. Investitionen tätigt man aber nur, wenn man zumindest einigermaßen Gewissheit hat, dass man sie hinterher amortisieren kann. In einem hyperflexiblen Arbeitsmarkt gibt es keine solche Gewissheit. Es gibt also Grenzen der Flexibilisierung von Arbeitsmärkten, die man sorgfältig beachten muss. Wir sollten zudem nicht außer Acht lassen, was wir in den vergangenen Jahren erlebt haben. Für weite Teile der Bevölkerung ist der wirtschaftliche Status heute weit unsicherer als vor 10 Jahren. Das kann man am Konsumverhalten sehen, aber auch an der Reaktion auf die Reformen der letzten anderthalb Jahre. Kurz und gut, Arbeitsmärkte brauchen Institutionen, die allen Beteiligten, nicht nur den Unternehmen, neben Flexibilität auch ein Mindestmaß Sicherheit garantieren. Das Ausbalancieren der beiden – „Flexicurity“ für Unternehmen und für Arbeitnehmer – ist das große gestalterische Pro61 blem in den Arbeitsmärkten. Die Institutionen, die Beschäftigung regulieren, müssen das Vertrauen aller Beteiligten haben können. Auch der Arbeitnehmer muss sich darauf verlassen können, dass ein Unternehmen Verträge nicht einfach über den Haufen schmeißt, weil es ihm gerade passt und die Arbeitnehmer dann die gesamte Unsicherheit zu tragen haben. Unsicherheiten und Risiken müssen gerecht verteilt werden. Lassen Sie mich meine These vom Wandel des Tarifvertragssystems noch mit ein paar Zahlen illustrieren. Am Max-Planck-Institut haben wir untersucht, wie betriebliche Bündnisse in den hundert größten deutschen Unternehmen funktionieren. Das hat Anfang der neunziger Jahre angefangen. Über die Zeit hat es immer mehr solcher Bündnisse gegeben. Zu echten Tarifbrüchen kommt es dabei nur selten. Das hat etwas damit zu tun, dass die Tarife selbst flexibler geworden sind. Vor allem die Anzahl der von tarifvertraglichen Öffnungsklauseln erfassten Arbeitnehmer zeigt, dass sich eine Menge getan hat. Waren es 1993 knapp über eine halbe Million Beschäftigte, so sind es mittlerweile 6,6 Millionen. Innerhalb des Tarifvertragssystems, so interpretiere ich das, hat ein Lernprozess stattgefunden. Der mag nicht weit genug gegangen sein. Dennoch ist hier eine Delegation von Handlungsmöglichkeiten auf die Betriebsebene zustande gekommen, für die man den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften Anerkennung zollen muss. Die haben doch nicht einfach auf ihren Flächentarifen gesessen, sondern sie haben gehandelt. Solche Prozesse funktionieren natürlich nicht so, dass alle immer begeistert sind. Das ist zum Teil auch erzwungen worden. Gleichwohl, innerhalb des deutschen Systems können solche Anpassungsprozesse stattfinden. Vor diesem Hintergrund möchte ich dafür plädieren, dieses System nicht abzuschreiben. Es ist reformfähig. Professor Fels Danke schön, Herr Streeck. Sie haben geschildert, wie weit der Prozess schon fortgeschritten ist, und sagen auch, gewisse Gesetzesverstöße sind unvermeidlich. In jedem großen Liberalisierungsprozess ist eine Phase der Balkanisierung vorgeschaltet. Das bleibt wohl nicht aus, bis sich neue Formen herausgebildet haben. Die entscheidende Frage lau62 tet: Reicht das aus? Sind nicht doch energischere Schritte von Seiten der Tarifparteien oder gar des Gesetzgebers nötig? Vor fast einem Jahr hat der Bundeskanzler mit gesetzlichen Öffnungsklauseln gedroht, wenn die Tarifparteien nicht handeln. Herr Berthold ist noch ein Stück weiter gegangen und hat sich für eine Änderung des Tarifvorbehalts ausgesprochen. Lassen Sie mich daher noch einmal nachfragen, Herr Streeck. Wie sehen Sie das? Professor Streeck Vielleicht ist es aus politischen Gründen zweckmäßig, um den Prozess zu beschleunigen, wenn solche Aussagen getroffen werden. Man muss dann aber gut aufpassen, was geschieht. Es gibt Dinge, die auch aus Arbeitgebersicht nicht gut funktionieren würden. Wenn man zum Beispiel ins Gesetz schreibt, dass in Betrieben Tarifabweichungen zwischen Betriebsrat und Unternehmen vereinbart werden können, die von der Hälfte oder zwei Dritteln der Beschäftigten bestätigt werden müssen, kann dies zu einer Spaltung der Belegschaft führen. Denn es müssen Betriebsversammlungen durchgeführt werden, in denen Gewerkschafter auftreten und Reden halten für den Flächentarif, es werden Flugblätter im Betrieb verteilt etc. In den USA, wo ich sieben Jahre gelehrt habe, kann man sehen, was passiert, wenn in einem Betrieb nach den dortigen Gesetzen darüber abgestimmt wird, ob die Belegschaft von einer Gewerkschaft vertreten werden will oder nicht. Der ganze Betrieb ist fraktioniert. Das Betriebsklima ist – unabhängig vom Ergebnis – kaputt. Der Unternehmer beteiligt sich an dem Wahlkampf. Wenn er gewinnt, bleibt ein enormes Ressentiment zurück. Ich wünsche keinem deutschen Unternehmen eine ähnliche Auseinandersetzung. Das heißt, es gibt eine ganze Reihe von Nebenfolgen, die man bedenken muss, wenn man dem Betriebsrat die Möglichkeit gibt, Tarife außer Kraft zu setzen oder gar abzuschließen. Im letzteren Fall müsste der Betriebsrat nach unserer Verfassungslage über kurz oder lang auch ein Streikrecht bekommen. Da muss man sich fragen, will man das? Es gibt noch einen anderen Aspekt zu beachten: Alle rechtlichen Veränderungen enthalten Elemente der Unsicherheit. In den Betrieben 63 muss das dann ausgetestet werden, und im Zweifel entscheidet das Verfassungsgericht. Das kann lange dauern und am Ende sehr teuer werden. Ich würde es vorziehen – und das ist meine Antwort auf die Frage –, dass wir den Anpassungsweg, den wir in den vergangenen zehn Jahren beschritten haben, in der Verantwortung der beiden Seiten des Arbeitsmarktes weitergehen. Das ist mühsam, das geht langsam, aber es ist erheblich weniger riskant als rechtliche Veränderungen, die das Organisationsrecht und damit die Existenz der Gewerkschaften berühren. Das ist ein Spiel mit dem Feuer, und ich würde davor warnen, dies zu wagen. Professor Fels Danke schön. Herr Busch, Sie stehen an der Front. Dr. Busch Eigentlich bin ich sehr in Versuchung, mich in das intellektuelle Gefecht der beiden Flügelkämpfer einzumischen, allerdings laufe ich dann wahrscheinlich Gefahr, Stichwunden zu bekommen. Ich ziehe es daher vor, zwei mir sympathische Aussagen von Herrn Schnabel zu kommentieren. Die erste These war: Es gibt kein optimales System der Lohnfindung. Das war mir schon länger bekannt, zumindest seit ich mal längere Zeit im Ruhrgebiet gelebt habe. Das sind sehr praktische Menschen dort, und die haben auch eben solche Erkenntnisse. Eine heißt unter anderem: „Man gewöhnt sich an allem, auch am Dativ.“ Übertragen auf unser Thema heißt das: Es existiert kein optimales System und auch kein optimales institutionelles Geflecht. Alle Beiträge sind wichtig. Die zweite, mir sympathische These war, dass es sinnvoll ist, wenn mehr Regelungssysteme nebeneinander bestehen. Damit oute ich mich insoweit, als ich hier nicht als Prediger des Flächentarifvertrags auftrete. Die Arbeitgeber und natürlich in erster Linie unsere Mitglieder – die 64 Unternehmen – müssen tagtäglich damit umgehen. Das Thema ist insofern unter Nützlichkeitsgesichtspunkten zu betrachten. Es ist daher zu Recht mehrfach von Vorteilen und Nachteilen gesprochen worden, auch Herr Brocker hat von Vorteilen und Nachteilen gesprochen. Das wissen wir schon lange, dass das konstituierende Element eines Arbeitgeberverbandes, nämlich der Flächentarifvertrag, sich nicht immer zum Vorteil entwickelt hat. Aber die Verbände haben darauf organisationspolitisch reagiert und ihre Organisation weiterentwickelt und nichttarifgebundene Verbände gegründet. Ich nenne das immer Differenzierung durch Organisation. Es gibt eben Unternehmen, die sind Mitglied in einem Arbeitgeberverband, der Tarifträgerverband ist, und es gibt Unternehmen, die sind Mitglied in einem Verband, der eben nicht der Tarifbindung unterliegt. Dafür lassen sich viele Pros und Cons finden, und einige sehen dieser Entwicklung mit einer gewissen Leidenschaft entgegen, ob positiv oder negativ sei dahingestellt. Wir sehen aber auch, dass es eine ganze Menge Unternehmen gibt, die großen Wert darauf legen, Mitglied in einem Tarifträgerverband zu sein. Das geschieht kaum aus irgendwelchen ordnungspolitischen Gründen oder anderen hehren Motiven, sondern vielmehr aus einem einfachen Grund: Die Unternehmen sind Mitglied, weil es ihnen nützt. Allerdings ist dieser Nutzen fragwürdiger geworden. Denn der Flächentarifvertrag ist von dem weggerückt, was er in den fünfziger und sechziger Jahren geleistet hat, nämlich Mindeststandards zu definieren. Er legt heute zu hohe Standards fest. Die Bündnisse für Arbeit kann man als Indikator dafür nehmen. Weil man permanent Bündnisse auf Betriebsebene abschließt, die vom Flächentarifvertrag nach unten abweichen, müssen die Festlegungen zu hoch sein. Das liegt auf der Hand. Dieselben Unternehmen sagen aber auch, wir brauchen den Flächentarif, denn wir sind – und das ist ein Reflex auf erhebliche Veränderungen – in Wertschöpfungsketten und Liefernetzwerke eingebunden. Das Ganze ist ein viel zu empfindliches Gebilde, als dass man es einem chaotischen Prozess der dezentralen 65 Lohnfindung aussetzen könnte. Dann wäre dauernd eine Ecke dieses Netzwerkes unter Druck oder gegebenenfalls sogar gestört, und damit ist das ganze System fragil. Aus Sicht unserer Mitglieder ist der Flächentarifvertrag vor diesem Hintergrund ein nicht zu schlagendes Instrument der Befriedung und der Aushandlung von Standards. Der Kernnutzen des Flächentarifvertrags besteht darin, den Verteilungskampf aus den Unternehmen herauszuhalten. Dies ist die größte Stärke des Systems. Und die Schwäche ist eben, dass der Flächentarifvertrag den Unternehmen nicht ausreichend schnelle und gründliche Reaktionsmöglichkeiten an veränderte Situationen erlaubt. Diese Veränderungen erfolgen nicht im Rhythmus der Gültigkeitsdauer eines Flächentarifvertrags, sondern des Marktes und Wettbewerbs. Der nimmt auf die Laufzeit der Flächentarifverträge keine Rücksicht. Deshalb muss es möglich sein, parallel dazu auf betrieblicher Ebene reagieren zu können und sich entsprechend verhalten zu können. Das ist das, was wir unter anderem in der laufenden Tarifrunde unter dem Stichwort „Gestaltungsspielraum“ thematisieren. Die vorhin von Frau Köcher präsentierte Befragung stärkt uns in dieser Haltung. Drei Viertel der Metall- und Elektroindustrieunternehmen sind danach vom Nutzen des Flächentarifvertrags überzeugt. Ungefähr dieselbe Zahl – wenn ich es richtig im Kopf habe – sagt aber auch: Wir brauchen mehr Spielraum, mehr Flexibilisierungsmöglichkeiten. Als Arbeitgeberverband sind wir keineswegs der Ansicht, dass eine ganz bestimmte Mindestanzahl von Unternehmen in Deutschland oder auf dieser Welt Mitglied eines Arbeitgeberverbandes sein oder der Tarifbindung unterliegen muss. Das ist wirklich eine rein praktische Entscheidung. Wenn ein großer Teil der Unternehmen der Auffassung ist, „das wollen wir nicht, wir wollen es anders haben“, dann müssen wir damit leben. Insofern ist das ganze Gerede vom Kartell immer etwas sehr ökonomietheoretisch. Gott sei Dank läuft die Welt auch ohne Ökonomen weiter. 66 Professor Fels Sie sind doch selber einer. Dr. Busch Ich verheimliche das auch nicht. Es hat mir bisher nicht geschadet, es hat mir manchmal sogar genutzt. Zurück zum Thema. Wir als Arbeitgeberverband versuchen die unbestreitbaren Vorteile des Flächentarifvertrags abzusichern, im Sinne unserer Mitglieder und nicht im Sinne einer bestimmten Verfasstheit dieses Landes. Wir versuchen die Nachteile, die sich entwickelt haben, auszugleichen, und das kommt – glaube ich – ganz gut im Konzept unserer diesjährigen Tarifauseinandersetzung zum Tragen. Auf der Lohnseite finden wir uns ganz im Einklang mit allen weisen Ökonomen – nicht nur den fünf, die meisten Ökonomen sind weise –, dass man tunlichst unterhalb des Produktivitätszuwachses bleiben sollte, wenn man Arbeitsplätze schaffen will. Gleichzeitig streben wir für die Unternehmen mehr Gestaltungsspielraum an. Allerdings sind wir nicht der Auffassung, dass dieses am besten durch generelle Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen zu erreichen ist. Generelle Öffnungsklauseln sind zu unspezifisch, so dass permanente Debatten bis hin zum Streit und Konflikt in den Unternehmen drohen, wie denn nun die Öffnungsklauseln umzusetzen sind. Deshalb wollen wir an einem betriebswirtschaftlich wie auch makroökonomisch ganz wesentlichen Thema ansetzen, nämlich der Frage des Arbeitsvolumens und der daran gebundenen Entlohnung. Wir ziehen es vor – und diese Auffassung haben wir seit dem vergangenen Sommer vertreten, als das Thema virulent wurde –, dass die Tarifvertragsparteien solche notwendigen Öffnungen des Tarifvertrags erreichen, weil diese Regelungen dann praxisrelevant sind. Wenn der Gesetzgeber es macht, hätten wir anschließend vor allem juristische Auseinandersetzungen, also keine Sicherheit, sondern eher eine Unsicherheit. Noch eine letzte Bemerkung. Ich bin völlig leidenschaftslos, ob man nun auf betrieblicher Ebene oder auf kollektiver Ebene Lohnfindung betreibt: Man kann sich für das eine wie für das andere entscheiden. Man kann das ganze System so ausrichten, dass es auf betrieblicher Ebene 67 stattfindet oder eben durch das Austarieren von Tarifvertragsebene und Betriebsebene. Nur über eins sollte man sich klar sein: Man kann nicht in diesem austarierten System nur eine Stellschraube verändern, ohne zu berücksichtigen, welche Folgewirkungen das überall hat. Um es plastisch zu machen: Wenn man den § 77 Abs. 3 streicht, dann muss man sich auch offen und ehrlich dazu bekennen, dass man vom Grundsatz eigentlich eine dezentrale Lohnfindung haben will. Dann muss man das Betriebsverfassungsgesetz und analog dazu das Tarifvertragsgesetz völlig ändern. Man kann es nicht einfach nur teilweise ändern, denn in seiner jetzigen Form verpflichtet das Betriebsverfassungsgesetz die Betriebsparteien, zum Wohle des Betriebes zusammenzuarbeiten und gerade nicht den Verteilungskampf zu führen. Ich muss also, wenn ich den § 77 Abs. 3 ändere, das Betriebsverfassungsgesetz ändern – und zwar komplett ändern. Es geht nicht zu sagen: „Wasch mir den Pelz und mach mich nicht nass.“ Man muss dann schon konsequent sein. Herr Berthold, ich habe Ihre Untersuchung mit Interesse bis zur drittletzten Seite gelesen. Bis dahin ist sie sehr korrekt, und dann kommt ein Glaubensbekenntnis, das mit der Empirie nicht mehr zusammenpasst, die Forderung, den § 77 Abs. 3 abzuschaffen. Professor Fels Danke schön. Der § 77 Abs. 3 scheint ja bei manchen Leuten schon eine Hausnummer zu sein. Wenn man diesen Paragraphen abschafft, wäre das ein ziemlich radikaler Umbau unseres gesamten Systems, das ja auf Sozialpartnerschaft auf der betrieblichen Ebene aufgebaut ist und die Konflikte über Löhne und Arbeitszeit überbetrieblich löst. Es ist wie im Mittelalter. Die Bürger in den Städten hielten sich damals Militärkontingente und wenn es zu Auseinandersetzungen kam, dann hatten diese extra muros zu kämpfen, damit innerhalb der Städte nicht zu viel zerschlagen wurde. Die Bürger saßen oben auf den Zinnen und guckten zu. Ähnlich ist das heute mit Tarifverhandlungen. Man hat die Arbeitgeberverbände als ein stehendes Heer, die das dann mit den Gewerkschaften auszufechten haben, ohne dass dieser Kampf in die Be68 triebe hineingetragen wird. Herr Schnabel, bitte, Sie wollten sich dazu äußern. Professor Schnabel Ich glaube, man muss stärker unterscheiden zwischen tarifgebundenen Unternehmen und nichtgebundenen. Bisher hatten wir sie zu sehr über einen Kamm geschert. Lassen Sie mich aber zu einem anderen Punkt zurückkommen. Das System ändert sich oder – wenn man so will – reformiert sich gerade selber. Wenn man die Abnahme der Tarifbindung analysiert, stellt man fest, dass sich insbesondere jüngere Unternehmen fernhalten. Das gilt wahrscheinlich nicht nur für die Tarifbindung, sondern generell für die Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und ist natürlich ein Problem für die Zukunft. Nun sagten Sie, Herr Busch, es gibt keine Mindestzahl von Firmen, die im Arbeitgeberverband sein müssten oder der Tarifbindung unterliegen. An dieser These zweifle ich. Ich kann zwar nicht genau sagen, wo die Mindestgröße liegt, damit der Tarifvertrag noch wirklich als Anker dienen kann. Diese Ankerfunktion ist sehr wichtig – zumal sich viele Betriebe an einem Tarifvertrag orientieren, obwohl sie nicht tarifgebunden sind. Irgendwo hängt das natürlich damit zusammen, dass dieser Tarifvertrag gestützt wird von einer bestimmten Anzahl von Unternehmen und ein paar Großunternehmen. Wir wissen die Mindestgrenze nicht, aber wir haben – jetzt komme ich doch wieder auf die Ökonomen und ihre Glasperlenspiele zurück – Anhaltspunkte dafür, dass es, was die Mitgliedschaft in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden angeht, eine kritische Mindestzahl gibt und das System sich auflösen kann, wenn diese unterschritten wird. Das mag noch graue Theorie sein, aber wir können es vielleicht noch erleben und beobachten es sogar, wenn wir die Entwicklung der Gewerkschaften in manchen Ländern analysieren. Hinsichtlich der Öffnungsklauseln – insbesondere der generellen – ist richtig, dass es schwer ist, sie justiziabel zu machen. Die Chemische Industrie macht aber vor, dass es möglich ist. Dort funktionieren bestimmte Arten von Öffnungsklauseln, die relativ allgemein spezifiziert sind, die einen Rahmen vorgeben, in dem die Betriebe deutliche Mög69 lichkeiten haben. Diese Klauseln sind natürlich themenorientiert, sonst würde es keinen Sinn machen zu sagen: Wir haben einen Flächentarifvertrag, und wer will, kann davon abweichen. Eine Öffnung für bestimmte Zwecke lässt sich sehr wohl so reinschreiben, dass sie auch gerichtsfest ist. Das gilt jedoch alles nur für die tarifgebundenen Unternehmen, die einen Tarifvertrag haben und, wenn es wirklich schlecht aussieht, einen Notausstieg haben wollen. Dafür gibt es eine legale Lösung. Natürlich gibt es noch eine andere Möglichkeit, die italienische Lösung. Die lässt sich so lange verwirklichen, solange Arbeitgeberverbände oder Gewerkschaften, die beide den Vertrag unterschrieben haben, ein Auge zudrücken. Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Das ist relativ effizient, und insofern sind die Italiener in solchen Sachen besser. Aber Deutschland war eigentlich immer ein Land, in dem man sich relativ gesetzestreu verhält und versucht, eine Regelung zu finden, die dann auch wirklich Bestand haben kann. Für die tarifungebundenen Firmen ist es recht schwierig, vernünftige Lösungen zu finden. Wir haben momentan, wenn man das Gesetz wirklich wörtlich nimmt, eine absurde Situation. Nehmen wir einmal an, Sie sind in einer Industrie, die keinen Flächentarifvertrag hat, denken Sie mal an die Softwareindustrie. Sie sind in einem Unternehmen, keiner Ihrer Mitarbeiter ist Mitglied in einer Gewerkschaft. Professor Fels Trotzdem gilt der § 77 Abs. 3. Professor Schnabel Trotzdem gilt der § 77 Abs. 3, das heißt, Sie können nur Einzelarbeitsverträge abschließen. Wenn Sie so groß sind wie SAP, schließen Sie tausende von Einzelarbeitsverträgen ab. Sie dürfen das nicht kollektiv mit der Belegschaft machen, in dem Sinne, dass der Betriebsrat die Interessen der Belegschaft vertritt. Das ist natürlich absurd. 70 Professor Fels Darf ich nochmals Herrn Berthold ins Spiel bringen. Man könnte sich ja vorstellen, dass man für nicht tarifgebundene Unternehmen Regelabsprachen trifft, also mit dem Betriebsrat einen Musterarbeitsvertrag ausarbeitet, der dann individuell abgeschlossen wird. Damit ist die ganze Problematik des § 77 Abs. 3 vom Tisch. Professor Berthold Wenn es keine Transaktionskosten gäbe, wäre das richtig. Regelungsabsprachen sind juristisch gesehen auch problematisch, es ist ja faktisch eine Umgehung dessen, was man eigentlich will. Man hat Musterverträge, man will eine betriebseinheitliche Lösung und greift dann zu Regelungsabsprachen. Mir wäre in der Tat lieber, man würde das, was man eigentlich will, auch legal tun können. Meines Erachtens heißt das, dass in diesem Falle für tarifungebundene Unternehmen eine Modifikation des § 77 Abs. 3 notwendig ist. Ich möchte in dem Zusammenhang nochmals auf das Verhältnis von betrieblichen Vereinbarungen zum Flächentarif kommen. Das ist ja der Streitpunkt, um den es wirklich geht. Es verlangt inzwischen niemand mehr, dass wir auf betrieblicher Ebene entsprechende Tarifauseinandersetzungen führen. Alle Lösungen, Herr Schnabel hat es uns noch mal gezeigt, haben Vor- und Nachteile. Flächentarife haben Vor- und Nachteile, einzeltarifliche Regelungen haben Vor- und Nachteile, betriebliche Bündnisse genauso. Die Idee, die hinter unserem Vorschlag steckt, ist simpel und einfach, die Vorteile aus den unterschiedlichen Systemen zu kombinieren und auf diese Art und Weise letztlich die Nachteile auszuschalten. Natürlich brauchen wir nach wie vor den Flächentarifvertrag als Rahmen. Wir müssen aber Möglichkeiten schaffen, davon abweichen zu können. Die große Frage ist nur: Wie sollen wir da vorgehen? Wenn wir wirksame Öffnungsklauseln installieren wollen, gibt es im Prinzip zwei grundsätzliche Möglichkeiten. Es ist erst einmal unerheblich, ob es tarifvertragliche oder gesetzliche Öffnungsklauseln sind, ob71 wohl das natürlich für die Organisation der Verbände eine wichtige Rolle spielt. Ist ein Unternehmen in Schwierigkeiten, kann man diesem Problem mit konditionierten Öffnungsklauseln zu Leibe rücken. Es werden konkrete Kriterien festgelegt, an denen festgemacht wird, wann diese Öffnungsklauseln auf betrieblicher Ebene angewandt werden können und wann nicht. Wenn man aber eine Situation hat, und die schwebt mir viel stärker vor, in der ein Unternehmen noch gar nicht in Schwierigkeiten ist, was haben wir denen anzubieten? Diese Firmen operieren im starken Maße mit Arbeitszeitkonten, mit ertragsabhängiger Entlohnung und mit Zielvereinbarungen. Und wenn man diese Instrumente nimmt, stellt sich die Frage: Kann man da faktisch noch mit konditionierten Öffnungsklauseln operieren? Welcher ökonomische Wirkungsmechanismus wird vorausgesetzt, um das justiziabel zu machen? Innovationsbündnisse lassen sich mit konditionierten Öffnungsklauseln nicht vereinbaren. Da müssen sie scheitern. Deshalb haben wir vorgeschlagen, unkonditionierte Öffnungsklauseln einzuführen. Noch eine Bemerkung zu dem, was Herr Streeck vorher gesagt hat und auch Herr Fels angesprochen hat. Ich glaube nicht, dass das im stärkeren Maße den Betriebsfrieden gefährdet und Arbeitskämpfe in die Betriebe hineinträgt, wenn wir auf betrieblicher Ebene mehr Abschlüsse zulassen, aus zwei Gründen: Wenn der Flächentarifvertrag als Rahmen gilt und man zu keiner Einigung kommt, dann kommt’s halt zu keiner Einigung. Dann bleibt der Flächentarifvertrag so, wie er ist. Betriebliche Auseinandersetzungen sind damit ausgeschlossen. Und selbst wenn es mehr betriebliche Vereinbarungen in kollektiver Form gibt, dann kann man die Arbeitnehmer nicht als Mitentscheider ausbooten. Ich vergleiche Unternehmen mit einem Fahrradrennstall. Ein Erich Zabel wird keinen Sprint gewinnen, wenn er nicht Fahrer hätte, Mitstreiter, die für ihn fahren. Und sie fahren nur für ihn, wenn von vornherein klar abgemacht ist, wie die Prämien, die sie ersprinten und erfahren, aufgeteilt werden. Wir werden in Zukunft nicht umhinkönnen, dass die Arbeitnehmer im Betrieb mehr entscheiden müssen, möglicherweise auch über Investitionen. Das liegt in der Natur der Sache, wenn die Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben sollen. Dann braucht man ein Zusammenspiel von Arbeit und Kapital. Die Arbeitgeber kriegen das 72 nicht umsonst. Sie müssen dafür etwas bieten, und das ist im weitesten Sinne ein Mehr an Mitbestimmungsmöglichkeiten. Das ist für mich die eigentliche Botschaft dieser Diskussion. Wir müssen eigentlich das, was hier relativ kleinlich, auch von meiner Seite aus, über Flächentarife diskutiert wird, auf eine andere Ebene heben, nämlich die Frage, wie halten wir es im Prinzip mit der Mitbestimmung von Arbeitnehmern in Unternehmen. Professor Fels Herr Streeck gleich dazu. Professor Streeck Da kann ich doch nur sagen: Welcome to the club! Da sind wir ganz einer Meinung. Ich würde nur einen Satz hinzufügen, Herr Berthold, den werden Sie mir als Ökonom wahrscheinlich auch abnehmen, schon weil Sie ein vorzüglicher Kenner der Institutionenökonomik sind. Regeln braucht man, um Kooperation zu erzeugen, aber es muss auch klar sein, dass Regeln nicht in jedem Moment beliebig von jedem aufgekündigt werden können. Irgendwo müssen sie garantiert sein. Eine Institution, die nichts wäre als ein Vertrag, der auf momentanen Interessen beruht, ist nicht vertrauenswürdig genug, um langfristig Kooperation zu ermöglichen. Deshalb sind externalisierte Regelungen, seien es Gesetze oder Tarifverträge, so außerordentlich nützlich. Deshalb ist eine externe Garantie von gewährten Rechten, die dann auch gilt, wenn derjenige, der das Recht gewährt hat, es jetzt gerade nicht gelten lassen will, eine Grundsatzvoraussetzung für Vertrauen und stabile Kooperation. Professor Berthold Sie haben Recht. Wir kommen jetzt an das Kernproblem dieser Diskussion. Wir müssen uns nämlich die Frage stellen, wie steht es um das Verhältnis von kollektiver Vereinbarung und individueller Freiheit. Die kollektiven Vereinbarungen standen bei uns im Vordergrund und haben dazu beigetragen, dass individuelle Freiheiten – in diesem Fall die Be73 rufsausübungsfreiheit – überhaupt garantiert sind. Bei faktisch 6 Millionen Arbeitslosen müssen wir aber feststellen, dass die Koalitionsbildung dazu führt, dass die freie Berufsausübung für viele nicht mehr so ohne weiteres möglich ist. Damit steht natürlich auch das Verfassungsgericht vor der Frage, wie es zwischen Artikel 9 Absatz 3 und Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes abwägt. Das ist nicht festgeschrieben für alle Zeiten, das ändert sich aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung. Professor Fels Herr Busch, eine Frage an Sie. Wenn in die betriebliche Mitbestimmung Felder wie die Lohnfindung oder Arbeitszeitgestaltung hineingenommen werden, wird da nicht das Einigungspotenzial überfrachtet? Gefährdet es nicht die Mitbestimmung, wenn der Betriebsrat über Ertragsbeteiligungen und Investitionen und damit letztlich Verteilungsfragen mitentscheidet? Ist es nicht besser, diese Dinge extra muros zu regeln, in Arbeitsteilung zwischen betrieblicher und tariflicher Ebene? Dr. Busch Durch seine Mitbestimmungsmöglichkeiten kann der Betriebsrat sowohl zum Wohl des Unternehmens handeln als auch ein ungeheures Störpotenzial entwickeln. Wenn nun Teile des Verteilungskampfes auf die betriebliche Ebene verlagert werden, kommt es zu einer Übermacht des Betriebsrates. Den Unternehmen bliebe dann gar nichts anderes übrig, als dieses Spiel mitzuspielen und kleine Schäden in Kauf zu nehmen, um den ganz großen Schaden zu vermeiden. Unter dem gegenwärtigen Betriebsverfassungsgesetz ist es daher kaum vorstellbar, Verteilungskonflikte in den Unternehmen zu lösen. Herr Berthold, es ist doch völlig außer Zweifel, dass der Flächentarifvertrag renovierungsbedürftig ist – sogar in sehr starkem Maße. Herr Streeck hat aber zu Recht darauf hingewiesen, dass er seine sichernde Funktion behalten muss, sonst wäre er wertlos. Auf diese Sicherheit sind übrigens beide Vertragsparteien angewiesen, die eine ebenso wie die andere. Diese Sicherheit wird der Flächentarifvertrag allerdings 74 nicht mehr bieten können, wenn er von der Wirklichkeit überholt wird, er nur noch eine Schimäre ist, weil alle davon abweichen und er nur noch auf dem Papier existiert. Die meisten Bündnisse für Arbeit sind Bündnisse zur Abweichung vom Tarif nach unten, um wirtschaftliche Schwierigkeiten zu überwinden. Gesamtmetall ist der Auffassung, und das wird ja in der aktuellen Tarifauseinandersetzung deutlich, dass die Betriebsparteien Möglichkeiten brauchen, auch nach vorne aktiv zu sein – um ganz bestimmte Materien zu Gunsten des Unternehmens und damit auch der Arbeitsplätze zu regeln. Deshalb haben wir über unseren Lösungsvorschlag bewusst geschrieben: Zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit, für Innovationen, Standort und Beschäftigung. Das sind zunächst mal Schlagworte, aber dahinter steht mehr: Wir wollen damit den Tarifvertrag weiterentwickeln – am Beispiel Arbeitszeit und der daran gekoppelten Entlohnung. Die Betriebsparteien müssen die Möglichkeit haben, solche Materien zu entscheiden, wenn es dazu dient, einen Standort zu sichern oder gar neu zu errichten. Um es auf den Punkt zu bringen: Investitionen in Furth im Wald zu vereinbaren und nicht in Eger vornehmen zu müssen. Die Entscheidungsparameter für mehr Arbeitsplätze, Arbeitgeberverband und Gewerkschaft können diese nur fördern oder verhindern, müssen vergrößert werden. Natürlich ist dabei der Betriebsrat an Bord, andernfalls ist das kaum machbar. Letztlich geht es um eine Neuinterpretation des Günstigkeitsprinzips. Das Bundesarbeitsgericht lebt hier noch in der einfachen Welt der fünfziger Jahre. Wenn wir es schaffen, dass der Nutzen der Schaffung von Arbeitsplätzen mindestens so hoch bewertet wird wie die Urlaubsdauer, wäre das schon mal ein Fortschritt – und genau das wollen wir mit unserem Ansatz anstoßen. So kann man auch im gesamtwirtschaftlichen Interesse die Sicherungsfunktion, der unbestreitbare Vorteil dieses Regelungssystems, erhalten und gleichzeitig die dringend notwendige Öffnung nach vorne einleiten. Diese muss verlässlich sein, und das geht nur, wenn sie von den Betriebsparteien beredet wird. Damit haben wir immer zwei Seiten am Tisch. 75 Abschließend noch eine kurze Bemerkung. Die Gewerkschaften sind wahrscheinlich abhängiger von einem funktionierenden Flächentarifvertrag als die Arbeitgeberverbände. Die Verbände können alles Mögliche machen, die Gewerkschaften nicht. Zwar steht es mir nicht zu, den Gewerkschaften Ratschläge zu erteilen. Gleichwohl sollten sie sich aber Gedanken machen, ob der von uns vorgeschlagene Weg nicht sinnvoll ist, um den Kern des Flächentarifvertrags zu erhalten. Professor Fels Danke schön. Herr Streeck, noch ein Wort. Professor Streeck Es gibt die Entwicklungen, die mit dem Begriff der Investitionsvereinbarung bezeichnet werden. Das ist ein neuer Typus von Vereinbarungen. Die Unternehmen geben Standort- oder Investitionsgarantien, beispielsweise für die Produktion eines neuen Automodells, wenn die Arbeitnehmer dafür eine bestimmte Arbeitsleistung und Produktivität zusichern. Ich kenne keinen Fall, in dem eine der beteiligten Seiten eine solche Vereinbarung gebrochen hätte, obwohl die gar nicht justiziabel ist. Es gibt aber Fälle, in denen eine Vereinbarung auf die andere folgt, weil das Instrument sich bewährt hat: Es funktioniert auf der Grundlage von Vertrauen und Pragmatismus, die hier gefordert ist. Als gelernter Industriesoziologe war ich immer davon überzeugt, dass die Deutschen sehr viel pragmatischer sind, als es ihrem eigenen Selbstbild entspricht. Bei Betriebsräten und im Management gibt es viele pragmatisch eingestellte Menschen, die nicht mit dem Betriebsverfassungsgesetz unterm Arm herumlaufen, sondern schauen, was gemacht werden muss, und es dann im gegenseitigen Einverständnis machen. Auch in Deutschland sind nicht alle Juristen, die stur Normen implementieren. Viele sind intelligent genug, um flexibel die Normen umzuarbeiten, vor allem wenn gegenseitiges Vertrauen besteht. Das ist eine Entwicklungsdynamik, auf die man sich auch in Zukunft verlassen kann. 76 Professor Fels Vielen Dank, Herr Streeck. Damit kommen wir zum Ende dieser Runde. Wir haben das Thema von verschiedenen Seiten angepackt. Es ist deutlich geworden, dass innerhalb der Unternehmen ein großer Bedarf besteht, mehr Spielraum für betriebsnahe Lösungen und die betriebsnahe Abwandlung von überbetrieblichen Lösungen zu haben. Es ist aber ebenso deutlich geworden, dass überbetriebliche Regelungen in Form des Flächentarifvertrags gebraucht werden – unter anderem, weil es Transaktionskosten gibt. Das Günstigkeitsprinzip bedarf sicherlich der Neuinterpretation, damit betriebliche Bündnisse für Arbeit sich nicht weiter in der Grauzone abspielen. Das Tarifsystem ist in Bewegung, es gibt viel mehr an Ausnahmen als in der Vergangenheit, aber offenbar immer noch nicht genug. Herr Busch, Herr Streeck und mit Abstrichen auch Herr Schnabel haben darauf hingewiesen, dass gesetzliche Öffnungsklauseln zumindest problematisch sind. Die Tarifparteien haben es selbst in der Hand, ob der Gesetzgeber außen vor bleibt. Umso gespannter darf man sein, was sich in den Metalltarifverhandlungen diese Woche ergibt. Vielleicht gelingt es, eine Verbesserung in Form solcher Korridorlösungen zu erreichen. Das ganze Thema Pro und Kontra Flächentarifvertrag ist eher ein M+EThema; im Bereich der Chemie stellt es sich so nicht. Das hängt vor allem mit der unterschiedlichen Einstellung der jeweiligen Branchengewerkschaften zusammen. Es ist verschiedentlich angeklungen, dass wir in den fünfziger und sechziger Jahren über diese Themen nicht gesprochen haben, obwohl die gesetzlichen Regelungen unwesentlich verschieden von den heutigen waren. Seinerzeit waren Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen noch Mindeststandards, seither haben sie sich immer mehr davon entfernt. Die Tariflöhne liegen heute weit über den Gleichgewichtslöhnen. Deswegen benötigen wir Spielräume nach unten. Wenn wir über zehn Jahre hinweg eine zurückhaltende Lohnpolitik praktizieren, wie das die 77 Niederlande vorgemacht haben, würden diese Probleme einfach „fall into disuse“, das heißt, werden dann nicht mehr relevant sein. Das wäre eigentlich der Königsweg. Aber die unterschiedliche Kräftebalance in den Arbeitskämpfen – durch die starke nationale und internationale Vernetzung sind die Unternehmen bei Arbeitsniederlegungen sehr anfällig – macht es sehr schwer, diesen Weg zu gehen. Wir können eigentlich nur hoffen, dass sich hier in den Verhandlungen eine Lösung findet. Nochmals herzlichen Dank an die Podiumsteilnehmer und alle Zuhörer. 78 Die Autoren Prof. Dr. Norbert Berthold, geboren 1952 in Freiburg; 1980 Dr. rer. pol. Universität Freiburg; 1986 Habilitation für das Fach Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg; Mitglied des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und einer Reihe angesehener wissenschaftlicher Vereinigungen. Norbert Berthold lehrte unter anderem an den Universitäten Basel, Konstanz, Hamburg sowie Düsseldorf und ist seit 1990 Ordinarius für Volkswirtschaftslehre an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Dr. Ulrich Brocker, geboren 1943 in Hamm (Westfalen); Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Tübingen, Bonn und Münster; 1974 bis 1984 wissenschaftlicher Referent beim Gesamtverband der metallindustriellen Arbeitgeberverbände (Gesamtmetall); von 1984 bis Ende 1995 Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Keramischen Industrie; seit Februar 1996 Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Metallindustrie Baden-Württemberg e.V. und der Landesvereinigung Baden-Württembergischer Arbeitgeberverbände e.V. Dr. Hans Werner Busch, geboren 1943 in Krombach (Siegerland); Studium der Volkswirtschaft, Sozialwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte an der FU Berlin und Universität Münster; 1976 Promotion an der Universität Münster; 1982 bis 1990 Personaldirektor der Friedrich Krupp GmbH; 1991 bis 1997 Geschäftsführer Bereich Personal, Organisation und Finanzen bei der STN ALTAS Elektronik GmbH, Bremen; 1994 bis 2000 Verhandlungsführer der Metallarbeitgeber-Verhandlungsgemeinschaft Nordverbund; seit 1997 BÖHLER + BUSCH, Hamburg, Personalberatung; seit September 2000 Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall. Prof. Dr. Gerhard Fels, geboren 1939 in Baumholder; Studium der Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Bonn und Saarbrücken, 1969 Promotion; von 1969 bis 1983 wissenschaftlicher Mitarbeiter, Abteilungsleiter, Direktor, Professor und Stellvertreter des Präsidenten am Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel; von 1976 bis 1982 Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung; von 1978 bis 1982 Mitglied des Committee for Development Planning der Vereinten Nationen (New York); von 1974 bis 1985 Honorarprofessor an der Universität Kiel, seither an der Universität zu Köln; seit 1988 Mitglied der Group of Thirty; von 1983 bis 30. Juni 2004 Direktor und Mitglied des Präsidiums des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. 79 Prof. Dr. Renate Köcher, geboren 1952 in Frankfurt am Main; Studium der Volkswirtschaftslehre, Publizistik und Soziologie in Mainz und München, Diplom in Volkswirtschaftslehre; 1985 Promotion in München; seit 1977 wissenschaftliche Mitarbeiterin, ab 1988 Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, Forschungsschwerpunkte: Reform- und Innovationsbereitschaft der Bevölkerung, Akzeptanz neuer Technologien, politische Analysen, Finanzmarktforschung, Analysen der religiösen Kultur; 2003 Verleihung des Professorentitels durch den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Prof. Dr. Claus Schnabel, geboren 1961 in Stuttgart; Studium der Wirtschaftswissenschaften an der University of Kent at Canterbury (M.A. in Economics 1985) und der Universität Hohenheim (Promotion 1988); Habilitation an der Ruhr-Universität Bochum (1997); von 1988 bis 2000 Mitarbeiter im Institut der deutschen Wirtschaft Köln; seit April 2000 Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Arbeitsmarkt- und Regionalpolitik, an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg; zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der Arbeitsmarktökonomik, Tarifpolitik und empirischen Wirtschaftsforschung. Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Streeck, geboren 1946 in Lengerich; Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln (seit 1995) und Honorarprofessor an der Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät, Universität zu Köln; 1988 bis 1995 Professor of Sociology and Industrial Relations, University of Wisconsin-Madison, USA. Gastprofessuren in Florenz (Europäisches Hochschulinstitut), Paris (Fondation Nationale des Sciences Politiques, Institut d'Etudes Politiques), Mailand (Bocconi-Universität), Madrid (Center for Advanced Studies in the Social Sciences, Institut Juan March); Mitglied der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Präsident der Society for the Advancement of Socio-Economics (SASE) 1998 bis 1999; Fachgebiete: Vergleichende politische Ökonomie, Wirtschaftssoziologie, vergleichende Arbeitsbeziehungen. 80