Der Flächentarifvertrag in der Kritik - IW Medien

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Der Flächentarifvertrag in der Kritik - IW Medien
Der Flächentarifvertrag in der Kritik
Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg.)
Der Flächentarifvertrag in der Kritik
Dokumentation des wissenschaftlichen Kolloquiums
vom 10. Februar 2004 in Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Druck: Bercker Graphischer Betrieb GmbH & Co. KG, Kevelaer
Inhalt
Eröffnung
Gerhard Fels
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Der Flächentarifvertrag: unverzichtbare Ordnungsfunktion
oder Tarifkartell?
Ulrich Brocker
11
Der Flächentarifvertrag im Meinungsbild der Unternehmen
Renate Köcher
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Dezentrale oder zentrale Verhandlungen –
Was sagt die Empirie zur Effizienz von Lohnfindungssystemen?
Claus Schnabel
39
Podiumsdiskussion
56
Die Autoren
79
5
Gerhard Fels
Eröffnung
Wir haben heute ein heikles Thema vor uns. Die Reformdebatte in
Deutschland hat gezeigt, dass wir beim eigentlichen harten Kern der
Arbeitsmarktregulierung noch nicht recht vorangekommen sind. Es hat
Fortschritte gegeben in einigen sozialpolitischen Bereichen der Arbeitsmarktpolitik, aber noch nicht bei der eigentlichen Organisation des Arbeitsmarktes. In erster Linie ist dabei der Flächentarifvertrag Gegenstand von Kontroversen und Kritik. Mit diesem und mit dem so genannten Tarifkartell wollen wir uns heute befassen. Die These vom Kartell ist ja inzwischen schon Allgemeingut geworden. Man weist dieser
Regulierung eine große Verantwortung für die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit zu. Es gibt Leute, die den Flächentarifvertrag abschaffen wollen, indem etwa § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes gestrichen werden soll. Wir werden heute zu prüfen haben, ob das eine vernünftige Position ist oder ob der Flächentarifvertrag nicht vielleicht
doch einige Meriten hat, die man auf den ersten Blick übersieht.
Sicher ist dieser Vertrag kein Wert an sich. Er hat so lange Bedeutung,
wie die Akteure ihn für nützlich erachten und wie er nicht sozialschädlich ist. Er muss also gesamtwirtschaftlich zu verantworten sein. Aber
es gibt Symptome für einen schwindenden Rückhalt des Flächentarifvertrags. Auf der Arbeitgeberseite ist dies der Zustrom zu Verbänden
ohne Tarifbindung, auf der Arbeitnehmerseite der Mitgliederschwund
der Gewerkschaften. Zu der unternehmerischen Begründung für den
Flächentarif wird Herr Dr. Brocker sprechen. Frau Professor Köcher
wird uns im Anschluss ein Meinungsbild der Unternehmer zeichnen –
ich glaube, da wird es einige interessante Resultate geben, auf die wir
gespannt sein können. Ich war jedenfalls von vielen Ergebnissen sehr
überrascht, die ich so nicht erwartet hätte.
Wenn man die Ratio des Flächentarifvertrags auf Basis der neoklassischen Theorie hinterfragt, dann sieht er meistens nicht ganz gut aus.
Herr Professor Berthold wird uns hierzu einiges sagen. Aber es ist nicht
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nur die Neoklassik, auf die es ankommt. Es gibt auch andere Theoriezweige in der Ökonomie, die in Betracht kommen können. Ich denke
zum Beispiel an die Spieltheorie, begründet von Oskar Morgenstern
und John von Neuman mit dem Mini-Max-Prinzip. Nichtkooperative
Spiele, und darum handelt es sich bei Tarifauseinandersetzungen offenbar, hat John Nash untersucht, ist darüber verzweifelt und wahnsinnig geworden. Nach vielen Jahren in der Psychiatrie hat er dann den
Nobelpreis bekommen. Vielleicht ist aber auch noch eine andere – etwas weniger komplizierte – Disziplin für die Frage des Flächentarifvertrags maßgebend: die Transaktionskostentheorie von Roland Coase,
dem dafür auch ein Nobelpreis verliehen wurde.
Man kann argumentieren, dass der Flächentarifvertrag Transaktionskosten mindert, weil er eine Frieden stiftende Funktion hat und Konflikte aus dem Betrieb auf eine überbetriebliche Ebene verlagert. Auf diese Weise wird das betriebliche Klima nicht dadurch vergiftet, dass dort
über Löhne und Arbeitszeiten verhandelt werden muss. Aber es gibt
natürlich auch Gegenargumente, wonach der Flächentarifvertrag zu
überhöhten Lohnabschlüssen führt. Das war in den fünfziger und sechziger Jahren noch nicht der Fall. Damals hatte man – in dem ersten
Gutachten des Sachverständigenrates ist das sehr schön beschrieben
– die Philosophie, dass Tariflöhne eigentlich immer unterhalb der markträumenden Gleichgewichtslöhne liegen müssen, damit Spielraum für
die Lohndrift bleibt. So konnte dem Flexibilisierungsbedarf – regional,
qualifikatorisch oder sektoral – durch unterschiedliche Zuschläge entsprochen werden. Aber wenn die Tariflöhne heute über den Gleichgewichtslöhnen liegen, ist nach oben hin kaum noch Spielraum. Damit
stellt sich die Frage: Gibt es Spielraum nach unten? Und das heißt
dann: Öffnung des Flächentarifs, Neuinterpretation des Günstigkeitsprinzips. Möglichst viele Bündnisse für Arbeit müssen zugelassen werden, um auf betrieblicher Ebene zu korrigieren, was die Tarifvertragsparteien falsch gemacht haben. Alles dies sind Themen, die uns heute
hier beschäftigen.
Für die Gewerkschaften ist der Flächentarifvertrag quasi ein Dogma,
das vehement verteidigt wird. Wer daran rüttelt, gerät fast in den Ver7
dacht der Verfassungsfeindlichkeit. Aber man muss sich fragen, was
mit dem System nicht in Ordnung ist, wenn vier Millionen Arbeitslose
zum Dauerproblem werden. Man kann dann nicht einfach darauf verweisen, dass das bestehende Tarifsystem in der Verfassung stehe. Es
ist ja letztlich auch nicht unumstritten, ob es genau so in der Verfassung
festgelegt ist. Wenn man das System als unangreifbar definiert, beginnt
man, an der Zählung der Arbeitslosen oder ähnlichen Stellschrauben zu
drehen. Angelsächsischer Pragmatismus hätte längst gefragt, was mit
dem System nicht stimmt. Hierzu gibt es natürlich verschiedene Hypothesen. Eine greift die Starrheit des Systems an. Daher wird um Öffnungsmöglichkeiten hart gerungen, auch bei den laufenden Tarifverhandlungen. Hier spielt die Verschiebung des Kräftegleichgewichtes
zwischen den Tarifparteien eine wesentliche Rolle, die sich so in den
siebziger und achtziger Jahren nicht zuletzt aufgrund der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts herausgebildet hat. Stichworte sind
die Warnstreiks oder die Verhältnismäßigkeit der Aussperrung. Bei
Streiks gibt es keine Verhältnismäßigkeitsprüfung, nur bei der Aussperrung. Die Verschiebung der Machtbalance, die freilich auch mit der
internationalen Verflechtung der Unternehmen zusammenhängt, hat zu
hohe Abschlüsse produziert. Hätte es diese Entwicklung nicht gegeben, würden wir heute nicht über Öffnungsklauseln reden. Wären wir
noch in der Situation der sechziger Jahre, würde das System recht gut
funktionieren. Neben der Starrheit des Tarifsystems und der Verschiebung der Machtbalance werden auch die hohen Lohnnebenkosten als
wesentliche Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit genannt. Aber sind
diese nicht vielleicht auch eine Folge der Arbeitslosigkeit? Beispielsweise führt die Frühverrentung, auch eine Form von Arbeitslosigkeit, zu
höheren Sozialversicherungsbeiträgen. Es gibt hier ein interdependentes System der Fehlsteuerung.
Was ist nun für uns das bessere System der Lohnfindung? Zentrale Verhandlungen oder betriebliche Vereinbarungen? Herr Professor Schnabel
wird über empirische Befunde im internationalen Vergleich berichten.
Manche Leute sagen, wenn wir § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes abschaffen, also das Regelungsverbot für den Betrieb mit dem
Betriebsrat, dann werden unsere Probleme weitgehend gelöst sein. Aber
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es gibt internationales Anschauungsmaterial für dezentrale Systeme der
Lohnfindung, die auch nicht unbedingt optimal funktionieren.
Im Augenblick verhandelt man über eine Korridorlösung. Praktisch wäre dies eine Art Öffnungsklausel, nach der man auf betrieblicher Ebene
innerhalb bestimmter Korridore vom Flächentarifvertrag abweichen
darf. Es geht dabei um die Arbeitszeiten, um Mehrarbeit mit oder ohne
Lohnausgleich. Gerade Letzteres wäre eine recht elegante Form der
Kostensenkung, ohne dass die Einkommen der Beschäftigten sinken
müssen. Natürlich wird darüber räsoniert, ob man denn allein durch eine Arbeitszeitverlängerung mehr Beschäftigung schaffen kann. Im Primäreffekt bedeutet dies ja nur, dass diejenigen mehr arbeiten, die
schon in Beschäftigung sind. Aber das Modell hat ja auch den Vorteil,
dass damit die Kosten sinken. Auf Grundlage dieses Kostensenkungseffekts ist errechnet worden, dass rund 100.000 neue Arbeitsplätze entstehen können. Nun haben zwei Kollegen, Herr Professor Wiegard und
Herr Professor Kromphardt, gesagt, Arbeitszeitverlängerung brächte
nicht mehr Arbeitsplätze. Ich weiß nicht, welches Modell der Mehrarbeit
sie vor Augen hatten. Jedenfalls war es nicht das Modell, das von Gesamtmetall vorgestellt worden ist und das die Kostensenkung in den
Vordergrund rückt. Der Sachverständigenrat, dem ja beide angehören
oder bis vor kurzem angehört haben, hat nie in Frage gestellt, dass
Kostensenkung mehr Arbeitsplätze schafft. Insofern habe ich die Äußerung der beiden Herren, auch wenn sie journalistisch etwas verkürzt
sein sollte, nicht recht verstanden. Vielleicht schafft man durch Mehrarbeit nicht schon in der ersten Runde neue Arbeitsplätze, aber mindestens in der zweiten Runde, wenn die Kostenentlastung wirksam wird.
Im Übrigen geht es ja auch nicht um eine nationale Einheitskost. Es
geht vielmehr darum, dass die Betriebe die Möglichkeit erhalten sollen,
sich im Rahmen dieser Korridore zu bewegen. Es mag ja auch Betriebe geben, die ihre Arbeitszeit reduzieren, weil sie Absatzschwierigkeiten haben. Andere, die eine zusätzliche Nachfrage auf sich zukommen
sehen, können die Arbeitszeit verlängern und können auf diese Weise
ganz anders kalkulieren.
Aber wir stellen heute die Ordnungspolitik in den Vordergrund. Zunächst werden wir jetzt Herrn Dr. Brocker hören, der als Praktiker der
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Tarifpolitik seine Überlegungen vorträgt. Ist dieses Tarifkartell eigentlich
ein Kartell? Es gibt ja immerhin Wettbewerb von Außenseitern, außerhalb und auch innerhalb der Bundesrepublik. Außerdem fordern diejenigen, die diesem angeblichen Kartell angehören, Öffnungsklauseln.
Aus einem wirklichen, ordentlichen Kartell würden sie sofort rausfliegen. Die Arbeitgeber fordern Öffnungsklauseln – eigentlich ein widersinniges Kartellverhalten. Wir werden dazu doch einiges hören. Anschließend wird Frau Professor Köcher uns das Meinungsbild der
Unternehmer zu dieser Frage darlegen. Später erläutert dann Herr Professor Schnabel seinen empirischen Befund, bevor wir auf dem Podium
über die aufgeworfenen Fragen diskutieren können. Ich kann Ihnen versprechen, es wird spannend und kontrovers sein. Freuen wir uns jetzt
auf interessante Vorträge und eine intensive Diskussion über den Flächentarifvertrag und die Kritik an dieser Institution.
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Ulrich Brocker
Der Flächentarifvertrag: unverzichtbare
Ordnungsfunktion oder Tarifkartell?
I
Die Tarifautonomie hat ihre Zukunft hinter sich, sagen viele Kritiker. Vier
Millionen Arbeitslose seien Beweis dafür, dass die Tarifparteien lange
genug Verträge zu Lasten Dritter gemacht haben. Wie sollte es auch
anders sein bei einem „bilateralen Monopol aus Kartellen“, wie der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium unlängst
festgestellt hat. Andere fordern „das Knacken des Tarifkartells“ oder
„eine allgemeine Befreiung vom Tarifzwang“.
Stimmen diese Aussagen? Sind Unternehmen tatsächlich gezwungen,
sich den Flächentarifverträgen zu unterwerfen? Schließen die Flächentarifverträge Wettbewerb aus? Haben wir es also tatsächlich mit einem
Kartell zu tun, wenn Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände über
Regelungen der Arbeitsbedingungen in den Unternehmen verhandeln?
Ich will versuchen, auf diese Fragen plausible Antworten zu geben. Dabei antworte ich aus der Sicht eines Arbeitgeberverbandes der Metallund Elektroindustrie. Andere Branchen, in denen das gleiche Flächentarif-System besteht, werden ausgenommen – manchmal sogar lobend
gegenübergestellt.
II
Kartelle sind in Deutschland grundsätzlich verboten. Es gibt allerdings
Ausnahmen. Eine davon ist das Konditionenkartell. Konditionenkartelle
sind Vereinbarungen, die die einheitliche Anwendung von Normen zum
Inhalt haben. Wirtschaftlich gesehen sind Flächentarifverträge auf dem
Arbeitsmarkt Mindestkonditionenkartelle; denn die demselben Flächen11
tarif unterworfenen Wettbewerber unterliegen denselben Mindestarbeitsbedingungen.
Doch das sollte auch den Kritikern bekannt sein. Deshalb ist ihre Aussage auch weitergehend. Sie schildern ein Kartell, das den Wettbewerb
bei den Arbeitsbedingungen für den gesamten Arbeitsmarkt in
Deutschland ausschließt. Niedrigere Löhne und längere Arbeitszeiten
seien daher nicht möglich.
Liest man ein Flugblatt der IG Metall, das sie vor einiger Zeit bei politischen, also rechtswidrigen Streiks bei Bosch, DaimlerChrysler und Porsche gegen die Ankündigung der Bundesregierung und gegen Gesetzesentwürfe der Oppositionsparteien verteilt hatte, unter bestimmten
Voraussetzungen gesetzliche Tariföffnungsklauseln anzustreben, dann
könnte man solche Aussagen als bestätigt empfinden; denn in diesem
Flugblatt heißt es: „Tarifautonomie und Flächentarifvertrag … schaffen
einheitliche Wettbewerbsvoraussetzungen für alle Unternehmen der
Branche und dämmen die Unterbietungskonkurrenz ein.“ „Einheitliche
Wettbewerbsvoraussetzungen“ – das klingt nach Ausschluss von Wettbewerb.
Haben wir es also tatsächlich mit einem Kartell zu tun? Der Flächentarifvertrag könnte, wenn überhaupt, allenfalls unter den deutschen Wettbewerbern die gleichen Voraussetzungen schaffen. Aber die Unternehmen der global ausgerichteten Metall- und Elektroindustrie erwirtschaften zwei Drittel ihrer Wertschöpfung auf dem Weltmarkt. Auf dem heimischen Markt sind sie starker Auslandskonkurrenz ausgesetzt. Da
könnte die Ausschaltung des Kostenwettbewerbs per Flächentarifvertrag überhaupt keinen Schutz vor Konkurrenz bieten.
In Wahrheit schafft der Flächentarifvertrag nicht einmal unter allen deutschen Wettbewerbern gleiche Bedingungen. Denn mehr als die Hälfte
der M+E-Firmen bewegt sich außerhalb des Flächentarifvertrags. In
diesen Betrieben ist rund ein Drittel der M+E-Arbeitsplätze. Zwei Drittel
der Beschäftigten unterliegen also dem Flächentarifvertrag. Insofern
bietet der Flächentarifvertrag heute auch vor der inländischen Unter12
bietungskonkurrenz keinen Schutz. Die von den Kritikern behauptete
Kartell-Wirkung besteht also schon nicht in dem behaupteten Umfang.
Ich möchte darüber hinaus einige Gründe nennen, warum die Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie aus ihrem Selbstverständnis und tatsächlich mit einem Kartell nichts gemein haben:
Kartelle haben das Ziel, ihren Gewinn durch Ausschaltung des Wettbewerbs zu optimieren. Dabei schreiben sie Preise und andere Wettbewerbsparameter auf einem Niveau fest, das oberhalb dessen liegt, was
sich bei funktionierendem Wettbewerb auf dem Markt ergeben würde.
Fünf Indizien möchte ich nennen, wonach die Arbeitgeberverbände der
Metall- und Elektroindustrie kein kartellartiges Verhalten an den Tag legen und dass sie politische Positionen vertreten, die aus sich heraus
kartellwidrig sind:
1.
Die M+E-Arbeitgeber sind gegen einen gesetzlichen Mindestlohn.
Diese Position ist grob kartellwidrig, denn das Fehlen gesetzlicher
Mindestlöhne fördert den Außenseiter-Wettbewerb.
Nicht im Tarifträgerverband organisierte Firmen können mangels
Mindestlohngesetzgebung ihren Mitarbeitern diesseits der Wuchergrenze beliebige Konditionen bieten und dabei die Tarifstandards tief unterschreiten. Diese Möglichkeit war in Zeiten der Vollbeschäftigung zwar eher theoretischer Natur, aber das lag nicht an
irgendeinem Kartell, sondern an der Arbeitskräfteknappheit.
Heute dagegen, bei deutlich mehr als 500.000 Arbeitslosen in den
M+E-Berufen, eröffnet das Fehlen von gesetzlichen Mindestlöhnen
echte Spielräume für Außenseiter.
2.
Die M+E-Arbeitgeber verlangen nicht, dass ihre Tarifverträge allgemein verbindlich sein sollen.
Diese Position ist grob kartellwidrig, denn die M+E-Verbände verzichten damit auf die im Tarifvertragsgesetz ausdrücklich vorgese13
hene Möglichkeit (§ 5 TVG), die Außenseiter-Konkurrenz zur Übernahme der M+E-Tarifstandards zu zwingen.
Unser Dachverband Gesamtmetall hat sich in der Vergangenheit
als Mitglied im Tarifausschuss des Bundesarbeitsministeriums immer wieder auch gegen Allgemeinverbindlicherklärungen in anderen Branchen eingesetzt.
3.
Die M+E-Arbeitgeber machen sich für die Anpassung des Günstigkeitsprinzips stark.
Auch diese Position ist grob kartellwidrig, denn dadurch wird auch
Mitgliedern des Tarifträgerverbandes die Möglichkeit eingeräumt,
auf rechtssicherem Boden die Tarifnormen zu unterschreiten, um
Arbeitsplätze zu retten. Solche betrieblichen Bündnisse für Arbeit,
die es heute in großer Zahl gibt, sind nach geltendem Recht juristisch nicht wasserdicht.
4.
Die M+E-Arbeitgeber kämpfen für Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen.
Diese Position ist grob kartellwidrig, denn der Kostenwettbewerb
wird auf diesem Weg definierter Bestandteil des Tarifvertrags.
Gerade in diesem Punkt wird deutlich, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Früher wäre es ausgeschlossen gewesen, dass Tarifunterschreitungen geduldet, geschweige denn verbandspolitisch
unterstützt werden.
Die gewandelte Einstellung der M+E-Arbeitgeber zu tariflichen Öffnungsklauseln hat sehr viel mit dem globalen Wettbewerb zu tun,
der den deutschen M+E-Betrieben mit ihren hohen Tarifstandards
heftig zusetzt.
Das ist auch die Begründung für unsere Forderung in der aktuellen
Tarifrunde, tarifvertragliche Öffnungsklauseln auch dafür vorzuse-
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hen, dass zur Senkung der Arbeitskosten die Betriebsparteien eine längere Arbeitszeit auch ohne oder nur mit teilweiser Bezahlung
vereinbaren können.
5.
Die M+E-Arbeitgeber haben sich für Verbandsmitgliedschaften ohne Tarifbindung geöffnet.
Diese Position ist ebenfalls grob kartellwidrig, denn der Verband
vertritt auch die Interessen von Betrieben, die sich den Normen
des Flächentarifvertrags nicht unterwerfen wollen und sich dadurch einen Wettbewerbsvorteil verschaffen können. Dieser strukturelle Wandel in der M+E-Verbandslandschaft hebt den kartelltypischen Interessengegensatz zwischen Insidern und Outsidern
völlig auf.
Die M+E-Arbeitgeber haben sich damit von der klassischen Ordnungsfunktion des Flächentarifvertrags, die noch am ehesten etwas mit dem Kartellgedanken zu tun hatte, endgültig verabschiedet.
So viel zu den Gründen, aus denen klar hervorgeht, dass die M+EArbeitgeber nicht zu einem Kartell gezählt werden können.
III
Wenn es somit nicht die Ausschaltung des Wettbewerbs ist, welche
Gründe sind es dann, warum fast 6.000 Unternehmen der M+E-Industrie den Flächentarifvertrag anwenden und ihn auch in Zukunft erhalten
wollen? Ich nenne einige Stichworte.
• Produktionssicherheit
Die Sicherung des sozialen Friedens während der Laufzeit von Tarifverträgen ist für die M+E-Industrie von großem Gewicht. Die deutsche Metall- und Elektroindustrie ist produktionstechnisch untereinander sehr dicht und tiefgehend vernetzt.
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Die Friedenspflicht während der Laufzeit des Tarifvertrags für eine
ganze Branche bewahrt die Produktion dieser Branche vor Unterbrechungen durch Arbeitskampfmaßnahmen in einzelnen Unternehmen. Sie sichert somit eine ungestörte Produktion und trägt deshalb
bei zur Verlässlichkeit der Lieferbeziehungen. Das ist wegen der vernetzten M+E-Industrie ein äußerst wichtiger Standortvorteil, um den
uns die ganze Welt beneidet. Den sollten wir uns auch erhalten. Das
ist ein wesentlicher Grund für die Anwendung des Flächentarifvertrags.
• Entlastungsfunktion
Die Flächentarife halten soziale Konflikte aus dem Betrieb heraus
und entlasten den Betrieb davon, die „kritischen“ Arbeitsbedingungen, wie Lohn und Urlaub, auf betrieblicher Ebene selbst aushandeln zu müssen.
Die Flächentarife verhindern, dass die Betriebsräte zur Tarifpartei
werden und ihre gesetzlichen Mitbestimmungsrechte mit Tarifthemen verbinden können.
Dieser Grundsatz wird auch nicht durch unser Lösungsmodell in der
aktuellen Tarifrunde geändert, denn der Tarifvertrag gibt den Rahmen vor. Innerhalb dieses Rahmens wird entschieden. Wenn die Betriebsparteien, also Arbeitgeber und Betriebsrat, sich im Rahmen einer freiwilligen Betriebsvereinbarung nicht einigen, dann gilt weiterhin der Flächentarifvertrag.
Dies ist ein ganz wichtiges Kriterium.
• Kalkulationssicherheit
Die Flächentarife geben den Arbeitskosten im Betrieb einen festen
Rahmen gegen Wünsche Einzelner. Der Arbeitgeber kann sich
gegenüber dem Einzelbegehren eines Arbeitnehmers auf den Inhalt
des Tarifvertrags berufen.
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• Rechtssicherheit
Ein weiterer wichtiger Grund ist: Die Betriebe wenden den Flächentarifvertrag an, weil sie rechtssichere und anwendungsreife Regelungen für ihre Arbeitsbedingungen haben wollen.
• Akzeptanz bei den Mitarbeitern
Die Flächentarife geben den Arbeitnehmern Sicherheit, dass sie ohne weiteres Verhandeln die üblichen Leistungen bekommen. Sie erhöhen dadurch Arbeitszufriedenheit und Leistungsbereitschaft der
Mitarbeiter.
Gerade das Vertrauen in diese seit Jahrzehnten gewachsene Struktur
ermöglicht immer wieder, dass auf Betriebsebene Abweichungen vom
Flächentarifvertrag möglich sind. Weil man eben weiß: Wenn es nicht
klappt, habe ich auf jeden Fall den Tarif.
Im Übrigen – und das ist wichtig: Dieses Verständnis von im Wesentlichen bewährter Ordnungsfunktion der Flächentarifverträge ist der
Grund dafür, dass sich die M+E-Arbeitgeber für die Beibehaltung des
§ 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes aussprechen, der Betriebsvereinbarungen zu Themen verbietet, die tatsächlich oder üblicherweise in Tarifverträgen geregelt werden.
Der Betriebsrat verfügt heute in Deutschland bereits über international
absolut einzigartige Mitbestimmungsrechte.
Das Tarifverhandlungsrecht würde ihn noch einflussreicher machen, als
er heute schon ist. Das würde betriebswirtschaftliche Entscheidungen
tendenziell verzögern. Es würde das Konfliktpotenzial und damit das
Risiko von Störungen in der Produktionsvernetzung und sonstigen
Wertschöpfungskette erhöhen. Ausländische Investoren würden davon
abgehalten, sich in Deutschland zu engagieren.
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Das Verhältnis zwischen Tarif- und Betriebsautonomie in Sachen kollektive Vereinbarung wird sich in der Zukunft mit Sicherheit neu justieren – unabhängig davon und auch, wenn § 77 Abs. 3 BetrVG weiterhin
besteht, denn der moderne Tarifvertrag muss für mehr Betriebsnähe
sorgen.
IV
Wenn es auch viele – und mit wachsender Größe sehr viele – Unternehmen sind, so sind es doch nicht wenige, insbesondere kleinere
mittelständische Unternehmen, die aus den Arbeitgeberverbänden
ausgetreten oder gar nicht erst Mitglied geworden sind. Sie kritisieren
die tarifvertraglichen Mindeststandards als zu hoch.
Es ist allerdings nicht nur die Nicht-Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband; es gibt viel drastischere Reaktionen der Unternehmen auf das
hohe deutsche Kostenniveau, zu dem natürlich auch der Flächentarifvertrag beigetragen hat:
• Eine Möglichkeit ist die Arbeit sparende Prozessinnovation.
Im Durchschnitt kostet die Einrichtung eines Arbeitsplatzes in der
M+E-Industrie 100.000.– Euro.
Die Rationalisierungsinvestition ist also nicht billig; aber der wegrationalisierte Arbeitsplatz ist auf Dauer verloren.
• Eine immer stärker genutzte Möglichkeit ist die Auslagerung von
Wertschöpfungsteilen, das heißt, ein Unternehmen verringert seine
Wertschöpfungstiefe durch Auftragsvergabe an tarifungebundene
Betriebe im In- oder Ausland.
Die Automobilindustrie hat seit 1995 ihre diesbezügliche Auslagerung allein in Deutschland mit einem Volumen von 25 Milliarden Euro verdreifacht. Das entspricht 100.000 Arbeitsplätzen.
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Diese Wertschöpfungsauslagerung ist übrigens der Grund für das
Absinken der Lohnquote.
• Ein dritter Weg schließlich ist die Verlagerung von Produktion und
übriger Wertschöpfung ins Ausland.
Seit Mitte der neunziger Jahre haben deutsche M+E-Unternehmen
jährlich etwa 50.000 Arbeitsplätze im Ausland geschaffen. Insgesamt sind es rund 6.700 Produktionsstätten mit etwa 1,2 Millionen
Beschäftigten. Das ist ein Drittel der deutschen M+E-Beschäftigten.
Bereits das ist dramatisch. Umso mehr muss es dann erschrecken,
wenn ein Drittel der deutschen M+E-Unternehmen aktuell überlegt,
weitere Wertschöpfung ins Ausland zu verlagern.
V
In diesem Zusammenhang wird immer wieder das Bild von den zwei
Unterschriften unter jedem Tarifvertrag verwandt. Kritisiert werden „die
Tarifvertragsparteien“. Dies ist undifferenziert und oberflächlich.
Die Kritiker nehmen zu wenig zur Kenntnis, welche Ziele Inhalt der Tarifpolitik der Arbeitgeberverbände sind. Sie schauen nur auf das Ergebnis, ohne zu berücksichtigen, unter welchen auch äußeren Bedingungen es zustande gekommen ist.
Dabei ignorieren sie vor allem die Tatsache, dass besonders die Rechtsprechung die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften immer wieder
erweitert und die Rechte der Arbeitgeber immer stärker beschnitten
hat.
Wegen der gebotenen Zeit verweise ich hier nur in Stichworten auf Folgendes:
• Das Ultima-Ratio-Prinzip beim Streik ist ausgehöhlt; die Eröffnung
eines Streiks nach Ablauf eines Tarifvertrags ist in das Belieben der
Gewerkschaft gestellt.
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• Die Möglichkeiten der Arbeitgeber, auf einen Streik mit eigenen
Kampfmitteln zu reagieren, sind durch die Aussperrungsentscheidungen des BAG stark eingeschränkt.
• Die von der Rechtsprechung zuerkannten Informationsansprüche
des Betriebsrats im Arbeitskampf bevorzugen die Gewerkschaft.
• Unabhängig davon missbrauchen gewerkschaftsnahe Betriebsräte
während Tarifrunden und im Arbeitskampf immer wieder ihre betriebsverfassungsrechtliche Position durch unzulässige Koppelungsmaßnahmen, vor allem durch Verweigerung von Mehrarbeit:
das alles bei zu häufig leidvoll erlebter Zurückhaltung der Arbeitsgerichte im einstweiligen Rechtsschutz.
Angesicht derart institutionalisierter Privilegierung der Gewerkschaften
könnte man fast Verständnis dafür entwickeln, dass die IG Metall mit
dem Wort „Streik“ immer schnell dabei ist.
Unser Standortvorteil ist eine äußerst weitverzweigte und sensibel vernetzte Wertschöpfungskette. Sie ist daher aber auch einfach und
schnell zu stören. Deshalb ist es tatsächlich schon länger weder wirtschaftlich vertretbar noch Ausdruck glaubwürdiger Sorge um Beschäftigung, mit Streik bestimmte Verhandlungsergebnisse abpressen zu
wollen. Auch zu diesem Thema spricht das Ausmaß der Standortverlagerung eine beredte Sprache.
Der Streik passt in unsere Zeit wie der Neandertaler ins Cyberspace.
Die Arbeitgeberverbände der M+E-Industrie haben Vorschläge zur Vereinbarung anderer Konfliktlösungsmechanismen gemacht. Ein erster
Versuch, mit der IG Metall hierüber zu einem Konsens zu kommen, ist
vor einigen Jahren misslungen. Wir werden uns weiter bemühen.
VI
Wir sind uns bewusst, dass Kooperation nur erfolgreich sein kann bei
einer Win-win-Situation. Hierfür muss allerdings die Situation der Mit20
glieder und nicht die der Organisation entscheidend sein. Für uns Arbeitgeberverbände ist es die Wettbewerbsfähigkeit unserer Mitgliedsunternehmen, für die IG Metall müsste es die Beschäftigungsmöglichkeit ihrer Mitglieder sein. Tatsächlich jedoch scheint für die Gewerkschaft vor allem der Machterhalt der Organisation im Vordergrund zu
stehen.
Die allgemeine Reformdiskussion ist diesem auf ihr Organisationsinteresse verkürzten Selbstverständnis der IG Metall weit voraus. Unser aktueller Lösungsvorschlag nach mehr Flexibilität bei Zeitvolumen und
Kosten durch einen von den Tarifvertragsparteien eingeräumten größeren Gestaltungsspielraum der Betriebsparteien ist ein Angebot. Wir
wollen den Weg zu einem den Anforderungen der heutigen Zeit angepassten Flächentarifvertrag gemeinsam gehen. Wir haben es beide – in
Person: Herr Peters für die IG Metall und Herr Kannegiesser für Gesamtmetall – dem Gesetzgeber zugesagt.
Mögen gerade diese Tage zeigen, dass die IG Metall ihre Kraft für diesen Weg nicht beim Blasen schriller Trillerpfeifen verausgabt hat.
21
Renate Köcher
Der Flächentarifvertrag im Meinungsbild der
Unternehmen
In den diesjährigen Tarifverhandlungen ist grundsätzlicher diskutiert
worden als bei den meisten früheren Verhandlungen. Es ging diesmal
nicht nur um Details der Lohnfindung, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen, sondern um das System der Vereinbarung an sich, um die Zukunft des Flächentarifs. In diesem Zusammenhang fand eine Befragung
von Unternehmensleitungen aus der Metall- und Elektroindustrie statt,
um zu prüfen, wie die Unternehmen die Leistungsfähigkeit, die Vor- und
Nachteile des Flächentarifs beurteilen, wie die Forderung nach Öffnungsklauseln, und wie es um die Tariftreue bestellt ist.
Zunächst sollte man sich jedoch die ökonomische und psychologische
Ausgangslage vor Augen führen, die die Erwartungen an die Tarifpartner bestimmt, die Chancen und Risiken des Standortes Deutschland,
wie sie zurzeit von den Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie
erlebt und bewertet werden. Ein beachtlicher Anteil der Unternehmen
hofft zurzeit auf eine Aufwärtsentwicklung der Konjunktur, sieht sie teilweise auch schon in den Auftragsbüchern. Das Bild ist allerdings wesentlich ambivalenter als die optimistischen Konjunkturszenarien, die
zurzeit von den Wirtschaftsforschungsinstituten und den Medien gezeichnet werden. Zurzeit halten sich Optimismus und Skepsis bei den
Unternehmensleitungen der Metall- und Elektroindustrie noch annähernd die Waage: 47 Prozent der Unternehmen rechnen auf Sicht von
sechs Monaten mit einem Aufschwung, 37 Prozent mit einem weitgehend unveränderten konjunkturellen Umfeld, 14 Prozent sogar mit einem Abwärtstrend.
Auch in anderen Branchen ist festzustellen, dass die Stimmungslage
noch sehr ambivalent und von großen Unsicherheiten geprägt ist. Zu
dieser Verunsicherung trägt auch das historische Ereignis der bevorstehenden Osterweiterung der EU bei. In der Metall- und Elektroindus22
trie befürchten derzeit weitaus mehr Unternehmen Nachteile von der
Vergrößerung der EU, als sich Unternehmen Vorteile erhoffen: Jedes
dritte Unternehmen geht davon aus, dass sich die Osterweiterung in
den eigenen Auftragsbüchern positiv niederschlagen wird, 45 Prozent
rechnen dagegen mit Nachteilen.
Mit der Osterweiterung wird die Verlagerung von Produktionskapazitäten noch einfacher, als sie es bereits ist. Die große Mehrheit der Bevölkerung wie auch der Führungskräfte aus der Wirtschaft geht davon
aus, dass die Verlagerungen von Unternehmen beziehungsweise
Unternehmensteilen nach Osteuropa in den kommenden Jahren zunehmen werden. Der Wettbewerb der Standorte wird sich verschärfen
und den Druck auf Deutschland erhöhen, sich diesem Wettbewerb zu
stellen.
Zurzeit wird der Standort Deutschland von den Unternehmen nach wie
vor überwiegend kritisch eingeschätzt. Über 60 Prozent der Unternehmensleitungen der Metall- und Elektroindustrie ziehen die Bilanz, dass
der Standort Deutschland für die eigene Branche gravierende Schwächen aufweist. Damit fällt das Urteil noch kritischer aus als bei der letzten Bestandsaufnahme im Oktober 2002. Dies ist sicher auf den ersten
Blick überraschend, da in der Zwischenzeit doch einige durchaus bedeutungsvolle Reformen verabschiedet wurden. Die überwältigende
Mehrheit der Unternehmensleitungen zieht jedoch die wenig erfreuliche
Bilanz, dass die bisher durchgeführten Reformen nicht ausreichen, um
den Standort Deutschland im erforderlichen Umfang aufzuwerten. Nur
15 Prozent der Unternehmensleitungen sind überzeugt, dass die beschlossenen und noch bevorstehenden Reformen Deutschland als
Standort attraktiver machen, während 82 Prozent wesentlich tiefgreifendere Maßnahmen für notwendig halten, um Deutschlands Aussichten in dem härter werdenden Standortwettbewerb entscheidend zu
bessern.
Bei der Bewertung dieser Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass die
Interviews vor der Ankündigung von Bundeskanzler Schröder stattfanden, den SPD-Vorsitz niederzulegen. Dieser Beschluss dürfte von der
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Wirtschaft kaum als positives Signal aufgenommen werden. Vielmehr
wird sich die Sorge verstärken, dass der Reformkurs der Regierung,
dessen Garant Schröder in den letzten Jahren war, in Frage gestellt
wird. Die Verteilung der Aufgaben von Kanzlerschaft und Parteivorsitz
auf zwei Personen löst ja nicht das Kernproblem, dass der Bundeskanzler offenkundig einen anderen Kurs für richtig hält als weite Teile
seiner Partei. Die Mehrheit der Bevölkerung geht davon aus, dass sich
der Bundeskanzler in Zukunft schwerer tun wird, die Richtung und Leitlinien der Politik zu bestimmen.
Die mühsamen Diskussionen und langwierigen Entscheidungen über
Veränderungen wecken zunehmend Unbehagen und Zweifel, ob dieses
politische System und seine Entscheidungsstrukturen den gestellten
Aufgaben noch gewachsen sind. Drei Viertel der Unternehmensleitungen der Metall- und Elektroindustrie sind überzeugt, dass wirklich tief
greifende Reformen erst dann möglich sein werden, wenn das politische System und seine Entscheidungsstrukturen von Grund auf verändert werden.
Trotzdem haben die bisherigen Beschlüsse und durchgeführten Maßnahmen zumindest dazu beigetragen, den Pessimismus der Unternehmen etwas einzudämmen. Der Anteil der Unternehmensleitungen, die
eine weitere Verschlechterung der Standortbedingungen in Deutschland befürchten, hat sich in den letzten anderthalb Jahren von 50 auf 38
Prozent verringert. Zwar hoffen nur 15 Prozent auf eine wirkliche Verbesserung der Standortbedingungen; dies bedeutet jedoch immerhin
eine Verdopplung gegenüber dem Stimmungsbild im Herbst 2002. Damit geht jedoch die überwältigende Mehrheit der Unternehmensleitungen auch heute davon aus, dass die Rahmenbedingungen für ihr Unternehmen im besten Fall stabil bleiben werden oder sich in den nächsten
Jahren weiter verschlechtern. Immer wieder wird betont, in welch hohem Maße Wirtschaft auch eine Frage der Psychologie ist: Der Mut zu
Konsum wie der Mut zu Investitionen kann nur auf dem Fundament von
Zukunftsvertrauen gedeihen. Das Stimmungsbild der Unternehmen
zeigt, wie viel noch zu tun ist, bis sich die Ausgangsbedingungen für Investitionen wieder signifikant verbessern.
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Die Mehrheit der Unternehmensleitungen ist durchaus überzeugt, dass
Deutschland mit den richtigen Maßnahmen instand gesetzt werden
kann, den Standortwettbewerb zu bestehen. 56 Prozent der Unternehmensleitungen gehen davon aus, dass die Abwanderung von Unternehmen aus Deutschland mit den richtigen Maßnahmen gestoppt werden könnte, weitere 28 Prozent halten es sogar für möglich, die Abwanderungsbewegung umzukehren. Diese Einschätzung ist unabhängig davon, ob in den Unternehmen selbst bereits Verlagerungsmaßnahmen vorgenommen wurden. Auch die Mehrheit der Unternehmensleitungen, die bereits Unternehmensteile ins Ausland verlagert haben,
ist überzeugt, dass Deutschland mit den geeigneten Maßnahmen als
Standort gravierend aufgewertet werden könnte. Die Maßnahmen müssten jedoch rasch getroffen werden. Wir befinden uns zurzeit in einer
ganz entscheidenden Phase, in der die Abwanderung für Unternehmen
attraktiver wird. Wenn die nächsten vier bis sechs Jahre ungenutzt verstreichen, wird es immens schwer sein, von dem hohen Arbeitslosensockel auf absehbare Zeit wieder herunterzukommen, da dann die Abwanderungsbewegung zu weit vorangeschritten ist.
Zurzeit haben die Unternehmensleitungen auch aus Gesprächen mit
anderen Eigentümern und Managern den Eindruck, dass viele Unternehmen über Abwanderung oder zumindest eine Verlagerung von
Unternehmensteilen nachdenken. Herr Dr. Brocker hat bereits die eindrucksvollen und auch erschreckenden Zahlen vorgetragen: Die deutsche Metall- und Elektroindustrie hat im Ausland 1,2 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Unsere Probleme auf dem Arbeitsmarkt wie bei den
sozialen Sicherungssystemen wären ungleich geringer, wenn auch nur
die Hälfte oder ein Drittel dieser Arbeitsplätze in Deutschland entstanden wären. Die aktuelle Befragung bei den Unternehmensleitungen
zeigt, dass knapp jedes vierte Unternehmen bereits Produktionsteile ins
Ausland verlagert hat und weitere 22 Prozent überlegen, dies in nächster Zeit zu tun. Der DIHK hat kürzlich branchenübergreifende Trendanalysen veröffentlicht, die belegen, dass die Abwanderungsneigung
der Unternehmen zurzeit wächst. Das ist ein Menetekel für den Arbeitsmarkt wie für die gesamte wirtschaftliche Entwicklung. Die Aufwertung des Standortes ist zurzeit die größte wirtschaftliche Heraus25
forderung für Deutschland. Gerade vor diesem Hintergrund haben die
Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie und die laufende Diskussion über die Zukunft des Arbeitsmarktes und die Rolle der Tarifparteien
eine ganz besondere Bedeutung.
Zurzeit der Befragung im Januar 2004 sah knapp die Hälfte der Unternehmensleitungen dem Tarifabschluss mit Befürchtungen entgegen.
Besonders besorgt zeigten sich die größeren Unternehmen mit 300 und
mehr Mitarbeitern. Die Prioritäten der Unternehmen für die laufende Tarifrunde sind eindeutig: Sie setzen die Flexibilisierung von Tarifvereinbarungen mit Abstand an die Spitze der wichtigsten Ziele, gefolgt von
moderaten Lohnabschlüssen und einer Verlängerung der Arbeitszeiten.
79 Prozent stufen die Flexibilisierung von Tarifvereinbarungen als besonders wichtiges Ziel ein, 55 Prozent moderate Lohnabschlüsse, 45
Prozent eine Verlängerung der Arbeitszeit. Die übrigen halten diese Ziele für keineswegs unwichtig; addiert man die Einstufungen als ganz besonders wichtige Ziele und auch noch wichtige Ziele auf, so erklären 95
Prozent moderate Lohnabschlüsse für wichtig, 83 Prozent eine Verlängerung der Arbeitszeit.
Durchgängig zeigen die Ergebnisse der Befragung, dass den Unternehmen vor allem daran gelegen ist, mehr Gestaltungsspielraum zu gewinnen, bei den Löhnen wie bei den Arbeitszeiten. 71 Prozent der
Unternehmensleitungen sind beispielsweise überzeugt, dass ein größerer Spielraum für betriebsindividuelle Verhandlungen über Löhne und
Gehälter mehr Nutzen als Risiken bringen würde. Besonders die kleineren Unternehmen versprechen sich weit überwiegend Vorteile, während das Interesse der größeren Unternehmen an eigenständigen Verhandlungen deutlich geringer ist – aus nahe liegenden Gründen. Da der
Organisationsgrad in den großen Unternehmen wesentlich höher ist,
laufen betriebsindividuelle Verhandlungen dort naturgemäß anders ab
als in den kleinen Unternehmen. Entsprechend kann es nicht überraschen, dass 71 Prozent der Unternehmensleitungen aus Betrieben mit
weniger als 100 Mitarbeitern betriebsindividuelle Lohnverhandlungen
favorisieren, dagegen nur 49 Prozent der Unternehmensleitungen von
Betrieben mit 300 und mehr Mitarbeitern.
26
Die Präferenz der Mehrheit der Unternehmensleitungen für betriebsindividuelle Vereinbarungen hat nicht zuletzt mit dem Unbehagen über
die Rolle und Stärke der Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen zu
tun. Die Verhandlungsposition von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden wird nicht als gleichgewichtig eingestuft, sondern die Gewerkschaften werden als die dominierende, durchsetzungsfähigere
Verhandlungspartei eingestuft. 56 Prozent der Unternehmensleitungen
haben den Eindruck, dass sich die Gewerkschaften in Tarifverhandlungen im Allgemeinen besser durchsetzen als die Arbeitgeber; nur 16
Prozent schreiben die stärkere Position der Arbeitgeberseite zu, 22 Prozent empfinden beide Parteien als gleich stark.
Die Gewerkschaften gelten als Hauptnutznießer des Flächentarifs: 67
Prozent der Unternehmensleitungen sind überzeugt, dass die Aufrechterhaltung eines einheitlichen Flächentarifs vor allem im Interesse der
Gewerkschaften ist; als zweiten Nutznießer sieht die Mehrheit die großen Unternehmen, während nur eine kleine Minderheit überzeugt ist,
dass einheitliche Tarifverträge auch den Arbeitnehmern und den kleinen
Unternehmen nutzen.
Bei der Bewertung der Rolle der Gewerkschaften machen Unternehmensleitungen wie auch die Bevölkerung einen deutlichen Unterschied
zwischen den Gewerkschaftsfunktionären und den Betriebsräten vor
Ort. Den Betriebsräten wird von Unternehmensleitungen wie von Arbeitnehmern ein deutlich besseres Urteil ausgestellt als den Gewerkschaften, denen in hohem Maße vorgeworfen wird, dass sie sich zu
sehr an ihren Organisationsinteressen und zu wenig an der Interessenlage der Betriebe und Arbeitnehmer orientieren.
Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Flächentarif muss natürlich berücksichtigt werden, dass Abweichungen vom Flächentarif in
den Unternehmen eher die Regel als die Ausnahme sind. Herr Dr.
Brocker hat bereits darauf hingewiesen, dass der Flächentarifvertrag
nur für einen Teil der Unternehmen bindend ist. Bei der Befragung wurde deutlich, dass die überwältigende Mehrheit der Unternehmen, insgesamt 76 Prozent, bei Arbeitszeiten, Löhnen oder Zusatzleistungen
27
vom Tarifvertrag abweicht; in diesem hohen Anteil sind Anpassungen
nach oben wie nach unten enthalten. Der Flächentarif wird auch heute
schon als eine Leitlinie gesehen, die durchaus Abweichungen gestattet.
Das wirft natürlich die Frage auf, ob es überhaupt Sinn hat, an Flächentarifverträgen festzuhalten. Grundsätzlich haben die Unternehmensleitungen großes Vertrauen, dass sie sich auch bei einer Abschaffung des Flächentarifs weitgehend problemlos mit ihren Mitarbeitern
einigen könnten. 81 Prozent sind überzeugt, dass sich abseits der Flächentarifverträge mit den eigenen Mitarbeitern vernünftigere Einigungen herbeiführen ließen. Immerhin 43 Prozent befürchten jedoch bei einer Abschaffung des Flächentarifs verstärkte Konflikte in den Unternehmen; genauso fürchten viele, dann verstärkt mit Konditionen, die in
anderen Unternehmen ausgehandelt wurden, unter Druck gesetzt zu
werden.
Je größer die Unternehmen sind, desto stärker verbinden sie eine Aufgabe des Flächentarifs mit handfesten Nachteilen. So ist nur die Mehrheit der Unternehmen mit weniger als 100 Mitarbeitern sicher, dass eine Aufgabe des Flächentarifs nicht zu vermehrten Konflikten im Unternehmen führen würde; schon in der Größenklasse der Unternehmen mit
100 bis 300 Mitarbeitern rechnen 51 Prozent mit vermehrten Konflikten,
bei den größeren Unternehmen sogar 66 Prozent. Auch die Sorge, mit
Konditionen, die in anderen Unternehmen verhandelt wurden, unter
Druck gesetzt zu werden, nimmt mit der Größe des Unternehmens steil
zu, wie auch die Sorge, viel Zeit und Mühe in die betriebsindividuellen
Verhandlungen investieren zu müssen.Vor diesem Hintergrund kann es
nicht überraschen, dass die große Mehrheit der Unternehmensleitungen der Metall- und Elektroindustrie den Flächentarif nicht abschaffen,
sondern nur öffnen will. Bei allem Vertrauen in die Einigungsmöglichkeiten mit der eigenen Belegschaft und bei aller Kritik an den Nachteilen des Flächentarifs plädieren nur 23 Prozent der Unternehmen für die
Abschaffung des Flächentarifs, dagegen 73 Prozent für eine flexiblere
Gestaltung.
Bei den Wünschen nach einer stärkeren Flexibilisierung steht zurzeit die
Gestaltung der Arbeitszeit im Mittelpunkt des Interesses. Die Mehr28
heit der Unternehmen verspricht sich große oder sogar sehr große Vorteile von einer stärkeren Flexibilisierung der Arbeitszeitvereinbarungen,
die großen Unternehmen tendenziell noch mehr als die kleineren. Fast
drei Viertel der Unternehmen mit 300 und mehr Mitarbeitern erhoffen
sich große oder sehr große Vorteile von Öffnungsklauseln für die Arbeitszeiten, von den Unternehmen bis 99 Mitarbeitern immerhin auch
49 Prozent.
Die Mehrheit der Unternehmensleitungen in der Metall- und Elektroindustrie ist überzeugt, dass eine Arbeitszeitverlängerung Wachstum und
Beschäftigung merkliche Impulse geben würde; 41 Prozent sind hier
skeptisch. Diese Skepsis hängt unter anderem damit zusammen, dass
die Hälfte der Unternehmen eine Arbeitszeitverlängerung nur ohne
Lohnausgleich für sinnvoll hält; gleichzeitig halten dies nur 28 Prozent
für durchsetzbar. Der großen Mehrheit der Unternehmen geht es jedoch
nicht um die bloße Festschreibung längerer Arbeitszeiten. Sie möchten
nicht die bisherigen starren Regelungen durch neue Festlegungen ersetzen, sondern wünschen flexiblere Lösungen, mehr Spielraum bei der
Gestaltung der Arbeitszeit. Dafür plädieren 81 Prozent aller Unternehmen, besonders ausgeprägt die kleineren Betriebe mit weniger als 100
Mitarbeitern. Lediglich 12 Prozent der kleinen Unternehmen und 30
Prozent der größeren Unternehmen mit 300 und mehr Mitarbeitern
wünschen eine generelle Verlängerung der Arbeitszeiten.
Das Kernergebnis der Untersuchung ist damit der ausgeprägte Wunsch
der Unternehmen nach mehr Freiraum für individuelle Lösungen innerhalb eines Rahmens, der ihnen eine gewisse Sicherheit gibt und sie teilweise entlastet von Konflikten und Verhandlungen mit ihren Belegschaften. Die große Mehrheit will den Flächentarif nicht abschaffen,
aber wesentlich stärker öffnen, als dies bisher der Fall ist. Vor dem
Hintergrund der Abwanderungspläne und der derzeitigen Lage auf dem
Arbeitsmarkt wäre es sträflich, diesen Ruf der Unternehmen nach mehr
Freiheit zu missachten.
29
Abbildungen und Tabellen
Abbildung 1
Sorgen über EU-Osterweiterung
Frage: „Erwarten Sie von der EU-Osterweiterung für Ihr eigenes Unternehmen
alles in allem eher Vorteile oder eher Nachteile?“
Unternehmensleitungen insgesamt (in Prozent)
Unentschieden
5
Weder noch
Vorteile
17
33
45
Nachteile
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
Abbildung 2
Bisherige Reformen machen Standort
noch nicht attraktiver
Frage: „Erwarten Sie, dass die beschlossenen und bevorstehenden Reformen
Deutschland als Standort attraktiver machen, oder werden sich diese
Beschlüsse auf die Attraktivität des Standorts Deutschland nicht wesentlich
auswirken?“
Unternehmensleitungen insgesamt (in Prozent)
Attraktiver
Unentschieden,
keine Angabe
15
3
82
Werden sich nicht
wesentlich auswirken
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
30
Abbildung 3
Zweifel an der Reformfähigkeit des politischen Systems …
„Wirklich tief greifende Reformen werden erst möglich sein, wenn wir unser
politisches System und seine Entscheidungsstrukturen grundlegend ändern.“
(in Prozent)
Unentschieden
Sehe das
nicht so
4
21
75
Sehe das
auch so
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
Abbildung 4
Die laufende Tarifrunde verfolgen insbesondere größere
Unternehmen mit Besorgnis
Frage: „Und erwarten Sie, dass es zu einer vernünftigen Einigung kommen
wird, oder sehen Sie dem Tarifabschluss mit Befürchtungen entgegen?“
(in Prozent)
Sehe Abschluss mit
Befürchtungen entgegen
47
46
45
55
Vernünftige Einigung
Unternehmensleitungen
Mitarbeiter am Standort –
bis 99 Mitarbeiter
100–299 Mitarbeiter
300 und mehr
Mitarbeiter
46
47
45
44
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
31
Abbildung 5
Beurteilung der Ziele der laufenden Tarifverhandlungen
Frage: „Bei den laufenden Tarifverhandlungen geht es ja nicht nur um Löhne,
sondern auch um Arbeitszeiten, Flexibilisierung usw. Welche Ziele sollen die
Arbeitgeber bei den laufenden Tarifverhandlungen Ihrer Ansicht nach vor allem
vertreten?“
(in Prozent)
Auch
wichtig
16
40
38
Ganz
besonders
wichtig
79
55
Flexibilisierung von
Tarifvereinbarungen
45
Moderate
Lohnabschlüsse
Verlängerung der
Arbeitszeit
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
Abbildung 6
Stärkere Autonomie bei der Lohngestaltung vorteilhaft?
Frage: „In letzter Zeit ist ja oft über die Flexibilisierung von Tarifverträgen oder
sogar die Aufhebung des Flächentarifs diskutiert worden. Wenn die
Unternehmen verstärkt über Löhne und Gehälter selbst verhandeln:
Überwiegen da aus Ihrer Sicht die Risiken oder der Nutzen?“
(in Prozent)
Es überwiegen:
Risiken
Nutzen
Unterneh19
71
mensleitungen
Mitarbeiter am Standort –
15
bis 99 Mitarbeiter
76
24
100–299 Mitarbeiter
63
40
300 und mehr
Mitarbeiter
46
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
32
Abbildung 7
Tarifverhandlungen gelten als zu stark von den
Gewerkschaften dominiert
Frage: „Wer setzt sich Ihrer Meinung nach im Allgemeinen bei
Tarifverhandlungen im Metallbereich besser durch, die Gewerkschaften oder
die Arbeitgeber?“
Unternehmensleitungen insgesamt (in Prozent)
Keine Angabe
6
Beide gleich
22
56
Die
Gewerkschaften
16
Die
Arbeitgeber
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
Abbildung 8
Gewerkschaften und Großunternehmen als
Hauptnutznießer des Flächentarifs
Frage: „Wie sehen Sie das: In wessen Interesse ist es vor allem, dass es
einheitliche Tarifverträge gibt? Ist das vor allem im Interesse der größeren
Unternehmen, der kleineren Unternehmen, der Arbeitnehmer, der
Gewerkschaften oder der Verbände?“
(in Prozent)
67
59
33
23
12
Gewerkschaften
Große
Unternehmen
Verbände
Arbeitnehmer
Kleinere
Unternehmen
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
33
Abbildung 9
Die meisten weichen schon jetzt ab
Frage: „Hält sich Ihr Unternehmen strikt an den Tarifvertrag, oder haben Sie in
einzelnen Bereichen Anpassungen an die Situation Ihres Unternehmens
vorgenommen?“
Unternehmensleitungen insgesamt (in Prozent)
Anpassungen vorgenommen
76
und zwar bei:
Arbeitszeiten
Löhnen
Zusatzleistungen
55
54
42
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
Abbildung 10
Die Mehrheit will den Flächentarif nicht abschaffen,
aber öffnen
Frage: „Wenn Sie jetzt einmal die Vor- und Nachteile von Flächentarifverträgen
gegeneinander abwägen: Was wäre dann aus Unternehmenssicht das Beste?
Die Flächentarifverträge ganz abzuschaffen, sie flexibler zu gestalten oder sie
weitgehend beizubehalten?“
(in Prozent)
Ganz
abschaffen
23
Weitgehend
beibehalten
4
73
Flexibler
gestalten
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
34
Abbildung 11
Wachstumsimpulse durch längere Arbeitszeiten
Frage: „Was meinen Sie: Wenn man in Deutschland die Arbeitszeiten
verlängern würde, würde das relativ rasch zu mehr Wachstum und
Beschäftigung führen, oder halten Sie das für unwahrscheinlich?“
Unternehmensleitungen insgesamt (in Prozent)
Unentschieden, keine Angabe
7
Unwahrscheinlich
41
52
Mehr Wachstum,
Beschäftigung
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
Tabelle 1
Nach wie vor kritische Bewertung des Standorts Deutschland
– in Prozent –
Es beurteilen Deutschland als Standort für Betriebe der eigenen Branche als –
Unternehmensleitungen
insgesamt
Oktober 2002
Januar 2004
4
2
sehr gut
37
33
gut
35
42
weniger gut
22
19
schlecht geeignet
2
4
unentschieden
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 4258/U, 4281
Tabelle 2
... trotzdem wächst die Hoffnung auf bessere Rahmenbedingungen –
von niedrigem Niveau
– in Prozent –
Frage: „Glauben Sie, dass sich die Standortbedingungen für Ihr Unternehmen in den nächsten Jahren verbessern oder verschlechtern
Unternehmensleitungen
insgesamt
Oktober 2002
Januar 2004
7
15
verbessern
50
38
verschlechtern
42
44
gleich bleiben
1
3
unentschieden
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 4258/U, 4281
35
Tabelle 3
Abwanderung lässt sich stoppen ...
– in Prozent –
Frage: „Was meinen Sie: Kann man mit den richtigen Maßnahmen die Abwanderung von
Unternehmen aus Deutschland stoppen oder sogar umkehren, oder kann man nicht viel
dagegen tun?“
Verlagerung der Produktion ins Ausland
Unternehmensleitungen
bereits geschehen wird überlegt weder noch
insgesamt
stoppen
umkehren
nicht viel tun
unentschieden
56
22
22
x
56
28
15
1
54
30
13
3
58
30
12
x
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 4281
Tabelle 4
. . . und dies ist dringend notwendig
– in Prozent –
Frage: „Was sind Ihre Beobachtungen: Denken zurzeit viele Unternehmen der Metall- und
Elektroindustrie über eine Verlagerung von Teilen der Produktion ins Ausland nach, oder
sind das eher wenige?“
Mitarbeiter am Standort –
Unternehmensleitungen
insgesamt
viele
eher wenige
unentschieden
72
21
7
bis 99
Mitarbeiter
100–299
Mitarbeiter
300 u. mehr
Mitarbeiter
68
24
8
82
15
3
84
13
3
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
Tabelle 5
Mehr als jedes fünfte Unternehmen denkt über Verlagerungen nach
– in Prozent –
Frage: „Und wie ist das bei Ihnen im Unternehmen: Haben Sie Teile der Produktion ins
Ausland verlagert, oder überlegen Sie, das zu tun, oder würden Sie sagen, ,weder noch´?“
Mitarbeiter am Standort –
Unternehmensleitungen
insgesamt
verlagert
überlegen, das zu tun
weder noch
23
22
55
bis 99
Mitarbeiter
100–299
Mitarbeiter
300 u. mehr
Mitarbeiter
20
19
61
26
30
44
44
21
35
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
36
Tabelle 6
Vor allem kleinere Unternehmen versprechen sich Vorteile
– in Prozent –
Frage: „Was ist aus Sicht Ihres Unternehmens vorteilhafter: Wenn Sie die Löhne und
Arbeitszeiten selbst aushandeln, oder wenn Sie sich weitgehend am Flächentarifvertrag
orientieren und dadurch nicht selbst Lohnverhandlungen führen müssen?“
Mitarbeiter am Standort –
Unternehmensleitungen
insgesamt
Löhne, Arbeitszeiten
selbst aushandeln
am Flächentarifvertrag orientieren
unentschieden
bis 99
Mitarbeiter
100–299
Mitarbeiter
300 u. mehr
Mitarbeiter
67
71
60
49
29
4
25
4
35
5
45
6
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
Tabelle 7
Großes Vertrauen in die Konsensfindung mit den eigenen Mitarbeitern
– in Prozent –
Unternehmensleitungen
insgesamt
Abschaffung des Flächentarifs
Dadurch gibt es mehr Möglichkeiten, die Lage des
eigenen Unternehmens zu berücksichtigen
Man kann sich dann mit den eigenen Mitarbeitern
leichter auf vernünftige Regelungen einigen
Eine Abschaffung des Flächentarifvertrags würde
zu verstärkten Konflikten in den Unternehmen führen
93
81
43
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
Tabelle 8
Mehr Skepsis in den größeren Unternehmen
– in Prozent –
Mitarbeiter am Standort –
Abschaffung des Flächentarifs
Eine Abschaffung des Flächentarifvertrags würde zu verstärkten Konflikten in den Unternehmen führen
Man wird dann mit den Konditionen, die in anderen
Unternehmen ausgehandelt wurden, unter Druck gesetzt
Es würde die Unternehmen zu viel Zeit und Mühe kosten,
mit den eigenen Mitarbeitern zu verhandeln
bis 99 100–299 300 u. mehr
Mitarbeiter Mitarbeiter Mitarbeiter
37
51
66
39
47
61
23
36
48
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
37
Tabelle 9
Die Mehrheit der Betriebe verspricht sich große Vorteile von
Öffnungsklauseln bei Arbeitszeiten
– in Prozent –
Frage: „Gesamtmetall fordert ja Öffnungsklauseln bei den Arbeitszeiten, so dass je nach
Betrieb Wochenarbeitszeiten zwischen 35 und 40 Stunden vereinbart werden können.
Würden solche Öffnungsklauseln bei den Arbeitszeiten für Ihr Unternehmen sehr große,
große, weniger große oder gar keine Vorteile bringen?“
Mitarbeiter am Standort –
Unternehmensleitungen bis 99
Mitarbeiter
insgesamt
sehr große Vorteile
große Vorteile
weniger große Vorteile
gar keine Vorteile
unentschieden, keine Angabe
14
39 53
17
25
5
12
37 49
17
29
5
100–299 300 u. mehr
Mitarbeiter Mitarbeiter
17
42 59
17
18
6
26
47 73
20
4
3
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
Tabelle 10
Mit oder ohne Lohnausgleich?
– in Prozent –
Frage: „Zurzeit wird ja darüber diskutiert, ob es in Deutschland längere Wochenarbeitszeiten
geben soll. Wenn es dazu kommt, sollte es dann für die Mehrarbeit einen teilweisen
Lohnausgleich geben, oder sind längere Arbeitszeiten nur ohne Lohnausgleich sinnvoll?“
Unternehmensleitungen
insgesamt
43
teilweiser Lohnausgleich
50
nur ohne Lohnausgleich sinnvoll
28
• und dies halten für durchsetzbar
21
• es sind eher skeptisch
7
unentschieden
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
Tabelle 11
Hauptziel: mehr Spielraum für flexible Lösungen
– in Prozent –
Frage: „Glauben Sie, dass eine generelle Verlängerung der Arbeitszeiten notwendig ist, oder
muss es eher das Ziel sein, von starren Arbeitszeitregelungen wegzukommmen, so dass
jeder Betrieb individuelle Arbeitszeiten aushandeln kann?“
Mitarbeiter am Standort –
Unternehmensleitungen
bis 99
100–299 300 u. mehr
Mitarbeiter Mitarbeiter Mitarbeiter
insgesamt
Verlängerung der Arbeitszeit
individuelle Arbeitszeiten
unentschieden, keine Angabe
14
81
5
12
84
4
Basis: Bundesrepublik Deutschland; Geschäftsleitung in der Metall- und Elektroindustrie
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 4281
38
16
76
8
30
67
3
Claus Schnabel
Dezentrale oder zentrale Verhandlungen –
Was sagt die Empirie zur Effizienz von
Lohnfindungssystemen?
Das deutsche Lohnfindungssystem wird heute in diesem Kolloquium,
wie auch seit einiger Zeit in Wirtschaft, Politik und Medien, sehr kritisch
hinterfragt. Früher dagegen wurden Flächentarifverträge wegen ihrer
unbestreitbaren Verdienste fast schon als „heilige Kuh“ betrachtet. Wir
leben heute in Zeiten von Geflügelpest und BSE, und da haben es natürlich auch „heilige Kühe“ schwer, zu überleben. Der schärfere globale Wettbewerb gibt ebenso Anlass zur Sorge wie die hohe und lang anhaltende Arbeitslosigkeit. Diese Arbeitslosigkeit wurde zwar nicht allein
von den Tarifparteien verursacht, sie dürfte aber ohne eine beschäftigungsfördernde Tarifpolitik nicht abzubauen sein. Allerdings regen sich
zunehmend Zweifel, ob eine moderate, differenzierte, flexible Tarifpolitik im bestehenden System überhaupt noch möglich ist. Die dominierenden Flächentarifverträge gelten als zu teuer, zu undifferenziert, zu
unflexibel und überreguliert. Damit stellen sich zwei Fragen, denen ich
heute gerne nachgehen möchte. Erstens: Sind zentrale überbetriebliche oder dezentrale betriebliche Regelungen besser geeignet, mit unseren Problemen fertig zu werden? Zweitens: Ist zur Verbesserung der
Leistungsfähigkeit unseres Systems ein völliger Systemwechsel erforderlich oder kommen hierfür auch systemimmanente Reformen in
Frage?
Um diese Fragen beantworten zu können, möchte ich folgendermaßen vorgehen: Ich werde ganz kurz eingehen auf die tarifrechtlichen
Rahmenbedingungen und die Tarifbindung sowie die Kritik an den
Flächentarifverträgen. Dann diskutiere ich die Vor- und Nachteile betrieblicher und überbetrieblicher Regelungen, und zwar die theoretischen Erkenntnisse, die sehr wichtig sind, aber auch die empirische
Evidenz, die dazu ganz gut passt. Und zum Schluss möchte ich daraus einige Konsequenzen für das deutsche System der Lohnfindung
ableiten.
39
Lassen Sie mich mit den Rahmenbedingungen anfangen. In der
Bundesrepublik Deutschland gilt das Prinzip der Tarifautonomie. Unabhängige Gewerkschaften (oder einzelne Arbeitnehmer) auf der einen
und Arbeitgeberverbände oder einzelne Unternehmen auf der anderen
Seite regeln selbstständig die Ausgestaltung der Löhne und sonstigen
Arbeitsbedingungen. Der Staat verzichtet auf aktive Mitwirkung und
Eingriffe und beschränkt sich auf die Festlegung des rechtlichen Rahmens. Die vereinbarten Tarifnormen stellen Mindestarbeitsbedingungen
dar, das heißt, sie dürfen durch freiwillige Leistungen des Arbeitgebers
überschritten werden (Günstigkeitsprinzip), nicht aber unterschritten
werden (Ausnahme: Öffnungsklausel liegt vor). Jedes Jahr werden in
Deutschland über 7.000 Tarifverträge abgeschlossen; insgesamt gelten
momentan fast 60.000 Tarifverträge, davon sind 480 allgemein verbindlich, allerdings mit rückläufiger Tendenz.
Übersicht 1
Regelung von Löhnen und Arbeitsbedingungen
individualrechtlich
kollektivrechtlich
mit einzelnem
Arbeitnehmer
mit Gewerkschaft
mit Betriebsrat
Arbeitsvertrag
Tarifvertrag (TV)
Betriebsvereinbarung
(nicht über Löhne etc.)
Branchen-TV
40
Firmen-TV
Tarifverträge sind aber nicht die einzige Option, um Arbeitsbedingungen zu regeln. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Eine Firma
kann individualrechtlich mit einem einzelnen Arbeitnehmer einen Arbeitsvertrag abschließen oder kollektivrechtlich mit einer Gewerkschaft
einen Branchen- oder Firmentarifvertrag vereinbaren. Daneben gibt es
noch die Möglichkeit, mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung
abzuschließen. Allerdings gilt dies wegen eines Tarifvorbehalts in § 77
Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) nur für bestimmte
Arbeitsbedingungen. Wegen dieses Vorbehalts können Sie mit dem Betriebsrat zum Beispiel nicht über Löhne und andere Arbeitsbedingungen verhandeln, die üblicherweise durch Tarifverträge geregelt werden.
Das deutsche Arbeitsrecht räumt Tarifverträgen einen gewissen Vorrang ein. Damit stellt sich natürlich die Frage nach den wichtigsten Vorund Nachteilen von Tarifverträgen aus ökonomischer und juristischer
Sicht.
Übersicht 2
Wichtige Vor- und Nachteile von Tarifverträgen
(aus juristischer und ökonomischer Sicht, verglichen mit
Einzelarbeitsverträgen)
+
Tarifverträge senken Transaktionskosten (Verhandlungsaufwand,
Standardisierung von Arbeitsbedingungen und Qualifikationen etc.)
+
Schutz der Arbeitnehmer, Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen
+
kanalisieren Interessenkonflikte zwischen Arbeit und Kapital
(Friedenspflicht etc.)
+/–
Ausschaltung von Wettbewerb (gilt insbesondere für allgemein
verbindliche und branchenweite Flächentarifverträge)
–
je größer der Geltungsbereich von Tarifverträgen, desto undifferenzierter
und unflexibler sind sie üblicherweise
–
Überregulierung kann Gestaltungsspielraum der Betriebe beschneiden
41
Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass Tarifverträge Transaktionskosten
senken. Sie verringern den Verhandlungsaufwand, da sie Möglichkeiten
bieten, Arbeitsbedingungen und Qualifikationen zu standardisieren. Tarifverträge dienen auch dem Schutz der Arbeitnehmer, indem sie Mindestarbeitsbedingungen festlegen. Man sollte nicht vergessen, dass es
in Deutschland, außer in der Bauwirtschaft, keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt. Tarifverträge kanalisieren zudem die Interessenkonflikte
zwischen Arbeit und Kapital. Herr Dr. Brocker hat die Friedenspflicht in
seinem Vortrag betont. Dies sind alles Punkte, wo ein dickes Plus vorne steht.
Tarifverträge schalten in gewisser Weise aber den Wettbewerb aus.
Dies gilt insbesondere dann, wenn sie branchenweit gelten wie Flächentarifverträge oder wenn sie für allgemein verbindlich erklärt werden. Aus der Sicht einzelner Unternehmen und Arbeitnehmer mag das
positiv sein, da die Löhne aus dem Wettbewerb genommen werden.
Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ist dies aber negativ, weil es zu IneffiTabelle 1
Tarifbindung nach Betriebsgröße 2002
– Anteil der jeweils betroffenen Betriebe in Prozent –
Beschäftigte
(am 30. 6. 2002)
Branchentarifvertrag
Kein Tarifvertrag
(davon Orientierung an
einem Tarifvertrag)
West
Ost
West
Ost
9
39,4
16,2
1,7
2,7
58,9 (38,6)
81,1 (43,2)
10 bis 49
54,8
30,0
3,5
7,9
41,7 (52,6)
62,1 (52,7)
50 bis 199
62,6
46,4
7,4
15,4
30,0 (59,1)
38,2 (53,3)
200 bis 499
70,1
60,9
11,7
18,7
18,3 (60,0)
20,3 (59,3)
500 und mehr
82,1
72,2
9,1
18,7
8,7 (59,9)
9,1 (72,1)
Insgesamt
44,1
20,2
2,4
4,2
53,5 (41,5)
75,6 (44,9)
1 bis
Quelle: IAB-Betriebspanel 2002
42
Firmentarifvertrag
West
Ost
zienzen führen kann. Problematisch bei Flächentarifverträgen ist, dass
sie mit wachsendem Geltungsbereich zwangsläufig undifferenzierter
und unflexibler werden. Ein weiteres Problem, das auch in der Umfrage
von Frau Prof. Köcher deutlich zum Ausdruck kam, ist die tarifvertragliche Überregulierung. Sie kann den Gestaltungsspielraum der Betriebe beschneiden.
Angesichts dieser Vor- und Nachteile wäre es natürlich gut, zu wissen,
welcher Anteil der Unternehmen sich für welche Vertragsart entschieden hat. Darüber gibt es keine offiziellen Statistiken, wohl aber repräsentative Daten des Betriebspanels des Instituts für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung. Sie beziehen sich auf ungefähr 14.000 Betriebe.
Wir stellen fest, dass von allen Möglichkeiten, die ich aufgezeigt habe,
reger Gebrauch gemacht wird. Insgesamt 44 Prozent der westdeutschen und 20 Prozent der ostdeutschen Betriebe haben sich für einen
Branchentarifvertrag entschieden. Rund 3 Prozent der Betriebe bevorzugen Firmentarifverträge, und die Mehrheit – die Hälfte der westdeutschen und drei Viertel der ostdeutschen Betriebe – schließt Einzelarbeitsverträge ab. Allerdings orientiert sich ein großer Teil dieser Unternehmen am Tarifvertrag. Wir wissen allerdings nicht genau, was unter
„Orientierung“ zu verstehen ist, eher stark oder nur sehr locker? Gleichwohl muss man diese Funktion von Tarifverträgen sehen, wenn man
über ihre Reform diskutiert. Tarifverträge sind ein gewisser Anker im
System. Es gibt allerdings sehr deutliche Unterschiede nach der Betriebsgröße. Kleinbetriebe mit 1 bis 9 Beschäftigten kommen überwiegend ohne Tarifverträge aus. Sie stellen einen beachtlichen Teil aller Betriebe.
Der Flächentarifvertrag kommt deutlich besser weg, wenn die Tarifbindung auf die davon betroffenen Beschäftigten hochgerechnet wird, da
größere Betriebe häufiger tarifgebunden sind und die Tarifbindung bezogen auf die Beschäftigten somit höher ausfällt.
43
Tabelle 2
Tarifbindung west- und ostdeutscher Beschäftigter 2002
– Anteil der jeweils betroffenen Beschäftigten in Prozent –
Branchentarifvertrag
Firmentarifvertrag
Kein Tarifvertrag
(davon Orientierung an
einem Tarifvertrag
Branche
West
Ost
West
Ost
Landwirtschaft u.a.
58,8
21,3
2,4
5,2
Bergbau/Energie
66,7
*
Grundstoffverarbeitung
71,6
39,4
7,3
14,8
21,1 (66,1) 45,7 (55,6)
Investitionsgüter
64,9
29,8
9,1
13,2
26,1 (71,0) 57,0 (55,1)
Verbrauchsgüter
69,8
33,1
6,0
10,4
24,2 (56,9) 56,5 (49,1)
Baugewerbe
79,1
35,4
2,1
9,6
18,8 (73,4) 54,9 (69,3)
Handel/Reparatur
63,6
35,5
4,1
5,6
32,3 (55,6) 58,9 (45,9)
Verkehr/Nachrichten
50,8
24,6
14,6
36,1
34,5 (52,1) 39,4 (51,3)
Kredit/Versicherung
86,4
81,6
4,7
4,1
9,0 (46,8) 14,3 (62,3)
Dienste für Unternehmen 30,6
34,9
4,0
7,6
65,4 (32,0) 57,5 (41,1)
Sonstige Dienste
60,7
43,3
7,8
12,0
31,6 (56,3) 44,8 (54,1)
Org. ohne Erwerbszweck 56,3
30,7
10,6
21,2
33,1 (49,0) 48,1 (46,2)
27,0
*
West
Ost
38,8 (44,0) 73,6 (47,2)
6,3 (50,6)
*
(*)
Gebietskörperschaften/
Sozialversicherung
86,3
90,7
9,9
8,5
Insgesamt
62,9
42,7
7,1
11,8
3,8 (*)
0,7 (*)
30,0 (51,8) 45,5 (52,1)
Hinweis: Mit * gekennzeichnete Stellen können aufgrund zu geringer Fallzahlen
nicht ausgewiesen werden.
Quelle: IAB-Betriebspanel 2002
Rund 63 Prozent der westdeutschen Beschäftigten und knapp 43 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten werden von einem Branchentarifvertrag erfasst. Andererseits zeigen die Zahlen auch, dass 30 Prozent
der westdeutschen Beschäftigten und fast die Hälfte der ostdeutschen
44
Beschäftigten keinem Tarifvertrag mehr unterliegen. Die Streuung bei
der Nutzung der unterschiedlichen Möglichkeiten ist also groß. Trotzdem kann man sagen, dass der Flächentarifvertrag kein Schattendasein führt, sondern immer noch dominiert, insbesondere wenn man auf
die Beschäftigten schaut. Der Hinweis ist deshalb wichtig, weil die Kritik an den Tarifverträgen, insbesondere den Flächentarifverträgen, zunimmt und man sich wundert, warum überhaupt noch Betriebe Flächentarifverträge abschließen.
Deshalb möchte ich einen kurzen Blick auf die Kritik am Flächentarifvertrag werfen.
Übersicht 3
Kritik an branchenweiten Verbandstarifverträgen (Flächentarifen)
• Tariflöhne (= juristische Mindestlöhne) zu hoch festgesetzt; Folge:
Beschäftigungsverluste (insbesondere bei Geringqualifizierten)
• beschränken damit Spielraum für knappheitsgerechte übertarifliche
Differenzierungen
• orientieren sich häufig an „Pilotabschlüssen“ und behindern damit die
volkswirtschaftlich gebotene Lohndifferenzierung nach Branchen und
Regionen
• können die unterschiedliche Situation einzelner Betriebe kaum
berücksichtigen
• versuchen zu viele Einzelheiten bis ins letzte Detail zu regeln
• beschneiden Flexibilität und Gestaltungsspielraum der Betriebe
Hauptkritikpunkt ist die Lohnhöhe. Bemängelt wird, dass Verbandstarifverträge die Tariflöhne, die im juristischen Sinne Mindestlöhne sind,
zu hoch festsetzen und sie nicht mehr Mindestlöhne im ökonomischen
Sinne sind. Die Folgen sind Beschäftigungsverluste, insbesondere im
Bereich der Geringqualifizierten. Eine Folge der zu hohen Löhne ist,
dass der Spielraum für eine übertarifliche Entlohnung und damit für eine marktgerechte Differenzierung fehlt. Ein Indiz dafür ist zum Beispiel
die rückläufig übertarifliche Entlohnung. Dies ist Reflex der Tatsache,
45
dass die Tarifabschlüsse sich oft an den Pilotabschlüssen orientieren
und damit die gebotene Differenzierung nicht zustande kommt. Auf
unterschiedliche Situationen einzelner Betriebe kann keine Rücksicht
genommen werden. Im Gegenteil: Der Versuch, viele Einzelheiten bis
ins letzte Detail zu regeln, engt die Gestaltungsspielräume der Betriebe
stark ein.
Mit anderen Worten: Flächentarifverträge gelten als zu teuer, zu undifferenziert, zu wenig flexibel und als überreguliert. Eine natürliche Konsequenz aus dieser Kritik wäre ein Wechsel zu einem anderen System
der Lohnfindung.
Sind also dezentrale Verhandlungen die bessere Alternative? Ein rasches Ja auf diese Frage wäre vorschnell und möglicherweise ein Trugschluss. Die Tatsache, dass manche Unternehmen Flächentarifverträge, andere aber Firmentarifverträge oder gar keine Tarifverträge bevorÜbersicht 4
Vor- und Nachteile überbetrieblicher und betrieblicher Regelungen
überbetriebliche Regelungen
46
betriebliche Regelungen
• senken Transaktionskosten (zum
Beispiel Verhandlungsaufwand,
Standardisierung)
• erhöhen Transaktionskosten
(insbesondere durch jährliche
Lohnverhandlungen)
• nehmen Löhne aus dem Wettbewerb
• erlauben differenzierte Abschlüsse
• orientieren sich meist an
gesamtwirtschaftlichen Daten oder
„Pilotabschlüssen“, können u.U.
gesamtwirtschaftliche
Lohnentwicklung besser im Griff
halten
• erlauben genaue Orientierung an der
wirtschaftlichen Lage und
Leistungsfähigkeit eines Betriebes
(falls Mitarbeiter sich nicht
anderweitig orientieren)
• können Betriebsspezifika nicht
berücksichtigen, beschränken
betrieblichen Spielraum
• hoher Gestaltungsspielraum, erlaubt
flexible Reaktion auf neue
Herausforderungen
• halten Arbeitskonflikte weitgehend
von den Betrieben fern
• belasten Betriebsklima durch
Verhandlungen, erhöhen das
Arbeitskampfrisiko
• können Widerstandskraft der
Arbeitgeber erhöhen (falls diese
solidarisch)
• Gefahr: Übermacht starker
Gewerkschaften gegenüber
einzelnen Arbeitgebern
zugen, sollte nachdenklich stimmen. Sie deutet nämlich darauf hin,
dass es unterschiedliche Vor- und Nachteile von betrieblichen und
überbetrieblichen Regulierungen gibt.
Ich habe versucht, diese Vor- und Nachteile grob zusammenzufassen.
Mit überbetrieblichen Regelungen meine ich in erster Linie den Flächentarifvertrag, bei betriebliche Regelungen geht es um Firmentarifverträge und Einzeltarifverträge oder – soweit zulässig – um Betriebsvereinbarungen.
Überbetriebliche Regelungen senken Transaktionskosten, betriebliche
Regelungen erhöhen sie, insbesondere wenn sie jedes Jahr neu verhandelt werden müssen. Die überbetrieblichen Regelungen nehmen die
Löhne aus dem Wettbewerb, dagegen erlauben die betrieblichen Regelungen differenziertere Abschlüsse, die sich genauer an der wirtschaftlichen Lage und an der Leistungsfähigkeit eines Betriebes orientieren. Dies gilt allerdings nur so lange, wie sich die Mitarbeiter bei ihren Forderungen nicht anderweitig orientieren. Dann nämlich besteht
eine gewisse Gefahr des gegenseitigen Aufschaukelns von Forderungen, und es wird wesentlich schwerer, die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung im Griff zu halten. Dezentrale Regelungen haben den Vorteil, flexibel auf neue Herausforderungen reagieren zu können, und davon haben wir bekanntlich sehr viele.
Ein anderes Problem, das heute schon angesprochen wurde, sind Arbeitskonflikte. Überbetriebliche Regelungen halten diese Konflikte weitgehend von den Betrieben fern. Sie werden bewusst auf eine höhere
Ebene verlagert, weil eben solche Konflikte das Betriebsklima belasten
können. Dann stellt sich noch die Frage der Machtverteilung. Überbetriebliche Regelungen können die Wiederstandskraft der Arbeitgeber
erhöhen, allerdings nur dann, wenn diese sich auch wirklich solidarisch
verhalten. Man kann natürlich unterschiedlicher Meinung darüber sein,
inwieweit diese Solidarität in der Praxis wirklich durchzuhalten ist. Andererseits muss man die Gefahr sehen, dass bei Verhandlungen auf
betrieblicher Ebene starke Gewerkschaften, wie zum Beispiel die
47
IG Metall, eine Übermacht gegenüber einzelnen Arbeitgebern haben
können.
Angesichts dieser Vor- und Nachteile stellt sich die Frage, was eigentlich die Wissenschaft empfiehlt. Darauf gibt es keine einfache Antwort
– oder haben Sie von einem Wissenschaftler schon mal eine einfache
Antwort gehört? Das Problem ist, dass unsere theoretischen Erkenntnisse ziemlich komplex sind. Ökonomen, Soziologen und Politologen
haben sich in den vergangenen 20 Jahren verstärkt mit der Problematik der Verhandlungsebenen beschäftigt. Die Forschung bestätigt die
Erkenntnis, dass sowohl zentrale überbetriebliche als auch dezentrale
betriebliche Regelungen der Löhne und Arbeitsbedingungen jeweils
spezifische Vor- und Nachteile aufweisen, die zudem je nach Betrieb
und Branche von unterschiedlicher Bedeutung sein können. Das bedeutet, bei der Wahl einer optimalen Ebene gibt es so etwas wie einen
„trade off“. Allgemein gültige Lösungen für alle Betriebe und für alle
Branchen werden nur schwer zu finden sein. Überdies können die erwähnten Vor- und Nachteile verschiedener Ebenen im Zeitablauf ein
anderes Gewicht bekommen. So kommt es zum Beispiel durch die Globalisierung der Wirtschaft, aber auch durch den technischen und strukturellen Wandel, zu immer mehr neuen Situationen und zu Verwerfungen, die verschiedene Branchen, verschiedene Betriebe oder Arbeitnehmergruppen ganz unterschiedlich treffen und entsprechend differenzierte Lösungen erfordern.
Im globalen Wettbewerb wird eine differenzierte Anpassungsfähigkeit
der Unternehmen immer wichtiger. Die Produktionsstruktur entwickelt
sich weg von den weitgehend standardisierten Massengütern hin zu
eher differenzierten Hochtechnologieprodukten. Damit einher geht eine
Veränderung in der Arbeitsorganisation. Für die Mitarbeiter heißt dies
eine größere Selbstverantwortung und einen erweiterten Aufgabenbereich. Damit kommt einer erfolgsorientierten, differenzierten Entlohnung
zwangläufig größere Bedeutung zu. Das heißt, die Präferenz der Unternehmen für ein überbetriebliches System der Lohnfindung nimmt ab,
wenn dessen Beschränkungen die Berücksichtigung betrieblicher Spezifika erschweren. In dem Maße, wie die Unterschiede zwischen den
48
Branchen und zwischen den Betrieben zunehmen, verliert also der
Transaktionskostenvorteil zentraler Regelungen zugunsten der Informations- und Reaktionsvorteile von dezentralen Regelungen an Bedeutung. Man könnte somit die theoretisch abgeleitete Hypothese wagen,
dass wir einen tendenziellen Rückzug aus Flächentarifverträgen beobachten müssten.
Die Empirie bestätigt diese Hypothese. Wir stellen fest, dass bezogen
auf die Beschäftigten die Flächentarifbindung in Westdeutschland seit
1995 um fast 10 Prozentpunkte und in Ostdeutschland sogar um über
13 Prozentpunkte zurückgegangen ist. Das Schlagwort von der Erosion
des Flächentarifvertrags hat somit einen realen Hintergrund. Darüber
hinaus gibt es auch die anekdotische Evidenz oder persönliche Individualempirie. Jeder von uns kennt mindestens ein Unternehmen, das
den Flächentarifvertrag anwendet und davon überzeugt ist. Aber jeder
kennt auch ein Unternehmen, das einen Firmentarifvertrag hat und davon überzeugt ist. Daraus kann man den Schluss ziehen: Firmentarifverträge sind für manche Betriebe mit speziellen Anforderungen durchaus hilfreich, aber sie sind keineswegs automatisch besser als Flächentarifverträge.
Welche Antwort gibt uns nun die statistische Evidenz in Form relativ
komplexer ökonometrischer Analysen? Es gibt eine ganz interessante
Untersuchung für Westdeutschland von Wolfgang Meyer von der Universität Hannover. Sie ist zwar schon zehn Jahre alt, aber nichtsdestotrotz aktuell. Meyer hat 30 Firmentarife mit 30 Branchentarifbereichen
verglichen und festgestellt, dass die Tariflohndynamik bei Firmentarifverträgen keineswegs generell flexibler ist.
Aufschlussreich ist auch der Blick über die nationalen Grenzen hinaus
ins Ausland. Dabei zeigt sich ein differenziertes Bild hinsichtlich der bevorzugten Tarifverhandlungsebene. Es gibt Länder, in denen die branchenübergreifende Ebene dominiert, und es gibt Länder, wo die Branchenebene dominiert, dazu zählt auch Deutschland. In anderen Ländern wiederum spielt die Unternehmens- oder Betriebsebene die
Hauptrolle. Eine klare Tendenz ist nicht erkennbar. Manche Länder, die
49
Übersicht 5
Tarifverhandlungsebenen im internationalen Vergleich
Branchenübergreifende Ebene
Branchenebene
Unternehmens-/
Betriebsebene
XXX
X
X
XX
XX
X
XXX
X
XX
X
X
XXX
XXX
X
X
XXX
X
X
XXX
X
Luxemburg
XX
XX
Niederlande
XXX
X
Österreich
XXX
X
Portugal
XXX
X
Schweden
XXX
X
Spanien
XXX
X
Japan
X
XXX
USA
X
XXX
Belgien
Dänemark
Deutschland
Finnland
XX
Frankreich
Griechenland
X
Großbritannien
Irland
Italien
XXX
Hinweis: XXX = vorherrschende Tarifverhandlungsebene
XX = wichtige, aber nicht vorherrschende Tarifverhandlungsebene
X
= bestehende Tarifverhandlungsebene
Quelle: EIRO (2000), ergänzt um eigene Recherchen
50
früher branchenübergreifend, zum Teil sogar für die ganze Volkswirtschaft verhandelt haben, wie Dänemark oder Schweden, verhandeln inzwischen auf der Branchenebene. Einige Länder, die früher auf der
Branchenebene verhandelt haben, bevorzugen heute die Unternehmens- beziehungsweise Betriebsebene. Das beste Beispiel hierfür ist
Großbritannien. Dort hat der Flächentarifvertrag außerhalb des öffentlichen Sektors praktisch völlig an Bedeutung verloren. Ähnliche Tendenzen gibt es auch in anderen Ländern. Im Großen und Ganzen aber
sind diese Systeme in den letzten 10 bis 20 Jahren doch recht stabil
geblieben.
In einer Reihe ökonometrischer Analysen wurde der Frage nachgegangen, in welchem Zusammenhang die unterschiedlichen Verhandlungsebenen mit bestimmten betrieblichen oder gesamtwirtschaftlichen Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Lohnentwicklung, Beschäftigung etc. stehen.
Die Untersuchungen kommen alle zum gleichen, vielleicht erstaunlichen
Ergebnis, nämlich dass der wirtschaftliche Erfolg letztendlich nicht abhängig ist von der Ebene der Tarifverhandlungen. Das gilt insbesondere
für Löhne, für Beschäftigung, für Arbeitslosigkeit und für das Wirtschaftswachstum. Wir können nicht feststellen, dass Länder, die zentral
oder dezentral verhandeln, besser abschneiden beim Wirtschaftswachstum, dass sie besser oder schlechter abschneiden bei der Beschäftigungsentwicklung, dass sie besser oder schlechter abschneiden
bei der Reallohnentwicklung. Man findet keine Ergebnisse, die wirklich
stabil wären über längere Zeiträume hinweg. Allerdings gibt es zwei Ausnahmen. Zum einen gilt, dass zentrale Verhandlungen einhergehen mit
einem geringeren Streikvolumen. Zum anderen kann man zeigen, dass
zentrale Verhandlungen eine geringere Lohnspreizung mit sich bringen.
In vielen europäischen Ländern wurden in den vergangenen Jahren vermehrt betriebliche Bündnisse für Arbeit abgeschlossen. Auch zu ihren
ökonomischen Auswirkungen liegt eine ganze Reihe von Studien vor.
Die Ergebnisse sind ziemlich eindeutig: Betriebliche Bündnisse sichern
Beschäftigung. Sie schaffen zwar nicht unbedingt zusätzliche Beschäftigung, sind aber ein relativ erfolgreiches Instrument zur Stabilisierung
von Arbeitsplätzen.
51
Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Ergebnissen ziehen? Die erste Erkenntnis ist, dass es kein optimales, allen anderen
überlegenes Lohnfindungssystem gibt, das als Blaupause für alle Länder dienen könnte. Speziell für Deutschland heißt das zweite Ergebnis:
Das deutsche System ist nicht grundsätzlich überholt, es ist aber dringend überholungsbedürftig. Diese beiden Schlussfolgerungen lassen
sich auch anders ausdrücken: Man kann eine gute oder eine schlechte
Tarifpolitik in jedem System durchführen. Das System sollte aber am
besten so gestaltet sein, dass es bei einer schlechten Tarifpolitik den
Betrieben noch Ausweichmöglichkeiten eröffnet.
Das bringt mich natürlich zu der Frage nach den Konsequenzen für das
deutsche System der Lohnfindung. Eine Konsequenz solle meines Erachtens sein, dass die verschiedenen Regelungsmöglichkeiten gleichberechtigt nebeneinander gestellt werden sollten. Es gibt keinen Grund,
das eine oder andere System rechtlich zu begünstigen. Aus ökonomi-
Abbildung
Unternehmen mit Firmentarifverträgen
8000
2117
7000
1985
1961
1923
6000
1843
5000
1588
4000
1685
4817
3998
1178
3606
850
450
2100
5102
4492
1404 1445
3000
2000
5423
1765
1652
2562 2689
2300 2422
2924
3081
3293
1000
0
1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Westdeutschland
52
Ostdeutschland
scher Sicht haben Allgemeinverbindlicherklärungen zur Stützung des
Flächentarifvertrags keine Berechtigung. Wir sollten uns auch darüber
Gedanken machen, inwieweit wir an dem Tarifvorrang festhalten wollen.
Herr Dr. Brocker hat eine dezidierte Pro-Meinung geäußert. Wir sollten
aber zumindest eine behutsame Reform des § 77 Abs. 3 BetrVG diskutieren.
Firmen- statt Flächentarifverträge können für einzelne Firmen mit spezifischen Problemen sinnvoll sein. Immer mehr Unternehmen schließen
Firmentarifverträge ab. (Allerdings sollte man den Schub im Jahr 2003
nicht überbewerten, da sich viele Zeitarbeitsfirmen schnell noch in den
Firmentarifvertrag gerettet haben, weil die Alternative wesentlich
schlechter ausgesehen hätte.) Man kann aber davon ausgehen, dass
mittelfristig viele der Unternehmen diese Entscheidung revidieren und
doch wieder in den Flächentarifvertrag eintreten. Ich habe jedoch große Zweifel, dass eine generelle Verlagerung der Tarifverhandlungen auf
die Betriebsebene in jedem Fall von Vorteil ist.
Es ist allerdings auch klar, dass die Flächentarifverträge reformiert werden müssen. Dazu gehört eine gewisse Entrümpelung der Tarifverträge
und eine Erweiterung betrieblicher Gestaltungsspielräume. Die Faustregel könnte lauten: So viele überbetriebliche Rahmenvereinbarungen
wie nötig, aber auch so viele betriebliche Gestaltungsmöglichkeiten wie
möglich. Das klingt ein bisschen nach der Quadratur des Kreises, ist
aber grundsätzlich machbar. Ein Weg dahin besteht im Einbau von Öffnungsklauseln in den Tarifvertrag – und zwar in jeden Tarifvertrag. Damit können die Betriebsparteien in bestimmten Fällen abweichende Regelungen innerhalb eines gesetzten Rahmens treffen. Wenn die Tarifparteien dies nicht selbst vereinbaren, dann ist meiner Ansicht nach der
Gesetzgeber gefordert.
Der Vermittlungsausschuss hat Ende 2003 in diese Richtung gedacht,
hat für den Fall der Nichterfüllung dieses Versprechens durch die Tarifparteien aber keine Sanktionen angedroht. Es geht nicht nur um Öffnungsklauseln, sondern damit verbunden auch um die Erleichterung
betrieblicher Bündnisse für Arbeit. Dies setzt eine Neuinterpretation des
53
Günstigkeitsprinzips voraus. Heute werden durch eine zu enge Auslegung des Günstigkeitsprinzips Beschäftigte faktisch daran gehindert,
ihre Arbeitsplätze durch Zugeständnisse bei Löhnen oder Arbeitszeit zu
sichern. Die Einschätzung der Betroffenen sollte daher ein größeres Gewicht erhalten.
Das mir vorgegebene Thema lautete „Dezentrale oder zentrale Verhandlungen – Was sagt die Empirie zur Effizienz von Lohnfindungssystemen?“. Ich möchte es zum Schluss abändern in dezentrale und zentrale Verhandlungen, da mein Vortrag gezeigt hat, dass keine der beiden Alternativen ein durchweg besseres Problemlösungspotenzial aufweist. Vielmehr sollten beide Wege für die Vereinbarung von Löhnen
und Arbeitsbedingungen zur Verfügung stehen. Die Wahl zwischen Flächentarifvertrag, Firmentarifvertrag und anderen Regelungen wie Betriebsvereinbarung und Einzelarbeitsvertrag, die im deutschen Arbeitsrecht grundsätzlich möglich sind – aber im Fall der Betriebsvereinbarung gleich wieder eingeschränkt wird –, kann als eine Stärke unseres
Systems der Arbeitsbeziehungen betrachtet werden. Sie sollte noch
ausgebaut werden, indem die verschiedenen Regelungsmöglichkeiten
gleichberechtigt nebeneinander gestellt werden und keine rechtlich begünstigt wird. Die Tarifparteien mögen sich dann überlegen, wie sie diese Wahl der Unternehmen durch eine geeignete Tarifpolitik beeinflussen
können.
Die flexiblere Gestaltung des deutschen Lohnfindungssystems ist ein
wichtiger, jedoch nicht der einzige Ansatzpunkt zur besseren Ausnutzung von Beschäftigungsmöglichkeiten. Unabdingbar sind darüber hinaus Änderungen in der langjährig verfolgten, nicht gerade beschäftigungsfördernden Lohnpolitik. Durch eine zurückhaltende Festlegung
der tariflichen Mindestarbeitsbedingungen und einen entsprechend
größeren Spielraum für die übertarifliche Entlohnung, durch differenziertere Abschlüsse und eine Spreizung der Lohnstruktur ließen sich die
Differenzierungsmöglichkeiten, die Flexibilität sowie die Leistungsfähigkeit des derzeitigen Lohnfindungssystems erhöhen und damit Beschäftigung sichern und schaffen.
54
Die Tarifparteien haben es in der Hand, durch rasches eigenes Handeln
dem Gesetzgeber zuvorzukommen und endlich wieder der großen
gesellschafts- und beschäftigungspolitischen Verantwortung gerecht
zu werden, die sich aus der Gewährung der Tarifautonomie ergibt.
55
Podiumsdiskussion
Professor Fels
Meine Damen und Herren, es geht in die letzte Runde. Zunächst mal
vielen herzlichen Dank an Herrn Schnabel, der uns den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis der Frage „Zentral oder dezentral oder beides“ präsentiert hat. Wir werden uns sicher im Laufe der Diskussion mit
der Frage beschäftigen, wie weit wir in Deutschland von dem, was Sie
als optimal bezeichnet haben, entfernt sind.
Manchmal hat man das Gefühl, viele unserer Probleme in Deutschland
rühren daher, dass wir uns nicht zu einem Pragmatismus verstehen. Wir
sind immer sehr prinzipientreu, etwa in Bezug auf den Flächentarifvertrag oder die Handwerksordnung oder den Ladenschluss. Der renommierte US-Ökonom Paul Krugman hat kürzlich in der New York Times
geschrieben, dass der Gegensatz zwischen den USA und Deutschland
in puncto ökonomischer Performance nicht so sehr durch Adam Smith
auf der einen Seite und Karl Marx auf der anderen Seite erklärt werden
kann. Das wäre die falsche Alternative. Die Alternative sei eher Immanuel Kants kategorischer Imperativ versus William James´ aufgeklärten
Pragmatismus. Man merkt das ja auch daran, dass die Gesetze oder die
Richtlinien, die von Brüssel kommen, in Deutschland ziemlich genau beachtet werden. In weiter südlicheren Regionen herrscht dagegen mehr
Pragmatismus im Umgang mit diesen Dingen. Das Sonntagsarbeitsverbot spielt zum Beispiel in Italien überhaupt keine Rolle. Das ist nach Europarecht zwar genauso verboten, aber man hat da halt mehr Flexibilität.
Ich würde jetzt vorschlagen, dass wir zunächst Herrn Berthold hören,
wie er das Tarifsystem sieht. Es gibt doch einen weitgehenden Konsens, dass man mehr Flexibilität braucht, aber dass man den Flächentarifvertrag als solchen nicht in Frage stellen sollte.
Professor Berthold
Vielen Dank, Herr Fels. Jagdish Bhagwati, der bekannte Außenhandelstheoretiker, hat über Paul Krugman einmal gespottet, dessen Mei56
nungen seinen volatiler als die Wechselkurse. Ich wäre daher vorsichtig, mich auf Krugman zu beziehen. Dass wir hier sitzen und über den
Flächentarifvertrag diskutieren, hat in der Tat mit Volatilität zu tun. Hätten wir eine wirtschaftliche Entwicklung wie in den fünfziger, sechziger
und siebziger Jahren, dann bräuchten wir hierüber überhaupt nicht diskutieren. Dann wäre der Flächentarif sicherlich der sinnvolle Rahmen,
um die Lohn- und Tariffindung zu bewerkstelligen. Nur, wir leben nicht
mehr in dieser Welt, und die Dinge haben sich geändert.
Im Wesentlichen sind es drei Entwicklungen. Erstens: Wir haben eine
stärkere Öffnung der Märkte, vor allen Dingen der Kapitalmärkte – europaweit durch die europäische Integration und die EU-Osterweiterung
und weltweit durch die Globalisierung. Das bedeutet für die Unternehmen eine größere Unsicherheit der Produktion. Es muss mit größeren
Risiken produziert werden, und das erfordert mehr Flexibilität.
Zweitens: Wir haben eine Veränderung in der Struktur der Arbeitsnachfrage der Unternehmen. Branchenmäßige Entwicklungen sind völlig
unterschiedlich, ja selbst die Entwicklung von Unternehmen in einer
Branche unterscheiden sich. Und das bedeutet: Wir brauchen aufgrund
dieser stärkeren Heterogenität eine größere Differenziertheit.
Drittens: Wir haben ein Arbeitsmarktproblem, das daher rührt, dass die
Unternehmen aufgrund des schärferen internationalen Wettbewerbs
immer weniger Möglichkeiten haben, steigende Kosten auf die Preise
zu überwälzen. Wenn es zu Produktivitätsschocks kommt, und dazu
kommt es heutzutage permanent, trifft das vor allem die eine Gruppe
von Arbeitnehmern, die wegrationalisiert werden, die Geringqualifizierten. Wenn wir das alles zusammennehmen, kommt man zur Schlussfolgerung, dass der Flächentarif, diese Institution, die in den fünfziger
und sechziger Jahren zu den wirtschaftlichen Gegebenheiten passte,
heute nicht mehr passt. Wir haben ein Geflecht von Institutionen, das
verhindert, dass wir flexibel und differenziert genug auf Entwicklungen
reagieren können. Es geht nicht allein um den Flächentarif, es sind viele institutionelle Hemmnisse, die uns daran hindern, mit diesen Problemen adäquat umgehen zu können.
57
Herr Brocker hat in seinem Vortrag vorhin die These vertreten, dass es
kein Tarifkartell gibt, weil das System auf Freiwilligkeit basiert. Niemand
sei gezwungen, einem Arbeitgeberverband anzugehören. Ich bin da anderer Ansicht. Der Staat stützt solche Institutionen am Arbeitsmarkt. Er
stützt sie dadurch, dass er in zunehmendem Maße die aufgrund einer
verfehlten Lohn- und Tarifpolitik überschüssigen Mengen am Arbeitsmarkt über die Sozialpolitik herauskauft. Das geht über die Arbeitslosenversicherung, das geht aber in viel stärkerem Maße noch über die
Rentenversicherung, über Frühverrentungsmaßnahmen und vieles andere mehr. Der Staat greift vehement ein und stützt dieses Kartell dadurch, dass er über die Sozialhilfe faktische Mindestlöhne einführt. Das
betrifft gerade die Problemgruppe der Geringqualifizierten am Arbeitsmarkt.
Wir haben ein institutionelles Geflecht mit dem Flächentarif auf der einen Seite und einem Staat auf der anderen Seite, der die negativen
Drittwirkungen am Arbeitsmarkt ausgleicht. Diese Entwicklung trifft
nicht so sehr die großen Unternehmen, sondern es sind vor allen Dingen die kleineren Unternehmen, die darunter leiden. Deshalb gibt es so
etwas wie eine Notwehrreaktion der kleineren und mittleren Unternehmen – in Form von betrieblichen Bündnissen für Arbeit. Diese sind zwar
unter dem gegenwärtigen rechtlichen Rahmen in der Regel mehr oder
weniger illegal, aber die Betriebe wissen sich nicht mehr anders gegen
dieses institutionelle Geflecht zur Wehr zu setzen.
Wir haben in einer Untersuchung für den VDMA eine Befragung aller
Mitgliedsfirmen durchgeführt und festgestellt, dass 40 Prozent der
Unternehmen vom Flächentarif abweichen. Davon regeln dies nur 23
Prozent einzelvertraglich, 10 Prozent über Haustarife oder tarifliche Öffnungsklauseln. Mit anderen Worten: Zwei Drittel der Unternehmen mit
betrieblichen Bündnissen handeln auf einer wackligen rechtlichen Basis. Das zeigt: Wir brauchen dringend eine Legalisierung der betrieblichen Wirklichkeit.
Damit kommen wir zur spannenden Frage, ob die Öffnungsklauseln tariflich sein müssen oder gesetzlich. Wenn die Tarifparteien nicht in der
58
Lage sind, sich zu bewegen, dann bleibt dem Gesetzgeber gar nichts
anderes übrig, als eine gesetzliche Regelung zu schaffen. Im Prinzip
können wir das über beide Varianten installieren, eine gesetzliche Öffnungsklausel oder eine Neufassung des Günstigkeitsprinzips. Spätestens hier fängt der Streit an. Denn beide Lösungen kommen nur für tarifgebundene Unternehmen in Betracht. Für die tarifungebundenen Firmen reichen weder die gesetzliche Öffnung noch ein neu definiertes
Günstigkeitsprinzip aus. Sie brauchen eine Veränderung der Regelungsabrede, also einen geänderten Tarifvorbehalt. Die tarifungebundenen Unternehmen benötigen eine Abschaffung des Tarifvorbehalts, um
auch auf betrieblicher Ebene eine Vereinbarung zwischen Unternehmensleitung und dem Betriebsrat oder einer Mehrheit der Beschäftigten generieren zu können.
Wir brauchen mehr institutionellen Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Formen von Arbeitsverträgen. Wir sollten das Subsidiaritätsprinzip nicht, wie es gegenwärtig geschieht, auf den Kopf stellen. Wir tun
das, indem wir dem Flächentarifvertrag den Vorrang geben, erst dann
kommen Haustarife und dann Einzelarbeitsverträge. Die betrieblichen
Bündnisse für Arbeit kommen so gar nicht vor. Ich will mehr Wettbewerb zwischen diesen Möglichkeiten, Tarifverträge oder Arbeitsverträge abzuschließen. Was einzelvertraglich geregelt werden kann, soll einzelvertraglich geregelt werden. Wenn es, aus welchen Gründen auch
immer, Schwierigkeiten gibt, sei es auf Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite, kommt die nächsthöhere Instanz ins Spiel. Zunächst also betriebliche Bündnisse für Arbeit. Wenn das nicht geht, dann kommen
Haustarife in Betracht und – wenn dann immer noch Bedarf besteht –
dann in Gottes Namen auch Flächentarife. Ich denke, wir brauchen einen institutionellen Wettbewerb in diesem Bereich der Lohn- und Tariffindung. Mehr fordere ich gar nicht.
59
Professor Fels
Danke schön, Herr Berthold. Wir sind jetzt zu dem Kern dessen vorgestoßen, was möglicherweise kontrovers diskutiert wird. Ich würde jetzt
gerne Herrn Streeck fragen, wie er sich dazu stellt. Herr Berthold möchte an den Tarifvorbehalt ran, § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes. Dieser Paragraph gilt ja für Tarifgebundene wie für Nicht-Tarifgebundene. Auch wer nicht im Arbeitgeberverband ist, darf mit seinem
Betriebsrat keine Regelungsabreden treffen, die etwa Löhne und Arbeitszeit betreffen. Herr Streeck, ist es sinnvoll, da nun Hand anzulegen?
Professor Streeck
Ich möchte eigentlich zwei Punkte betonen. Der erste Punkt ist: Das
Flächentarifvertragssystem – oder das Tarifvertragssystem, denn es
gibt ja sehr viel mehr Haustarifverträge als Flächentarifverträge – ist im
Wandel begriffen. Da ist eine ungeheure Dynamik drin, und sehr viel von
dem, was Herr Berthold gerade eingefordert hat – zum Teil zu Recht, etwa Wettbewerb zwischen verschiedenen Regulierungsebenen und Regulierungsformen –, gibt es bereits. Wettbewerb ist ein kreativer Prozess, in dem auch Regelverletzungen oder Versuche der Weiterentwicklung von Regelungen stattfinden müssen. Jede Innovation ist etwas
Unvorhergesehenes, das mit dem in Konflikt geraten kann, was schon
besteht. Es ist deshalb ganz normal, dass es Fälle gibt, bei denen man
nicht genau weiß, ob sie dem Tarifvertrag entsprechen oder unter den
§ 77 Abs. 3 fallen oder unter andere Bestimmungen.
Mein zweiter Punkt ist der folgende: Wir reden in Deutschland sehr viel
über die Notwendigkeit zur Flexibilisierung. Ich glaube aber, dass Arbeitsmärkte etwas Besonderes sind und dass sie sicherlich nicht so flexibel sein können wie Kapitalmärkte. Die Einzigen, die das nicht verstehen, sind auf Lebenszeit verbeamtete Professoren, bei denen das Gehalt gewissermaßen aus der Steckdose kommt. Arbeitsmärkte müssen
anders als andere Märkte für ein gewisses Maß an Sicherheit sorgen,
so wie es im Begriff der Flexicurity zum Ausdruck kommt. Flexibilität
muss ergänzt werden durch Stabilität. Herr Brocker hat vorhin sehr zu60
treffend von der Konfliktsicherheit, der Produktionssicherheit etc. gesprochen, die die Tarifverträge den Unternehmen geben. Eine ebensolche Sicherheit erwächst für die Beschäftigten aus Tarifverträgen oder
anderen Regelungen, die nicht einseitig von der Gegenseite diktiert
werden können. Einkommen müssen heute zunehmend variabel werden, je nach Leistung und Unternehmenssituation. Das ist auch völlig
richtig so. Aber Variabilität kann nicht unbegrenzt sein. Man kann vielleicht 10 oder 12 Prozent der Einkommen flexibilisieren. Wenn es aber
mehr wird und man den Arbeitnehmern zugleich sagt, sie müssen jetzt
viel mehr als früher für ihr Alter selbst vorsorgen und der Vollversorgungsstaat bei der Gesundheit ist nicht mehr finanzierbar, dann kommt
man in eine Situation, wo die Erwartungssicherheit der Beteiligten den
Wirtschaftsprozess nicht mehr garantieren kann. Dann bekommt man
mehr Rigidität als Flexibilität – aus Unsicherheit. Und wie kann man erwarten, dass Arbeitnehmer sich ein Auto auf Raten kaufen – was sie
sollen, damit es mit der Konjunktur wieder aufwärts geht –, wenn sie
nicht wissen, was sie im Monat verdienen oder wie lange sie überhaupt
noch beschäftigt sein werden?
Lassen Sie mich ein anderes Beispiel ausführen: In der heutigen Arbeitswelt hängt vieles davon ab, dass Arbeitnehmer selbst in ihre Qualifizierung investieren und es nicht nur dem Arbeitgeber überlassen,
dies zu tun. Investitionen tätigt man aber nur, wenn man zumindest einigermaßen Gewissheit hat, dass man sie hinterher amortisieren kann.
In einem hyperflexiblen Arbeitsmarkt gibt es keine solche Gewissheit.
Es gibt also Grenzen der Flexibilisierung von Arbeitsmärkten, die man
sorgfältig beachten muss. Wir sollten zudem nicht außer Acht lassen,
was wir in den vergangenen Jahren erlebt haben. Für weite Teile der
Bevölkerung ist der wirtschaftliche Status heute weit unsicherer als vor
10 Jahren. Das kann man am Konsumverhalten sehen, aber auch an
der Reaktion auf die Reformen der letzten anderthalb Jahre. Kurz und
gut, Arbeitsmärkte brauchen Institutionen, die allen Beteiligten, nicht
nur den Unternehmen, neben Flexibilität auch ein Mindestmaß Sicherheit garantieren. Das Ausbalancieren der beiden – „Flexicurity“ für
Unternehmen und für Arbeitnehmer – ist das große gestalterische Pro61
blem in den Arbeitsmärkten. Die Institutionen, die Beschäftigung regulieren, müssen das Vertrauen aller Beteiligten haben können. Auch der
Arbeitnehmer muss sich darauf verlassen können, dass ein Unternehmen Verträge nicht einfach über den Haufen schmeißt, weil es ihm gerade passt und die Arbeitnehmer dann die gesamte Unsicherheit zu tragen haben. Unsicherheiten und Risiken müssen gerecht verteilt werden.
Lassen Sie mich meine These vom Wandel des Tarifvertragssystems
noch mit ein paar Zahlen illustrieren. Am Max-Planck-Institut haben wir
untersucht, wie betriebliche Bündnisse in den hundert größten deutschen Unternehmen funktionieren. Das hat Anfang der neunziger Jahre
angefangen. Über die Zeit hat es immer mehr solcher Bündnisse gegeben. Zu echten Tarifbrüchen kommt es dabei nur selten. Das hat etwas
damit zu tun, dass die Tarife selbst flexibler geworden sind. Vor allem
die Anzahl der von tarifvertraglichen Öffnungsklauseln erfassten Arbeitnehmer zeigt, dass sich eine Menge getan hat. Waren es 1993 knapp
über eine halbe Million Beschäftigte, so sind es mittlerweile 6,6 Millionen. Innerhalb des Tarifvertragssystems, so interpretiere ich das, hat
ein Lernprozess stattgefunden. Der mag nicht weit genug gegangen
sein. Dennoch ist hier eine Delegation von Handlungsmöglichkeiten auf
die Betriebsebene zustande gekommen, für die man den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften Anerkennung zollen muss. Die haben
doch nicht einfach auf ihren Flächentarifen gesessen, sondern sie haben gehandelt. Solche Prozesse funktionieren natürlich nicht so, dass
alle immer begeistert sind. Das ist zum Teil auch erzwungen worden.
Gleichwohl, innerhalb des deutschen Systems können solche Anpassungsprozesse stattfinden. Vor diesem Hintergrund möchte ich dafür
plädieren, dieses System nicht abzuschreiben. Es ist reformfähig.
Professor Fels
Danke schön, Herr Streeck. Sie haben geschildert, wie weit der Prozess
schon fortgeschritten ist, und sagen auch, gewisse Gesetzesverstöße
sind unvermeidlich. In jedem großen Liberalisierungsprozess ist eine
Phase der Balkanisierung vorgeschaltet. Das bleibt wohl nicht aus, bis
sich neue Formen herausgebildet haben. Die entscheidende Frage lau62
tet: Reicht das aus? Sind nicht doch energischere Schritte von Seiten
der Tarifparteien oder gar des Gesetzgebers nötig? Vor fast einem Jahr
hat der Bundeskanzler mit gesetzlichen Öffnungsklauseln gedroht,
wenn die Tarifparteien nicht handeln. Herr Berthold ist noch ein Stück
weiter gegangen und hat sich für eine Änderung des Tarifvorbehalts
ausgesprochen. Lassen Sie mich daher noch einmal nachfragen, Herr
Streeck. Wie sehen Sie das?
Professor Streeck
Vielleicht ist es aus politischen Gründen zweckmäßig, um den Prozess
zu beschleunigen, wenn solche Aussagen getroffen werden. Man muss
dann aber gut aufpassen, was geschieht. Es gibt Dinge, die auch aus
Arbeitgebersicht nicht gut funktionieren würden. Wenn man zum Beispiel ins Gesetz schreibt, dass in Betrieben Tarifabweichungen zwischen Betriebsrat und Unternehmen vereinbart werden können, die von
der Hälfte oder zwei Dritteln der Beschäftigten bestätigt werden müssen, kann dies zu einer Spaltung der Belegschaft führen. Denn es müssen Betriebsversammlungen durchgeführt werden, in denen Gewerkschafter auftreten und Reden halten für den Flächentarif, es werden
Flugblätter im Betrieb verteilt etc. In den USA, wo ich sieben Jahre gelehrt habe, kann man sehen, was passiert, wenn in einem Betrieb nach
den dortigen Gesetzen darüber abgestimmt wird, ob die Belegschaft
von einer Gewerkschaft vertreten werden will oder nicht. Der ganze Betrieb ist fraktioniert. Das Betriebsklima ist – unabhängig vom Ergebnis
– kaputt. Der Unternehmer beteiligt sich an dem Wahlkampf. Wenn er
gewinnt, bleibt ein enormes Ressentiment zurück. Ich wünsche keinem
deutschen Unternehmen eine ähnliche Auseinandersetzung. Das heißt,
es gibt eine ganze Reihe von Nebenfolgen, die man bedenken muss,
wenn man dem Betriebsrat die Möglichkeit gibt, Tarife außer Kraft zu
setzen oder gar abzuschließen. Im letzteren Fall müsste der Betriebsrat
nach unserer Verfassungslage über kurz oder lang auch ein Streikrecht
bekommen. Da muss man sich fragen, will man das?
Es gibt noch einen anderen Aspekt zu beachten: Alle rechtlichen Veränderungen enthalten Elemente der Unsicherheit. In den Betrieben
63
muss das dann ausgetestet werden, und im Zweifel entscheidet das
Verfassungsgericht. Das kann lange dauern und am Ende sehr teuer
werden.
Ich würde es vorziehen – und das ist meine Antwort auf die Frage –,
dass wir den Anpassungsweg, den wir in den vergangenen zehn Jahren beschritten haben, in der Verantwortung der beiden Seiten des Arbeitsmarktes weitergehen. Das ist mühsam, das geht langsam, aber es
ist erheblich weniger riskant als rechtliche Veränderungen, die das Organisationsrecht und damit die Existenz der Gewerkschaften berühren.
Das ist ein Spiel mit dem Feuer, und ich würde davor warnen, dies zu
wagen.
Professor Fels
Danke schön. Herr Busch, Sie stehen an der Front.
Dr. Busch
Eigentlich bin ich sehr in Versuchung, mich in das intellektuelle Gefecht
der beiden Flügelkämpfer einzumischen, allerdings laufe ich dann
wahrscheinlich Gefahr, Stichwunden zu bekommen. Ich ziehe es daher
vor, zwei mir sympathische Aussagen von Herrn Schnabel zu kommentieren.
Die erste These war: Es gibt kein optimales System der Lohnfindung.
Das war mir schon länger bekannt, zumindest seit ich mal längere Zeit
im Ruhrgebiet gelebt habe. Das sind sehr praktische Menschen dort,
und die haben auch eben solche Erkenntnisse. Eine heißt unter anderem: „Man gewöhnt sich an allem, auch am Dativ.“ Übertragen auf unser Thema heißt das: Es existiert kein optimales System und auch kein
optimales institutionelles Geflecht. Alle Beiträge sind wichtig.
Die zweite, mir sympathische These war, dass es sinnvoll ist, wenn
mehr Regelungssysteme nebeneinander bestehen. Damit oute ich mich
insoweit, als ich hier nicht als Prediger des Flächentarifvertrags auftrete. Die Arbeitgeber und natürlich in erster Linie unsere Mitglieder – die
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Unternehmen – müssen tagtäglich damit umgehen. Das Thema ist insofern unter Nützlichkeitsgesichtspunkten zu betrachten. Es ist daher
zu Recht mehrfach von Vorteilen und Nachteilen gesprochen worden,
auch Herr Brocker hat von Vorteilen und Nachteilen gesprochen. Das
wissen wir schon lange, dass das konstituierende Element eines Arbeitgeberverbandes, nämlich der Flächentarifvertrag, sich nicht immer
zum Vorteil entwickelt hat. Aber die Verbände haben darauf organisationspolitisch reagiert und ihre Organisation weiterentwickelt und nichttarifgebundene Verbände gegründet. Ich nenne das immer Differenzierung durch Organisation.
Es gibt eben Unternehmen, die sind Mitglied in einem Arbeitgeberverband, der Tarifträgerverband ist, und es gibt Unternehmen, die sind
Mitglied in einem Verband, der eben nicht der Tarifbindung unterliegt.
Dafür lassen sich viele Pros und Cons finden, und einige sehen dieser
Entwicklung mit einer gewissen Leidenschaft entgegen, ob positiv oder
negativ sei dahingestellt. Wir sehen aber auch, dass es eine ganze
Menge Unternehmen gibt, die großen Wert darauf legen, Mitglied in einem Tarifträgerverband zu sein. Das geschieht kaum aus irgendwelchen ordnungspolitischen Gründen oder anderen hehren Motiven, sondern vielmehr aus einem einfachen Grund: Die Unternehmen sind Mitglied, weil es ihnen nützt.
Allerdings ist dieser Nutzen fragwürdiger geworden. Denn der Flächentarifvertrag ist von dem weggerückt, was er in den fünfziger und sechziger Jahren geleistet hat, nämlich Mindeststandards zu definieren. Er
legt heute zu hohe Standards fest.
Die Bündnisse für Arbeit kann man als Indikator dafür nehmen. Weil
man permanent Bündnisse auf Betriebsebene abschließt, die vom Flächentarifvertrag nach unten abweichen, müssen die Festlegungen zu
hoch sein. Das liegt auf der Hand. Dieselben Unternehmen sagen aber
auch, wir brauchen den Flächentarif, denn wir sind – und das ist ein Reflex auf erhebliche Veränderungen – in Wertschöpfungsketten und Liefernetzwerke eingebunden. Das Ganze ist ein viel zu empfindliches Gebilde, als dass man es einem chaotischen Prozess der dezentralen
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Lohnfindung aussetzen könnte. Dann wäre dauernd eine Ecke dieses
Netzwerkes unter Druck oder gegebenenfalls sogar gestört, und damit
ist das ganze System fragil. Aus Sicht unserer Mitglieder ist der Flächentarifvertrag vor diesem Hintergrund ein nicht zu schlagendes Instrument der Befriedung und der Aushandlung von Standards.
Der Kernnutzen des Flächentarifvertrags besteht darin, den Verteilungskampf aus den Unternehmen herauszuhalten. Dies ist die größte
Stärke des Systems. Und die Schwäche ist eben, dass der Flächentarifvertrag den Unternehmen nicht ausreichend schnelle und gründliche
Reaktionsmöglichkeiten an veränderte Situationen erlaubt. Diese Veränderungen erfolgen nicht im Rhythmus der Gültigkeitsdauer eines Flächentarifvertrags, sondern des Marktes und Wettbewerbs. Der nimmt
auf die Laufzeit der Flächentarifverträge keine Rücksicht. Deshalb muss
es möglich sein, parallel dazu auf betrieblicher Ebene reagieren zu können und sich entsprechend verhalten zu können. Das ist das, was wir
unter anderem in der laufenden Tarifrunde unter dem Stichwort „Gestaltungsspielraum“ thematisieren.
Die vorhin von Frau Köcher präsentierte Befragung stärkt uns in dieser
Haltung. Drei Viertel der Metall- und Elektroindustrieunternehmen sind
danach vom Nutzen des Flächentarifvertrags überzeugt. Ungefähr dieselbe Zahl – wenn ich es richtig im Kopf habe – sagt aber auch: Wir
brauchen mehr Spielraum, mehr Flexibilisierungsmöglichkeiten. Als Arbeitgeberverband sind wir keineswegs der Ansicht, dass eine ganz bestimmte Mindestanzahl von Unternehmen in Deutschland oder auf dieser Welt Mitglied eines Arbeitgeberverbandes sein oder der Tarifbindung unterliegen muss. Das ist wirklich eine rein praktische Entscheidung. Wenn ein großer Teil der Unternehmen der Auffassung ist, „das
wollen wir nicht, wir wollen es anders haben“, dann müssen wir damit
leben. Insofern ist das ganze Gerede vom Kartell immer etwas sehr
ökonomietheoretisch. Gott sei Dank läuft die Welt auch ohne Ökonomen weiter.
66
Professor Fels
Sie sind doch selber einer.
Dr. Busch
Ich verheimliche das auch nicht. Es hat mir bisher nicht geschadet, es
hat mir manchmal sogar genutzt. Zurück zum Thema. Wir als Arbeitgeberverband versuchen die unbestreitbaren Vorteile des Flächentarifvertrags abzusichern, im Sinne unserer Mitglieder und nicht im Sinne einer
bestimmten Verfasstheit dieses Landes. Wir versuchen die Nachteile,
die sich entwickelt haben, auszugleichen, und das kommt – glaube ich
– ganz gut im Konzept unserer diesjährigen Tarifauseinandersetzung
zum Tragen. Auf der Lohnseite finden wir uns ganz im Einklang mit allen weisen Ökonomen – nicht nur den fünf, die meisten Ökonomen sind
weise –, dass man tunlichst unterhalb des Produktivitätszuwachses
bleiben sollte, wenn man Arbeitsplätze schaffen will. Gleichzeitig streben wir für die Unternehmen mehr Gestaltungsspielraum an. Allerdings
sind wir nicht der Auffassung, dass dieses am besten durch generelle
Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen zu erreichen ist. Generelle Öffnungsklauseln sind zu unspezifisch, so dass permanente Debatten bis
hin zum Streit und Konflikt in den Unternehmen drohen, wie denn nun
die Öffnungsklauseln umzusetzen sind. Deshalb wollen wir an einem
betriebswirtschaftlich wie auch makroökonomisch ganz wesentlichen
Thema ansetzen, nämlich der Frage des Arbeitsvolumens und der daran gebundenen Entlohnung. Wir ziehen es vor – und diese Auffassung
haben wir seit dem vergangenen Sommer vertreten, als das Thema virulent wurde –, dass die Tarifvertragsparteien solche notwendigen Öffnungen des Tarifvertrags erreichen, weil diese Regelungen dann praxisrelevant sind. Wenn der Gesetzgeber es macht, hätten wir anschließend vor allem juristische Auseinandersetzungen, also keine Sicherheit,
sondern eher eine Unsicherheit.
Noch eine letzte Bemerkung. Ich bin völlig leidenschaftslos, ob man
nun auf betrieblicher Ebene oder auf kollektiver Ebene Lohnfindung betreibt: Man kann sich für das eine wie für das andere entscheiden. Man
kann das ganze System so ausrichten, dass es auf betrieblicher Ebene
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stattfindet oder eben durch das Austarieren von Tarifvertragsebene und
Betriebsebene. Nur über eins sollte man sich klar sein: Man kann nicht
in diesem austarierten System nur eine Stellschraube verändern, ohne
zu berücksichtigen, welche Folgewirkungen das überall hat. Um es
plastisch zu machen: Wenn man den § 77 Abs. 3 streicht, dann muss
man sich auch offen und ehrlich dazu bekennen, dass man vom Grundsatz eigentlich eine dezentrale Lohnfindung haben will. Dann muss man
das Betriebsverfassungsgesetz und analog dazu das Tarifvertragsgesetz völlig ändern. Man kann es nicht einfach nur teilweise ändern, denn
in seiner jetzigen Form verpflichtet das Betriebsverfassungsgesetz die
Betriebsparteien, zum Wohle des Betriebes zusammenzuarbeiten und
gerade nicht den Verteilungskampf zu führen. Ich muss also, wenn ich
den § 77 Abs. 3 ändere, das Betriebsverfassungsgesetz ändern – und
zwar komplett ändern. Es geht nicht zu sagen: „Wasch mir den Pelz und
mach mich nicht nass.“ Man muss dann schon konsequent sein.
Herr Berthold, ich habe Ihre Untersuchung mit Interesse bis zur drittletzten Seite gelesen. Bis dahin ist sie sehr korrekt, und dann kommt
ein Glaubensbekenntnis, das mit der Empirie nicht mehr zusammenpasst, die Forderung, den § 77 Abs. 3 abzuschaffen.
Professor Fels
Danke schön. Der § 77 Abs. 3 scheint ja bei manchen Leuten schon eine Hausnummer zu sein. Wenn man diesen Paragraphen abschafft, wäre das ein ziemlich radikaler Umbau unseres gesamten Systems, das ja
auf Sozialpartnerschaft auf der betrieblichen Ebene aufgebaut ist und
die Konflikte über Löhne und Arbeitszeit überbetrieblich löst. Es ist wie
im Mittelalter. Die Bürger in den Städten hielten sich damals Militärkontingente und wenn es zu Auseinandersetzungen kam, dann hatten
diese extra muros zu kämpfen, damit innerhalb der Städte nicht zu viel
zerschlagen wurde. Die Bürger saßen oben auf den Zinnen und guckten zu. Ähnlich ist das heute mit Tarifverhandlungen. Man hat die Arbeitgeberverbände als ein stehendes Heer, die das dann mit den Gewerkschaften auszufechten haben, ohne dass dieser Kampf in die Be68
triebe hineingetragen wird. Herr Schnabel, bitte, Sie wollten sich dazu
äußern.
Professor Schnabel
Ich glaube, man muss stärker unterscheiden zwischen tarifgebundenen
Unternehmen und nichtgebundenen. Bisher hatten wir sie zu sehr über
einen Kamm geschert. Lassen Sie mich aber zu einem anderen Punkt
zurückkommen. Das System ändert sich oder – wenn man so will – reformiert sich gerade selber. Wenn man die Abnahme der Tarifbindung
analysiert, stellt man fest, dass sich insbesondere jüngere Unternehmen fernhalten. Das gilt wahrscheinlich nicht nur für die Tarifbindung,
sondern generell für die Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und ist
natürlich ein Problem für die Zukunft. Nun sagten Sie, Herr Busch, es
gibt keine Mindestzahl von Firmen, die im Arbeitgeberverband sein
müssten oder der Tarifbindung unterliegen. An dieser These zweifle ich.
Ich kann zwar nicht genau sagen, wo die Mindestgröße liegt, damit der
Tarifvertrag noch wirklich als Anker dienen kann. Diese Ankerfunktion
ist sehr wichtig – zumal sich viele Betriebe an einem Tarifvertrag orientieren, obwohl sie nicht tarifgebunden sind. Irgendwo hängt das natürlich damit zusammen, dass dieser Tarifvertrag gestützt wird von einer
bestimmten Anzahl von Unternehmen und ein paar Großunternehmen.
Wir wissen die Mindestgrenze nicht, aber wir haben – jetzt komme ich
doch wieder auf die Ökonomen und ihre Glasperlenspiele zurück – Anhaltspunkte dafür, dass es, was die Mitgliedschaft in Gewerkschaften
und Arbeitgeberverbänden angeht, eine kritische Mindestzahl gibt und
das System sich auflösen kann, wenn diese unterschritten wird. Das
mag noch graue Theorie sein, aber wir können es vielleicht noch erleben und beobachten es sogar, wenn wir die Entwicklung der Gewerkschaften in manchen Ländern analysieren.
Hinsichtlich der Öffnungsklauseln – insbesondere der generellen – ist
richtig, dass es schwer ist, sie justiziabel zu machen. Die Chemische Industrie macht aber vor, dass es möglich ist. Dort funktionieren bestimmte Arten von Öffnungsklauseln, die relativ allgemein spezifiziert
sind, die einen Rahmen vorgeben, in dem die Betriebe deutliche Mög69
lichkeiten haben. Diese Klauseln sind natürlich themenorientiert, sonst
würde es keinen Sinn machen zu sagen: Wir haben einen Flächentarifvertrag, und wer will, kann davon abweichen. Eine Öffnung für bestimmte Zwecke lässt sich sehr wohl so reinschreiben, dass sie auch
gerichtsfest ist. Das gilt jedoch alles nur für die tarifgebundenen Unternehmen, die einen Tarifvertrag haben und, wenn es wirklich schlecht
aussieht, einen Notausstieg haben wollen. Dafür gibt es eine legale Lösung. Natürlich gibt es noch eine andere Möglichkeit, die italienische
Lösung. Die lässt sich so lange verwirklichen, solange Arbeitgeberverbände oder Gewerkschaften, die beide den Vertrag unterschrieben haben, ein Auge zudrücken. Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Das
ist relativ effizient, und insofern sind die Italiener in solchen Sachen
besser. Aber Deutschland war eigentlich immer ein Land, in dem man
sich relativ gesetzestreu verhält und versucht, eine Regelung zu finden,
die dann auch wirklich Bestand haben kann.
Für die tarifungebundenen Firmen ist es recht schwierig, vernünftige
Lösungen zu finden. Wir haben momentan, wenn man das Gesetz wirklich wörtlich nimmt, eine absurde Situation. Nehmen wir einmal an, Sie
sind in einer Industrie, die keinen Flächentarifvertrag hat, denken Sie
mal an die Softwareindustrie. Sie sind in einem Unternehmen, keiner Ihrer Mitarbeiter ist Mitglied in einer Gewerkschaft.
Professor Fels
Trotzdem gilt der § 77 Abs. 3.
Professor Schnabel
Trotzdem gilt der § 77 Abs. 3, das heißt, Sie können nur Einzelarbeitsverträge abschließen. Wenn Sie so groß sind wie SAP, schließen Sie
tausende von Einzelarbeitsverträgen ab. Sie dürfen das nicht kollektiv
mit der Belegschaft machen, in dem Sinne, dass der Betriebsrat die
Interessen der Belegschaft vertritt. Das ist natürlich absurd.
70
Professor Fels
Darf ich nochmals Herrn Berthold ins Spiel bringen. Man könnte sich ja
vorstellen, dass man für nicht tarifgebundene Unternehmen Regelabsprachen trifft, also mit dem Betriebsrat einen Musterarbeitsvertrag
ausarbeitet, der dann individuell abgeschlossen wird. Damit ist die ganze Problematik des § 77 Abs. 3 vom Tisch.
Professor Berthold
Wenn es keine Transaktionskosten gäbe, wäre das richtig. Regelungsabsprachen sind juristisch gesehen auch problematisch, es ist ja faktisch eine Umgehung dessen, was man eigentlich will. Man hat Musterverträge, man will eine betriebseinheitliche Lösung und greift dann
zu Regelungsabsprachen. Mir wäre in der Tat lieber, man würde das,
was man eigentlich will, auch legal tun können. Meines Erachtens heißt
das, dass in diesem Falle für tarifungebundene Unternehmen eine Modifikation des § 77 Abs. 3 notwendig ist.
Ich möchte in dem Zusammenhang nochmals auf das Verhältnis von
betrieblichen Vereinbarungen zum Flächentarif kommen. Das ist ja der
Streitpunkt, um den es wirklich geht. Es verlangt inzwischen niemand
mehr, dass wir auf betrieblicher Ebene entsprechende Tarifauseinandersetzungen führen. Alle Lösungen, Herr Schnabel hat es uns noch
mal gezeigt, haben Vor- und Nachteile. Flächentarife haben Vor- und
Nachteile, einzeltarifliche Regelungen haben Vor- und Nachteile, betriebliche Bündnisse genauso. Die Idee, die hinter unserem Vorschlag
steckt, ist simpel und einfach, die Vorteile aus den unterschiedlichen
Systemen zu kombinieren und auf diese Art und Weise letztlich die
Nachteile auszuschalten. Natürlich brauchen wir nach wie vor den Flächentarifvertrag als Rahmen. Wir müssen aber Möglichkeiten schaffen,
davon abweichen zu können. Die große Frage ist nur: Wie sollen wir da
vorgehen?
Wenn wir wirksame Öffnungsklauseln installieren wollen, gibt es im
Prinzip zwei grundsätzliche Möglichkeiten. Es ist erst einmal unerheblich, ob es tarifvertragliche oder gesetzliche Öffnungsklauseln sind, ob71
wohl das natürlich für die Organisation der Verbände eine wichtige Rolle spielt. Ist ein Unternehmen in Schwierigkeiten, kann man diesem
Problem mit konditionierten Öffnungsklauseln zu Leibe rücken. Es werden konkrete Kriterien festgelegt, an denen festgemacht wird, wann
diese Öffnungsklauseln auf betrieblicher Ebene angewandt werden
können und wann nicht. Wenn man aber eine Situation hat, und die
schwebt mir viel stärker vor, in der ein Unternehmen noch gar nicht in
Schwierigkeiten ist, was haben wir denen anzubieten? Diese Firmen
operieren im starken Maße mit Arbeitszeitkonten, mit ertragsabhängiger Entlohnung und mit Zielvereinbarungen. Und wenn man diese Instrumente nimmt, stellt sich die Frage: Kann man da faktisch noch mit
konditionierten Öffnungsklauseln operieren? Welcher ökonomische
Wirkungsmechanismus wird vorausgesetzt, um das justiziabel zu machen? Innovationsbündnisse lassen sich mit konditionierten Öffnungsklauseln nicht vereinbaren. Da müssen sie scheitern. Deshalb haben wir
vorgeschlagen, unkonditionierte Öffnungsklauseln einzuführen.
Noch eine Bemerkung zu dem, was Herr Streeck vorher gesagt hat und
auch Herr Fels angesprochen hat. Ich glaube nicht, dass das im stärkeren Maße den Betriebsfrieden gefährdet und Arbeitskämpfe in die
Betriebe hineinträgt, wenn wir auf betrieblicher Ebene mehr Abschlüsse zulassen, aus zwei Gründen: Wenn der Flächentarifvertrag als Rahmen gilt und man zu keiner Einigung kommt, dann kommt’s halt zu keiner Einigung. Dann bleibt der Flächentarifvertrag so, wie er ist. Betriebliche Auseinandersetzungen sind damit ausgeschlossen. Und selbst
wenn es mehr betriebliche Vereinbarungen in kollektiver Form gibt,
dann kann man die Arbeitnehmer nicht als Mitentscheider ausbooten.
Ich vergleiche Unternehmen mit einem Fahrradrennstall. Ein Erich Zabel wird keinen Sprint gewinnen, wenn er nicht Fahrer hätte, Mitstreiter,
die für ihn fahren. Und sie fahren nur für ihn, wenn von vornherein klar
abgemacht ist, wie die Prämien, die sie ersprinten und erfahren, aufgeteilt werden. Wir werden in Zukunft nicht umhinkönnen, dass die Arbeitnehmer im Betrieb mehr entscheiden müssen, möglicherweise
auch über Investitionen. Das liegt in der Natur der Sache, wenn die
Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben sollen. Dann braucht man ein
Zusammenspiel von Arbeit und Kapital. Die Arbeitgeber kriegen das
72
nicht umsonst. Sie müssen dafür etwas bieten, und das ist im weitesten
Sinne ein Mehr an Mitbestimmungsmöglichkeiten. Das ist für mich die
eigentliche Botschaft dieser Diskussion. Wir müssen eigentlich das,
was hier relativ kleinlich, auch von meiner Seite aus, über Flächentarife
diskutiert wird, auf eine andere Ebene heben, nämlich die Frage, wie
halten wir es im Prinzip mit der Mitbestimmung von Arbeitnehmern in
Unternehmen.
Professor Fels
Herr Streeck gleich dazu.
Professor Streeck
Da kann ich doch nur sagen: Welcome to the club! Da sind wir ganz einer Meinung. Ich würde nur einen Satz hinzufügen, Herr Berthold, den
werden Sie mir als Ökonom wahrscheinlich auch abnehmen, schon weil
Sie ein vorzüglicher Kenner der Institutionenökonomik sind. Regeln
braucht man, um Kooperation zu erzeugen, aber es muss auch klar
sein, dass Regeln nicht in jedem Moment beliebig von jedem aufgekündigt werden können. Irgendwo müssen sie garantiert sein. Eine Institution, die nichts wäre als ein Vertrag, der auf momentanen Interessen beruht, ist nicht vertrauenswürdig genug, um langfristig Kooperation zu ermöglichen. Deshalb sind externalisierte Regelungen, seien es
Gesetze oder Tarifverträge, so außerordentlich nützlich. Deshalb ist eine externe Garantie von gewährten Rechten, die dann auch gilt, wenn
derjenige, der das Recht gewährt hat, es jetzt gerade nicht gelten lassen will, eine Grundsatzvoraussetzung für Vertrauen und stabile Kooperation.
Professor Berthold
Sie haben Recht. Wir kommen jetzt an das Kernproblem dieser Diskussion. Wir müssen uns nämlich die Frage stellen, wie steht es um das
Verhältnis von kollektiver Vereinbarung und individueller Freiheit. Die
kollektiven Vereinbarungen standen bei uns im Vordergrund und haben
dazu beigetragen, dass individuelle Freiheiten – in diesem Fall die Be73
rufsausübungsfreiheit – überhaupt garantiert sind. Bei faktisch 6 Millionen Arbeitslosen müssen wir aber feststellen, dass die Koalitionsbildung dazu führt, dass die freie Berufsausübung für viele nicht mehr so
ohne weiteres möglich ist. Damit steht natürlich auch das Verfassungsgericht vor der Frage, wie es zwischen Artikel 9 Absatz 3 und Artikel 12
Absatz 1 des Grundgesetzes abwägt. Das ist nicht festgeschrieben für
alle Zeiten, das ändert sich aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung.
Professor Fels
Herr Busch, eine Frage an Sie. Wenn in die betriebliche Mitbestimmung
Felder wie die Lohnfindung oder Arbeitszeitgestaltung hineingenommen werden, wird da nicht das Einigungspotenzial überfrachtet? Gefährdet es nicht die Mitbestimmung, wenn der Betriebsrat über Ertragsbeteiligungen und Investitionen und damit letztlich Verteilungsfragen mitentscheidet? Ist es nicht besser, diese Dinge extra muros zu regeln, in Arbeitsteilung zwischen betrieblicher und tariflicher Ebene?
Dr. Busch
Durch seine Mitbestimmungsmöglichkeiten kann der Betriebsrat sowohl zum Wohl des Unternehmens handeln als auch ein ungeheures
Störpotenzial entwickeln. Wenn nun Teile des Verteilungskampfes auf
die betriebliche Ebene verlagert werden, kommt es zu einer Übermacht
des Betriebsrates. Den Unternehmen bliebe dann gar nichts anderes
übrig, als dieses Spiel mitzuspielen und kleine Schäden in Kauf zu
nehmen, um den ganz großen Schaden zu vermeiden. Unter dem
gegenwärtigen Betriebsverfassungsgesetz ist es daher kaum vorstellbar, Verteilungskonflikte in den Unternehmen zu lösen.
Herr Berthold, es ist doch völlig außer Zweifel, dass der Flächentarifvertrag renovierungsbedürftig ist – sogar in sehr starkem Maße. Herr
Streeck hat aber zu Recht darauf hingewiesen, dass er seine sichernde
Funktion behalten muss, sonst wäre er wertlos. Auf diese Sicherheit
sind übrigens beide Vertragsparteien angewiesen, die eine ebenso wie
die andere. Diese Sicherheit wird der Flächentarifvertrag allerdings
74
nicht mehr bieten können, wenn er von der Wirklichkeit überholt wird,
er nur noch eine Schimäre ist, weil alle davon abweichen und er nur
noch auf dem Papier existiert.
Die meisten Bündnisse für Arbeit sind Bündnisse zur Abweichung vom
Tarif nach unten, um wirtschaftliche Schwierigkeiten zu überwinden.
Gesamtmetall ist der Auffassung, und das wird ja in der aktuellen Tarifauseinandersetzung deutlich, dass die Betriebsparteien Möglichkeiten
brauchen, auch nach vorne aktiv zu sein – um ganz bestimmte Materien zu Gunsten des Unternehmens und damit auch der Arbeitsplätze
zu regeln. Deshalb haben wir über unseren Lösungsvorschlag bewusst
geschrieben: Zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit, für Innovationen, Standort und Beschäftigung. Das sind zunächst mal Schlagworte,
aber dahinter steht mehr: Wir wollen damit den Tarifvertrag weiterentwickeln – am Beispiel Arbeitszeit und der daran gekoppelten Entlohnung. Die Betriebsparteien müssen die Möglichkeit haben, solche Materien zu entscheiden, wenn es dazu dient, einen Standort zu sichern
oder gar neu zu errichten. Um es auf den Punkt zu bringen: Investitionen in Furth im Wald zu vereinbaren und nicht in Eger vornehmen zu
müssen. Die Entscheidungsparameter für mehr Arbeitsplätze, Arbeitgeberverband und Gewerkschaft können diese nur fördern oder verhindern, müssen vergrößert werden. Natürlich ist dabei der Betriebsrat an
Bord, andernfalls ist das kaum machbar.
Letztlich geht es um eine Neuinterpretation des Günstigkeitsprinzips.
Das Bundesarbeitsgericht lebt hier noch in der einfachen Welt der fünfziger Jahre. Wenn wir es schaffen, dass der Nutzen der Schaffung von
Arbeitsplätzen mindestens so hoch bewertet wird wie die Urlaubsdauer, wäre das schon mal ein Fortschritt – und genau das wollen wir mit
unserem Ansatz anstoßen. So kann man auch im gesamtwirtschaftlichen Interesse die Sicherungsfunktion, der unbestreitbare Vorteil dieses Regelungssystems, erhalten und gleichzeitig die dringend notwendige Öffnung nach vorne einleiten. Diese muss verlässlich sein, und das
geht nur, wenn sie von den Betriebsparteien beredet wird. Damit haben
wir immer zwei Seiten am Tisch.
75
Abschließend noch eine kurze Bemerkung. Die Gewerkschaften sind
wahrscheinlich abhängiger von einem funktionierenden Flächentarifvertrag als die Arbeitgeberverbände. Die Verbände können alles Mögliche
machen, die Gewerkschaften nicht. Zwar steht es mir nicht zu, den Gewerkschaften Ratschläge zu erteilen. Gleichwohl sollten sie sich aber
Gedanken machen, ob der von uns vorgeschlagene Weg nicht sinnvoll
ist, um den Kern des Flächentarifvertrags zu erhalten.
Professor Fels
Danke schön. Herr Streeck, noch ein Wort.
Professor Streeck
Es gibt die Entwicklungen, die mit dem Begriff der Investitionsvereinbarung bezeichnet werden. Das ist ein neuer Typus von Vereinbarungen. Die Unternehmen geben Standort- oder Investitionsgarantien, beispielsweise für die Produktion eines neuen Automodells, wenn die Arbeitnehmer dafür eine bestimmte Arbeitsleistung und Produktivität zusichern. Ich kenne keinen Fall, in dem eine der beteiligten Seiten eine
solche Vereinbarung gebrochen hätte, obwohl die gar nicht justiziabel
ist. Es gibt aber Fälle, in denen eine Vereinbarung auf die andere folgt,
weil das Instrument sich bewährt hat: Es funktioniert auf der Grundlage
von Vertrauen und Pragmatismus, die hier gefordert ist. Als gelernter
Industriesoziologe war ich immer davon überzeugt, dass die Deutschen
sehr viel pragmatischer sind, als es ihrem eigenen Selbstbild entspricht.
Bei Betriebsräten und im Management gibt es viele pragmatisch eingestellte Menschen, die nicht mit dem Betriebsverfassungsgesetz unterm
Arm herumlaufen, sondern schauen, was gemacht werden muss, und
es dann im gegenseitigen Einverständnis machen. Auch in Deutschland
sind nicht alle Juristen, die stur Normen implementieren. Viele sind intelligent genug, um flexibel die Normen umzuarbeiten, vor allem wenn
gegenseitiges Vertrauen besteht. Das ist eine Entwicklungsdynamik,
auf die man sich auch in Zukunft verlassen kann.
76
Professor Fels
Vielen Dank, Herr Streeck. Damit kommen wir zum Ende dieser Runde.
Wir haben das Thema von verschiedenen Seiten angepackt. Es ist
deutlich geworden, dass innerhalb der Unternehmen ein großer Bedarf
besteht, mehr Spielraum für betriebsnahe Lösungen und die betriebsnahe Abwandlung von überbetrieblichen Lösungen zu haben. Es ist
aber ebenso deutlich geworden, dass überbetriebliche Regelungen in
Form des Flächentarifvertrags gebraucht werden – unter anderem, weil
es Transaktionskosten gibt.
Das Günstigkeitsprinzip bedarf sicherlich der Neuinterpretation, damit
betriebliche Bündnisse für Arbeit sich nicht weiter in der Grauzone abspielen. Das Tarifsystem ist in Bewegung, es gibt viel mehr an Ausnahmen als in der Vergangenheit, aber offenbar immer noch nicht genug.
Herr Busch, Herr Streeck und mit Abstrichen auch Herr Schnabel haben darauf hingewiesen, dass gesetzliche Öffnungsklauseln zumindest
problematisch sind. Die Tarifparteien haben es selbst in der Hand, ob
der Gesetzgeber außen vor bleibt. Umso gespannter darf man sein,
was sich in den Metalltarifverhandlungen diese Woche ergibt. Vielleicht
gelingt es, eine Verbesserung in Form solcher Korridorlösungen zu erreichen.
Das ganze Thema Pro und Kontra Flächentarifvertrag ist eher ein M+EThema; im Bereich der Chemie stellt es sich so nicht. Das hängt vor allem mit der unterschiedlichen Einstellung der jeweiligen Branchengewerkschaften zusammen.
Es ist verschiedentlich angeklungen, dass wir in den fünfziger und
sechziger Jahren über diese Themen nicht gesprochen haben, obwohl
die gesetzlichen Regelungen unwesentlich verschieden von den heutigen waren. Seinerzeit waren Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen
noch Mindeststandards, seither haben sie sich immer mehr davon entfernt. Die Tariflöhne liegen heute weit über den Gleichgewichtslöhnen.
Deswegen benötigen wir Spielräume nach unten. Wenn wir über zehn
Jahre hinweg eine zurückhaltende Lohnpolitik praktizieren, wie das die
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Niederlande vorgemacht haben, würden diese Probleme einfach „fall
into disuse“, das heißt, werden dann nicht mehr relevant sein. Das wäre eigentlich der Königsweg. Aber die unterschiedliche Kräftebalance in
den Arbeitskämpfen – durch die starke nationale und internationale Vernetzung sind die Unternehmen bei Arbeitsniederlegungen sehr anfällig
– macht es sehr schwer, diesen Weg zu gehen. Wir können eigentlich
nur hoffen, dass sich hier in den Verhandlungen eine Lösung findet.
Nochmals herzlichen Dank an die Podiumsteilnehmer und alle Zuhörer.
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Die Autoren
Prof. Dr. Norbert Berthold, geboren 1952 in Freiburg; 1980 Dr. rer. pol. Universität Freiburg; 1986 Habilitation für das Fach Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg; Mitglied des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und einer Reihe angesehener wissenschaftlicher Vereinigungen. Norbert Berthold lehrte unter anderem an den Universitäten Basel, Konstanz, Hamburg sowie Düsseldorf und ist seit 1990 Ordinarius für Volkswirtschaftslehre an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
Dr. Ulrich Brocker, geboren 1943 in Hamm (Westfalen); Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Tübingen, Bonn und Münster; 1974 bis
1984 wissenschaftlicher Referent beim Gesamtverband der metallindustriellen
Arbeitgeberverbände (Gesamtmetall); von 1984 bis Ende 1995 Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Keramischen Industrie; seit Februar 1996 Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Metallindustrie Baden-Württemberg e.V. und
der Landesvereinigung Baden-Württembergischer Arbeitgeberverbände e.V.
Dr. Hans Werner Busch, geboren 1943 in Krombach (Siegerland); Studium der
Volkswirtschaft, Sozialwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte an der FU Berlin und Universität Münster; 1976 Promotion an der Universität Münster; 1982
bis 1990 Personaldirektor der Friedrich Krupp GmbH; 1991 bis 1997 Geschäftsführer Bereich Personal, Organisation und Finanzen bei der STN ALTAS
Elektronik GmbH, Bremen; 1994 bis 2000 Verhandlungsführer der Metallarbeitgeber-Verhandlungsgemeinschaft Nordverbund; seit 1997 BÖHLER + BUSCH,
Hamburg, Personalberatung; seit September 2000 Hauptgeschäftsführer von
Gesamtmetall.
Prof. Dr. Gerhard Fels, geboren 1939 in Baumholder; Studium der Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Bonn und Saarbrücken, 1969 Promotion;
von 1969 bis 1983 wissenschaftlicher Mitarbeiter, Abteilungsleiter, Direktor, Professor und Stellvertreter des Präsidenten am Institut für Weltwirtschaft an der
Universität Kiel; von 1976 bis 1982 Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung; von 1978 bis 1982 Mitglied des Committee for Development Planning der Vereinten Nationen (New
York); von 1974 bis 1985 Honorarprofessor an der Universität Kiel, seither an
der Universität zu Köln; seit 1988 Mitglied der Group of Thirty; von 1983 bis 30.
Juni 2004 Direktor und Mitglied des Präsidiums des Instituts der deutschen
Wirtschaft Köln.
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Prof. Dr. Renate Köcher, geboren 1952 in Frankfurt am Main; Studium der
Volkswirtschaftslehre, Publizistik und Soziologie in Mainz und München, Diplom
in Volkswirtschaftslehre; 1985 Promotion in München; seit 1977 wissenschaftliche Mitarbeiterin, ab 1988 Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, Forschungsschwerpunkte: Reform- und Innovationsbereitschaft der
Bevölkerung, Akzeptanz neuer Technologien, politische Analysen, Finanzmarktforschung, Analysen der religiösen Kultur; 2003 Verleihung des Professorentitels
durch den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg.
Prof. Dr. Claus Schnabel, geboren 1961 in Stuttgart; Studium der Wirtschaftswissenschaften an der University of Kent at Canterbury (M.A. in Economics
1985) und der Universität Hohenheim (Promotion 1988); Habilitation an der
Ruhr-Universität Bochum (1997); von 1988 bis 2000 Mitarbeiter im Institut der
deutschen Wirtschaft Köln; seit April 2000 Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Arbeitsmarkt- und Regionalpolitik, an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg; zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der Arbeitsmarktökonomik, Tarifpolitik und empirischen Wirtschaftsforschung.
Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Streeck, geboren 1946 in Lengerich; Direktor am
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln (seit 1995) und Honorarprofessor an der Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät, Universität
zu Köln; 1988 bis 1995 Professor of Sociology and Industrial Relations, University of Wisconsin-Madison, USA. Gastprofessuren in Florenz (Europäisches
Hochschulinstitut), Paris (Fondation Nationale des Sciences Politiques, Institut
d'Etudes Politiques), Mailand (Bocconi-Universität), Madrid (Center for Advanced Studies in the Social Sciences, Institut Juan March); Mitglied der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Präsident der Society for
the Advancement of Socio-Economics (SASE) 1998 bis 1999; Fachgebiete: Vergleichende politische Ökonomie, Wirtschaftssoziologie, vergleichende Arbeitsbeziehungen.
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