Arbeitsrecht Juni 2015_S. 144-217 - Wirtschafts

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Arbeitsrecht Juni 2015_S. 144-217 - Wirtschafts
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Der Schutz von Leben und Gesundheit des AN, den schon § 618 BGB bezweckt, hat
im Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) von 1996 und den auf Grundlage seiner §§ 18 bis
20 erlassenen Rechtsverordnungen eine umfassende Regelung gefunden. Ergänzend
sind die nach § 15 SGB VII erlassenen Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften zu beachten. Nach diesen Bestimmungen kann der AN einen Erfüllungsanspruch haben (z.B. auf Zurverfügungstellung von Schutzkleidung), ein Leistungsverweigerungsrecht erhalten und bei Sachschäden einen Schadensersatzanspruch aus §§
280 I / 823 I BGB geltend machen.
Erleidet der AN dadurch einen Personenschaden (Körperverletzung oder Tod), dass
der ArbG seine Arbeitsschutzpflichten verletzt, handelt es sich um einen Arbeitsunfall
oder eine Berufskrankheit eines Beschäftigten (§ 2 I Nr. 1 SGB VII) im Sinne der §§ 7
bis 9 SGB VII. In diesen Fällen ist die Haftung des ArbG nach § 104 SGB VII durch
einen Anspruch auf Leistungen der zuständigen Berufsgenossenschaft als Unfallversicherer abgelöst, den der ArbG kraft Gesetzes verpflichtet ist, durch seine Beiträge zu
finanzieren. Die Berufsgenossenschaft hat für den ArbG damit die Funktion einer Haftpflichtversicherung. Zur Ablösung der Haftung des AN gemäß § 105 SGB VII, der im
Rahmen seiner betrieblichen Tätigkeit einem Arbeitskollegen Personenschaden zufügt,
siehe unten § 27 III. 2.
2. Der Schutz von Besitz und Eigentum des Arbeitnehmers
Der ArbG ist zum Schutz von Besitz und Eigentum des AN an Gegenständen verpflichtet, die dieser mit sich führen muss oder darf (z.B. Tageskleidung, Arbeitskleidung,
Armbanduhr, Geldbörse, Pkw). Der ArbG hat im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren für eine sichere Aufbewahrung Sorge zu tragen. Bei Beschädigung und Verlust
haftet der ArbG unter der Voraussetzung des Vertretenmüssens (§§ 276, 278 BGB) auf
Schadensersatz aus Pflichtverletzung (§ 280 I BGB), ggf. aus. unerlaubter Handlung (§
823 I BGB). Eine verschuldensunabhängige Haftung des ArbG gegenüber dem AN auf
Ersatz analog § 670 BGB kommt nicht nur bei freiwilligen Aufwendungen des AN für
seinen ArbG in Betracht (z. B. Ersatz für Betriebsstoffe und Verschleiß bei dienstlicher
Fahrt mit eigenem Pkw), sondern auch bei Sachschäden des AN, die er bei betrieblicher veranlasster Tätigkeit erleidet (z. B. an seiner Kleidung).
Rein vermögensbezogene Schutzpflichten zu Gunsten des AN treffen den ArbG z.B.
in Ansehung der ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Pflichten zur Abführung der Sozialversicherungsbeiträge und der Lohnsteuer des AN. Hierher gehören ferner Aufklärungspflichten des ArbG z.B. über die Rechtsnachteile des AN aus dem Abschluss eines Aufhebungsvertrages (unten § 28 III.).
3. Der Persönlichkeitsschutz des Arbeitnehmers
Den ArbG trifft in gewissem Umfang auch die (Neben-)Pflicht zum Persönlichkeitsschutz des AN. So ist er nach dem AGG verpflichtet, den AN z.B. vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu schützen. Dem Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung dient das BDSG, das sich auch an private ArbG richtet. Nach §§ 1, 3 III,
12 AGG sowie § 75 II BetrVG ist der ArbG verpflichtet, das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des AN (Art. 1 I i.V.m. Art. 2 I GG) zu achten und ihn vor Angriffen durch
andere Mitarbeiter, z.B. im Wege des Mobbing, zu schützen. AGG Unter zusätzlicher
Heranziehung von Art. 12 I GG gehört hierher auch der Anspruch des AN auf Beschäf-
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tigung (oben § 3 III. 2. (1)). Hierher gehören ferner die Regeln über die Personalaktenführung, die dem AN über seine (auch in betriebsratsfreien Betrieben geltenden) Rechte
aus § 83 BetrVG hinaus auch die Befugnis geben, unzutreffende Eintragungen löschen
zu lassen (oben § 3 III. 2. (1)).
4. Die Pflicht zur Zeugniserteilung
§ 630 Satz 4 BGB weist darauf hin, dass der Anspruch des AN gegen den ArbG auf
Zeugniserteilung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus § 109 GewO folgt.
Auf Verlangen des AN ist vom ArbG entweder ein einfaches Zeugnis über die Art
und Dauer des Arbeitsverhältnisses und eine genaue Beschreibung der ausgeübten Tätigkeit oder ein qualifiziertes Zeugnis, zu erteilen, das darüber hinaus Angaben über
Leistung und Verhalten enthält. Aus triftigem Grund kann der AN auch ein einfaches
oder qualifiziertes Zwischenzeugnis verlangen, etwa im Falle seiner Versetzung, der
Zuweisung einer neuen Tätigkeit, eines Wechsels des Vorgesetzen, bei längerem Ruhen
des Arbeitsverhältnisses z.B. infolge Elternzeit, ferner zur Teilnahme an einer Fortbildung sowie im Falle eines beabsichtigten Stellenwechsels.
Bei Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses ist der Ausbildende nach § 16 BBiG verpflichtet,
dem Auszubildenden ein Zeugnis auszustellen, das zusätzlich Angaben über das „Ziel der Berufsausbildung sowie über die erworbenen beruflichen Fähigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten des Auszubildenden“ enthalten muss. Auf Verlangen des Auszubildenden sind in das Zeugnis auch Angaben über Verhalten und Leistung aufzunehmen.
Es gilt der Grundsatz, dass das Zeugnis vollständig und wahrheitsgemäß sein muss.
Da es das berufliche Fortkommen des AN aber nicht unnötig erschweren darf, soll es
zugleich vom Wohlwollen eines verständigen ArbG getragen sein. Zwischen beiden
Maßstäben besteht ein Spannungsverhältnis. Das führt häufig zu nichts sagenden oder
verschleiernden Wendungen sowie Auslassungen.
Man denke nur an die fragwürdigen aber üblichen Differenzierungsversuche zwischen einer Arbeit, die
der AN „zur Zufriedenheit des ArbG“ (= ausreichend), „stets zur Zufriedenheit des ArbG (= befriedigend), „stets zur vollen Zufriedenheit des ArbG“ (= gut), „stets zur vollsten Zufriedenheit des ArbG“ (=
sehr gut) erledigt hat.
Die Wortwahl liegt im „billigen Ermessen“ des ArbG, wobei er sich bei der Abfassung des Zeugnisses im Einzelfall mit der gebotenen Vorsicht auch der Mitwirkung des
AN bedienen darf. Auf eine Schlussformel „mit Dank und guten Wünschen“ hat der
AN keinen Anspruch (BAG v. 11.12.2012 - 9 AZR 227/11 - in ArbR 2013; 14). Ist der
Zeugnisinhalt unzutreffend, kann der AN nach § 611 BGB i.V.m. § 109 GewO eine
Zeugnisberichtigung verlangen. Sagt der ArbG wider besseres Wissen Ungünstiges,
kann er einem Schadensersatzanspruch des AN gegen ihn aus §§ 611 BGB, 109 GewO, 280 I BGB ausgesetzt sein. Erteilt er dem AN ein zu günstiges Zeugnis, kann er
dem späteren ArbG des AN gegenüber aus § 826 BGB oder vertragsähnlichem Rechtverhältnis im Sinne von §§ 311 II Nr. 3 oder III, 241 II, 280 I BGB schadensersatzpflichtig werden.
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§ 17 Das Ausbleiben der Arbeitsleistung und seine Rechtsfolgen
I. Vorbemerkungen
Das Ausbleiben der Leistung des Schuldners ist ein Tatbestand, der Anlass gibt, danach
zu fragen,
• ob der Schuldner die ausgebliebene Leistung nachholen muss oder nicht;
• welche Auswirkungen das Ausbleiben der Leistung des Schuldners im gegenseitigen
Vertrag auf die Pflicht des Gläubigers zur Erbringung seiner Gegenleistung hat;
• ob dem Gläubiger ein Anspruch gegen den Schuldner auf Ersatz des ihm durch die
Nichtleistung entstandenen Schadens zusteht.
Diese Fragen stellen sich auch für den Fall des Ausbleibens der Arbeitsleistung des AN.
Die Antworten jedoch, die das Allgemeine Schuldrecht des BGB bereithält, werden den
Besonderheiten des Arbeitsrechts nur teilweise gerecht. Vor allem bei der Beantwortung
der Frage nach den Auswirkungen der Nichtleistung von Arbeit auf den Lohnanspruch
des AN geht das Arbeitsrecht eigene Wege.
II. Die Nichtleistung der Arbeit ein Fall der Unmöglichkeit der Leistung
Im Gegensatz zum Werkvertrag, dessen Gegenstand nach § 631 II BGB ein „durch Arbeit oder Dienstleistung herbeizuführender Erfolg“ ist, verpflichtet sich der AN nach §
611 I BGB „zur Leistung der versprochenen Dienste“. Der „Leistungsinhalt ist nicht erfolgsbezogen, sondern zeitbezogen bestimmt“ (Richardi in NZA 2002, 1006). Darum
bemisst sich auch die Vergütung des AN regelmäßig nach Zeiträumen ohne Rücksicht
auf die Quantität oder Qualität seiner Arbeit (Zeitlohn; oben § 16 II. 2.). Und folgerichtig
spricht § 2 II EFZG von „Arbeitszeit, die infolge eines gesetzlichen Feiertages ausfällt“.
Der AN verpflichtet sich, Arbeit zu einer bestimmten Zeit zu leisten. Steht der AN in dieser Zeit nicht zur Verfügung, ist die Arbeit in diesem Zeitraum durch Zeitablauf endgültig ausgeblieben und nicht nachholbar: Fehlzeit bleibt Fehlzeit. Die Verpflichtung
zur Arbeitsleistung begründet somit eine absolute Fixschuld. Die ausgebliebene Arbeitsleistung ist darum nicht ein Fall der Leistungsverzögerung, sondern der Unmöglichkeit
der Leistung im Sinne von § 275 I BGB. Der in dieser Vorschrift angeordnete Ausschluss von der Pflicht zur Leistung tritt mit dem Augenblick ein, in dem der AN zu
dem vertraglich vorgegebenen Zeitpunkt tatsächlich nicht zur Verfügung steht.
Natürlich kann ein AN, wenn dies arbeitstechnisch machbar ist, liegen gebliebene Arbeit nach Wiederaufnahme seiner Tätigkeit neben der nunmehr geschuldeten Leistung durch schnelleres Arbeiten mit erledigen.
Die ausgefallene Arbeitszeit wird dadurch aber nicht nachgeholt. Ausgefallene Arbeitszeit kann nur durch
zusätzliche Arbeitszeit ersetzt werden, was in einem Betrieb normalerweise kaum möglich ist. Gelegentlich
sieht ein Tarifvertrag die Nachholung ausgefallener Stunden oder Schichten vor. Im Fall von Gleitzeitarbeit oder der Führung von Arbeitszeitkonten kann eine Nachleistungspflicht in Betracht kommen. Unmöglichkeit tritt dann erst ein, wenn die Arbeit in dem hiernach zur Verfügung stehenden Erfüllungszeitraum nicht geleistet wird.
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III. Die Auswirkung des Ausbleibens der Arbeit auf den Lohnanspruch des AN
1. Ist der Anspruch des ArbG gegen den AN auf Nacherbringung der ausgebliebenen Arbeitsleistung nach § 275 I BGB ausgeschlossen, würde nach der Regel des § 326 I 1
BGB auch der Anspruch des AN gegen den ArbG auf Lohnzahlung entfallen: Ohne Arbeit kein Lohn. Das Arbeitsrecht kennt jedoch eine Vielzahl von Ausnahmebestimmungen innerhalb und außerhalb des BGB, nach denen dem AN der Anspruch auf den
Arbeitslohn trotz Unmöglichkeit der Arbeitsleistung erhalten bleibt (Einzelheiten nachfolgend unter §§ 18 bis 24).
a) Fragt man nach Gründen für diese Abweichung von dem alle anderen Austauschverträge kennzeichnenden Grundsatz des „do ut des“ (= ich gebe dir weil/damit du mir
gibst), so kann bei grober Einteilung festgestellt werden, dass dem ArbG eine Vergütungspflicht ohne Arbeitsleistung zum einen wegen der sozialen Schutzbedürftigkeit
des AN auferlegt wird.
Hierunter zählen (1) die Fälle, in denen der AN von seiner Verpflichtung zur Arbeitsleistung kraft Gesetzes unter Beibehaltung seines Lohnanspruchs freigestellt ist. Dazu
gehört die Entgeltzahlung an gesetzlichen Feiertagen nach § 2 EFZG und während des
Erholungsurlaubs nach Maßgabe des BUrlG. Ferner geht es (2) um die Fälle, in denen
der Grund für das Ausbleiben der Arbeitsleistung zwar in den persönlichen Verhältnissen des AN liegt, das Gesetz dem ArbG aber trotzdem die Verpflichtung zur Lohnzahlung auferlegt. Das sind die Fälle, in denen dem AN die Erbringung seiner Arbeitsleistung nach § 3 EFZG infolge Krankheit oder nach § 616 BGB infolge anderweitiger persönlicher Verhinderung unmöglich oder unzumutbar ist. Hierher gehört auch die Zahlung
des Arbeitsentgelts nach § 11 MuSchG oder des Zuschusses zum Mutterschaftsgeld nach
§ 14 MuSchG während der Beschäftigungsverbote nach §§ 3 ff. MuSchG.
b) Die Pflicht zur Lohnzahlung trotz Ausbleibens der Arbeitsleistung trifft den ArbG
zum anderen in den Fällen, in denen der Anlass für den Arbeitsausfall seinem Verantwortungsbereich zuzurechnen ist. Hierher gehören vor allem die Fälle des § 615 BGB,
in denen der ArbG den AN entweder aus betrieblich-technischen Gründen nicht beschäftigen kann (Annahmeunmöglichkeit) oder aus rechtlichen oder wirtschaftlichen Überlegungen nicht beschäftigen will (Annahmeunwilligkeit). Von geringer praktischer Bedeutung ist die Vorschrift des § 326 II 1 Altn. 1 BGB.
2. Bevor Einzelheiten der Entgeltzahlung trotz Nichtleistung der Arbeit behandelt werden, kommt es zu einem tabellarischen Überblick über die arbeitsrechtlichen Ausnahmen von der Regel des § 326 I 1 BGB:
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Ausbleiben der Arbeitsleistung
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Entgeltfortzahlung aus sozialen Gründen
(1) an gesetzlichen Feiertagen nach Maßgabe der (1) gemäß § 2 EFZG
§§ 9 ff. ArbZG
(2) von Funktionsträgern der Betriebsverfassung gemäß §§ 37 II, 38 BetrVG,
§ 14 I SprAuG, § 96 IV SGB IX
(2) gemäß §§ 37 II, 38 BetrVG, § 14 I SprAuG,
§ 96 IV SGB IX
(3) bei Betriebsratswahlen gemäß § 20 III BetrVG, zum Besuch des Betriebsrats gemäß §
39 III BetrVG und zur Teilnahme an der Betriebsversammlung gemäß § 44 I 2 BetrVG
(3) gemäß §§ 20 II, 39 III, 44 I 2 BetrVG
(4) Auszubildender wegen Teilnahme am Berufsschulunterricht und an Prüfungen gemäß § 7
BBiG
(4) gemäß § 12 I 1 Nr. 1 BBiG
(5) wegen Erholungsurlaubs nach Maßgabe der
§§ 1 ff. BUrlG
(5) in Gestalt des Urlaubsentgelts nach §§ 11, 12
BUrlG
(6) im Krankheitsfall nach § 3 EFZG
(6) gemäß § 3 EFZG; Aufwendungsausgleich für den
ArbG nach dem AAG
(7) aus Gründen des Mutterschutzes nach Maßga- (7) Arbeitsentgelt gemäß § 11 MuSchG oder Zuschuss
zum Mutterschaftsgeld gemäß § 14 MuSchG; Aufbe der §§ 3 ff. MuSchG
wendungsausgleich für den ArbG nach dem AAG
(8) wegen vorübergehender Verhinderung nach
Maßgabe des § 616 BGB
(8) gemäß § 616 BGB
Entgeltfortzahlung, weil die Störung dem Verantwortungsbereich des ArbG zuzurechnen ist
(9) weil der ArbG dafür allein oder weit überwie- (9) gemäß § 326 II 1, Alt. 1 BGB
gend verantwortlich ist, § 326 II 1, Alt. 1 BGB
(10a) gemäß § 615 S. 1 BGB i.V.m. §§ 293 ff. BGB
(10a) weil der ArbG dem AN die Beschäftigung
verwehrt (Annahmeunwilligkeit), vor allem im
Falle arbeitsgeberseitig rechtswidriger Kündigung oder Aussperrung sowie bei wirtschaftlicher Schwäche des ArbG
(10b) weil der ArbG den AN aus betrieblichtechnischen Gründen nicht beschäftigen kann
(Annahmeunmöglichkeit)
(10b) gemäß § 615 S. 3 BGB i.V.m. §§ 293 ff. BGB
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§ 18 Lohn ohne Arbeit gemäß § 326 II 1 Altn. 1 BGB
I. Die Anordnung des § 326 II 1 Altn. 1 BGB gilt auch im Arbeitsrecht, wenn die Arbeit
aus Gründen ausfällt, für die der ArbG „allein oder weit überwiegend verantwortlich“ ist. Angesichts Anwendungsbreite des § 615 BGB (nachfolgend § 19) ist die Bedeutung dieser Vorschrift für das Arbeitsrecht gering. Zum einen trifft sie den Sonderfall,
dass der ArbG für die Arbeitsunfähigkeit des AN deswegen verantwortlich ist, weil er
den Verlust, den Untergang oder die Beschädigung von dessen besonderen, für seine Arbeitsleistung unerlässlichen Arbeitsutensilien nach § 276 BGB oder § 278 BGB zu vertreten hat; so z.B. die für den Auftritt des angestellten Artisten notwendigen Tonbänder,
Geräte oder Tiere, weswegen die Darbietung ausfallen muss.
Hier würde auch § 615 BGB greifen. Es handelt sich um einen Fall der Annahmeunmöglichkeit des ArbG,
weil er nicht in der Lage ist, dem AN das Substrat (= die Grundlage) in Gestalt der für seine Arbeitsleistung
technisch erforderlichen Ausstattung zur Verfügung zu stellen. Dieses Manko, einerlei ob verschuldet oder
nicht, belastet den ArbG als Ausdruck seines Betriebsrisikos (nachfolgend § 19 II. 1.).
Zum anderen bedarf es für den Fall einer vom ArbG verschuldeten Erkrankung des
AN der Anwendung des § 326 II 1 Altn. 1 BGB, wenn sie die Dauer von sechs Wochen
überschreitet; denn bis zur Dauer von sechs Wochen erhält der AN die Entgeltfortzahlung des § 3 EFZG auch dann, wenn der ArbG für die Erkrankung des AN verantwortlich
ist.
Da der ArbG der Gläubiger der Arbeitsleistung ist, die §§ 276 ff. BGB aber von der Verantwortlichkeit des
Schuldners sprechen, finden die §§ 276, 278 BGB auf den ArbG hier analoge Anwendung.
II. Hierher gehören auch die Fälle, in denen der AN die Arbeitsleistung durch Geltendmachung der Einrede des nicht erfüllten Vertrages gemäß § 320 BGB wegen
arbeitgeberseitiger Verletzung seiner Hauptpflicht, die vereinbarte Vergütung zu entrichten, oder aufgrund eines Zurückbehaltungsrechts wegen arbeitgeberseitiger Verletzung
von Nebenpflichten, etwa nach § 9 III ArbSchG oder § 14 AGG, ansonsten nach § 273 I
BGB, verweigert (oben § 14 III.). In all diesen Fällen bleibt dem AN der Anspruch auf
das Entgelt erhalten, wenn und weil er die Arbeit aus Gründen verweigert, für die der
ArbG allein oder weit überwiegend verantwortlich ist.
Dieses Ergebnis lässt sich allerdings auch auf der Grundlage von §§ 615, 298 BGB erreichen (nachfolgend
§ 19 III.).
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§ 19 Lohn ohne Arbeit gemäß § 615 BGB
I. § 615 BGB verdrängt § 326 II 1 Altn. 2 BGB
Im Arbeitsrecht tritt an die Stelle des § 326 II 1 Altn. 2 BGB der § 615 BGB.
§ 615 BGB erfasst die Fälle, in denen dem arbeitsfähigen und arbeitswilligen AN die
Arbeitsleistung unmöglich wird, weil der ArbG ihn nicht beschäftigt und deswegen
auch nicht bezahlt.
Einerlei, warum der ArbG die Arbeitsleistung nicht erbringen lässt, er wird hierfür seine
Gründe haben, aus denen ihm nicht immer ein Schuldvorwurf gemacht werden kann. Mit
Blick auf die Schutzbedürftigkeit des AN ist er jedoch nicht befugt, dem AN deswegen
zugleich den Lohn vorzuenthalten. Darum bestimmt § 615 BGB i.V.m. §§ 293 ff. BGB,
dass dem AN in diesen Fällen entgegen § 326 I 1 BGB der Anspruch auf die Gegenleistung in Gestalt seines Arbeitslohnes aus § 611 BGB trotz ausbleibender Arbeitsleistung
erhalten bleibt, ohne dass es darauf ankommt, ob der ArbG die Gründe für das Zurückweisen der Arbeitsleistung des AN zu vertreten hat oder nicht.
Auch wenn der ArbG die Gründe für die Zurückweisung der Arbeitsleistung des AN zu vertreten hat,
braucht der seinen Lohn beanspruchende AN nicht den § 326 II 1 Altn. 1 BGB (siehe vorstehend § 18) zu
bemühen, sondern kann sich einfach auf § 615 BGB stützen.
II. Die Fallgruppen des § 615 BGB
Fragt man nach den Gründen, die den ArbG veranlassen, den AN nicht zu beschäftigen,
lassen sich zwei Fallgruppen bilden.
1. Die eine Fallgruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass der ArbG den AN aus betrieblich-technischen Gründen nicht beschäftigen kann, so dass dem AN die Arbeitsleistung unmöglich ist. Aus der Sicht der ArbG spricht man insoweit vom Fall der Annahmeunmöglichkeit des ArbG, § 615 S. 3 BGB.
Als Situationen dieser Art kommen z.B. in Betracht: Brand im Betrieb, Maschinenschaden, Ausfall der
Stromversorgung, Ausfall der Heizung im Winter, Rohstoffmangel und behördliche Verbote sowie eine
Überschwemmung des Betriebsgeländes und andere Naturkatastrophen, die die Produktion verhindern. Es
sind dies Gründe, die den ArbG nach § 615 S. 3 BGB als Ausdruck des Betriebsrisikos belasten mit der
Folge, dass er entsprechend § 615 S. 1 BGB lohnzahlungsverpflichtet bleibt.
2. Die andere Fallgruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass der ArbG dem AN die Beschäftigung verwehrt, so dass dem AN die Arbeitsleistung unmöglich ist. Aus der Sicht
des ArbG spricht man insoweit vom Fall der Annahmeunwilligkeit des ArbG, § 615 S.
1 BGB. Beispiele hierfür sind die Fälle,
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in denen der ArbG den AN nach Ausspruch der außerordentlichen Kündigung oder nach Ablauf der
Frist einer ordentlichen Kündigung nicht weiterbeschäftigt, die hiergegen gerichtete Kündigungsschutzklage des AN jedoch Erfolg hat. Da die Kündigung sich dadurch als rechtsunwirksam herausstellt, befindet sich der ArbG von Anfang an im Annahmeverzug, so dass ihn die Rechtsfolge des
§ 615 Satz 1 BGB trifft.
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in denen der ArbG nicht genug Arbeit hat, weswegen es sich für ihn nicht lohnt, den AN zu beschäftigen, wie bei Auftrags- bzw. Absatzmangel, fehlender Verleihmöglichkeit im Arbeitnehmerüberlassungsgewerbe, ausbleibendem Abruf zur vereinbarten Tätigkeit. Es handelt sich hierbei jedoch um Situationen, die der ArbG nicht zu Lasten des Entgeltanspruchs des AN abfedern darf. Den
ArbG trifft insoweit das Wirtschafts- bzw. Beschäftigungsrisiko, das ihn ohne Rücksicht auf den
tatsächlichen Einsatz seiner AN zur uneingeschränkten Lohnzahlung verpflichtet, § 615 S. 1 BGB.
Auf der gleichen Linie liegt es, wenn die vom ArbG wegen einer augenblicklichen Flaute angeordnete Kurzarbeit mangels Ermächtigungsgrundlage unwirksam ist (siehe oben § 15 III. 3.).
3. Beachte: Von der aus § 615 BGB fließenden Vergütungspflicht kann sich der ArbG in
den Fällen des Wirtschafts- oder Beschäftigungsrisikos sowie des Betriebsrisikos vor allem durch die (rechtmäßige) Anordnung von Kurzarbeit (oben § 15 III. 3.), bei lang andauernder Störung durch betriebsbedingte Kündigungen befreien. Angesichts dieser
Möglichkeiten besteht für eine Einschränkung der Vergütungspflicht des ArbG im Fall
einer seine Existenz gefährdenden Notlage seines Unternehmens kein Bedarf.
4. Der Vergütungsanspruch des AN geht auf die Zahlung des Bruttolohns. Dass er nach
§ 615 S. 1 BGB zur Nachleistung nicht verpflichtet ist, folgt schon aus § 275 I BGB.
Nach § 615 S. 2 BGB muss der AN sich wie in § 326 II S. 2 BGB
tungsanspruch dreierlei anrechnen lassen:
auf den Vergü-
•
Durch den Arbeitsausfall ersparte Aufwendungen, wie z.B. notwendige Fahrtkosten. Das gilt allerdings nicht im Fall des § 11 KSchG;
•
Anderweitig erzielte Bruttoeinkünfte oder öffentlich-rechtliche Sozialleistungen;
•
Böswillig unterlassenen Erwerb. Sein Vergütungsanspruch mindert sich daher um Einnahmen, die
der AN in der Zeit des Arbeitsausfalls hätte erzielen können, er die Erwerbsmöglichkeit aber vorsätzlich grundlos ablehnt oder vorsätzlich verhindert, obwohl sie ihm zumutbar ist.
III. § 615 BGB als Sonderfall des Gläubigerverzugs
§ 615 BGB ist ein Sonderfall des Gläubigerverzugs, so dass es in Ansehung seiner Voraussetzungen auf die Bestimmungen der §§ 293 ff. BGB ankommt. Daraus folgt,
•
dass § 615 BGB wie schon vorstehend unter I. hervorgehoben auch dann anwendbar ist, wenn der ArbG als der Gläubiger der Arbeitsleistung den Grund für
die Nichtbeschäftigung des AN nicht zu vertreten hat;
•
dass der AN zur Verdeutlichung seiner Arbeitsbereitschaft seine Arbeitsleistung
tatsächlich (§ 294 BGB), ggf. nur wörtlich (§ 295 BGB) anbieten muss.
Gestützt vor allem auf § 296 S. 1 BGB (= ArbG unterlässt kalendarisch bestimmte [Arbeitszeit!]
Mitwirkungshandlung durch Nichtzurverfügungstellung eines funktionsfähigen Arbeitsplatzes) lässt
die h.M. hiervon im Ergebnis sinnvolle Ausnahmen zu. So muss der gekündigte AN außer der Anrufung des Arbeitsgerichts (§ 4 KSchG) nichts weiter unternehmen, um den Anspruch auf die Vergütung Prozessgewinn vorausgesetzt aufrecht zu erhalten. Das gleiche gilt für den Rechtsstreit
über die Wirksamkeit einer Befristung (§ 17 TzBfG). Selbst im Fall der unrechtmäßigen Anordnung
von Kurzarbeit wendet das BAG v.27.1.1994 – 6 AZR 541/93 – in NZA 1995, 134 unter II. 1.) §
296 S. 1 BGB an. Im Übrigen gerät der ArbG bei Abrufarbeit ohne weiteres in Annahmeverzug,
wenn er die Arbeitsleistung des AN nicht im Umfang des Mindestdeputats abruft.
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§ 297 BGB stellt klar, dass die Fähigkeit und Bereitschaft des AN zur Arbeitsleistung im Augenblick seines tatsächlichen (§ 294 BGB) oder wörtlichen (§
295 BGB) Angebots der Arbeitsleistung oder bei dessen Entbehrlichkeit nach §
296 BGB Voraussetzungen des Annahmeverzugs des ArbG ist.
So kann der ArbG für die Zeit krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit des AN nicht
in Annahmeverzug kommen. In diesem Fall hat der AN jedoch Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 EFZG. Der ArbG kommt auch dann nicht in Annahmeverzug, wenn der AN nicht in der Lage ist, den Weg hin zur Betriebsstätte zu bewältigen. Staus, Fahrverbote, Verkehrsstreiks, Unwetter und ähnliche Vorkommnisse
gehen insoweit zu seinen Lasten. Muss z.B. wegen des den AN am Kommen hindernden Hochwassers auch der Betrieb schließen, entfällt der Lohnanspruch trotzdem; bewirkt die Naturkatastrophe dagegen nur den Stillstand des Betriebs, ohne
den AN am Kommen zu hindern, behält er seinen Lohnanspruch, weil sich nun das
Betriebsrisiko des ArbG auswirkt.
Im Rahmen des § 615 BGB trifft das Wegerisiko also den AN. Durch die Einrichtung eines Werksverkehrs kann der ArbG dem AN allerdings bestimmte Wegerisiken abnehmen. Im Übrigen ist zu
beachten, dass die eigene Autopanne des AN oder seine persönliche Unfallbeteiligung die Anwendung des § 616 BGB auslösen kann, wonach der AN des Anspruchs auf die Vergütung (allerdings abdingbar) nicht dadurch verlustig geht, „dass er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit
durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert wird“ (unten § 21).
•
Hält der AN seine Arbeitsleistung auf der Grundlage von § 320 BGB oder von §
273 I BGB u.ä. Gegenrechten mit Recht zurück, gerät der ArbG gemäß § 298 BGB
trotzdem in Annahmeverzug. Im Übrigen bleibt der ArbG dann schon wegen § 326
II Altn. 1 BGB zur Gegenleistung verpflichtet (oben § 18).
IV. Grenzen der Abdingbarkeit des § 615 BGB
Trotz seines überragenden Schutzzwecks muss man im Umkehrschluss zu § 619 BGB
davon ausgehen, dass § 615 BGB abdingbar ist. Dies aber nur im Wege einer wirklichen
Individualvereinbarung, einer Betriebsvereinbarung oder eines Tarifvertrages mit der
Einschränkung, dass das den ArbG nach § 615 BGB treffende Entgeltrisiko nicht pauschal und generell auf den AN verlagert werden darf, sondern nur für bestimmte Störungen aus dem Kreis der Tatbestände, die nicht dem Einflussbereich des ArbG zugerechnet
werden können. Ein formularmäßiges Abbedingen hingegen scheitert regelmäßig an §
307 I 1, II Nr. 1 BGB mit Ausnahme von Gelegenheitstätigkeiten. Die Klausel „Bezahlt
wird nur die tatsächlich geleistete Arbeit“ schließt nur die Anwendung des § 616 BGB
aus (unten § 21).
Die formularmäßige Vereinbarung mit der für das Reinigen einer Schule eingestellten Arbeitskraft über das
Ruhen des Arbeitsverhältnisses während der Dauer der Schulferien verstößt nicht gegen § 307 BGB,
wenn das Reinigungsobjekt in dieser Zeit geschlossen ist und Reinigungsarbeiten nicht anfallen (BAG v.
10.1.2007 - 5 AZR 84/06 - in NZA 2007, 384). Unter dieser Voraussetzung wäre auch eine Sachgrundbefristung nach § 14 II Nr. 1 TzBefrG denkbar. Würde sich der ArbG allerdings vorbehalten haben, Reinigungsleistungen auch während der Schulferien im Bedarfsfall abzufordern, wäre die Ruhensvereinbarung
nach § 307 BGB unangemessen, weil sie die Arbeitspflicht des AN bzw. ihr Ruhen einseitig dem ArbG
überantwortet und damit gegen wesentliche Grundgedanken der in § 615 BGB getroffenen Regelung verstößt (vgl. BGH v.9.7.2008 - 5 AZR 810/07 - in NZA 2008, 1408).
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Nach § 11 IV 2 AÜG darf das Recht des Leih-AN auf Vergütung bei Annahmeverzug des Verleihers
nicht aufgehoben oder beschränkt werden (unten § 43 II. 2.).
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§ 20 Lohn ohne Arbeit während eines Streiks?
I. Das Arbeitskampfrisiko
Die Beeinträchtigung eines Betriebs durch Umstände, die auf Streikmaßnahmen der AN
beruhen, befreit den ArbG nicht nur von der Lohnzahlungspflicht gegenüber den Streikenden (nachfolgend II.), sondern entgegen § 615 BGB auch gegenüber den am Streik
nicht beteiligten, arbeitswilligen AN, sofern er sie wegen des Streiks nicht mehr sinnvoll
beschäftigen kann (nachfolgend III.). An die Stelle des den ArbG in Ansehung seiner
Lohnzahlungspflicht belastenden Betriebs- sowie Wirtschafts- bzw. Beschäftigungsrisikos (oben § 1 IV. sowie § 19 I./II.) tritt das Arbeitskampfrisiko, das sich auf ArbG und
AN angemessen verteilt, um ein annähernd ausgewogenes Kräfteverhältnis zwischen
den kämpfenden Parteien zu gewährleisten (Kampfparität): Stillstand der Produktion
Lohnverlust (vgl. oben § 5 III. 1.).
II. Die Rechtsfolgen eines Streiks für die streikenden Arbeitnehmer
1. Der rechtmäßig streikende AN (einschließlich der streikbeteiligten Außenseiter) verletzt nicht seine Arbeitspflicht, denn er darf die Arbeit niederlegen (Zum Arbeitskampf
als Instrument der Tarifautonomie und den Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit eines
Streiks siehe oben § 5 III. 2.). Nach der Rechtsprechung führt der rechtmäßige Streik
zum Ruhen der Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsvertrag, also der Arbeitspflicht des AN und der Lohnzahlungspflicht des ArbG. Das Arbeitsverhältnis als solches
bleibt hingegen bestehen und damit auch die daraus fließenden Nebenpflichten des AN
und des ArbG.
Die durch ihre Streikbeteiligung arbeitslos gewordenen AN haben nach §§ 160 II, 100 SGB III weder Anspruch auf Arbeitslosengeld noch auf Kurzarbeitergeld; denn der Staat darf nach §§ 160 I 1, 100 I SGB III
durch die Leistung von Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld nicht in Arbeitskämpfe eingreifen. Es gilt der
Grundsatz staatlicher Neutralität im Arbeitskampf zum Schutz der Tarifautonomie (oben § 5 I.).
Streikende Gewerkschaftsmitglieder erhalten von ihrer Gewerkschaft ein Streikgeld nach Maßgabe der
Gewerkschaftssatzung.
Nach dem Urteil des BAG v.1.3.1995 – 1 AZR 786/94 – in NZA 1995, 996 muss der ArbG in dieser Zeit
auch dann nicht gemäß § 2 I EFZG Feiertagslohn zahlen, wenn die Gewerkschaft den Streik während des
Feiertags aussetzt (unten § 22 II.).
2. Die Teilnahme an einem rechtswidrigen Streik hingegen ist eine Verletzung des Arbeitsvertrages in Gestalt der Nichtleistung. Das Ausbleiben der Arbeitsleistung führt zur
Anwendung der §§ 275 I, 326 I 1 BGB.
Der Anspruch des ArbG gegen den rechtswidrig streikenden AN auf Erfüllung des Arbeitsvertrages
durch Arbeitsleistung kann im Wege einer einstweiligen Verfügung nach §§ 935, 940 ZPO geltend gemacht werden, ist nach § 888 III ZPO aber nicht vollstreckbar. Der schuldhaft handelnde AN kann wegen
Vertragsverletzung nach § 280 I, III, 283 BGB sowie nach § 823 I BGB aus dem Gesichtspunkt der
Verletzung des „sonstigen Rechts“ des ArbG am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (betriebsbezogener Eingriff in das Recht des ArbG auf ungestörte Nutzung seines Gewerbebetriebes) schadensersatzpflichtig werden, sofern er sich nicht auf einen unverschuldeten Rechtsirrtum berufen kann, weil er
der Rechtmäßigkeit des Handelns der streikführenden Gewerkschaft vertrauen durfte. Deliktsrechtlich kann
ferner die Anwendung des § 823 II BGB i.V.m. § 240 StGB (Nötigung) und § 253 StGB (Erpressung) in
Betracht kommen sowie § 826 BGB. In allen Fällen einer unerlaubten Handlung gelten die für den ArbG
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günstigen §§ 830, 840 BGB. Weiterhin kommt nach vorausgehender Abmahnung eine ordentliche, ggf. eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den ArbG in Betracht.
Als Rechtsbehelf gegen die streikführende Gewerkschaft kommt in der Praxis vor allem der im Wege
einer einstweiligen Verfügung nach §§ 935, 940 ZPO geltend zu machende Anspruch auf Unterlassung
des Arbeitskampfes analog § 1004 I BGB i.V.m. § 823 I BGB, Art. 9 III GG in Betracht. Dieser Anspruch
erfordert kein Verschulden des Anspruchsgegners und greift schon bei erstmals drohender Beeinträchtigung des Gewerbebetriebes mit einem widerrechtlichen Eingriff.
Eine Haftung der streikführenden Gewerkschaft auf Schadensersatz nach § 280 I BGB (über § 31 BGB,
ggf. über § 278 BGB) wegen Verletzung des Tarifvertrages kommt nur bei einem schuldhaften Verstoß
gegen die Friedenspflicht aus einem laufenden Tarifvertrag in Betracht, die durch besondere tarifvertragliche Absprache bis zum Scheitern der Schlichtungsverhandlungen verlängert sein kann (oben § 5 II. 1. und
III. 1.). Daneben kann der bestreikte Arbeitgeber einen deliktischen Schadensersatzanspruch aus § 823 I
BGB (über § 31 BGB, ggf. nach § 831 BGB) wegen Eingriffs in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb geltend machen. Eine ausschließlich deliktische Haftung trifft die Gewerkschaft in den anderen zur Rechtswidrigkeit des Streiks führenden Fällen (oben § 5 III. 1.).
Handelt es sich um einen nicht von der Gewerkschaft geführten sog. wilden Streik, muss sie, um Haftung
zu vermeiden, auf ihre Mitglieder zwecks Wiederaufnahme der Arbeit einwirken.
III. Die Rechtsfolgen eines Streiks für die arbeitswilligen Arbeitnehmer
1. Die arbeitswilligen AN des durch einen rechtmäßigen Streik betroffenen Unternehmens erhalten für die Dauer des Streiks dann keinen Lohn, wenn ihre Beschäftigung
dem ArbG wegen des Streiks betrieblich-technisch nicht mehr möglich oder wirtschaftlich nicht mehr zumutbar ist. Dabei ist es einerlei, ob sie bei Teil- oder Schwerpunktstreiks in dem unmittelbar bestreikten Betrieb tätig sind oder in einem anderen Betrieb
desselben Unternehmens, selbst wenn dieser räumlich oder fachlich einem anderen Tarifvertrag unterfällt.
Der Grund dafür, dass § 615 BGB in dieser Situation keine Anwendung findet, liegt bei
vordergründiger Betrachtung darin, dass die streikbedingte Störung der Sphäre der
Arbeitnehmerschaft entstammt. Es scheint so, als würde den arbeitswilligen AN der
Lohn als eine Art von Solidaritätsopfer vorenthalten. Dahinter stehen jedoch spezifisch
arbeitskampfrechtliche Überlegungen, die maßgeblich auf die Gesichtspunkte der Partizipation und Parität abstellen.
Der Partizipationsgedanke stellt darauf ab, dass auch die arbeitswilligen AN des kampfbetroffenen Unternehmens an den Ergebnissen des erkämpften Tarifvertrages teilhaben, wenn und weil der ArbG zur
Vermeidung von Unfrieden innerhalb der Belegschaft und mit dem Ziel, die nichtorganisierten AN seines
Unternehmens nicht wegen §§ 3 I, 4 I TVG in die Organisiertheit zu treiben, den erkämpften Tarifvertrag
auf alle seine AN gleichermaßen anwendet (oben § 5 II. 2). Wer aber in den Genuss der Vorteile des Arbeitskampfes kommt, soll auch dessen Nachteile mittragen müssen.
Weitaus gewichtiger ist jedoch der Paritätsgedanke. Da Arbeitskämpfe den Zweck haben, die Voraussetzungen für den Abschluss von Tarifverträgen zu schaffen, darf die Rechtsordnung keiner Seite so starke
Kampfmittel zur Verfügung stellen, dass dem sozialen Gegenspieler keine gleichwertige Verhandlungschance bleibt. Entscheidend ist dabei der Druck, der durch die beiderseitigen Kampffolgen ausgeübt wird.
Bliebe dem ArbG in dieser Situation zusätzlich zum Produktionsausfall und den weiterlaufenden Gemeinkosten die Vergütungspflicht für seine arbeitswilligen AN aufgebürdet, wäre das Gleichgewicht der Arbeitskampfgegner (Kampfparität, Waffengleichheit) gestört. Angesichts der modernen Minimax-Strategie
der Gewerkschaften, mit wenigen AN Teil- oder Schwerpunktstreiks in Schlüsselstellungen zu führen,
würde der ArbG mit dem Lohn für alle Anderen faktisch den gegen ihn gerichteten Streik mitfinanzieren.
Das gilt vor allem für das unmittelbar bestreikte Unternehmen.
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Diese Sicht der Dinge wird durch die Anordnungen des § 160 III 1 Nr. 1, und des § 100 SGB III bestätigt,
wonach der Anspruch des AN auf Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld ruht, wenn er durch einen inländischen Arbeitskampf, an dem er nicht beteiligt ist, in einem Betrieb arbeitslos geworden ist, der im räumlichen und fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages liegt.
Vor diesem Hintergrund eröffnet die Rechtsprechung des BAG v.31.1.1995 – 1 AZR
142/94 – in NZA 1995, 959 dem ArbG die Möglichkeit, im räumlichen und gegenständlichen Rahmen des Streikaufrufs der Gewerkschaft eine Stilllegung des hiernach unmittelbar bestreikten Betriebs oder Betriebsteils anzuordnen, ohne den Eintritt der streikbedingten Beschäftigungsunmöglichkeit abwarten zu müssen. Der ArbG soll sich vielmehr dem Streikaufruf beugen und durch sofortige Einstellung der Beschäftigung die Situation vorwegnehmen dürfen, die durch den Streik herbeigeführt werden soll, nämlich
die Lahmlegung eines bestimmten Betriebs oder Betriebsteils des umkämpften Unternehmens. Die Stilllegung führt zu einem Ruhen der gegenseitigen Hauptleistungspflichten auch der arbeitswilligen AN des unmittelbar bestreikten Betriebs oder Betriebsteils
des umkämpften Unternehmens.
In nicht unmittelbar bestreikten weiteren Betriebsstätten des umkämpften Unternehmens bleibt es hingegen bei der eingangs getroffenen Feststellung, dass die dort tätigen AN erst bei streikbedingt eingetretener Beschäftigungsunmöglichkeit arbeitslos werden können.
2. Im Falle eines rechtswidrigen Streiks behalten die arbeitswilligen AN ihren Lohnanspruch, sofern es dem ArbG möglich und zumutbar ist, die eingetretene Betriebsstörung mit den ihm gegen die Störer zur Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln zu bewältigen. So etwa bei einem mangels gewerkschaftlicher Führung sog. wilden Streik von
Belegschaftsmitgliedern, dessen er sich schon im Wege der Abmahnung unter Androhung der fristlosen Kündigung bei gleichzeitiger Einstellung der Lohnzahlung erwehren
kann. Führt die Gewerkschaft einen rechtswidrigen Streik z.B. unter Verletzung der Friedenspflicht, muss der ArbG versuchen, seinen Anspruch auf Unterlassung der Kampfmaßnahme gegen die Gewerkschaft im gerichtlichen Schnellverfahren der einstweiligen
Verfügung durchzusetzen.
IV. Die Fernwirkungen eines Streiks
Unternehmen, die nicht unmittelbar bestreikt sind, von den Fernwirkungen eines Streiks
aber derart betroffen werden, dass ihnen die Produktion faktisch unmöglich oder nicht
mehr zumutbar ist (z.B. stockt die Produktion infolge des Streiks beim Zulieferer oder es
stockt der Absatz des Zulieferers infolge des Streiks beim Abnehmer), sind nach der
Rechtsprechung des BAG von der Lohnzahlungspflicht befreit, wenn dies der Partizipationsgedanke rechtfertigt, aber auch aus dem Paritätsgedanken heraus, nach welchem
es in dieser Situation darauf ankommt, ob die Belastung des mittelbar kampfbetroffenen
ArbG mit der Lohnzahlungspflicht das Kräftegleichgewicht zwischen dem unmittelbar
kampfbetroffenen ArbG und der kampfführenden Gewerkschaft durch „Binnendruck im
Arbeitgeberlager“ zu Lasten des Bestreikten verschiebt (dazu nachfolgend unter 3.).
Die Möglichkeit, wie den unmittelbar, so auch den mittelbar streikbetroffenen Betrieb
einfach stillzulegen, ist dem ArbG hingegen verwehrt.
1. Liegt das mittelbar kampfbetroffene Unternehmen im räumlichen und fachlichen
Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages, greift schon der Partizipationsgedan-
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ke, weil davon auszugehen ist, dass das Ergebnis des Arbeitskampfes auch seinen AN
zugute kommt. Hier gelten ferner die §§ 160 III 1 Nr. 1, 100 SGB III.
2. Liegt das mittelbar kampfbetroffene Unternehmen außerhalb des räumlichen, aber
innerhalb des fachlichen Geltungsbereichs (Branche) des umkämpften Tarifvertrages,
greift der Partizipationsgedanke nur dann, wenn in dem räumlichen Geltungsbereich,
dem das mittelbar kampfbetroffene Unternehmen angehört, auch schon „eine Forderung
erhoben worden ist, die einer Hauptforderung des umkämpften Tarifvertrages nach Art
und Umfang gleich ist, ohne mit ihr übereinstimmen zu müssen, und das Arbeitskampfergebnis aller Voraussicht nach in dem räumlichen Geltungsbereich des nicht umkämpften Tarifvertrages im Wesentlichen übernommen wird“. So der Wortlaut des § 160
III 1 Nr. 2 SGB III, der unter diesen Voraussetzungen das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld und damit über § 100 SGB III auch des Anspruchs auf Kurzarbeitergeld
anordnet. Man spricht hier vom Fall der Tarifführerschaft des unmittelbar bestreikten
Unternehmens auf Grund koalitionspolitischer Verbindung zum mittelbar kampfbetroffenen Unternehmen durch Mitgliedschaft im gleichen Arbeitgeber-(Spitzen-)Verband.
Ob beide Unternehmen derselben Gewerkschaft gegenüberstehen, ist gleichgültig.
3. In den vorstehend unter 1. und 2. beschriebenen Fällen kommt aber auch der Paritätsgedanke zum Tragen. Die durch „Binnendruck im Arbeitgeberlager“ hervorgerufene Beeinflussung des Arbeitskampfes zu Lasten des unmittelbar Bestreikten wird von der
Rechtsprechung des BAG in der konzernbedingten wirtschaftlichen Abhängigkeit des
unmittelbar Bestreikten von dem oder den mittelbar kampfbetroffenen Unternehmen gesehen.
•
Soweit Lohnzahlungen, die Konzernmitglieder als mittelbar Kampfbetroffene leisten müssen, den ganzen Konzern schwächen, wird das unmittelbar bestreikte Unternehmen dadurch zusätzlich getroffen.
•
Es ist davon auszugehen, dass die mittelbar kampfbetroffenen Konzernmitglieder, zu denen auch die
Konzernmutter gehört, wenn sie nicht gerade das unmittelbar bestreikte Unternehmen ist, zur Vermeidung schädigender Fernwirkungen des Streiks auf das unmittelbar bestreikte Unternehmen Druck ausüben, sich im Konzerninteresse mit der streikführenden Gewerkschaft schnell auf einen neuen Tarifvertrag zu einigen, auch wenn es dem Eigeninteresse des unmittelbar Bestreikten zuwiderläuft.
4. Die vorstehend unter 3. beschriebene Verletzung des Paritätsgedankens ist aber nicht
auf die vorstehend unter 1. und 2. behandelten Fälle beschränkt. Angesichts häufig anzutreffender Mischkonzerne und ferner der Tatsache zunehmenden Vernetzung und Abhängigkeiten der Unternehmen auch außerhalb von Konzernbindung, dürfte die erwähnte
Beeinflussung der Kampfparität durch „Binnendruck im Arbeitgeberlager“ ein allgemeines Phänomen sein und damit auch dort sich auswirken, wo das bzw. die mittelbar
kampfbetroffenen Unternehmen nicht nur außerhalb des räumlich, sondern auch
außerhalb des fachlichen Geltungsbereichs des umkämpften Tarifvertrages liegen.
Man denke z.B. an einen Streik in Versorgungsbetrieben wie der Bahn oder der Energiewirtschaft. Das kommt ja schon einem Generalstreik gleich.
Die mittelbar streikbetroffenen ArbG dürften auch in diesen Fällen unter der Voraussetzung faktisch unmöglich gewordener oder nicht mehr zumutbarer Produktion berechtigt
sein, die Lohnzahlungen einzustellen.
Im Unterschied zu den vorstehend unter 1. und 2. beschriebenen Situationen gelten hier
die Verbote der §§ 160 III, 100 SGB III allerdings nicht. Vielmehr stellt § 160 I 2 SGB
III klar, dass kein verbotener staatlicher Eingriff in den Arbeitskampf vorliegt, „wenn
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Arbeitslosengeld Arbeitslosen geleistet wird, die zuletzt in einem Betrieb beschäftigt waren, der nicht dem fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrags zuzuordnen
ist“.
Wenn aber diese Bestimmung für Betriebe außerhalb des fachlichen Geltungsbereichs
des umkämpften Tarifvertrages die staatliche Verpflichtung zur Gewährung von Arbeitslosengeld aufrechterhält, geht sie offensichtlich vom Wegfall des Lohnanspruchs aus!
5. Leidet die Produktion eines inländischen Unternehmens unter den Fernwirkungen
eines ausländischen Arbeitskampfs, ist diese Belastung nach bisheriger Rechtsauffassung Ausdruck des ausschließlich den ArbG treffenden Betriebs- und Wirtschaftsrisikos.
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§ 21 Lohn ohne Arbeit nach § 616 BGB
I. Der Grundsatz
Leistet der AN keine Arbeit mit der Rechtsfolge des § 275 I BGB, so bleibt ihm nach §
616 S. 1 BGB entgegen § 326 I 1 BGB der Anspruch auf die Vergütung unter der Voraussetzung erhalten, „dass er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen
in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert
wird.“
§ 616 S.1 BGB wird zum Teil verdrängt durch spezialgesetzliche Vorschriften. Für Auszubildende (§§
1 II, 19 BBiG) gilt anstelle von § 616 BGB der § 19 I 1 Nr. 2 lit. b BBiG. Im Fall der Erkrankung des AN
(ja auch ein „in seiner Person liegender Grund“) wird § 616 BGB durch die Entgeltfortzahlung nach den §§
3 ff. EFZG verdrängt. Nur für die Erkrankung von Dienstverpflichteten, die keine AN sind, wie z.B. freie
Mitarbeiter, arbeitnehmerähnliche Personen und Organmitglieder, etwa der Geschäftsführer einer GmbH,
bleibt es bei der Anwendung des § 616 BGB. Für den Mutterschutz gilt das MuSchG.
II. Die in der Person des AN liegende Verhinderung
Die Arbeitsverhinderung muss ihren Grund in den persönlichen Verhältnissen des AN
haben und darf nicht an allgemeinen Leistungshindernissen liegen, wie etwa Verkehrshindernissen durch Stau, Ausfall von Verkehrsmitteln, Demonstrationen, Naturereignissen, Fahrverboten u.Ä.
Bei dem persönlichen Leistungshindernis handelt es sich entweder um ein Ereignis, das dem AN keine
Wahl lässt, so dass ihm die Arbeitsleistung tatsächlich unmöglich ist, wie z.B. im Fall der Entführung des
AN oder seiner vorläufige Festnahme. Zum anderen kann es sich um ein Ereignis handeln, dessen Überwindung dem AN unzumutbar ist, so dass er nach § 275 III BGB die Leistung verweigern kann. Die hierbei erforderliche Abwägung zwischen den Interessen des AN und denen des ArbG muss ergeben, dass die
vertragsgemäße Leistungserbringung für den AN in außergewöhnlichem Maße belastend wäre. Überschätzt
der AN seine Zwangslage, findet § 616 BGB mangels Unzumutbarkeit keine Anwendung: Der AN müsste
vielmehr versuchen, vom ArbG die Zustimmung zu einer vorübergehenden Freistellung zu erlangen, regelmäßig unbezahlt oder unter in Anspruchnahme von Urlaub.
Fälle der Unzumutbarkeit der Arbeitsleistung sind z.B. Arztbesuche, die sich nicht außerhalb der Arbeitszeit einrichten lassen; Pflege erkrankter Familienangehöriger und Lebenspartner; besondere Familienereignisse, wie etwa die Eheschließung, Niederkunft der
Ehefrau, Todesfälle und Begräbnisse naher Angehöriger; persönliche Unglücksfälle, wie
etwa Brand oder Einbruch, die eigene Autopanne oder die Beteiligung an einem Verkehrsunfall (das unerlaubte Entfernen vom Unfallort ist nach § 142 StGB strafbar!); die
gerichtliche Vorladung als Partei, als Angeklagter oder als Zeuge; der Einsatz bei der
Freiwilligen Feuerwehr oder als Schöffe; der Umzug.
Ist der Termin des persönlichen Hindernisses disponibel, muss der AN zeitliche Wünsche
des ArbG berücksichtigen. Ansonsten reicht die rechtzeitige Benachrichtigung des ArbG
über den Eintritt des Hindernisses aus.
Anders als § 275 III BGB gibt § 2 I PflegeZG dem AN ein bis zu zehn Tagen währendes
Leistungsverweigerungsrecht ohne Abwägungserfordernis, „um für einen pflegbedürftigen nahen Angehörigen in einer akut aufgetretenen Pflegesituation eine bedarfsgerechte
Pflege zu organisieren oder eine pflegerische Versorgung in dieser Zeit sicherzustellen.“
Bei Erkrankung eines Kindes gewährt § 45 SGB V dem AN unter strengen Vorausset-
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zungen zeitlich begrenzte Ansprüche auf unbezahlte Freistellung von der Arbeitsleistung
und auf Krankengeld.
III. Die Verhinderung des AN ohne sein Verschulden
Die Pflicht des ArbG zur Fortzahlung der Vergütung tritt nur ein, wenn den AN an dem
Umstand, der zur Arbeitsbehinderung führt, kein Verschulden trifft. Das Verschulden
des AN im Sinne des § 616 S.1 BGB ist aber (genauso wie im Fall des § 3 I 1 EFZG) als
ein „Verschulden gegen sich selbst“ zu verstehen, durch das der AN gröblich gegen das
von einem verständigen Menschen im eignen Interesse zu erwartende Verhalten verstößt.
Es genügt also nicht leichte Fahrlässigkeit, sondern erfordert die vorsätzliche oder „besonders“ grob fahrlässige Herbeiführung des Verhinderungsgrundes.
IV. Die Verhinderung des AN für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit
Verhinderung für eine „verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“? Mangels gesetzlicher
Vorgaben besteht Rechtsunsicherheit. Die h.M. fordert eine ereignisbezogene Betrachtungsweise, insbesondere nach der Art und Schwere des Verhinderungsgrundes, will aber
gleichzeitig die Dauer des Arbeitsverhältnisses berücksichtigt wissen. Ab einer Beschäftigung von einem Jahr sollen höchstens zwei Wochen in Betracht kommen. Demgemäß
soll auch bei der Erkrankung freier Dienstverpflichteter nicht die Sechswochenfrist des §
3 I 1 EFZG gelten. Die jeweils maßgebenden Erheblichkeitsgrenzen werden häufig durch
Tarifvertrag festgelegt.
Überschreitet die Arbeitsverhinderung die Erheblichkeitsgrenze, entfällt der gesamte
Vergütungsanspruch. Das entspricht zwar dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte
des § 616 BGB.
Wenn sich der ausländische AN angesichts der ihm in seiner Heimat drohenden Bestrafung dafür entscheidet, dem ausländischen Wehrdienst Folge zu leisten, ist er zwar an der
Arbeitsleistung persönlich verhindert, unterfällt jedoch nicht der Anwendung des § 616
BGB, wenn der Wehrdienst die im Einzelfall noch tragbare zeitliche Grenze überschreitet.
V. Die Abdingbarkeit des § 616 BGB
§ 616 BGB ist durch Individualvertrag, Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag abdingbar; beim Vorliegen eines Formularvertrages unter Beachtung von § 305c BGB und §
307 I 1, II Nr. 1 BGB. Auf diese Weise können die Fälle und Zeiträume der Entgeltfortzahlung beschränkt oder die Entgeltfortzahlung überhaupt ausgeschlossen werden. Häufige Klausel für Letzteres: „Bezahlt wird nur die tatsächliche geleistete Arbeit“. Hingegen kann der Anspruch des AN auf (dann eben unbezahlte) Freistellung von der Arbeit
in den Fällen der Unzumutbarkeit der Arbeitsleistung nicht abbedungen werden.
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VI. Freizeit zur Stellensuche
§ 616 S. 1 BGB findet auch im Fall des § 629 BGB Anwendung. Diese Bestimmung gibt dem
AN einen Anspruch auf angemessene Freizeitgewährung zum Zweck der Stellungssuche nach
der Kündigung. Da die Freizeitgewährung in diesem Fall in der Regel keinen Aufschub duldet,
wird man dem AN ausnahmsweise sogar ein Recht zur Selbstbeurlaubung zugestehen müssen.
Eine Regelung über die Zahlung der Vergütung während der Freistellung trifft § 629 BGB
nicht, sondern folgt aus § 616 S. 1 BGB „für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“. Während § 629 BGB unabdingbar ist, kann der Anspruch auf die Vergütung wegen der Abdingbarkeit des § 616 BGB entfallen (siehe vorstehend V.).
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§ 22 Entgeltfortzahlung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz
I. Vorbemerkung
Das EFZG regelt nach seinem § 1 „die Zahlung des Arbeitsentgelts an gesetzlichen Feiertagen und die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall des Arbeitnehmers…“. Leistet also der AN keine Arbeit mit der Rechtsfolge des § 275 I BGB, weil die
Arbeit wegen eines gesetzlichen Feiertags ausfällt oder er ohne sein Verschulden arbeitsunfähig krank ist, hat er entgegen § 326 I 1 BGB nach Maßgabe der §§ 2 ff. EFZG Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Nach § 12 EFZG kann von diesen Vorschriften mit Ausnahme des § 4 IV EFZG nicht zu Ungunsten des AN abgewichen werden (einseitig
zwingendes Gesetzesrecht).
II. Die Entgeltfortzahlung an Feiertagen
Nach § 9 I ArbZG besteht an gesetzlichen Feiertagen im Grundsatz (Ausnahmen enthalten die §§ 10 ff. ArbZG) ein Beschäftigungsverbot. Abgesehen vom durch Bundesgesetz bestimmten 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit, ist die Festlegung von Feiertagen eine Angelegenheit der einzelnen Bundesländer. Um zu verhindern, dass gesetzliche Feiertage das Entgelt der AN mindern, bestimmt § 2 I EFZG, dass der ArbG dem
AN für die „infolge eines gesetzlichen Feiertages“ ausgefallene Arbeitszeit „das Arbeitsentgelt zu zahlen (hat), das er ohne den Arbeitsausfall erhalten hätte.“ Wer allerdings „am
letzten Arbeitstag vor oder am ersten Arbeitstag nach Feiertagen unentschuldigt der Arbeit“ fernbleibt, hat nach § 2 III EFZG keinen Anspruch auf Feiertagslohn. Das soll der
eigenmächtigen Erweiterung der Freizeit entgegenwirken.
Der Feiertag muss die alleinige Ursache für den Arbeitsausfall gewesen sein. Hätte der
AN an diesem Tag sowieso nicht gearbeitet, z.B. weil er teilzeitbeschäftigt ist, oder wäre
die Arbeit z.B. infolge eines Arbeitskampfes ausgefallen, besteht kein Anspruch auf Feiertagslohn; während des Arbeitskampfes selbst dann nicht, wenn der Streik an dem Feiertag ausgesetzt wird (BAG v. 1.3.2995 - 1 AZR 786/94 - in NZA 1995, 996). Es gibt allerdings Grenzfälle, in denen das Gesetz sich für den Feiertagslohn entscheidet. Das gilt
zum einen nach § 2 II EFZG für den gleichzeitigen Arbeitsausfall infolge Kurzarbeit,
zum anderen nach § 4 II EFZG für den gleichzeitigen Arbeitsausfall infolge einer Erkrankung des AN. Liegt ferner der Feiertag im Erholungsurlaub des AN, wird er nach
§ 3 II BUrlG nicht auf den Urlaub angerechnet, so dass es deswegen beim Feiertagslohn
bleibt.
III. Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
1. Die Voraussetzungen der Entgeltfortzahlung
Nach § 3 EFZG hat der vollzeit- wie teilzeitbeschäftigte AN im Krankheitsfall gegen den
ArbG den Anspruch auf Entgeltfortzahlung bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
•
Die schon vierwöchige (= 28 Tage) ununterbrochene Dauer des Arbeitsverhältnisses;
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Die Wartezeit des § 3 III EFZG beginnt mit dem Tag der vereinbarten Arbeitsaufnahme. Der Fristlauf
berechnet sich nach §§ 187 II, 188 II Hs. 2 BGB, z.B. von Mittwoch, den 5. 1. 2011, bis Dienstag, den
1. 2. 2011, so dass am Mittwoch, den 2. 2. 2011 der Entgeltfortzahlungszeitraum beginnt; jetzt auch
erst für den bereits zuvor arbeitsunfähig erkrankten AN.
•
Ein noch bestehendes Arbeitsverhältnis;
Nach § 8 I EFZG bleibt der Anspruch auf Entgeltfortzahlung allerdings dann erhalten, wenn der
ArbG das Arbeitsverhältnis aus Anlass der Arbeitsunfähigkeit kündigt oder wenn der AN es nach §
626 BGB aus einem vom ArbG zu vertretenden Umstand fristlos beendet. Endet das Arbeitsverhältnis
gemäß § 8 II EFZG hingegen nach Beginn der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit vor Ablauf der
Sechs-Wochen-Frist, ohne dass es einer Kündigung bedarf, z.B. weil es befristet ist oder infolge einer
Kündigung aus anderen als den in Abs. 1 bezeichneten Gründen, so endet der Anspruch mit dem
Ende des Arbeitsverhältnisses.
•
Die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des AN;
Krankheit ist ein regelwidriger Gesundheitszustand, der einer Heilbehandlung bedarf. Er führt erst
dann zur Arbeitsunfähigkeit, wenn der AN infolge der Erkrankung nicht mehr in der Lage ist, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen oder sie (nach objektiven medizinischen Kriterien) nicht ausüben sollte, weil die Weiterarbeit seine Heilung beeinträchtigt oder andere gefährdet. Ist der AN, der
sich z.B. den Fuß gebrochen hat, nur nicht in der Lage, den Arbeitsplatz mit seinem Pkw, öffentlichen
Verkehrsmitteln oder zu Fuß zu erreichen, wohl aber fähig, seine ohnedies oder ihm vorübergehend
zugewiesene sitzende Tätigkeit auszuüben, kann er im Einzelfall verpflichtet sein, für ein geeignetes
Transportmittel zu sorgen. Ob der ArbG dann für dessen Kosten einzustehen hat, ist umstritten, dürfte
aber analog § 670 BGB bejaht werden können. Die Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen ist von der
Arbeitsrechtsprechung als Krankheit anerkannt. Keine Krankheit im Sinne des EFZG ist das altersbedingte Nachlassen der körperlichen oder geistigen Kräfte.
Die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des AN muss die alleinige Ursache für das Ausbleiben seiner Arbeitsleistung sein. Der Fortzahlungsanspruch entfällt, wenn der AN auch ohne die Erkrankung
nicht gearbeitet hätte, z.B. während eines Arbeitskampfes. Für die durch Kurzarbeit ausfallende Arbeitszeit erhält der AN nicht Entgeltfortzahlung, sondern Krankengeld in Höhe des Kurzarbeitergeldes,
für die verbleibende Arbeitszeit Entgeltfortzahlung, bei Kurzarbeit Null nur Krankengeld. Erkrankt ein
AN während des Erholungsurlaubs, gilt die Sonderregelung des § 9 BUrlG, wonach „die durch ärztliches Zeugnis nachgewiesenen Tage der Arbeitsunfähigkeit auf den Jahresurlaub nicht angerechnet
(werden)“. Demgegenüber führt die Erkrankung des AN während der Freizeit, die ihm zum Ausgleich
von Überstunden gewährt wird, nicht zu einer Nachgewährung von Freizeit.
•
Kein Verschulden des AN am Eintritt der Arbeitsunfähigkeit;
Das Verschulden im Sinne des § 3 EFZG ist (genauso wie im Fall des § 616 BGB; oben § 21 III.) ein
„Verschulden gegen sich selbst“, durch das der AN gröblich gegen das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartendes Verhalten verstößt. Es genügt also nicht leichte Fahrlässigkeit, sondern erfordert die vorsätzliche oder „besonders“ grob fahrlässige Herbeiführung der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Geläufige Beispiele sind Verletzungen durch alkoholbedingte KfzUnfälle, wegen Missachtung der Anschnallpflicht oder von Arbeitsschutzvorschriften. Die auf einer
Suchterkrankung beruhende Arbeitsunfähigkeit wird nicht mehr als selbstverschuldet angesehen; auch
nicht der Suizidversuch. Verletzungen aufgrund sportlicher Aktivitäten sind nur dann selbstverschuldet, wenn der AN in grober Weise gegen anerkannte Sportregeln verstoßen oder sich krass überfordert
hat.
2. Dauer und Höhe der Entgeltfortzahlung
Nach § 3 I 1 EFZG besteht für jede einzelne Krankheit ein Anspruch des AN auf Entgeltfortzahlung „für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen“.
Danach erhält der AN von der Krankenkasse Krankengeld.
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Beruhen wiederholte Erkrankungen allerdings auf demselben Grundleiden, bleibt es bei einer Entgeltfortzahlung von insgesamt nicht mehr als sechs Wochen, es sei denn, dass der AN nach § 3 I 2 EFZG
entweder (Nr.1) „vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht infolge derselben
Krankheit arbeitsunfähig war“ oder (Nr.2) „seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben
Krankheit eine Frist von zwölf Monaten abgelaufen ist“. Nach dem Ablauf dieser Frist steht dem AN auch
wegen der Fortsetzungserkrankung wieder Entgeltfortzahlung für bis zu sechs Wochen zu.
Da der ArbG die Krankheitsursache im Regelfall nicht kennt, ist er normalerweise nicht in der Lage, das
Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung zu beweisen, um sich auf § 3 I 2 EFZG berufen zu können. Um
ihm diesen Beweis zu erleichtern, muss nach neuerer Rechtsprechung der AN, der innerhalb der Zeiträume
dieser Vorschrift länger als sechs Wochen arbeitsunfähig krank ist, auf Verlangen des ArbG darlegen, dass
es sich nicht um eine Fortsetzungserkrankung handelt und (nur) insoweit auch seinen Arzt von der Schweigepflicht entbinden (Mitteilungen über die Tätigkeit des BAG im Jahre 2005 in NZA 2005, 1328 unter III.
1. e unter Bezugnahme auf BAG v. 13.7.2005 - 5 AZR).
Nach § 4 EFZG beträgt die Höhe der Entgeltfortzahlung 100 % des dem AN regelmäßig
zustehenden Brutto-Arbeitsentgelts einschließlich aller Zusatzentgelte und Sachbezüge,
wie z.B. eines Firmenwagens, nicht jedoch das für vorübergehend angeordnete Überstunden gezahlte Arbeitsentgelt.
Das Entgeltausfallprinzip gilt auch in Ansehung von Leistungslohn (oben § 16 II. 2.). Arbeitet der erkrankte AN im Akkord, kann zum Vergleich die Leistung ebenso beschäftigter Arbeitskollegen herangezogen oder auf die Leistung des Erkrankten unmittelbar vor der Erkrankung oder im Durchschnitt der letzten Wochen abgestellt werden (ErfK/Dörner § 4 EFZG Rn. 14 f.).
Nach § 47 SGB V beträgt das von der Krankenkasse gezahlte Krankengeld 70 % des
letzten vollen monatlichen Bruttolohns, aber höchstens 90 % des letzten vollen monatlichen Nettolohns und ist grundsätzlich zur Renten-, Arbeitslosen und Pflegeversicherung
heranzuziehen, nicht aber zur Krankenversicherung. Effektiv beläuft sich das NettoKrankengeld auf etwa 75 % des regelmäßigen Nettoverdienstes.
3. Anzeige- und Nachweispflichten
a) Nach § 5 I 1 EFZG ist der AN verpflichtet, dem ArbG seine Arbeitsunfähigkeit und
deren voraussichtliche Dauer unverzüglich (= ohne schuldhaftes Zögern, § 121 BGB)
anzuzeigen, damit dieser sofort disponieren kann.
Im Arbeitsrecht bedeutet dies, dass die Mitteilung dem ArbG im Regelfall am ersten Tag der Erkrankung zugegangen sein muss, im Allgemeinen telefonisch, auch per Telefax oder E-mail, SMS, ggf. durch
persönliche Ablieferung. Das gilt auch für Teilzeit-AN, die an diesem Tag nicht gearbeitet hätten. Eine
briefliche Mitteilung, die erst am nächsten Tag zugeht, gilt als verspätet! Adressat der Anzeige ist der
ArbG, ein Mitarbeiter der Personalabteilung, ein sonst zur Entgegennahme solcher Erklärungen autorisierter Mitarbeiter, in Zweifelsfällen ein Vorgesetzter. Beim Einsatz eines Arbeitskollegen als Boten trägt der
AN das Risiko ordentlicher Übermittlung.
b) Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage (also einschließlich eines etwa arbeitsfreien Sonnabend, Sonntag oder Feiertag), hat der AN nach § 5 I 2
EFZG dafür zu sorgen, dass dem ArbG eine ärztliche Bescheinigung als Nachweis über
das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer spätestens an
dem darauf folgenden Arbeitstag (also an dem vierten Tag der Arbeitsunfähigkeit) vorliegt (nicht etwa erst zugesandt wird!), sofern der AN an diesem Tag arbeiten müsste
(maßgebend ist die individuelle Arbeitsverpflichtung).
Beginnt die Arbeitsunfähigkeit am Donnerstag, muss die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem ArbG am
Montag vorliegen, wenn für den AN nicht schon der Sonntag, sondern erst der Montag ein Arbeitstag ist.
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Beginnt die Arbeitunfähigkeit am Freitag, muss die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem ArbG am Montag vorliegen, wenn für den AN der Montag ein Arbeitstag ist. Beginnt die Arbeitsunfähigkeit am Samstag,
muss die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem ArbG am Dienstag vorliegen, wenn der AN montags bis
freitags zu arbeiten hat; in diesem Fall allerdings wird der am arbeitsfreien Wochenende erkrankte AN seine Arbeitsunfähigkeit zweckmäßigerweise erst am Montag mitteilen, so dass die ggf. erforderliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung spätestens am Donnerstag vorzulegen ist.
Nach § 5 I 3 EFZG ist der ArbG berechtigt, den Nachweis der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit durch die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung früher zu verlangen,
auch schon am ersten Tag der Erkrankung.
In einem mitbestimmten Betrieb kann der ArbG den einzelnen AN ohne Beteiligung des Betriebsrates allein aufgrund seines Weisungsrechts (unter Beachtung von § 315 I BGB) dazu auffordern; für eine generelle Anordnung bedarf es wegen § 87 I Nr.1 BetrVG einer Betriebsvereinbarung. Eine entsprechende
Regelung durch Tarifvertrag schließt ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates wegen des Tarifvorrangs
des § 87 I Einleitungssatz BetrVG aus. Häufig enthält schon der Arbeitsvertrag eine entsprechende Klausel, ohne dass ein etwa bestehender Betriebsrat sie aus dem Grunde des § 87 I Nr.1 BetrVG beanstanden
darf. § 99 II Nr. 1 BetrVG gibt ihm kein Recht zur Inhaltskontrolle einzelner Bestimmungen des Arbeitsvertrags (oben § 11 III.).
Eine Übergabe des Attestes am nächsten Tag ist unbedenklich, sofern der erste Tag der Arbeitsunfähigkeit
mit abgedeckt ist und eine Übergabe am ersten Tag weder möglich noch zumutbar war (ErfK/Dörner, § 5
EFZG Rn. 13). Um sicherzustellen, dass bereits der erste Tag krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit durch
ärztliches Attest belegt ist, genügt zur Vermeidung von zeitbedingten Nachweisproblemen allerdings die
Klausel: „Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung muss mit Beginn der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit innerhalb von drei Tagen dem ArbG vorgelegt werden.“ (Vgl. BAG v.1.10.1997 - 5 AZR 726/96 in NZA 1998, 396 ff.).
c) Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als angezeigt, ist der AN nach § 5 I 4 EFZG verpflichtet, dem ArbG die Fortdauer der Erkrankung durch Vorlage einer neuen ärztlichen Bescheinigung unverzüglich nachzuweisen.
d) Hält sich der AN bei Beginn der Arbeitsunfähigkeit im Ausland auf, im Regelfall
während des Urlaubs, gilt hinsichtlich der Nachweispflicht des AN die Regelung des § 5
I EFZG, was wegen der Postlaufzeit zu Schwierigkeiten führen kann, wenn sich die ärztliche Bescheinigung dem ArbG nicht vorab telefaxen lässt. In Ansehung der Anzeigepflicht enthält § 5 II EFZG eine Erweiterung.
So umfasst die Anzeigepflicht hier zum einen auch die Mitteilung des ausländischen Aufenthaltsortes
(einschließlich der Telefonnummer) und ist nicht nur unverzüglich, sondern „schnellstmöglich“ zu erfüllen, also nicht brieflich (Postlaufzeit!), sondern sofern nur irgendwie möglich durch Telefon, SMS,
Telefax oder E-Mail. Die dadurch entstehenden Kosten hat der ArbG zu tragen. Darüber hinaus ist der gesetzlich krankenversicherte AN verpflichtet, auch seine Krankenkasse zumindest über die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer „unverzüglich“ zu informieren.
Bei Fortdauer Erkrankung im Ausland ist nicht nur die gesetzliche Krankenkasse,
sondern (obwohl § 5 II EFZG dazu schweigt) natürlich auch der ArbG erneut unverzüglich zu informieren und diesem ferner eine neue ärztliche Bescheinigung als Nachweis
zuzuleiten.
e) Bei schuldhafter Verletzung seiner Anzeige- und Nachweispflicht, kann der ArbG
den AN abmahnen und im Wiederholungsfall (verhaltensbedingt) ordentlich kündigen.
Mehrfache Pflichtverletzungen dieser Art können zu einer fristlosen Kündigung führen.
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4. Forderungsübergang bei Dritthaftung
Kann der AN aufgrund gesetzlicher Vorschriften von einem Dritten Schadensersatz wegen des Verdienstausfalls beanspruchen, der ihm durch die Arbeitsunfähigkeit entstanden
ist, z.B. aus Vertragsverletzung gemäß § 280 I BGB oder aus unerlaubter Handlung gemäß § 823 I BGB, ggf. aus § 7 StVG, so geht dieser Anspruch nach § 6 I EFZG insoweit
auf der ArbG über, als dieser dem AN Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall einschließlich der darauf entfallenden Beiträge zur Sozialversicherung leistet (Forderungsübergang
kraft Gesetzes = cessio legis). Nach § 6 II EFZG hat der AN dem ArbG unverzüglich die
zur Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs erforderlichen Angaben zu machen;
andernfalls der ArbG nach § 7 I Nr.2 EFZG zur Leistungsverweigerung berechtigt ist.
5. Leistungsverweigerungsrechte des Arbeitgebers
Nach § 7 I Nr. 1 EFZG ist der ArbG berechtigt, die Entgeltfortzahlung zu verweigern,
solange der AN den Anzeige- und Nachweispflichten des § 5 EFZG schuldhaft (§ 7 II
EFZG) nicht nachkommt. Das Leistungsverweigerungsrecht entfällt rückwirkend, sobald
der AN seine diesbezüglichen Pflichten erfüllt.
Nach § 7 I Nr. 2 EFZG steht dem ArbG ein endgültiges Leistungsverweigerungsrecht
zu, wenn der AN den Übergang seines Schadensanspruchs gegen den Dritten schuldhaft
verhindert, z.B. durch Erlassvertrag oder Vergleichsabschluss. Im Übrigen gilt das gleiche wie im Fall des § 7 I Nr.1 EFZG, solange der AN es schuldhaft unterlässt, dem ArbG
die zur Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs erforderlichen Angaben zu machen.
IV. Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen
ArbG, die regelmäßig nicht mehr als 30 AN beschäftigen, erhalten nach dem durch das
Gesetz über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung (AAG)
geregelten „U 1-Verfahren“ einen Ausgleich der Aufwendungen, die ihnen bei Krankheit ihrer AN entstehen. Nach § 1 I AAG erstatten die Krankenkassen dem ArbG 80 %
der nach dem EFZG zu zahlenden Entgelte und bis zu 80 % der darauf entfallenden Arbeitgeberanteile zum Gesamtsozialversicherungsbeitrag. Die Mittel zur Durchführung
des Ausgleichs werden nach § 7 AAG durch eine Umlage der am Ausgleichsverfahren
beteiligten ArbG aufgebracht. Ihre Höhe richtet sich nach der Satzung der Krankenkasse.
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§ 23 Entgeltfortzahlung im Mutterschutz
I. Vorbemerkung
Begleitend zum Kündigungsverbot des § 9 MuSchG (unten § 29 II. 1) kümmert sich der
Gesetzgeber zum einen um den Schutz der Gesundheit werdender oder stillender Mütter
vor den mit ihrer Arbeit verbundenen Gefahren durch die in § 2 MuSchG enthaltenen
Vorschriften zur Gestaltung von Arbeitsplatz und Arbeitsabläufen sowie durch die in den
§§ 3 bis 8 MuSchG aufgeführten Beschäftigungsverbote. Darüber hinaus geht es dem
Gesetzgeber darum sicherzustellen, dass werdende oder stillende Mütter, die ihre arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit nicht ausüben können oder dürfen, Schutz vor finanziellen Nachteilen erhalten.
II. Entgeltfortzahlung bei allgemeinen und besonderen Beschäftigungsverboten
Nach § 13 I MuSchG erhalten Frauen, die einer gesetzlichen Krankenkasse angehören,
für die Zeit der Schutzfristen der allgemeinen Beschäftigungsverbote des § 3 II und des
§ 6 I MuSchG (grundsätzlich 6 Wochen vor der Geburt und 8 Wochen nach der Geburt)
sowie für den Entbindungstag nach § 200 RVO (oder nach § 29 des Gesetzes über die
Krankenversicherung der Landwirte) ein Mutterschaftsgeld in Höhe von 13 € pro Tag.
In Höhe der Differenz zum durchschnittlichen kalendertäglichen Arbeitsentgelt
einschließlich aller Zusatzleistungen und Sachbezüge, wie z.B. eines Firmenwagens, nicht
jedoch das für vorübergehend angeordnete Überstunden gezahlte Arbeitsentgelt leistet
der ArbG nach § 14 MuSchG einen Zuschuss zum Mutterschaftsgeld.
Darf die Frau wegen der besonderen Beschäftigungsverbote der §§ 3 I, 4 bis 6 II und
III sowie 8 I, III oder V MuSchG nicht beschäftigt werden, hat der ArbG nach § 11
MuSchG das gesamte durchschnittliche Arbeitsentgelt allein fortzuzahlen.
Der Entgeltschutz der Schwangeren setzt voraus, dass ihre Arbeitsleistung allein wegen eines Beschäftigungsverbots entfällt. Weigert sie sich, vorübergehend eine nicht verbotene und zumutbare Ersatztätigkeit
auszuüben, entfällt ihr Anspruch in entsprechender Anwendung der in § 326 II 2 BGB / § 615 S. 2 BGB
enthaltenen Bestimmungen (Dütz/Thüsing Rn. 284; oben § 15 I. 4. c).
III. Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen
Wäre eine solche finanzielle Belastung des ArbG durch die Schwangerschaft einer Arbeitnehmerin wirklich das letzte Wort, müsste befürchtet werden, dass er die Beschäftigung von Frauen einschränkt. Damit aber würden sich der Entgeltschutz des MuSchG auf
Arbeitnehmerinnen faktisch diskriminierend auswirken. Das hat auch das BVerfG in seinem Beschluss v. 18.11.2003 – 1 BvR 302/96 – in NZA 2004, 22 erkannt und den Gesetzgeber veranlasst, das Aufwendungsausgleichsgesetz für Entgeltfortzahlung (AAG)
zu schaffen, nach dessen § 7 alle ArbG zu einer Umlage herangezogen werden (U 2 Verfahren), aus deren Mitteln nach § 1 II AAG die Krankenkassen ihnen den nach § 14
I MuSchG gezahlten Zuschuss zum Mutterschaftsgeld sowie das nach § 11 MuSchG gezahlte Arbeitsentgelt in vollem Umfang erstatten. Die Höhe der Umlage richtet sich nach
der Satzung der Krankenkasse.
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Für AN, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind, gilt Entsprechendes nach dem Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte.
Frauen, die nicht Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse sind, erhalten Mutterschaftsgeld zu Lasten des
Bundes. Im Übrigen gilt das Vorstehende.
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§ 24 Entgeltfortzahlung im Erholungsurlaub
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§ 25 Der gesetzliche Regelfall des § 326 I 1 BGB: Ohne Arbeit kein
Lohn und weitere Sanktionen
I. Die Befreiung des ArbG von der Gegenleistung
Der gesetzliche Regelfall des § 326 I 1 BGB besagt, dass der Anspruch des Schuldners
auf die Gegenleistung entfällt, wenn er nach § 275 I BGB von seiner Leistungspflicht befreit wird. Im Arbeitsrecht tritt diese Rechtsfolge allerdings nicht ein, wenn eine der oben
§ 16 unter III. aufgeführten Sonderbestimmungen anwendbar ist, die den ArbG teils aus
sozialen Gründen, teils weil die Leistungsstörung seinem Verantwortungsbereich zuzurechnen ist, zur Entgeltfortzahlung verpflichten. Darum ist im Arbeitsrecht die Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 326 I 1 BGB wie folgt zu formulieren:
Leistet der AN keine Arbeit, ohne sich auf eine der Sonderbestimmungen über die
Entgeltfortzahlung berufen zu können, entfällt sein Lohnanspruch für die Zeit der
ausgebliebenen Arbeitsleistung.
Dabei geht es vor allem um die nachfolgend aufgeführten Situationen.
1. Kein Entgelt bei vom AN verschuldeter Nichtleistung
Die Entgeltfortzahlung entfällt in den Fällen, in denen der AN das Ausbleiben der
Arbeitsleistung durch vorsätzliches oder fahrlässiges Verhalten zu vertreten hat (§
276 BGB).
Beispiele: Bruch des Arbeitsvertrages durch Nichtantritt der Arbeit oder durch vorzeitiges Ausscheiden.
Der AN „macht blau“, kommt unentschuldigt zu spät, verlässt zwischendurch eigenmächtig den Arbeitsplatz oder beendigt seine Arbeit eigenmächtig vor dem Arbeitsende, nimmt oder verlängert sich eigenmächtig seinen Erholungsurlaub.
Die Verantwortlichkeit für den persönlichen Verhinderungsgrund in den Fällen des § 3
EFZG und des § 616 BGB greift erst dann, wenn der AN gröblich gegen das von einem
verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhalten verstößt, also ab
„grober Fahrlässigkeit plus“.
Beispiele: Der AN ist arbeitsunfähig krank durch eine Verletzung, die er bei einem Kfz-Unfall nach Alkoholgenuss oder infolge Missachtung der Anschnallpflicht erlitten hat. Der Vorwurf des Abwägungsfehlgebrauchs durch Überschätzen der zur Unzumutbarkeit führenden Zwangslage (§§ 275 III, 616 BGB) erfordert ein ungewöhnlich hohes Maß an Gedankenlosigkeit des AN.
2. Kein Entgelt bei unverschuldeter Nichtleistung?
Auch ohne Schuld des AN entfällt sein Lohnanspruch, wenn der objektive Tatbestand der Sonderbestimmungen über die Entgeltfortzahlung nicht erfüllt ist.
Beispiele: Liegt der Grund für die unverschuldete Arbeitsverhinderung nicht in den persönlichen Verhältnissen des AN, sondern in allgemeinen Hindernissen, die eine unbestimmte Vielzahl von Personen
trefft, findet § 616 BGB keine Anwendung. So vor allem im Fall von Verkehrshindernissen durch Staus,
Straßensperrungen, Demonstrationen, den Ausfall von Verkehrsmitteln, Naturereignissen, Fahrverboten
u.Ä.. Hindert den AN hingegen die eigene Autopanne oder die persönliche Unfallbeteiligung an der Arbeitsleistung, handelt es sich um eine persönliche Verhinderung im Sinne des § 616 BGB (oben § 19 III. §
21 II.). Die unverschuldete persönliche Verhinderung überschreitet die Zeitgrenze des § 616 BGB.
Ist dem AN die ihm obliegende Tätigkeit aus Gewissensgründen nicht zumutbar, kommt eine Entgelt-
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fortzahlung aus § 616 BGB schon deswegen nicht in Betracht, weil die Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung gerade darin zum Ausdruck kommt, dass der AN bereit ist, um ihretwillen finanzielle Nachteile
in Kauf zu nehmen. Keinesfalls darf der ArbG in solchen Fällen mit der Gegenleistungsgefahr (Lohn ohne
Arbeit) belastet werden (siehe oben § 3 III. 1. (2) sowie Henssler in RdA 2002, 129 ff. unter III.1.).
II. Schadensersatzansprüche des ArbG wegen Nichtleistung des AN
Sofern der AN die zur Unmöglichkeit führende Nichtleistung der Arbeit verschuldet
hat, entfällt nicht nur der Anspruch des AN auf die Vergütung, sondern ist der ArbG auch
berechtigt, von ihm nach §§ 280 I, III, 283 BGB Schadensersatz statt der (in der Fehlzeit endgültig ausgebliebenen) Leistung zu verlangen. Der dem ArbG durch die Nichtleistung entstandene Schaden liegt zumeist in den Vermögensnachteilen, die er durch einen Produktionsausfall oder in Gestalt der Mehrkosten erleidet, die er zur Vermeidung
eines Produktionsausfalls aufwenden muss.
Die für den Fall der Schlechtleistung bei betrieblich veranlasster Tätigkeit für den AN richterrechtlich entwickelten Haftungserleichterungen (dazu unten § 27) finden im Fall der Nichtleistung keine Anwendung,
auch nicht § 619a BGB. Daher muss der AN bei Nichtleistung seiner Arbeit diejenigen Umstände beweisen, die ihn entschuldigen können (§ 280 I 2 BGB). Unterliegt der AN einem Rechtsirrtum, weil er infolge
fehlerhafter Einschätzung der Rechtslage eine Leistungspflicht nicht für gegeben hält, stellt die Rechtsprechung an seine Einlassung, der Irrtum sei für ihn nicht vermeidbar gewesen, so dass ihn nicht einmal leichte Fahrlässigkeit treffe, strenge Anforderungen.
III. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen Nichtleistung
Als spezifisch arbeitsrechtliche Sanktion kommt im Fall des Ausbleibens der Arbeitsleistung eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den ArbG wegen Pflichtverletzung
des AN in Gestalt der Nichtleistung der Arbeit in Betracht.
1. Hat der AN die zur Unmöglichkeit führende Nichtleistung der Arbeit verschuldet,
kann ihn über die Rechtsfolgen der §§ 326 I 1, 283 BGB hinaus das Risiko treffen, seinen
Arbeitsplatz zu verlieren. Da es sich um einen Verhaltensfehler des AN handelt, ist der
ArbG zunächst einmal berechtigt und auch verpflichtet, dem AN gegenüber eine Abmahnung auszusprechen. Erst im Wiederholungsfall kann der ArbG das Arbeitsverhältnis durch eine ordentliche (fristgemäße) Kündigung nach § 622 BGB, bei Geltung des
KSchG durch eine verhaltensbedingte Kündigung i.S.d. § 1 I. II 1 KSchG beenden. Bei
schwerer Pflichtverletzung kann den AN u.U. auch ohne vorherige Abmahnung eine außerordentliche (fristlose) Kündigung nach § 626 I BGB treffen.
2. Kommt der AN seiner Arbeitspflicht für eine insgesamt erhebliche Zeitdauer nicht
nach, ohne dass ihn daran ein Verschulden trifft, z.B. wegen lang andauernder oder wiederholt kurzeitiger persönlicher Verhinderung, insbesondere bei einer Langzeiterkrankung oder häufiger Kurzerkrankungen, läuft er Gefahr, nach § 622 BGB ordentlich gekündigt zu werden, wenn dem ArbG die Fortführung des Arbeitsverhältnisses deshalb
wirtschaftlich nicht mehr zumutbar ist, bei Geltung des KSchG personenbedingt im
Sinne von § 1 I, II KSchG.
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IV. Vereinbarte Sanktionen für den Fall der Nichtleistung von Arbeit
1. Die Vertragsstrafe
Unter Beachtung der gesetzlichen und richterrechtlichen Vorgaben zum Schutze des AN
kann der ArbG die Arbeitspflicht durch die Vereinbarung einer Vertragsstrafe im Sinne
des §§ 339 ff. BGB sichern.
2. Die Kürzung von Sondervergütungen
Im Arbeitsvertrag, einer Betriebsvereinbarung oder einem Tarifvertrag kann für Fehlzeiten eine Vereinbarung über die Kürzung von zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt
gewährte Sondervergütungen, wie z.B. einer Weihnachtsgratifikation getroffen werden.
Eine solche Anwesenheitsklausel ist in den Grenzen des § 4a EFZG auch für Zeiten der
Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit zulässig.
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§ 26 Die Schlechtleistung des Arbeitnehmers unter besonderer Berücksichtigung seiner Haftung auf Schadensersatz
I. Die Schlechtleistung des AN im Überblick
1. Pflichtverletzung durch Schlechtleistung
Die Schlechtleistung bezeichnet eine Störung im Vollzug eines vertraglichen Schuldverhältnissen, die darin ihren Ausdruck findet, dass der Schuldner eine ihm hiernach obliegende Pflicht nicht ordentlich erfüllt.
Für den AN als Schuldner kann diese Pflichtverletzung dazu führen, dass der ArbG ihm
das Arbeitsverhältnis kündigt: Bei Geltung des KSchG ordentlich (fristgemäß) entweder
personenbedingt oder verhaltensbedingt unter Beachtung von § 1 I, II KSchG, ansonsten
einfach nach § 622 BGB. Im Falle grober Pflichtverletzung ist eine außerordentliche (fristlose) Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 BGB möglich.
Erleidet der ArbG durch die Schlechtleistung des AN einen Schaden, kann er ihn, schuldhaftes Fehlverhalten vorausgesetzt, darüber hinaus auf Schadensersatz (neben der Leistung) unmittelbar aus § 280 I BGB, ggf. aus unerlaubter Handlung sowie aufgrund von
sondergesetzlichen Vorschriften in Anspruch nehmen.
Der nach dem System des Allgemeinen Schuldrechts des BGB für den Fall der Schlechtleistung an erster
Stelle stehende Anspruch des Gläubigers gegen den Sachschuldner auf Nacherfüllung durch Gutleistung, sein
in zweiter Linie bestehendes Recht auf Rücktritt wegen nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung (§ 323
BGB) und die daneben bestehende Möglichkeit, Schadensersatz statt der endgültig ausgebliebenen Leistung
verlangen zu können (§§ 280 I, III, 281 BGB), kommen hier nicht in Betracht. Auch ist der ArbG nicht berechtigt, dem AN wegen mangelhaft erbrachter Arbeitsleistung den Lohn zu kürzen. Der ArbG kann vom AN
kraft seines Weisungsrechts die Beseitigung von Qualitätsmängel verlangen, doch kommt dem AN auch für
die Zeit, die er zur Mangelbeseitigung benötigt, der volle Lohn zu.
In den Fällen, in denen der AN dem ArbG wegen schuldhaften Verhaltens schadensersatzpflichtig ist, kann es
allerdings faktisch zu einer Lohnkürzung dadurch kommen, dass der ArbG mit seinem Schadensersatzanspruch in den Grenzen des § 394 S. 1 BGB i.V.m. §§ 850 ff. ZPO gegen den Lohnanspruch des AN aufrechnet.
Durch eine im Arbeitsvertrag, in einer Betriebsvereinbarung oder einem Tarifvertrag vereinbarte Kürzungsklausel kann dem ArbG das Recht eingeräumt werden, in Fällen schuldhafter Schlechtleistung zusätzlich
zum laufenden Arbeitsentgelt gewährte Sondervergütungen, wie z.B. eine Weihnachtsgratifikation, unter
Beachtung der Rechtsprechungsregeln über den innerbetrieblichen Schadensausgleich (nachfolgend unter 2.)
zu kürzen.
Liegt das Fehlverhalten des AN in einem Verstoß gegen die betriebliche Ordnung (oben unter § 15 VI. 3.),
kann der AN auf der Grundlage einer (nach § 87 I Nr. 1 BetrVG mitbestimmungspflichtigen) Betriebsbußenordnung mit einer Betriebsbuße durch mündliche Verwarnung, schriftlichen Verweis oder Auferlegung einer Geldbuße belegt werden (gerichtsähnliches Verfahren unter paritätischer Beteiligung der Arbeitgeberseite und des Betriebsrats, arbeitsgerichtlich in vollem Umfang nachprüfbar).
2. Pflichtverletzungen bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeiten
Für die Haftung des AN auf Schadensersatz gelten besondere Regeln, wenn sich der
schadenstiftende Vorfall bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeit ereignet hat.
Das sind diejenigen Tätigkeiten, die dem AN nach dem Arbeitsvertrag obliegen, weil sie
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ihm zur Ausführung übertragen worden sind oder weil er sie in Verfolgung betrieblicher
Zwecke für den Betrieb ausführt (BAG vom 18.4.2002 - 8 AZR 348/01 - in NZA 2003, 37
ff. unter II. 2. b).
Ein bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeit entstandener Schaden liegt
zum einen dann vor, wenn der AN gerade die ihm gestellte Aufgabe als solche mangelhaft
erfüllt: Man spricht von der Verletzung der Haupt(leistungs)pflicht des AN nach §§ 611,
241 I BGB durch quantitative oder qualitative Minderleistung (Schlechtleistung im engen und eigentlichen Sinne; nachfolgend unter II. 1.). Ein Schaden bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeit kann aber auch dadurch entstehen, dass der AN in sonstiger
Weise Vermögensinteressen des ArbG verletzt, vor allem dadurch, dass er bei oder neben
seiner Arbeit Personen- oder Sachschaden anrichtet, mag er auch die ihm gestellte Aufgabe als solche fehlerfrei erfüllt haben: Man spricht davon, dass der AN seine die Arbeitsleistung begleitende Nebenpflicht zur Rücksichtnahme „auf die Rechte, Rechtsgüter und
Interessen“ (§241 II BGB) des ArbG verletzt habe (Schlechtleistung im uneigentlichen,
weiteren Sinne; nachfolgend unter II. 2.).
Weil der ArbG kraft seiner Leitungsmacht die Betriebsorganisation und die Betriebsabläufe
beherrscht, trifft ihn an derlei betriebsbezogenen Schadensfällen ein situationsbedingt
differenziertes Maß an Mitverantwortung als Ausdruck des Betriebsrisikos, das er als Unternehmer trägt. Es zeigt sich darin, dass der auf Schadensersatz in Anspruch genommene
AN eine Haftungserleichterung erfährt, und zwar dergestalt, dass der ArbG nach den
Grundsätzen über den innerbetrieblichen Schadensausgleich die von seinem AN herbeigeführten Schäden in angemessenem Umfang mittragen muss (siehe schon oben § 1
IV.).
Nachfolgend unter III. wird aufgezeigt, welche Haftungsrisiken den AN nach Maßgabe
der Vorschriften des BGB treffen können.
Die Haftungserleichterungen nach den Grundsätzen, die die Rechtsprechung zum innerbetrieblichen Schadensausgleich entwickelt hat, werden anschließend unter § 27 dargestellt.
3. Pflichtverletzungen außerhalb des Rahmens betrieblich veranlasster Tätigkeit
Liegt das Verhalten, das die Haftung des AN begründet, hingegen außerhalb des Rahmens
betrieblich veranlasster Tätigkeit, besteht für eine Haftungserleichterung des AN zu Lasten
des ArbG kein Anlass.
Dies ist z.B. dann der Fall, wenn sich die Schlechtleistung des AN (im weiteren Sinne) in der Beschädigung
des Firmenwagens während seiner privaten Nutzung äußert oder in Schäden als Folge einer eigenmächtigen „Spaßfahrt“ mit dem Gabelstapler zeigt, einerlei, ob sie in der Pause oder während der Arbeit geschah
(BAG vom 18.4.2002 - 8 AZR 348/01 - in NZA 2003, 37 ff.). An einer betrieblich veranlassten Tätigkeit
fehlt es vor allem dann, wenn sich das Tun des AN bewusst gegen die betrieblichen Interessen richtet, wie
in den Fällen eines Verstoßes des AN gegen die Verschwiegenheitspflicht, ein Wettbewerbsverbot, das Verbot von unternehmensschädigenden Äußerungen; ferner bei strafbaren Handlungen, wie etwa Diebstahl und
Unterschlagung, Betrug und Untreue, Verrat von Geschäftsgeheimnissen sowie Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr (Schmiergeldverbot). In diesen Fällen bleibt es bei der uneingeschränkten
Schadensersatzhaftung des AN nach § 280 I 1 BGB einschließlich der Beweislastumkehrregelung des § 280 I
2 BGB (§ 619a BGB gilt für diese Fälle nicht!), ggf. nach §§ 823 I/II, 826 BGB sowie spezialgesetzlichen
Vorschriften (oben § 15 VI. 2.).
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II. Die Tatbestände der Schlechtleistung bei der Verrichtung betrieblich veranlasster
Tätigkeiten
1. Die quantitative und/oder qualitative Minderleistung
Die Schlechtleistung (im engeren und eigentlichen Sinne) beschreibt das BGB als eine
Pflichtverletzung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Schuldner „die fällige Leistung
… nicht wie geschuldet erbringt“ (§ 281 I BGB) bzw. „nicht vertragsgemäß erbringt“ (§
323 I BGB).
„Fällig“ im Sinne dieser Bestimmungen ist die Leistung des AN an jedem Arbeitstag, an
dem er dem ArbG zur Verfügung steht. Vom AN „geschuldet“ ist die Leistung, zu deren
Erbringung er vertraglich verpflichtet ist. Das ist mehr als die bloße Zurverfügungstellung
seiner Arbeitskraft und weniger als die Herbeiführung eines bestimmten Leistungserfolges.
Was der AN schuldet, ist die Arbeit als solche in Gestalt eines erfolgsorientierten Tätigwerdens. Schuldrechtlich gesprochen ist dies die Hauptpflicht des AN gemäß § 611
BGB (oben § 15 I.), mit deren Erbringung er den Anspruch des ArbG auf Arbeitsleistung
erfüllt.
„Nicht wie geschuldet erbracht“/„nicht vertragsgemäß erbracht“ ist die Arbeitsleistung des
AN, wenn die ihm obliegende Arbeit quantitativ oder qualitativ minderwertig ist. Da
die Menschen von unterschiedlichem Leistungsvermögen sind und noch dazu jeder von
ihnen Leistungsschwankungen unterliegt, kann von einer rechtserheblichen Schlechtleistung des AN erst dann gesprochen werden, wenn er seine Arbeit zu langsam oder zu fehlerhaft erbringt. Damit aber stellt sich die Frage nach dem Maßstab für die Beurteilung
der Arbeitsleistung.
Hierbei kommt es in erster Linie auf die im Arbeitsvertrag getroffenen Vereinbarungen
an. Lassen sich dem Arbeitsvertrag keine hinreichend deutlichen Vorgaben über Menge
und Beschaffenheit der zu leistenden Arbeit entnehmen, ist der vom ArbG in Ausübung
seines Weisungsrechts festgelegte Arbeitsinhalt maßgebend (BAG v. 11.12.2003 - 2 AZR
667/02 - in NZA 2004, 784 unter B. I. 2. b). Dabei ist zu beachten, dass von einem AN nur
die Leistung verlangt werden kann, „die er bei angemessener Anspannung seiner geistigen
und körperlichen Kräfte auf Dauer ohne Gefährdung seiner Gesundheit zu leisten imstande
ist“ (ErfK/Preis § 611 Rn. 643). „Der AN muss tun, was er soll, und zwar so gut, wie er
kann“ (BAG a.a.O.). Vor diesem Hintergrund liegt eine Schlechtleistung jedenfalls in Gestalt einer Pflichtverletzung im objektiven Sinne erst dann vor, wenn die Leistung des
AN nicht nur vorübergehend so deutlich hinter der nach ihrer Tätigkeit vergleichbarer AN zurückbleibt, dass dem ArbG ein Festhalten an dem Arbeitsvertrag nicht mehr
zumutbar ist. Die Zumutbarkeitsgrenze dürfte bei einer Leistungsminderung von mehr
als 1/3 überschritten sein (vgl. BAG a.a.O. unter B. I. 2. d sowie BAG v. 17.1.2008 - 2
AZR 536/06 - in NZA 2008, 693).
Ist der AN nach Kräften bemüht, seine Arbeit zu erledigen, wird ihm die (objektive)
Pflichtverletzung nicht (subjektiv) vorgeworfen werden können. Selbst wenn das Bemühen
des AN den normalen Sorgfaltsmaßstab des § 276 II BGB nicht erfüllen sollte, weil seine
individuelle Sorgfalt nicht den Anforderungen der allgemein „im Verkehr erforderlichen
Sorgfalt“ genügt, kann ihn kein Schuldvorwurf treffen. Der im Grundsatz abstrakte und objektive Fahrlässigkeitsbegriff des § 276 II BGB lässt es zu, bereichsspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen, wie sie gerade das Arbeitsrecht im Hinblick auf die Anforderungen an die Intensität der Arbeitsleistung des AN aufweist. Daraus folgt, dass der AN,
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der seine individuelle Leistungsfähigkeit ausschöpft und trotzdem zu langsam oder zu fehlerhaft arbeitet, dem ArbG mangels Verschuldens nicht schadensersatzpflichtig wird.
Wegen des in der objektiven Pflichtverletzung zutage tretenden Eignungsmangels des AN kann sich der
ArbG von ihm aber im Weg einer ordentlichen (fristgemäßen) Kündigung nach § 622 BGB trennen. Gilt das
KSchG, kommt eine personenbedingte Kündigung unter Beachtung von § 1 I, II KSchG in Betracht (unten
§ 30 III. 1. b).
Beruht die Schlechtleistung des AN hingegen darauf, dass er seine Leistungsfähigkeit bewusst nicht ausschöpft, sich also mindestens keine Mühe gibt bzw. sich gehen lässt, seinen Dienst achtlos bis gleichgültig versieht und darum zu langsam und zu fehlerhaft arbeitet, liegt eine Pflichtverletzung auch im subjektiven Sinne vor, die den ArbG berechtigt,
vom AN wegen schuldhafter Schlechtleistung Schadensersatz zu verlangen.
Darüber hinaus kann sich der ArbG vom AN im Wege einer ordentlichen (fristgemäßen) Kündigung nach §
622 BGB trennen. Gilt das KSchG, kann es zu einer verhaltensbedingten Kündigung unter Beachtung von
§ 1 I, II KSchG (unten § 30 IV. 1.) kommen. Bei grober Pflichtverletzung besteht die Möglichkeit einer fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 BGB.
Quantitative wie qualitative Minderleistung des AN führt zu Zeit- und Materialverschwendung, stört das Zusammenspiel in der Arbeitsgruppe, bewirkt Reibungsverluste, belastet
die Betriebsabläufe und damit das Betriebsergebnis. Die Produktion des Betriebes worin
auch immer sie bestehen mag leidet unter Verzögerungen und Ausfällen sowie den damit verbundenen Folgeschäden. Die dem Betrieb und damit dem ArbG daraus erwachsenden Vermögensnachteile sind allerdings oft nur schwer messbar und einem bestimmten
Störer oft nicht eindeutig zurechenbar. Es kommt hinzu, dass es dem ArbG Schwierigkeiten bereiten kann, dem störenden AN ein Verschulden nachzuweisen; denn nach §
619a BGB trägt die Beweislast hierfür entgegen § 280 I 2 BGB der ArbG. In diesen Fällen
wird der ArbG daher eher versuchen, sich von dem AN wegen Eignungsmangels im Wege
einer personenbedingten Kündigung zu trennen.
Kommt es hingegen bei oder durch die Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeiten dazu, dass der AN Sach- oder Personenschaden anrichtet, ist die darin liegende Pflichtverletzung leichter fassbar und zurechenbar. Das gleiche gilt, wenn der AN gegen gesetzliche
Vorschriften, wie etwa des Umwelt- oder des Arbeitsschutzrechts verstößt. Da es nicht um
die Arbeitsleistung als solche, sondern um die Begleitumstände der Arbeit geht, handelt es
sich in diesen Fällen um die Verletzung der vertraglichen Nebenpflicht des Schuldners
─ hier des AN ─ „zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen
Teils“ ─ hier des ArbG ─ nach § 241 II BGB (nachfolgend 2.).
2. Die Verletzung der Nebenpflicht des AN zur Rücksichtnahme
In den Fällen, in denen der AN bei oder durch die Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeit Personen- oder Sachschaden verursacht, kommt es kaum zu den im Falle quantitativer oder qualitativer Minderleistung aufgezeigten Unsicherheiten. Denn hier sind die
Merkmale, die die Verantwortlichkeit des AN kennzeichnen, eindeutig definiert. So wie §
823 I BGB den eines Eingriffs in diese Rechtsgüter schuldigen Täter zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet, stellt § 241 II BGB klar, dass dieser Mangel an
Rücksichtnahme, wenn er im Rahmen eines Vertrages auftritt, zugleich eine Pflichtverletzung ist, die den Täter Vertretenmüssen nach § 276 BGB vorausgesetzt nach § 280 I
BGB schadensersatzpflichtig werden lässt. Das gleiche gilt für die sonstigen gesetzlichen
Ge- und Verbote, die der AN bei der Verrichtung seiner Arbeit zu beachten hat. Sollten für
den entstandenen Schaden mehrere AN nebeneinander verantwortlich sein, verbietet der
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Schutzzweck des Arbeitsrechts allerdings eine gesamtschuldnerische Haftung der beteiligten AN („Einer für alle“), wie sie § 840 BGB vorsieht.
Die schuldhafte Verletzung der Nebenpflicht des AN aus § 241 II BGB durch die Herbeiführung von Sachschäden bildet die Hauptmenge der Fälle, in denen der ArbG vom AN
Schadensersatz wegen der ihm dadurch entstehenden Einbußen verlangt. Es kommt z.B.
zur Beschädigung oder Zerstörung von Materialien, Werkzeugen, Gerätschaften, Maschinen, Fahrzeugen, Gebäuden und sonstigen Sachgütern des ArbG, als deren Folge durch den
damit verbundenen Nutzungsausfall sowie erforderlich werdende Reparatur- oder Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten finanzielle Einbußen entstehen. Dass der AN seinem ArbG
einen Personenschaden zufügt, ist demgegenüber eher selten. Zu einer schadenstiftenden
Verletzung von sonstigen nicht in Personen- oder Sachgütern gebundenen Vermögensinteressen des ArbG, kann es z.B. dadurch kommen, dass der Betrieb wegen des Verstoßes
des AN z.B. gegen Vorschriften des Umwelt- oder Sicherheitsrechts mit einer Geldbuße
belegt wird.
Fügt der AN einem anderen AN oder einem außenstehenden Dritten Schaden zu, verletzt er nicht eine diesen Geschädigten gegenüber bestehende vertragliche Nebenpflicht,
weil ihn mit diesen Personen kein vertragliches Schuldverhältnis verbindet. Ihnen gegenüber hat er einfach eine unerlaubte Handlung nach §§ 823 I/II BGB begangen. Darin liegt
jedoch zugleich eine Nebenpflichtverletzung gegenüber dem ArbG, wenn der ArbG von
dem Verletzten wegen des erlittenen Schadens aus seiner Haftung für den Verrichtungsgehilfen nach § 831 BGB und/oder aus seiner Verantwortlichkeit für den Erfüllungsgehilfen
nach §§ 280 I, 278 BGB in Anspruch genommen wird oder der vom AN geschädigte Arbeitskollege als Arbeitskraft ausfällt und/oder den ArbG wegen seines Schadens analog §
670 BGB in Anspruch nimmt. In diesen Fällen kann der ArbG den schadenstiftenden AN
nach §§ 241 II, 280 I BGB wegen Schlechtleistung (im weiteren Sinne) in Regress nehmen
(nachfolgend IV. 2./3.).
Neben der Inanspruchnahme des AN auf Schadensersatz kann es in diesen Fällen natürlich auch zu einer ordentlichen (fristgemäßen) Kündigung nach § 622 BGB, bei Geltung des KSchG zu einer verhaltensbedingten
Kündigung unter Beachtung von § 1 I, II KSchG, im Falle grob fahrlässigen Fehlverhaltens des AN zu einer
außerordentlichen (fristlosen) Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 BGB kommen.
III. Die nach Maßgabe der Vorschriften des BGB mögliche Haftung des AN auf
Schadensersatz bei der Verrichtung betrieblich veranlasster Tätigkeiten
(Zur Beschränkung der Haftung des AN nach Maßgabe der Rechtsprechung über den innerbetrieblichen Schadensausgleich siehe nachfolgend § 27).
Im Vordergrund steht der Fall, dass der AN dem ArbG haftet, weil er ihm unmittelbar einen Schaden zugefügt hat (nachfolgend unter 1.). Der AN kann dem ArbG aber auch
dann haften, wenn er einem Außenstehenden oder einem Arbeitskollegen einen Schaden
zugefügt hat und diese deswegen statt des AN den ArbG in Anspruch nehmen (nachfolgend
unter 2. und 3.). Der AN hat in diesem Fall den ArbG gleichsam mittelbar geschädigt
und wird dafür nun vom ArbG im Wege des Regresses zur Rechenschaft gezogen.
1. Der AN schädigt unmittelbar den ArbG
Da AN und ArbG in einem vertraglichen Schuldverhältnis zueinander stehen, erfüllt das
schadenstiftende Verhalten des AN den Tatbestand der Verletzung
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•
entweder seiner Hauptpflicht aus dem Arbeitsvertrag nach §§ 611, 241 I BGB
durch quantitative oder qualitative Minderleistung (vorstehend unter II. 1.)
•
oder einer Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag nach §§ 611, 241 II BGB durch die
Herbeiführung von Sach-, Personen- oder reinem Vermögensschaden des ArbG (vorstehend unter II. 2. b).
der im Grundsatz zu einem Anspruch des geschädigten ArbG gegen den AN aus § 280 I
BGB auf Schadensersatz des (neben der Leistung) führen kann.
Ggf. kann es neben dem Anspruch aus § 280 I BGB auch zu einem Schadensersatzanspruch aus unerlaubter
Handlung, insbesondere nach § 823 I/II BGB sowie aus Sondergesetzen kommen.
Beachte: Erleidet der ArbG durch seinen AN einen Personenschaden als Arbeitsunfall, treten an die Stelle
einer möglichen Haftung des schadenstiftenden AN die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung nach
§ 105 SGB VII (unten § 27 II. 1.).
Vorschau auf den innerbetrieblichen Schadensausgleich (nachfolgend § 27): Der Schadensersatzanspruch des ArbG gegen den AN erfährt analog § 254 BGB ggf. eine Kürzung,
ggf. bis auf null.
2. Der AN schädigt einen Außenstehenden
a) Da AN und Außenstehender nicht vertraglich verbunden sind, kommen Schadensersatzansprüche des Geschädigten gegen den AN nur aus unerlaubter Handlung, insbesondere nach §§ 823 I/II BGB in Betracht.
Beachte: Diese Haftung geht nicht nur auf den Ersatz von Sachschaden, sondern auch von Personenschaden, da die gesetzliche Unfallversicherung den schädigenden AN vor der Inanspruchnahme aus einem
Personenschaden nur dann schützt, wenn es sich um einen Arbeitsunfall i.S.d § 8 I SGB VII handelt, der Geschädigte also ein/e Arbeitskollege/in ist.
b) Fügt der AN einem Außenstehenden Schaden zu, verletzt er damit zugleich gegenüber dem ArbG seine Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag gemäß § 241 II BGB zur
Rücksichtnahme auf die „Interessen“ seines ArbG, sofern der Außenstehende statt des
Schädigers den ArbG mit Erfolg auf Schadensersatz in Anspruch nimmt:
•
Ist der Außenstehende ein Vertragspartner des ArbG, kann er den ArbG wegen des erlittenen Personen- und Sachschadens auf Ersatz nach §§ 280 I, 278 BGB aus dessen Verantwortlichkeit für den AN
als seinen gegenüber Vertragspartnern eingesetzten Erfüllungsgehilfen in Anspruch nehmen. Statt aus
Vertragsrecht könnte der ArbG vom Außenstehenden aber auch aus § 831 BGB wegen eines Aufsichtsverschuldens über den AN als seinen Verrichtungsgehilfen in Anspruch genommen werden; dies
allerdings nur dann mit Erfolg, wenn der Verrichtungsgehilfe eines der in § 823 I aufgeführten Rechtsgüter des Außenstehenden oder ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 II BGB verletzt hat und dem ArbG der
Exkulpationsbeweis nach § 831 I 2 BGB nicht gelingen sollte.
Über diese Inanspruchnahme hinaus kann der Schaden des ArbG kann auch darin liegen, dass er wegen
des Fehlverhaltens seines AN den Auftrag verliert, weil der Außenstehende den Vertrag aus wichtigem
Grund nach § 314 BGB kündigt oder nach § 324 BGB vom Vertrag zurücktritt.
•
Ist der Außenstehende nicht Vertragspartner des ArbG, kann der Schaden des ArbG darin liegen,
dass der Außenstehende ihn wegen Aufsichtsverschuldens über seinen Verrichtungsgehilfen nach § 831
BGB in Anspruch nimmt (siehe vorstehender Punkt). Eine Inanspruchnahme des ArbG aus §§ 280 I,
278 BGB, der keinen Exkulpationsbeweis kennt, kommt in diesem Fall mangels vertraglicher Beziehung zum Außenstehenden nicht in Betracht.
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Wegen des dem ArbG aus seiner Inanspruchnahme entstehenden Schadens könnte dieser
den AN nach § 280 I BGB in Regress nehmen.
c) Vorschau auf den innerbetrieblichen Schadensausgleich (nachfolgend § 27): zu vorstehend 2. a) Der Schadensersatzanspruch des Außenstehenden gegen den AN besteht uneingeschränkt, doch kann der AN in analoger Anwendung des § 670 BGB von seinem
ArbG Freistellung von der Haftung in dem Umfang verlangen, wie dieser analog § 254
BGB den Schaden im Ergebnis (mit)tragen muss.─ zu vorstehend 2. b) Nimmt der Außenstehende statt des AN den ArbG auf Schadensersatz in Anspruch, kann der ArbG von seinem AN Regress nur in dem Umfang verlangen, wie der ArbG den Schaden analog § 254
BGB nicht (mit)tragen muss.
3. Der AN schädigt einen Arbeitskollegen
a) Da die AN im Verhältnis zueinander nicht vertraglich verbunden sind, kommen Schadensersatzansprüche des geschädigten Arbeitskollegen gegen den ihn schädigenden
AN nur aus unerlaubter Handlung, insbesondere nach §§ 823 I, II BGB in Betracht. Dies
gilt aber nur in Ansehung von Sachschäden!
Beachte: Erleidet ein AN durch einen/e Arbeitskollegen/in einen Personenschaden als Arbeitsunfall, tritt
an die Stelle der Haftung des schadenstiftenden AN die Sonderregelung des § 105 I SGB VII (dazu unten §
27 IV. 2.).
b) Fügt der AN einem Arbeitskollegen einen Schaden zu, verletzt der AN damit zugleich
gegenüber dem ArbG seine Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag gemäß § 241 II BGB
zur Rücksichtnahme auf die „Interessen“ seines ArbG, sofern der Arbeitskollege statt des
Schädigers den ArbG wegen seines Sachschadens mit Erfolg auf Ersatz in Anspruch
nimmt.
•
Erleidet der Arbeitskollege einen Sachschaden, z.B. durch die Beschädigung von Arbeitskleidung,
Schuhwerk, Armbanduhr u.Ä., kann der Vermögensschaden des ArbG aus diesem Vorfall darin liegen,
dass er dem Geschädigten nach §§ 280 I, 278 BGB (denn der schädigende AN ist im Verhältnis zum
geschädigten AN ein Erfüllungsgehilfe des ArbG in Ansehung der Nebenpflicht des ArbG aus dem Arbeitsvertrag mit dem geschädigten AN, diesen davor zu schützen, im Betrieb durch Unachtsamkeit von
Kollegen Schaden zu erleiden), aber auch nach § 831 BGB wegen Aufsichtsverschuldens über seinen
Verrichtungsgehilfen (siehe vorstehend unter 2. a) und ggf. analog § 670 BGB Ersatz leisten muss (siehe oben § 16 III. 2. sowie unten § 27 III. 1.).
•
Erleidet ein AN bei der Verrichtung seiner Arbeit durch Fehlverhalten eines Arbeitskollegen einen
Körperschaden, entsteht dem ArbG kraft Gesetzes ein Vermögensschaden, weil er dem erkrankten AN
Entgeltfortzahlung leisten muss; dabei ist aber die Erstattung zu berücksichtigen, die ein ArbG, der
nicht mehr als 30 AN beschäftigt, nach § 1 I AAG erhält (oben § 22 IV.). Im Übrigen kann dem ArbG
ein Schaden durch den Ausfall der Arbeitskraft des Verletzten bzw. entsprechende Abhilfemaßnahmen
(Beschäftigung einer Ersatzkraft) entstehen.
Wegen des dem ArbG aus diesen Gründen entstehenden Schadens kann er den AN nach §
280 I BGB in Regress nehmen.
c) Vorschau auf den innerbetrieblichen Schadensausgleich (nachfolgend § 27): zu vorstehend 3. a) Der Anspruch des geschädigten Arbeitskollegen wegen seines Sachschadens
gegen den AN besteht uneingeschränkt, doch kann der AN in analoger Anwendung des §
670 BGB von seinem ArbG Freistellung von der Haftung in dem Umfang verlangen, wie
dieser analog § 254 BGB den Schaden im Ergebnis (mit)tragen muss.─ zu vorstehend 3.
b) Nimmt der geschädigte Arbeitskollege statt des AN den ArbG auf Schadensersatz in
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Anspruch, kann der ArbG von seinem AN Regress nur in dem Umfang verlangen, wie der
ArbG den Schaden analog § 254 BGB nicht (mit)tragen muss. Das gilt auch für den Arbeitsausfall-Schaden des ArbG.
.
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§ 27 Die Beschränkung der Haftung des Arbeitnehmers für Schäden bei
betrieblich veranlasster Tätigkeit
(Zum Begriff der betrieblich veranlassten Tätigkeit siehe schon oben § 26 I. 2.)
I. Die Haftungserleichterungen für den AN bei Schädigung des ArbG
1. Erleidet der ArbG durch schuldhaftes Verhalten des AN unmittelbar einen Personenschaden als Arbeitsunfall, tritt an die Stelle der Haftung des schadenstiftenden AN die
Sonderregelung des § 105 SGB VII (unten VI. 2.).
Das gilt nach § 105 II SGB VII ausdrücklich für den Fall, dass der ArbG nicht selbst unfallversichert ist. Die
h.M. wendet § 105 I SGB VII aber auch auf den Fall an, dass der ArbG nach § 2 I Nr. 5 bis 7, 9 SGB VII, § 3
SGB VII oder § 6 SGB VII versichert ist (vgl. HWK/Giesen, § 105 SGB VII Rn. 8/9).
2. Erleidet der ArbG durch schuldhaftes Verhalten des AN in den oben § 26 III. 1. bis 3.
aufgezeigten Situationen unmittelbar einen Sachschaden oder unmittelbar wie mittelbar
einen sonstigen Vermögensschaden in Gestalt finanzieller Einbußen und könnte er den
AN deswegen auf Schadensersatz aus § 280 I BGB und ggf. auch aus § 823 I/II BGB in
Anspruch nehmen, haftet der AN ihm aber nur unter Beachtung der nachstehend beschriebenen Beschränkungen.
a) Die Beweislastregel des § 619a BGB
Abweichend von der dem Schuldner hinsichtlich des Vertretenmüssens nachteiligen Beweislastumkehrregelung des § 280 I 2 BGB, die für die Mehrzahl der Schuldverträge sinnvoll ist, trägt in Fällen der Haftung des AN für den aus der Verletzung einer Pflicht aus
dem Arbeitsverhältnis entstehenden Schaden nach § 619a BGB der ArbG als Gläubiger die
Beweislast dafür, dass der AN die Pflichtverletzung zu vertreten hat. Es gilt also wieder der
prozessuale Regelfall, wie er auch für Ansprüche aus § 823 BGB maßgebend ist, nämlich
dass den Anspruchsteller die Darlegungs- und Beweislast für alle anspruchsbegründenden
Tatsachen trifft. Im Fall eines Schadensersatzanspruchs aus § 280 I 1 BGB muss der ArbG
(entgegen §280 I 2 BGB) also nicht nur die Tatsache der Pflichtverletzung, der Schadensentstehung und des Ursachenzusammenhangs zwischen beidem darlegen und beweisen, sondern auch das Verschulden des AN. Dadurch soll verhindert werden, dass der
ArbG sein Betriebsrisiko über die Beweislastumkehr des § 280 I 2 BGB auf den AN abwälzen kann.
b) Der innerbetriebliche Schadensausgleich analog § 254 BGB
Kommt unter Berücksichtigung der Beweislastregel des § 619a BGB (vorstehend unter a)
eine Schadensersatzpflicht des AN wegen schuldhafter Pflichtverletzung in Betracht, ist
nunmehr die von der Rechtsprechung zum Schutz des AN vor finanzieller Überforderung entwickelten Doktrin vom innerbetrieblichen Schadensausgleich anwendbar.
Über die im Einzelfall mögliche Mitverantwortung des ArbG für den entstandenen Schaden auf Grund konkreter Organisationsmängel hinaus, die ihn in unmittelbarer Anwendung
des § 254 BGB trifft (nachstehend unter c), rechnet ihm die Rechtsprechung generell in
entsprechender Anwendung des § 254 BGB den Umstand, dass er mit der Eröffnung des
Betriebs die Arbeitsbedingungen seiner AN geschaffen hat und beherrscht, als hinreichenden Grund dafür zu, durch betrieblich veranlasste Tätigkeiten seiner AN herbeigeführte
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Schäden in angemessenem Umfang mittragen zu müssen (Sphärengedanke). Man spricht
von der mit der Ausübung von Leitungsmacht verbundenen Verantwortung des ArbG
für die tätigkeitsspezifischen Gefahren, denen seine AN ausgesetzt sind, als einem Aspekt
des Betriebsrisikos, das der ArbG trägt (oben § 1 III. 4.). Die daraus abgeleitete Verantwortlichkeit des ArbG wird auch durch die Erkenntnis unterstützt, dass es dem AN wegen
der regelmäßig fehlenden Äquivalenz von Arbeitsentgelt und Risiko nicht zugemutet werden kann, durch jeden Fehler seine wirtschaftliche Existenz zu gefährden, zumal der ArbG
die im Durchschnitt zu erwartenden Schadensfälle kalkulatorisch erfassen und in seine
Preise einrechnen sowie versichern kann. Aus diesem Grunde kommen dem AN, der einen
Schaden in Ausübung der ihm obliegenden Arbeit verursacht hat, erhebliche Haftungserleichterungen zugute. Nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs trifft den AN
•
keine Haftung bei leichtester Fahrlässigkeit („Das kann jedem mal passieren“);
•
eine anteilige Haftung bei mittlerer (= leichter) Fahrlässigkeit. Eine mittlere Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der AN die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ (= objektiver, abstrakter, typisierender Maßstab) außer Acht gelassen hat (so die Legaldefinition des § 276 II BGB), ohne dass ihm ein schwerer Vorwurf zu machen ist („Das sollte
eigentlich nicht passieren“). Das entspricht genau dem Begriff der leichten Fahrlässigkeit nach dem BGB. Hierbei ist nach der Rechtsprechung des BAG der Haftungsanteil
des AN unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu bestimmen und liegt
nach der Rechtsprechung in den meisten Fällen deutlich unter 50 % des Schadens.
Maßgebende Kriterien auf Seiten des AN sollen vor allem Art, Schwierigkeit und Gefährlichkeit seiner Tätigkeit sein, die Voraussehbarkeit des Schadenseintritts, die persönlichen und beruflichen Fähigkeiten des AN, seine Berufserfahrung oder seine Unerfahrenheit, seine Stellung im Betrieb, ferner die
Schadenshöhe und die Einkommenslage des AN. Auf Seiten des ArbG spielen die Möglichkeiten einer
vorsorglichen Verhinderung oder Begrenzung des Schadens eine Rolle; hierher kann auch der Abschluss
einer Kasko- oder Schadensversicherung durch den ArbG gehören (nachfolgend unter V.).
Es ist nicht zu verkennen, dass eine auf solche Umstände gestützte Abwägung zu Rechtsunsicherheit
führt. Dennoch hat sich das BAG bisher nicht zu einer generellen Beschränkung der Haftung des AN auf
einen Höchstbetrag durchringen können. Eine Haftungshöchstgrenze von drei Monatsgehältern
(brutto) sollte das Äußerste sein. Im Grunde genommen darf der AN nicht viel mehr als einen fühlbaren
„Denkzettel“ erhalten.
•
eine geminderte Haftung bei grober Fahrlässigkeit („Das darf nicht passieren“) unter der Voraussetzung eines erheblichen Missverhältnisses zwischen Verdienst und
Schaden;
so z.B. in Höhe der Hälfte des über rund 110.000 DM entstandenen Eigenschadens des ArbG an seinem
Omnibus, mit dem der AN als Fahrer grob fahrlässig bei Rot in den Kreuzungsbereich eingefahren war
(BAG v. 12.10.1989 - 8 AZR 276/88 - in NZA 1990, 97); so z.B. in Höhe von 10.000 DM zur Abgeltung
eines Eigenschadens des ArbG von rund 75.000 DM an seinem auf dem Flughafengelände eingesetzten
Enteisungsfahrzeug, den der AN als Fahrer während der Frühschicht im Winter bei einem Blutalkoholgehalt von 1,4 Promille infolge kurzzeitigen Einnickens verursacht hat (BAG v. 23.1.1997 - 8 AZR
893/95 - in NZA 1998, 140); so z.B. in Höhe eines Jahresbruttogehalts von 3.840 € zu Abgeltung eines
Schadens von 30.500 €, den eine Reinigungskraft grob fahrlässig verursacht hat (BAG v. 28.10.2010 - 8
AZR 418/09 - in NZA 2011, 345).
•
volle Haftung bei gröbster (= besonders grober) Fahrlässigkeit und bei Vorsatz.
In diesen Fällen ist zu beachten, dass sich das Verschulden des AN
sonstigen Privatrecht auf den eingetretenen Schaden beziehen muss.
anders als im
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Wird ein mit dem Abladen von Waren beschäftigter AN angewiesen, den Gabelstapler hierfür nicht zu benutzen (nämlich weil er mit ihm noch nicht vertraut ist) und benutzt er ihn dennoch mit der Folge, dass er mit
ihm das Tor der Lagerhalle beschädigt, haftet er nur dann wegen vorsätzlicher Schädigung des ArbG, wenn er
diesen Schaden herbeiführen wollte oder ihn als möglich vorausgesehen und billigend in Kauf genommen
hat. Hat der AN sich über das ihm erteilte Benutzungsverbot zwar vorsätzlich hinweggesetzt, den Schaden
selbst aber nur grob fahrlässig herbeigeführt, weil er unüberlegt annahm, mit den beiden hochgefahrenen Gabeln unter dem nicht vollständig geöffneten Rolltor ohne weiteres hindurch zu kommen, hat er den ArbG
nicht vorsätzlich, sondern lediglich grob fahrlässig geschädigt, so dass die Haftung des AN gemindert werden
kann (BAG v. 18.4.2002 - 8 AZR 348/01 - in ZIP 2002, 1909: „Ein vorsätzlicher Pflichtenverstoß führt nur
dann zur vollen Haftung des Arbeitnehmers, wenn auch der Schaden vom Vorsatz erfasst ist“).
c) Die Mitverantwortung des ArbG in unmittelbarer Anwendung des § 254 BGB
Nach § 254 BGB darf ein Geschädigter nicht den vollen Schadensersatz verlangen, soweit
er den Schaden in zurechenbarer Weise selbst mit ausgelöst hat. Dabei handelt es sich nicht
um eine arbeitsrechtliche Besonderheit, sondern um eine allgemeine Regel des Schadensersatzrechts. Ihre Anwendung kann dazu führen, dass die schon nach den Regeln des innerbetrieblichen Schadensausgleichs analog § 254 BGB geminderte Haftung des AN noch ein
weiteres Mal eine Minderung erfährt oder gar gänzlich entfällt.
Das „Mitverschulden“ des Geschädigten ist untechnisch zu verstehen, nämlich im Sinne eines Verstoßes
gegen das wohlverstandene Eigeninteresse, selbst so wenig wie möglich Schaden zu erleiden. Man spricht
auch von einem „Verschulden gegen sich selbst“. Nach § 254 I BGB ist darum bei der Ermittlung des Mitverschuldens des Geschädigten in erster Linie auf seinen Anteil an der Verursachung des eingetretenen Schadens abzustellen und zu fragen, in welchem Maße er den Schaden im Vergleich zum Schädiger wahrscheinlicher gemacht hat. Erst in zweiter Linie kommt es dann auf den Grad des beiderseitigen Verschuldens an.
Im Arbeitsrecht führen vor allem konkrete Organisationsmängel im Betrieb zu einer
Minderung, in Extremfällen sogar zu einem Erlöschen der AN-Haftung. Hierbei muss sich
der ArbG nach §§ 254 II 2, 278 BGB auch ein Verschulden einer für ihn tätigen Aufsichtsperson als Mitverschulden anrechnen lassen.
Beispiele eines konkreten Organisationsverschulden des ArbG sind fehlerhafte Arbeitszuweisung, Überforderung des AN, mangelhafter Arbeitsschutz, fehlende oder nachlässige Weisungen und Kontrollen sowie das
Unterlassen möglicher und zumutbarer Versicherungen. Der Abschluss einer Versicherung ist vor allem in
den Fällen geboten, in denen Schäden wegen der Art der Tätigkeit besonders häufig auftreten oder eine beträchtliche Größenordnung erreichen können. Haftet eine Flugbegleiterin, die bei einem Flug in die USA
keinen Reisepass mit sich führt, wegen der ihren ArbG deswegen treffenden Einreisestrafe diesem im Regresswege bei mittlerer Fahrlässigkeit nur in Höhe der Hälfte der Geldbuße, kommt es zu einer weiteren
Minderung ihrer Haftung, wenn der ArbG keine Kontrolle zur Überprüfung der Einreisedokumente seines
Personals vor Flugantritt vorgenommen hat (BAG v. 16.2.1995 – 8 AZR 493/93 – in NZA 1995, 565).
II. Die Haftungserleichterungen für den AN bei Schädigung eines Außenstehenden
1. Erleidet ein Außenstehender durch schuldhaftes Verhalten des AN einen Sachschaden oder einen Personenschaden (anders als bei Schädigung des ArbG oben unter I.
1. oder eines Arbeitskollegen
nachfolgend unter III.
ist der Personenschaden des
Außenstehenden nicht durch die Berufsgenossenschaft versichert!) und nimmt er deswegen statt des ArbG den AN aus § 823 I/II BGB (unter Berücksichtigung etwaiger Schadensminderung wegen konkreten Mitverschuldens des Geschädigten gemäß 254 BGB) auf
Schadensersatz in Anspruch, kann der schädigende AN in Höhe des Betrages, der ihn
nach den vorstehend beschriebenen Grundsätzen zum innerbetrieblichen Schadensausgleich analog § 254 BGB nicht treffen soll, von seinem ArbG analog § 670 BGB Freistellung von der Haftung verlangen.
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Über seinen Wortlaut hinaus wird § 670 BGB als Ausdruck der Erkenntnis begriffen, dass derjenige, der
zum eigenen Nutzen einen anderen Tätigkeiten ausüben lässt, auch für die damit verbundenen Risiken und
dabei entstehenden Schäden in angemessenem Umfang einstehen muss. Die dem AN als gleichsam Beauftragtem aus der Verrichtung seiner Tätigkeit erwachsende Schadensersatzpflicht gegenüber dem Außenstehenden wird im übertragenen Sinn als eine unter Umständen ganz oder teilweise erforderliche Aufwendung
zum Zweck der Ausführung des Auftrags angesehen, die der ArbG als gleichsam Auftraggeber zu ersetzen
hat. Um zu verhindern, dass den AN mangels Drittwirkung des innerbetrieblichen Schadensausgleichs das
Risiko uneingeschränkter Außenhaftung trifft, kann er von seinem ArbG analog § 670 BGB die Befreiung
von der Verbindlichkeit gegenüber dem Außenstehenden in Höhe des Verantwortungsbeitrags des
ArbG verlangen.
Der Freistellungsanspruch ist allerdings nichts wert, wenn der ArbG insolvent ist. Hier kann dem AN nur
eine eigene Haftpflichtversicherung helfen. Entstand die Forderung aus einer Beschädigung von Sachen, die
dem Außenstehenden aufgrund der Vereinbarung eines Eigentumsvorbehalts, einer Sicherungsübereignung
oder eines Leasinggeschäfts mit dem ArbG gehören, könnte die Haftung den AN auch dem Außenstehenden
gegenüber nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleich dadurch begrenzt sein, dass der
fraglichen Vereinbarung eine zumindest stillschweigend „Haftungsbeschränkung zu Gunsten Dritter“, nämlich des AN, der die Gerätschaften ja typischerweise bedient, entnommen werden kann.
2. Nimmt der Außenstehende den ArbG nach §§ 280 I, 278 BGB oder § 831 BGB (unter
Berücksichtigung etwaiger Schadensminderung wegen konkreten Mitverschuldens des Geschädigten gemäß § 254 BGB) mit Erfolg in Anspruch, kann der ArbG vom AN im
Wege des Regresses nach § 280 I BGB nicht mehr verlangen, als dieser ihm nach den
Grundsätzen über den innerbetrieblichen Schadensausgleich schulden würde, wenn er unmittelbar den ArbG auf diese Weise verletzt hätte (oben I. 2.).
III. Die Haftungserleichterungen für den AN bei Schädigung von Arbeitskollegen
1. Sachschaden
Erleidet ein/e Arbeitskollege/in durch schuldhaftes Verhalten des AN einen Sachschaden z.B. durch Beschädigung der Arbeitskleidung, und nimmt der/die Geschädigte
deswegen den AN aus § 823 I BGB (unter Berücksichtigung etwaiger Schadensminderung
wegen konkreten Mitverschuldens des/der Geschädigten gemäß § 254 BGB) auf Schadensersatz in Anspruch, kann der Schädiger in Höhe des Betrages, der ihn nach den vorstehend beschriebenen Grundsätzen zum innerbebetrieblichen Schadensausgleich analog §
254 BGB nicht treffen soll, von seinem ArbG analog § 670 BGB Freistellung von der
Haftung verlangen. Zur Anwendbarkeit dieser Vorschriften siehe vorstehend unter II.
Nimmt der/die geschädigte Arbeitskollege/in den ArbG auf der Grundlage von §§ 280 I,
278 BGB oder von § 831 BGB, ggf. analog § 670 BGB (unter Berücksichtigung etwaiger
Schadensminderung wegen eigenen konkreten Mitverschuldens gemäß § 254 BGB) mit
Erfolg in Anspruch, kann der ArbG vom Schädiger im Wege des Regresses nach § 280
I BGB nicht mehr verlangen, als dieser ihm schulden würde, wenn er unmittelbar den
ArbG auf diese Weise verletzt hätte (oben II.).
2. Personenschaden
Verletzt ein im Betrieb tätiger AN durch eine betriebliche Tätigkeit Leben oder Gesundheit eines/r Arbeitskollegen/in (oder weiterer nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII versicherter
Personen), so liegt ein Arbeitsunfall i.S.v. § 8 I SGB VII vor, der zur Anwendung des §
105 I SGB VII führt; dies allerdings mit der Einschränkung, dass der Versicherungsfall
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nicht vorsätzlich oder auf einem nach § 8 II Nr. 1 bis 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt worden ist.
Hinweis: Zu dem von § 105 I SGB VII als Geschädigter betroffenen Personenkreis gehört auch der ArbG
(vorstehend unter I. 1.).
Das bedeutet im Einzelnen:
a) § 105 I SGB VII ist keine Anspruchsgrundlage, sondern eine Vorschrift, die bestimmt,
•
dass die als Folge des Arbeitsunfalls mögliche Haftung des schädigenden AN „nach
anderen gesetzlichen Vorschriften“ gegenüber dem Verletzten, seinen Angehörigen und
Hinterbliebenen, vor allem nach § 823 I/II BGB,
•
und infolgedessen auch die damit verbundene Verpflichtung des ArbG zur Freistellung des haftenden AN analog § 670 BGB nach Maßgabe der Regeln des innerbetrieblichen Schadensausgleichs
•
sowie die neben dem schädigenden AN mögliche Haftung des ArbG für das Verhalten seines AN als Erfüllungsgehilfen nach §§ 280 I, 278 BGB und als Verrichtungsgehilfen nach § 831 BGB
(vgl. oben § 26 III. 3.)
dadurch ersetzt wird, dass ausschließlich der Unfallversicherer, ─ im Regelfall die jeweilige Berufsgenossenschaft, der der ArbG seine Pflichtbeiträge leistet ─ für die Ausgleichung des Unfallschadens eintritt.
So wie die gesetzliche Unfallversicherung nach § 104 SGB VII den ArbG, der seinem AN
Personenschaden zufügt, vor einer Inanspruchnahme durch den Verletzten (und dessen
Angehörige oder Hinterbliebene) schützt (dazu oben § 16 VI. 1.), sind auch seine AN, die
(dem ArbG oder) Arbeitskollegen/innen Personenschaden zufügen, nach § 105 SGB VII
von einer Haftung gegenüber dem Verletzten befreit und infolgedessen auch der ArbG
nicht mittelbar durch eine Verpflichtung zur Freistellung seines AN oder eine Nebenhaftung gegenüber dem Verletzten belastet. Damit ist die gesetzliche Unfallversicherung nicht
nur für den zu ihrem Abschluss gesetzlich verpflichteten ArbG, sondern auch für seine AN
eine besondere Art der Haftpflichtversicherung. Es ist allerdings zu beachten, dass der
Unfallversicherer nach § 110 SGB IV bei dem ArbG oder dem Arbeitskollegen Rückgriff
nehmen kann, wenn diese den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt haben.
Obwohl der Leistungskatalog der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 26 SGB VII
nicht auch die Zahlung eines Schmerzensgeldes und eines etwaigen Verdienstausfalls
vorsieht, ist diese Haftungsersetzung zwingend: Der Schädiger und sein ArbG können also
noch nicht einmal wegen dieser vom Unfallversicherer nicht gezahlten „Schadensspitzen“
in Anspruch genommen werden. Der hierin liegende Nachteil wird durch die Vorteile ausgeglichen, die diese Unfallversicherung bietet: Der Träger der Unfallversicherung ist nämlich im Gegensatz zum schädigenden AN stets solvent, leistet nach rein objektiven Kriterien ohne Rücksicht auf ein etwaiges Mitverschulden des Verletzten und auch bei Schuldlosigkeit des Schädigers. Außerdem führt die Haftungsablösung dazu, dass der Betriebs-
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frieden nicht durch die klageweise Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen von
AN untereinander oder im Verhältnis zwischen ArbG und AN gestört wird.
b) Schädiger und Verletzter müssen nicht AN desselben ArbG sein. Schädiger oder
Verletzter können auch AN eines anderen ArbG sein, wenn sie nur bei der Schadensverursachung gerade in dem Betrieb tätig sind, in dem der Arbeitsunfall durch eine betriebliche
Tätigkeit herbeigeführt wurde, z.B. durch Mithilfe beim Abladen angelieferter und dem
Aufladen abzuholender Waren.
c) § 105 I 1 SGB VII bestimmt in seinem letzten Satzteil zum einen, dass der im Zusammenhang mit dem Aufsuchen oder Verlassen des Betriebes außerhalb des Betriebes
stattfindende Wegeunfall (§ 8 II Nr. 1 bis 4 SGB VII) bereits zum allgemeinen Straßenverkehr zählt und darum keine Haftungsersetzung bewirkt: Nach § 8 II Nr. 1 bis 4 SGB
VII besteht zwar ein Anspruch des Verletzten auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, zugleich stehen ihm aber auch Ansprüche auf Schadensersatz gegen den
Schädiger nach anderen gesetzlichen Vorschriften zu, insbesondere nach BGB und StVG
(unter Berücksichtigung der Kfz-Haftpflichtversicherung). Diese Haftung ist allerdings
gemäß §§ 105 I 3, 104 III SGB VII gemindert um die Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, so dass sie nur auf das Schmerzensgeld und den Ersatz von etwaigem
Verdienstausfall gehen wird. War der Weg außerhalb des Betriebes allerdings betrieblich
bedingt, d.h. durch Anordnung des ArbG zur dienstlichen Aufgabe erklärt worden, wie etwa Botengänge, Montageeinsätze bei Kunden, Lieferfahrten oder Dienst- und Geschäftsreisen, unterfällt der auf dem Wege erlittene Unfall als Arbeitsunfall auch dem § 105 I
SGB VII.
§ 105 I 1 SGB VII bestimmt in seinem letzten Satzteil zum anderen, dass auch für den
vom AN vorsätzlich herbeigeführten Arbeitsunfall keine Haftungsersetzung gilt. Auch
in diesem Fall besteht zwar ein Anspruch des Verletzten auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, zugleich stehen ihm aber auch Ansprüche auf Schadensersatz gegen den Schädiger nach anderen gesetzlichen Vorschriften zu.
IV. Der Abschluss einer freiwilligen Versicherung durch den ArbG?
Für den ArbG besteht die Möglichkeit, einen Schaden an Betriebsmitteln durch eine Sachversicherung sowie Personen- und Sachschäden Dritter durch eine Betriebshaftpflichtversicherung abzusichern. Auswirkungen auf den Haftungsumfang des AN hat eine solche
Versicherung aber nur dann, wenn der AN von dem Versicherer nicht in Regress genommen werden kann!
Eine Verpflichtung des ArbG zum Abschluss einer die Haftung des AN beschränkenden
Kasko- oder Sachversicherung kann sich nach Auffassung des BAG (Urteil v. 24.11.1987 8 AZR 66/82 - in NZA 1988, 584) nur aus dem Arbeitsvertrag, einer Betriebsvereinbarung
oder einem Tarifvertrag ergeben. Ist dem AN allerdings die ihn aufgrund innerbetrieblichen
Schadensausgleichs bei mittlerer Fahrlässigkeit treffende anteilige Haftung für den am Kfz
des ArbG herbeigeführten Schaden nicht in voller Höhe zuzumuten, soll es nach dieser
Rechtsprechung „bei Abwägung aller für den Haftungsumfang maßgebenden Umstände“
zu einer weiteren Ermäßigung u.U. bis auf den Betrag kommen können, der bei Abschluss
einer Vollkaskoversicherung als Selbstbeteiligung zu vereinbaren gewesen wäre (BAG
a.a.O.).
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Die Rechtsprechung lehnt es jedoch ab, im Unterlassen des ArbG, zur Entlastung seines
AN von der Haftung für Schäden an einem betrieblich eingesetzten Kfz des ArbG eine
Vollkaskoversicherung abzuschließen, ein Mitverschulden des ArbG unmittelbar nach §
254 BGB zu sehen.
V. Der Sonderfall der Mankohaftung
Die Grundsätze über die Beschränkung der AN-Haftung gelten auch, wenn der AN wegen
einer Fehlmenge oder eines Fehlbetrages eines von ihm verwalteten Waren- oder Kassenbestandes in Anspruch genommen wird.
Einerlei, ob es sich um einen vom AN ausschließlich allein beherrschbaren Bereich handelt
oder der verwaltende AN keinen alleinigen Zugang zu den Gegenständen seiner Verwaltung hat, treffen ArbG und AN zur Regelung der Haftung für Fehlbestände häufig eine besondere Mankoabrede. So ist es z.B. zulässig zu vereinbaren, dass der AN für den innerhalb eines Jahres auftretenden Fehlbestand bis zur Höhe eines ihm für das Jahr zusätzlich
zu seiner Vergütung gewährten Mankogeldes ohne Verschuldensnachweis haftet. Da dem
AN das nicht verbrauchte Mankogeld als zusätzliche Vergütung verbleibt, besteht für ihn
der Anreiz zu besonderer Sorgfalt. Eine das Mankogeld überschreitende Haftung des AN
kommt nur dann in Betracht, wenn ihm mindestens grobe Fahrlässigkeit nachzuweisen ist.
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§ 28 Die Beendigung des Arbeitverhältnisses
I. Vorbemerkung
Während der Kaufvertrag auf einen im Regelfall einmaligen Leistungsaustausch gerichtet ist und normalerweise durch die Erfüllung der gegenseitigen Leistungspflichten
ohne weiteres sein Ende findet, begründet der Arbeitsvertrag ein Dauerschuldverhältnis, dessen Beendigung durch einen ausdrücklichen rechtsgeschäftlichen Akt herbeigeführt werden muss. Als Instrumente hierfür stellt das Gesetz zum einen vertragliche
Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung, nämlich die Vereinbarung eines befristeten
oder auflösend bedingten Vertrages oder den Abschluss eines Vertrages zur Aufhebung
des Dauerschuldverhältnisses (Aufhebungsvertrag). Zum anderen gibt es als einseitige
Lösungsmöglichkeit die Kündigung und den allgemeinen Rechtsbehelf der Anfechtung.
Aus dem Schutzbedürfnis des AN (oben § 1 III.) folgt, dass die Anwendung dieser
Werkzeuge seinem Interesse an der Erhaltung des Arbeitsplatzes soweit wie möglich
Rechnung tragen muss. Das gilt vor allem für die einseitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Wege arbeitgeberseitiger Kündigung und den arbeitsvertraglichen Beendigungstatbestand in Gestalt eines befristeten oder auflösend bedingten Arbeitsverhältnisses.
II. Die einvernehmliche Beendigung bei Vereinbarung eines befristeten oder auflösend bedingten Arbeitsvertrages
Zu einer einvernehmlichen Beendigung kann es dadurch kommen, dass ArbG und AN
meist schon bei Abschluss des Arbeitsvertrages die Dauer des Arbeitsverhältnisses
nach § 620 III BGB unter Beachtung der §§ 14 ff. TzBfG durch Vereinbarung einer
Befristung begrenzen. Das Gesetz stellt als mögliche Gestaltungsformen die Sachgrundbefristung und die sachgrundlose Befristung zur Verfügung. Vor einem die ANInteressen vernachlässigenden Einsatz der Sachgrundbefristung schützen die von
Rechtslehre und Rechtsprechung entwickelten Anforderungen an das Vorliegen eines
tragfähigen Sachgrundes. Bei der sachgrundlosen Befristung folgt der Schutz des AN
hauptsächlich aus dem gesetzlichen Erfordernis, zur Vermeidung einer unwirksamen
Befristung bestimmte Formalien und Verfahrensweisen einzuhalten. Die damit zusammenhängenden Rechtsfragen sind bereits oben unter § 13 behandelt.
Nach § 21 TzBfG ist die Vereinbarung einer den Arbeitsvertrag beendenden auflösenden Bedingung
nur entsprechend § 14 I TzBfG mit einem den Bedingungseintritt kennzeichnenden Sachgrund zulässig.
III. Die einvernehmliche Beendigung durch Aufhebungsvertrag
Viele Arbeitsverhältnisse werden einvernehmlich im Wege eines Aufhebungsvertrages beendet, etwa zur Vermeidung einer Kündigung durch den ArbG oder durch gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleich (§ 779 BGB) bei vorangegangener Kündigung, über deren Wirksamkeit gestritten wurde. Zu einem Aufhebungsvertrag kommt
es ferner, mal auf Wunsch des AN, mal auf Wunsch des ArbG, in diesem Fall dann mit
einer Abfindung verbunden, um den Arbeitsvertrag mit einem unkündbaren oder nur
langfristig kündbaren AN zu beenden.
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Nach § 623 BGB (der von einem „Auflösungsvertrag“ spricht) ist Wirksamkeitsvoraussetzung die Einhaltung der Schriftform des § 126 BGB unter Ausschluss der elektronischen Form. Trotz Erfüllung dieses Erfordernisses versucht der AN gelegentlich, den
Aufhebungsvertrag wieder in Frage zu stellen mit der Begründung, er sei bei Vertragsschluss unter Druck gesetzt worden.
Über den Weg einer Inhaltskontrolle des Aufhebungsvertrages nach Maßgabe der
AGB-rechtlichen Grundsätze der §§ 305 ff. BGB hat der AN allerdings keinen Erfolg,
da die getroffene Vereinbarung regelmäßig individuell ausgehandelt wurde.
Außerdem sind nach § 307 III 1 BGB kontrollfähig nur die Nebenabreden, nicht aber die Beschreibung
und Leistung und Gegenleistung, vor allem nicht die Aufhebung des Arbeitsvertrages als solche. Auch
ein Verstoß gegen das Transparenzgebot nach § 307 I 2, III 2 BGB wird nicht in Betracht kommen.
Ein Widerruf des Aufhebungsvertrags nach § 312 I Nr. 1 BGB i.V.m. § 355 BGB
scheitert daran, dass sich diese Bestimmungen nur auf „besondere Vertriebsformen“
beziehen und der Betrieb der für den Abschluss derartiger Vereinbarungen typische Ort
ist.
Gelegentlich enthalten Tarifverträge die (wirksame) Klausel, wonach Aufhebungsverträge innerhalb einer bestimmten Bedenkzeit widerrufen werden können.
Eine Anfechtung des Aufhebungsvertrages wegen arbeitgeberseitiger Täuschung oder
Drohung gemäß § 123 I BGB setzt voraus, dass der AN beweisen kann, vom ArbG
hinters Licht geführt oder einer Drohung ausgesetzt worden zu sein. Wird der AN vom
ArbG vor die Alternative gestellt, entweder einen Aufhebungsvertrag zu unterzeichnen
(oder eine Eigenkündigung zu erklären) oder gekündigt zu werden, ggf. auch mit einer
Strafanzeige rechnen zu müssen, liegt ein zur Anfechtung nach § 123 I BGB berechtigende Fehlverhalten des ArbG nur dann vor, wenn ein verständiger ArbG in der konkreten Situation eine Kündigung/eine Strafanzeige nicht ernsthaft in Erwägung gezogen
hätte (BAG v. 30.1.1986 – 2 AZR 196/85 – in NZA 1987, 91;BAG v. 27.11.2003 –
AZR 135/03 – in NZA 2004, 597).
Ein Irrtum des AN über die sozialversicherungsrechtlichen Nachteile des Aufhebungsvertrags oder über seinen kündigungsrechtlichen Bestandsschutz, so z.B. einer
ANin über eine bestehende Schwangerschaft oder über deren mutterschutzrechtliche
Folgen, berechtigt nicht zu einer Anfechtung nach § 119 I oder II BGB (BAG vom
6.2.1992 – 2 AZR 408/91 – in BB 1992, 1286 bezüglich des entsprechenden Falles einer Eigenkündigung). Kommt der Aufhebungsvertrag auf Betreiben des ArbG zustande, fordert die Rechtsprechung von ihm allerdings als Nebenpflicht (§ 241 II BGB), einen erkennbar unwissenden AN über die Rechtslage angemessen aufzuklären, vor allem über Einbußen bei der betrieblichen Altersversorgung und die Nachteile einer
Sperrzeit beim Bezug von Arbeitslosengeld (§§ 144 I 1 Nr. 1, 128 I SGB III). Bei
schuldhafter Verletzung von Aufklärungspflichten haftet der ArbG dem AN auf
Schadensersatz nach § 280 I BGB in Verb. mit §§ 241 II, 311 BGB in Gestalt des finanziellen Ausgleichs entstandener Vermögensnachteile, aber nicht auf Wiedereinstellung.
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IV. Die einseitige Beendigung durch Kündigung seitens des Arbeitgebers
1. Die Kündigungstatbestände im Überblick
Der wichtigste Beendigungstatbestand ist die Kündigung. Sie kann sowohl vom ArbG
als auch vom AN im Wege einseitiger Willenserklärung in Gestalt entweder einer ordentlichen Kündigung oder einer außerordentlichen Kündigung ausgesprochen werden.
Da sich das Arbeitsrecht in erster Linie als AN-Schutzrecht versteht (oben § 1 III.),
geht es hier zunächst einmal nur um Fragen der Wirksamkeit einer (ordentlichen oder
außerordentlichen) Kündigung durch den ArbG. Die Kündigung durch den AN wird
in einem gesonderten Kapitel behandelt (unten § 41).
Das BGB verwendet weder den Begriff der ordentlichen, noch den der außerordentlichen Kündigung. Da
die fristgemäße Kündigung der Normalfall ist, wurde sie aber in der Literatur zum Arbeitsrecht schon
früh als „ordentliche“ Kündigung bezeichnet und im Gegensatz dazu die fristlose Kündigung aus wichtigem Grund die „außerordentliche“ Kündigung genannt. Der Gesetzgeber machte von diesen Bezeichnungen erstmals im KSchG von 1951 und im BetrVG von 1952 Gebrauch.
a) Nach dem in den §§ 622 ff. BGB zum Ausdruck kommenden Rechtsverständnis des
BGB-Gesetzgebers bedarf die ordentliche Kündigung keines besonderen Grundes. Es
ist lediglich erforderlich, dass zwischen dem Ausspruch der Kündigung und der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Kündigungsfrist eingehalten wird. Abgesehen von
der Beachtung der sondergesetzlichen Kündigungsverbote (unten § 29 II.), kann bei einer begründungsfreien Kündigung nur ein minimaler Kündigungsschutz in Betracht
kommen (unten § 34). Auf den größten Teil der Arbeitsverhältnisse ist jedoch der allgemeine Kündigungsschutz des KSchG anwendbar, wonach die ordentliche Kündigung
nur dann zulässig ist, wenn sie aus personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt ist (unten §§ 30 bis 32).
Die Fristenregeln der ordentlichen Kündigung sind beschränkt abdingbar, nämlich für die Vorschriften der Absätze 1 bis 3 des § 622 BGB nach Maßgabe der Absätze 4 bis 6. (nachfolgend unter 4.).
b) Die in § 626 BGB geregelte außerordentliche Kündigung verlangt nicht die Einhaltung einer Kündigungsfrist, sondern beendet das Arbeitsverhältnis sofort (fristlos).
Sie kann allerdings ausnahmsweise mit einer Auslauffrist erklärt werden, doch muss
der Kündigende dann deutlich machen, dass er trotzdem außerordentlich kündigen will.
In jedem Fall aber ist sie davon abhängig, dass ein „wichtiger Grund“ gestützt auf Tatsachen vorliegt, nach denen „dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände
des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses…nicht zugemutet werden kann.“ Abgesehen von den
auch hier geltenden sondergesetzlichen Kündigungsverboten, führt dieser Begründungszwang zu einem spezifischen Kündigungsschutz (unten § 33).
Das Recht zur außerordentlichen Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund ist
beidseitig zwingendes Recht. Durch Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag ist weder
seine Beseitigung noch seine Beschränkung, etwa durch Abhängigmachen von der Zustimmung des Betriebsrates, oder seine Erweiterung, etwa durch Erstreckung auf minder wichtige Gründe, möglich; auch
nicht in der Weise, dass bestimmte Kündigungsgründe abschließend vereinbart werden. In § 314 I BGB
hat die außerordentliche Kündigung ihren Ausdruck als allgemeiner Rechtsgrundsatz gefunden; nach§
314 II BGB auch die Regel, dass ihr eine Abmahnung vorausgehen muss.
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c) Die vom ArbG erklärte Kündigung muss nicht immer ausschließlich auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zielen („Beendigungskündigung“). Sie kann vielmehr auch darauf gerichtet sein, nur bestimmte Arbeitsbedingungen zu ändern („Änderungskündigung“; unten § 35), dadurch dass sie dem
Gekündigten AN die Möglichkeit gibt, das gekündigten Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen
fortzusetzen. Auch die Änderungskündigung kann entweder als ordentliche oder als außerordentliche
Kündigung erklärt werden.
2. Allgemeine rechtsgeschäftliche Wirksamkeitserfordernisse des Kündigung
a) Schriftform
Nach § 623 BGB bedarf die Kündigungserklärung der Schriftform des § 126 I BGB.
Die elektronische Form des § 126a BGB ist ausdrücklich ausgeschlossen; eine Kündigung per Telefax, durch E-Mail oder SMS ist also nicht möglich. Eine ohne Beachtung
dieser Erfordernisse erklärte Kündigung ist nach § 125 S. 1 BGB nichtig.
Die Angabe des Kündigungsgrundes im Kündigungsschreiben ist kein Wirksamkeitserfordernis der
Kündigung. Eine Ausnahme machen § 22 III BBiG und § 9 III 2 MuSchG. Im Übrigen kann ein solcher
Begründungszwang durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag vereinbart werden.
Spätestens im Kündigungsschutzprozess muss der ArbG als Beklagter den von ihm in Anspruch genommenen Kündigungsgrund dann aber darlegen und beweisen. Handelt es sich um eine außerordentliche
Kündigung, hat der Gekündigte nach § 626 II 2 BGB allerdings das Recht, vom Kündigenden schon
vorher zu verlangen, dass er ihm „den Kündigungsgrund unverzüglich schriftlich mitteilt“. Ferner hat im
Fall einer betriebsbedingten ordentlichen Kündigung nach dem KSchG der ArbG nach § 1 III 1 Halbs. 2
KSchG „auf Verlangen des Arbeitnehmers die Gründe anzugeben, die zu der getroffenen sozialen Auswahl geführt haben“. Es führt aber nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, wenn der ArbG in diesen
Fällen keine, unvollständige oder unrichtige Auskünfte gibt. Er kann jedoch dem AN nach § 280 I BGB
in Höhe der Prozesskosten schadensersatzpflichtig werden, die dieser nutzlos aufgewendet hat, weil er
die Erfolgsaussichten seiner Klage nicht einschätzen konnte. Im Fall des § 1 III KSchG ist der klagende
AN bei fehlenden oder unzureichenden Auskünften von der ihn nach dieser Vorschrift treffenden Darlegungs- und Beweislast befreit.
b) Eindeutigkeit
Die Kündigung ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung. Bei Unklarheit darüber, ob eine ordentliche oder außerordentliche Kündigung vorliegt, ist die
Kündigung als ordentliche zu behandeln.
Werden die Wörter „Kündigung“ oder „kündigen“ vom ArbG nicht verwendet, sondern das Arbeitsverhältnis „für beendet erklärt“ oder als „aufgelöst betrachtet“ oder auf ähnliche Weise sein Wille, das Arbeitsverhältnis nicht fortsetzen zu wollen, zum Ausdruck gebracht, handelt es sich trotzdem um eine
Kündigung, wenn der ArbG damit auf eine während des Arbeitsverhältnisses eingetretene Störung reagiert. Führt jedoch eine im Vorfeld des Vertragschlusses verübte Täuschungshandlung des AN dazu, dass
der ArbG ihn einstellt, kann die Beendigungserklärung des ArbG nur eine Anfechtung sein.
c) Zugang
Die Kündigung ist eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung. Die Kündigungserklärung ist also erst wirksam, wenn das die Kündigung enthaltende Schriftstück
dem Gekündigten zugegangen ist. Der sicherste Weg, den Zugang herbeizuführen, ist
die persönliche Übergabe des Kündigungsschreibens im Betrieb unter Zeugen oder
gegen Empfangsbestätigung des Adressaten. Unter Abwesenden, wie im Falle des
Postversandes oder der Einschaltung eines Boten, wird die Kündigung durch Zugang
i.S.d. § 130 BGB wirksam, wenn das Kündigungsschreiben dergestalt in den Machtbereich des Adressaten gelangt ist, dass er von ihm unter den gewöhnlich zu erwartenden
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Umständen Kenntnis nehmen kann. Ob und wann er tatsächlich Kenntnis nimmt, ist unerheblich. Ein Brief, der außerhalb der üblichen Postzustellungszeiten eingeworfen
wird, etwa am Abend, ist erst am nächsten Tag zugegangen.
Ortsabwesenheit, z.B. durch Urlaubsreise oder Krankenhausaufenthalt, hindert den Zugang nicht. Ist
deswegen die Frist für die Erhebung einer Kündigungsschutzklage verstrichen, kann der AN nach § 5
KSchG, der trotz seiner Stellung im KSchG für alle Arten von arbeitgeberseitigen Kündigungen gilt
(vgl. § 13 KSchG), die nachträgliche Zulassung seiner verspäteten Klage beantragen; im Fall des Krankenhausaufenthaltes allerdings nur, wenn eine häusliche Vertretung unmöglich war, weil sonst Verschulden des AN angenommen werden kann; ein fehlender Nachsendeantrag bei urlaubsbedingter Abwesenheit begründet kein Verschulden des AN.
Trifft der Postbote, der das Kündigungsschreiben als Übergabe-Einschreiben (am besten mit Rückschein) abliefern soll, niemand an, geht es erst dann zu, wenn der Empfänger das Schreiben auf Grund
des eingeworfenen Benachrichtigungsscheins bei der Post abholt. Unterlässt der Adressat das Abholen,
kann darin eine Zugangsvereitelung liegen, weswegen er sich analog § 162 I BGB so behandeln lassen
muss, als sei ihm das Schreiben zugegangen. Das gleiche gilt, wenn er Zugangshindernisse schafft oder
tatenlos hinnimmt. Das von der Post neuerdings angebotene Einwurf-Einschreiben geht wie ein normaler Brief zu.
d) Stellvertretung
Die Kündigung kann nach § 164 I BGB durch einen Vertreter des ArbG erklärt werden,
etwa den Prokuristen des ArbG oder den Leiter der Personalabteilung. Handelt auf der
Arbeitgeberseite ein Außenstehender, wie z.B. ein Rechtsanwalt oder Unternehmensberater im Auftrag des ArbG, kann der AN nach § 174 S. 1 BGB die Kündigung unverzüglich zurückweisen, wenn der Kündigung keine ordentliche Vollmachtsurkunde (§
126 I BGB: Originalunterschrift!) beigefügt ist.
e) Allgemeine Nichtigkeitsgründe
Wie jede Willenserklärung kann auch die Kündigung nach § 134 BGB wegen Gesetzesverstoßes, nach § 138 BGB wegen Sittenwidrigkeit und nach § 242 BGB wegen
Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben unwirksam (= nichtig) sein.
Hauptfälle der Nichtigkeit einer Kündigung wegen Gesetzesverstoßes sind Kündigungen unter Verstoß
gegen Vorschriften des sondergesetzlichen Kündigungsschutzes (unten § 29 II.). Zum Verstoß gegen die
Diskriminierungsverbote der §§ 1, 7 AGG (oben § 9) siehe nachfolgend § 29 unter VI.
Zur Nichtigkeit von Kündigungen wegen Sittenwidrigkeit oder Verstoßes gegen den Grundsatz von
Treu und Glauben siehe unten § 34.
3. Die in mitbestimmten Betrieben zur Wirksamkeit der Kündigung erforderliche
Anhörung des Betriebsrates
a) In einem mitbestimmten Betrieb ist nach § 102 I BetrVG der Betriebsrat vor jeder
(arbeitgeberseitigen) Kündigung anzuhören, einerlei, ob es sich um eine ordentliche
oder eine außerordentliche Kündigung handelt. Sinn und Zweck dieser Regelung liegt
darin, den Ausspruch einer unberechtigten oder vermeidbaren Kündigung nach Möglichkeit zu verhindern.
Die Anhörung muss ordnungsgemäß sein. Das erfordert eine umfassende Unterrichtung des Betriebsrates über die Person des AN, die Art der Kündigung, die Kündigungsfrist, den Kündigungstermin und die mit konkreten Tatsachen belegten Gründe,
auf die er die Kündigung stützen will, einschließlich Erklärungen zur Verhältnismäßig-
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keit der Kündigung (unten § 30 II. 3.). Sind dem ArbG weitere Kündigungsgründe bekannt, die er dem AN gegenüber in der Hinterhand behalten möchte, kann er sie im
Kündigungsschutzprozess nur dann „nachschieben“, wenn sie von ihm in das Anhörungsverfahren schon eingebracht worden waren (zum sog. Nachschieben von Kündigungsgründen ausführlich unten § 38).
Geht es um (die für personen- oder verhaltensbedingte Kündigungen nach dem KSchG kennzeichnenden) Pflichtverletzungen des AN, muss der ArbG auch ihm bekannte Umstände, die den AN entlasten,
vortragen. Geht es um die (bei betriebsbedingten Kündigungen nach dem KSchG erforderliche) Sozialauswahl unter mehreren AN, muss der ArbG die Auswahlkriterien für alle AN mit vergleichbarer Tätigkeit konkretisieren. Die Anhörung läuft über den Vorsitzenden des Betriebsrates oder des nach § 28 BetrVG gebildeten Personalausschusses, nicht über beliebige Gremienmitglieder. Die Anhörungsfrist kann
ggf. durch Vereinbarung zwischen ArbG und Betriebsrat verlängert werden. Bei unvollständiger Unterrichtung durch den ArbG trifft den Betriebsrat keine Erkundigungspflicht. Fragt er dennoch nach und erhält er ergänzende Informationen, die kündigungsrelevant sind, läuft die Äußerungsfrist des § 102 II BetrVG von neuem (Däubler/Kittner/Bachner, BetrVG § 102 Rn 157).
b) Eine ohne oder ohne ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrates ausgesprochene Kündigung ist nach § 102 I 3 BetrVG unwirksam. Eine nachträgliche Anhörung ist nicht ordnungsgemäß und heilt den Mangel nicht. Eine erneute ordentliche
Kündigung aus demselben Grund ist erst nach ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrates möglich, eine erneute außerordentliche Kündigung aus demselben Grund
wird an § 626 II 1 BGB scheitern.
Praxishinweis: Die Ordnungsgemäßheit der Anhörung zu bestreiten, ist eine oft erfolgreiche Einwendung des den AN vertretenden Rechtsanwalts gegen die Kündigung des ArbG, so wie umgekehrt der
Anwalt des ArbG gerne die Ordnungsgemäßheit des Widerspruchs des Betriebrates angreift (unten § 37
II.).
Ein Mangel des Anhörungsverfahrens, der im Verantwortungsbereich des Betriebsrates
liegt, z.B. schlechte Amtsführung oder fehlerhafte Beschlussfassung, führt auch dann
nicht zu einer Unwirksamkeit der Kündigung, wenn der ArbG den Mangel kannte. Der
Betriebsrat soll nicht dadurch, dass er Fehler begeht, eine arbeitgeberseitige Kündigung
unwirksam machen können.
c) Der Betriebsrat kann innerhalb der Äußerungsfristen des § 102 II schweigen gegenüber einer ordentlichen Kündigung gilt das nach Ablauf der Äußerungsfrist als Zustimmung, in Ansehung einer außerordentlichen Kündigung einfach als unterlassene Stellungnahme oder der Kündigung ausdrücklich
zustimmen. Andererseits kann er aus beliebigen Gründen Bedenken erheben, insbesondere den Kündigungsgrund angreifen.
Aber: Einer vom ArbG beabsichtigten ordentlichen Kündigung kann der Betriebsrat stattdessen aus
den besonderen Gründen des § 102 III Nr. 1 bis 5 BetrVG „widersprechen“. Die Widerspruchsgründe zielen auf die Sozialwidrigkeit der Kündigung nach Maßgabe des KSchG. Das setzt anders als die
vorstehend unter a) und b) behandelte Anhörungsverpflichtung des ArbG nach § 102 I BetrVG und das
Recht des Betriebsrates zur Stellungnahme nach § 102 II BetrVG
die gleichzeitige Geltung des
KSchG voraus, von der bei Existenz eines Betriebsrates allerdings ausgegangen werden kann, weil es
wohl kaum einen mitbestimmten Betrieb mit weniger als elf vollzeitbeschäftigten AN (§ 23 I KSchG)
gibt. Die besondere Bedeutung des Widerspruchs liegt darin, dass er den betriebsverfassungsrechtlichen Weiterbeschäftigungsanspruch des AN nach Maßgabe des § 102 V BetrVG auszulösen vermag
(unten § 37 II.).
d) § 102 BetrVG beschränkt den ArbG nicht in seiner Kündigungsfreiheit. Einerlei, ob und wie der vom ArbG angehörte Betriebsrat zu der beabsichtigten Kündigung
Stellung genommen hat, ist der ArbG nach Ablauf der Äußerungsfrist darin frei, sich
nun für oder gegen eine Kündigung zu entscheiden. § 102 IV BetrVG macht deutlich,
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dass selbst ein Widerspruch des Betriebsrates gegen die Kündigung ihren Ausspruch
nicht hindert.
Die Kündigungsfreiheit des ArbG kann durch eine Vereinbarung mit dem Betriebsrat
nach Maßgabe des § 102 VI BetrVG beschränkt werden.
Kündigt der ArbG, obwohl der Betriebsrat nach § 102 III BetrVG der Kündigung widersprochen hat, so
hat er dem AN nach § 102 IV BetrVG mit der Kündigung eine Abschrift der Stellungnahme des Betriebsrates zuzuleiten. Dadurch wird der AN in die Lage versetzt, die Erfolgsausichten einer Kündigungsschutzklage besser einzuschätzen und sich vor Gericht auf den Widerspruch des Betriebsrates zu
berufen. Unterlässt der ArbG die Übermittlung der Stellungnahme, kann er aus § 280 I BGB schadensersatzpflichtig werden.
e) Bei der Kündigung eines leitenden Angestellten bestimmt § 31 II SprAuG ähnlich § 102 I BetrVG,
dass der Sprecherausschuss vor jeder Kündigung zu hören ist, wobei der ArbG ihm die Gründe für die
Kündigung mitzuteilen hat. Auch hier ist eine ohne vorhergehende Anhörung ausgesprochene Kündigung unwirksam. Die gegen eine ordentliche Kündigung gerichteten „Bedenken“ des Sprecherausschusses können jedoch niemals zu einem Weiterbeschäftigungsanspruch des Gekündigten führen. Derlei sieht
das SprAuG nicht vor. Es kann auch nicht zu einem sog. allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch des
leitenden Angestellten kommen.
4. Die Kündigungsfristen der ordentlichen Kündigung
Die Mindestkündigungsfrist der ordentlichen Kündigung beträgt nach § 622 I BGB
vier Wochen (= 28 Tage) entweder zum 15. oder zum Ende eines Kalendermonats.
Nach § 187 I BGB beginnt der Lauf der Kündigungsfrist einen Tag nach dem Zugang der Kündigungserklärung. Das gilt auch dann, wenn die Kündigung an einem Sonnabend, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag zugeht: § 193 BGB findet keine Anwendung! Ebenso kann auch der Tag, an dem das Arbeitsverhältnis durch den Ablauf der Kündigungsfrist endet, ein Sonnabend, Sonntag oder ein gesetzlicher Feiertag sein: Der Ablauf der Kündigungsfrist richtet sich nach § 188 II Halbs. 1 BGB. Die spätesten Zugangsdaten für eine Kündigung nach § 622 I BGB sind also (Staudinger/Preis, § 622, Rn. 24):
•
Im Februar der 31.1. zum 28.2., im Schaltjahr der 1.2. zum 29.2. oder der 15.2. zum 15.3., im
Schaltjahr der 16.2. zum 15.3.;
•
In Monaten mit 30 Tagen der 2. des Monats zum 30. des Monats und der 17. des Monats zum 15.
des Folgemonats;
•
In Monaten mit 31 Tagen der 3. des Monats zum 31. des Monats und der 18. des Monats zum 15.
des Folgemonats.
Der kündigende ArbG kann freiwillig mit einer längeren Frist kündigen. Kündigt der
ArbG mit einer zu kurzen Kündigungsfrist, ist seine Willenserklärung i.d.R. dahin
auszulegen, dass sie das Arbeitsverhältnis zum zutreffenden späteren Zeitpunkt beenden soll (BAG v. 15.12.2005 - 2 AZR 148/05 - in NZA 2006, 791 Rn. 22 ff.). Problemen bei der Auslegung seiner Willenserklärung kann der Kündigende dadurch begegnen, dass er die Kündigung des Arbeitsverhältnisses „fristgerecht zum…“ mit der Hinzufügung versieht, „hilfsweise zum nächstzulässigen Termin“.
Für länger beschäftigte AN bestehen nach § 622 II BGB einheitlich gestaffelte längere Kündigungsfristen, dies aber nur für eine Kündigung durch den ArbG.
Nach § 622 III BGB kann während der vereinbarten Probezeit, längstens für die Dauer
von sechs Monaten, das Arbeitsverhältnis mit einer Frist von zwei Wochen gekündigt
werden. Bei einer längeren Probezeit gilt nach Ablauf der sechs Monate die Frist des §
622 I BGB.
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Ist die Probezeit nach § 14 I TzBfG befristet, kann es zu einer zwischenzeitlichen Kündigung nur nach
§ 15 III TzBfG kommen.
Die vorbezeichneten Fristen sind zwingende Mindestkündigungsfristen, von denen
im Wege einzelvertraglicher Vereinbarung nur zu Gunsten des AN abgewichen werden
kann (Günstigkeitsprinzip). Nach § 622 IV BGB darf durch Tarifvertrag von den gesetzlichen Fristen in § 622 I bis III BGB auch zu Ungunsten des AN abgewichen werden kann (tarifdispositives Gesetzesrecht).
§ 622 V BGB gestattet in zwei Sonderfällen unter engen Voraussetzungen die Vereinbarung kürzerer
Kündigungsfristen auch durch Arbeitsvertrag (beschränkt dispositives Gesetzesrecht).
In jedem Fall gilt nach § 622 IV BGB, dass für Kündigungen des Arbeitsverhältnisses
durch den AN keine längere Frist vereinbart werden darf als für die Kündigung durch
den ArbG (Fristenparität).
V. Die einseitige Beendigung durch Anfechtung des Arbeitsvertrages
Wie die Kündigung, so ist auch die Anfechtung der zum Abschluss des Arbeitsvertrages erforderlichen Willenserklärung (man spricht häufig ungenau von der Anfechtung
des Arbeitsvertrages) des ArbG durch den ArbG oder des AN durch den AN wegen Irrtums in den Fällen des § 119 BGB und wegen Täuschung oder Drohung nach § 123
BGB (oben § 10 IV. 4. und 5. sowie § 11 IV.) eine einseitige Willenserklärung, die das
Arbeitsverhältnis, das noch nicht in Vollzug gesetzt wurde, nach § 142 I BGB mit
Rückwirkung, das bereits in Vollzug gesetzte nach der Lehre vom faktischen Arbeitsverhältnis entgegen § 142 I BGB nur für die Zukunft vernichtet (oben § 11 IV.).
VI. Die einseitige Beendigung durch Auflösung nach §§ 9, 12 und 13 KSchG
Eine einseitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird durch seine Auflösung einerseits auf Antrag des AN oder des ArbG im Kündigungsschutzprozess nach § 9 und §
13 KSchG, andererseits durch Erklärung des obsiegenden AN gegenüber dem ArbG
nach Rechtskraft des Urteils gemäß § 12 KSchG herbeigeführt (unten § 39),
VII. Sonderfälle
1. Aus der Höchstpersönlichkeit der geschuldeten Arbeitsleistung (§ 613 S. 1 BGB)
folgt, dass das Arbeitsverhältnis mit dem Tod des AN endet. Stirbt hingegen der ArbG,
treten seine Erben nach §§ 1922, 1967 BGB in das im Regelfall fortbestehende Arbeitsverhältnis ein.
2. Der rechtsgeschäftliche Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils auf einen
neuen Inhaber führt nicht zu einer Beendigung der davon betroffenen Arbeitsverhältnisse. Der neue Inhaber tritt vielmehr nach § 613a BGB in die Rechte und Pflichten aus
dem im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnisse ein. Die Kündigung
des Arbeitsverhältnisses eines AN durch den bisherigen ArbG oder durch den neuen
Inhaber aus dem Anlass des Übergangs ist unwirksam (unten § 42).
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3. Auch die Stilllegung des Betriebs führt nicht automatisch zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Sie rechtfertigt aber eine (betriebsbedingte) ordentliche Kündigung
des AN.
4. Von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des ArbG bleibt
das Arbeitsverhältnis nach § 108 I 1 InsO zunächst einmal unberührt. Der Insolvenzverwalter, der kraft Amtes in die Stellung des ArbG rückt, kann dem AN jedoch unter
Beachtung der §§ 113 ff. InsO kündigen, muss jedoch den allgemeinen und besonderen
Kündigungsschutz beachten.
5. Mit dem Erreichen eines bestimmten Alters oder des Zeitpunkts, in dem der AN
eine Altersrente beanspruchen kann, tritt nicht automatisch ein Erlöschen des Arbeitsverhältnisses ein.
Die als Beendigungsakt notwendige Kündigung oder Aufhebungsvereinbarung muss die Vorgaben
des § 41 SGB VI beachten. Um zu vermeiden, dass eine Vereinbarung von Altersgrenzen im Arbeitsvertrag, in einer Betriebsvereinbarung oder einem Tarifvertrag zu einer unzulässigen Befristung
des Arbeitsverhältnisses führt, bedarf sie der Rechtfertigung durch das Vorliegen eines sachlichen
Grundes (Erreichen der Regelaltersgrenze nach § 35 Satz 2 SGB VI). Eine darüber hinausgehende befristete Weiterbeschäftigung kann als sachlich gerechtfertigt gelten, möglicherweise nach § 14 I 2 Nr. 6
TzBfG. Niedrigere Altersgrenzen werden nach dem AGG als diskriminierend anzusehen sein; so z.B.
die tarifliche Altersgrenze von 60 Jahren für Lufthansa-Piloten (EuGH v. 13.9.2011 - Rs. C-447/09 - in
NZA 2011, 1039; dem folgt jetzt auch das BAG v.. 15.2.2012 – 7 AZR 946/10 – in NZA 2012, 866)..
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§ 29 Der Kündigungsschutz im Überblick
I. Vorbemerkung
Um einer besonderen Situation, in der sich der AN befindet, Rechnung zu tragen oder
ihn einfach vor einer willkürlichen Beendigung seines Arbeitsverhältnisses zu bewahren, genießt der AN gegenüber einer Kündigung durch den ArbG ein mehr oder weniger starkes Maß an Kündigungsschutz entweder in Gestalt eines Kündigungsverbotes oder einer Kündigungserschwerung, insoweit die Kündigung an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist.
II. Besonderer Kündigungsschutz
Der besondere Kündigungsschutz knüpft an die besondere persönlichen Situation oder
die besondere betrieblichen Stellung an, in der der AN sich zur Zeit der Kündigung befindet. Er ist überwiegend in Sondergesetzen geregelt, gelegentlich aber auch in Vorschriften des BGB und des BetrVG enthalten. Dabei ist zu beachten, dass die jeweiligen Regelungen spezifische Unterschiede aufweisen.
Sofern die in Betracht kommende Vorschrift die Kündigung nur sinngemäß verbietet, sie aber nicht ausdrücklich für nichtig, unwirksam oder unzulässig erklärt, tritt die bei Verstoß gegen das Kündigungsverbot beabsichtigte Nichtigkeitsfolge über § 134 BGB ein.
1. Der Kündigungsschutz für Schwangere und Mütter nach § 9 MuSchG
§ 9 I MuSchG schließt die ordentliche wie die außerordentliche Kündigung aus. Andere Beendigungstatbestände, wie die Anfechtung und der Aufhebungsvertrag, bleiben hingegen unberührt. Hat die
Nichterneuerung eines befristeten Arbeitsvertrages, dessen nochmalige Befristung zulässig wäre, erkennbar ihren Grund in der Schwangerschaft der Arbeitnehmerin, liegt darin eine vom ArbG zu vertretende diskriminierende Einstellungsverweigerung wegen des Geschlechts, die ihn nach § 15 I AGG
schadensersatzpflichtig werden lässt (EuGH v. 4.10.2001 - C 438/99 - in NZA 2001, 1243). Eine Eigenkündigung Frau, die sie in Unkenntnis der Schwangerschaft ausgesprochen hat, kann von ihr nicht wegen
Irrtums nach § 119 BGB angefochten werden.
Voraussetzung für die Anwendung des § 9 I MuSchG ist, dass die Arbeitnehmerin bei Zugang der
Kündigung schwanger bzw. das Kind noch nicht älter als 4 Monate ist. Das Kündigungsverbot bis
zum Ablauf von 4 Monaten nach der Entbindung gilt auch in den Fällen einer Totgeburt, dem Tod des
Kindes kurz nach der Geburt oder seiner alsbaldigen Freigabe zur Adoption. § 9 I MuSchG ist entsprechend anwendbar im Fall des Schwangerschaftsabbruchs, sofern das Kind ein Mindestgewicht von 500
gr erreicht hatte. Das Kündigungsverbot gilt nicht, wenn die Schwangerschaft erst während des Laufs der
Kündigungsfrist einsetzt.
Voraussetzung für die Anwendung des § 9 I MuSchG ist weiterhin, dass „dem ArbG zur Zeit der Kündigung die Schwangerschaft oder Entbindung bekannt war oder innerhalb zweier Wochen nach Zugang der
Kündigung mitgeteilt wird; das Überschreiten dieser Frist ist unschädlich, wenn es auf einem von der
Frau nicht zu vertretenden Grund beruht, und die Mitteilung unverzüglich nachgeholt wird.“ Wie bei §
616 BGB und § 3 I EFZG wird das Vertretenmüssen als ein „Verschulden gegen sich selbst“ verstanden,
das erst dann vorliegt, wenn die Arbeitnehmerin in grober Weise gegen das von einem verständigen
Menschen im eigenen Interesse zu erwartenden Verhalten verstößt.
Nach § 9 III MuSchG kann die zuständige Behörde „in besonderen Fällen, die nicht mit dem Zustand
der Frau während der Schwangerschaft oder ihrer Lage…nach der Entbindung im Zusammenhang stehen, ausnahmsweise die Kündigung (einer Schwangeren oder einer stillenden Mutter) für zulässig erklären“. Erst nach Vorliegen dieses Verwaltungsaktes kann der ArbG (ordentlich oder außerordentlich)
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wirksam kündigen. Dieses Sonderkündigungsrecht erfordert außergewöhnliche Umstände im Verhalten
der Arbeitnehmerin oder in der wirtschaftlichen Situation des ArbG, die ihm die Aufrechterhaltung des
Arbeitsverhältnisses schlechthin unzumutbar machen.
§ 9 MuSchG wird durch § 18 BEEG ergänzt, wonach der ArbG das Arbeitsverhältnis auch während der
Elternzeit im Grundsatz nicht kündigen darf (siehe nachfolgend).
2. Kündigungsschutz während der Elternzeit nach § 18 BEEG
Der ArbG darf gemäß § 18 BEEG das Arbeitsverhältnis „ab dem Zeitpunkt, von dem an Elternzeit verlangt worden ist, höchstens jedoch acht Wochen vor Beginn der Elternzeit, und während der Elternzeit
nicht [ordentlich oder außerordentlich] kündigen“. In besonderen Fällen kann ausnahmsweise eine
Kündigung durch die für den Arbeitsschutz zuständige Behörde für zulässig erklärt werden, so
z.B. bei Wegfall des Arbeitsplatzes vor allem wegen Stilllegung des Betriebes oder einer Betriebsabteilung, ferner wegen besonders schwerer Vertragsverletzung durch den AN oder der Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des ArbG.
3. Kündigungsschutz für den pflegenden AN nach § 5 PflegeZG
Siehe daselbst.
4. Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen nach § 85 ff. SGB IX
§ 85 SGB IX schließt weder die ordentliche noch die außerordentliche Kündigung des Schwerbehinderten durch den ArbG aus, sondern macht sie von der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes abhängig. Ist die Behinderung nicht offensichtlich und hat der ArbG weder von einer behördlichen Anerkennung der Behinderung des AN noch davon, dass dieser einen entsprechenden Antrag gestellt hat, Kenntnis, ist es Sache des AN, den ArbG hiervon zu unterrichten, andernfalls der Sonderkündigungsschutz entfällt (BAG v. 7.3.2002 - 2 AZR 612/00 - in NZA 2002, 1145).
Für andere Beendigungstatbestände, wie die Anfechtung, die Befristung, den Aufhebungsvertrag und die
Eigenkündigung gilt der Sonderkündigungsschutz nicht (oben § 10 IV. 2.).
5. Kündigungsschutz für Auszubildende nach Ablauf der Probezeit gemäß § 22 II
Nr. 1 BBiG
Das nach § 21 I BBiG durch den Ablauf der Ausbildungszeit befristete Berufsausbildungsverhältnis kann
gemäß § 22 II Nr. 1 BBiG vom ArbG nach dem Ablauf der Probezeit (§ 20 BBiG) nur „aus einem
wichtigen Grund ohne Einhalten einer Kündigungsfrist“, also außerordentlich, gekündigt werden.
6. Kündigungsschutz bei Teilzeitarbeit nach § 11 TzBfG
Unwirksam nach § 11 TzBfG ist die (ordentliche wie außerordentliche) Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus dem Grunde, dass der AN sich weigert, von Vollzeit- in Teilzeitarbeit und umgekehrt zu
wechseln.
7. Kündigungsschutz für betriebsverfassungsrechtliche Funktionsträger nach § 15
I KSchG
Nach § 15 I 1 KüSchG ist die ordentliche Kündigung von betriebsverfassungsrechtlichern Funktionsträgern mit Ausnahme der in § 15 IV/V KüSchG genannten Fälle unzulässig. 15 III/IIIa KüSchG erweitert den Sonderkündigungsschutz auf Mitglieder des Wahlvorstandes, auf (wählbare) Wahlbewerber und
auf (die ersten drei) Initiatoren einer Betriebratswahl. §§ 15 I 2, II 2 III 2 und IIIa 2 KSchG gewähren
darüber hinaus einen abgestuften nachwirkenden Kündigungsschutz. Andere Beendigungstatbestände,
wie z.B. die Anfechtung und die Befristung, sind hiervon nicht erfasst. Für Mitglieder des Sprecherausschusses gilt das Benachteiligungsverbot des § 2 III 2 SprAuG.
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Die außerordentliche Kündigung bleibt möglich, aber nur wegen einer Verletzung von Pflichten aus
dem Arbeitsvertrag, nicht von Amtspflichten, §§ 23, 120 BetrVG. Nach § 103 I BetrVG bedarf die außerordentliche Kündigung von Mitgliedern des Betriebsrates und gleichgestellter Funktionsträger sowie
des Wahlvorstands und von Wahlbewerbern der Zustimmung des Betriebsrates. Nach § 103 II BetrVG
kann die verweigerte Zustimmung auf Antrag des ArbG durch das Arbeitsgericht ersetzt werden.
8. Kündigungsschutz für die Vertrauensperson der Schwerbehinderten nach §§
94, 96 III SGB IX
Siehe daselbst.
9. Kündigungsschutz für den sicherheitsbeauftragten AN nach § 22 III SGB VII
Siehe daselbst
10. Kündigungsschutz für den immissionsschutzbeauftragten AN nach § 58 BImSchG
Siehe daselbst
11. Kündigungsschutz für den betrieblichen Datenschutzbeauftragten nach § 4f
III, 3, 6 BDSG
Siehe daselbst
12. Kündigungsschutz für Abgeordnete nach Art. 48 II S. 2 GG, § 2 III AbgeoG).
Siehe daselbst.
III. Allgemeiner Kündigungsschutz
Allgemein ist der Kündigungsschutz, der im Grundsatz allen AN zuteil wird und im
Wesentlichen an den Sachgründen für die jeweilige Kündigung anknüpft.
1. Der allgemeine Kündigungsschutz gegenüber ordentlichen Kündigungen nach
Maßgabe von § 1 KSchG,
wonach die ordentliche Kündigung rechtsunwirksam weil sozial ungerechtfertigt ist,
„wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist“ (Einzelheiten
unten §§ 30, 31),
2. Der allgemeine Kündigungsschutz gegenüber außerordentlichen Kündigungen
nach Maßgabe des § 626 BGB,
wonach die außerordentliche Kündigung nur rechtswirksam ist bei Vorliegen eines
wichtigen Grundes im Sinne des § 626 BGB (Einzelheiten unten § 33)
3. Der allgemeine Kündigungsschutz gegenüber sittenwidrigen oder treuwidrigen
ordentlichen und außerordentlichen Kündigungen,
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wonach die Kündigung nicht gegen § 138 und § 242 BGB verstoßen darf (Einzelheiten unten § 34).
4. Der Schutz des AN vor einer ordentlichen oder außerordentlichen Vergeltungskündigung nach § 612a BGB i.V.m. § 134 BGB
5. Der Schutz des AN vor einer ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung
wegen des Übergangs eines Betriebs oder Betriebsteils nach § 613a IV BGB
Dazu unten § 42 IV. 5.
IV. Gibt es einen Kündigungsschutz nach § 7 I AGG i.V.m. § 134 BGB?
Das Diskriminierungsverbot des § 7 I AGG führt nicht neben den Bestimmungen zum
allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz über § 134 BGB zu einem „zweiten
Kündigungsschutzrecht“ in Gestalt einer besonderen „Diskriminierungsklage“. Die
Vorschrift des § 2 IV AGG, nach der „für Kündigungen…ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz (gelten)“, ist vielmehr
richtlinienkonform (oben § 9 I.) als Hinweis auf die Tatsache zu verstehen, dass die in
den §§ 1 bis 10 AGG enthaltenen Diskriminierungsverbote zugleich tragende Gesichtspunkte im Rahmen der Anwendung schon des allgemeinen und besonderen Kündigungsschutzes sind (BAG v. 6.11.2008 - 2 AZR 523/07 - in NZA 2009, 361): Im Anwendungsbereich des KSchG als Konkretisierungen des Begriffs der Sozialwidrigkeit,
außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG zur Ausfüllung der Generalklauseln
der §§ 138, 242 BGB und im Fall der Kündigung nach § 626 BGB bei der Prüfung des
wichtigen Grundes.
Bei schwerwiegender Verletzung des Persönlichkeitsrechts kann der AN neben der
Kündigungsschutzklage auch einen Anspruch auf Entschädigung nach § 15 II AGG
geltend machen (BAG v. 12.12.2013 – 8 AZR 838/12 – in ArbRB 2014, 163).
V. Vereinbarter Kündigungsschutz
Während das Recht zur außerordentlichen Kündigung nach § 626 BGB beidseitig
zwingendes Recht ist, kann einzelvertraglich oder durch Tarifvertrag, in den Grenzen
des § 77 III BetrVG auch durch Betriebsvereinbarung, die ordentliche Kündigung ausgeschlossen werden. Bekannt sind die tarifvertraglichen Kündigungsverbote im öffentlichen Dienst gemäß § 53 III BAT / § 34 II TV-L, ferner in der Metallindustrie für AN,
die das 55. Lebensjahr vollendet haben und dem Betrieb 10 Jahre angehören. Man denke ferner an die Vereinbarung eines zumeist befristeten Ausschlusses betriebsbedingter
Kündigungen aus Anlass betrieblicher Umstrukturierungen in Gestalt von Rationalisierungsschutzabkommen oder zum Ausgleich einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im Rahmen eines betrieblichen Bündnisses für Arbeit. In außergewöhnlichen
Fällen, wie etwa dem einer Stilllegung des Betriebs, muss dann die eigentlich in Betracht kommende ordentliche (betriebsbedingte) Kündigung durch eine „fristgemäße
Kündigung aus wichtigem Grund“ ersetzt werden.
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§ 30 Der allgemeine Kündigungsschutz nach dem KSchG
I. Die Anwendbarkeit des KSchG
Gegenüber einer ordentlichen Kündigung des ArbG genießt der AN Kündigungsschutz nach Maßgabe der §§ 1 bis 14 KSchG unter zwei Voraussetzungen:
• Zum einen muss das Arbeitsverhältnis nach § 1 I KSchG in demselben Betrieb
oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden haben.
Die Wartezeit ist also auch dann erfüllt, wenn die Tätigkeit ununterbrochen nacheinander in mehreren Betrieben desselben Unternehmens erbracht worden ist. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob der
AN in Voll- oder Teilzeit tätig war. Auf die Wartezeit ist auch die in demselben Betrieb oder Unternehmen unmittelbar vorausgehende Ausbildungszeit anzurechnen; ebenso ein betriebliches
Praktikum im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses. Eine Unterbrechung liegt vor, wenn auf ein
rechtlich beendetes Arbeitsverhältnis ein neues Arbeitsverhältnis folgt. Eine rechtliche Unterbrechung kann allerdings unerheblich sein, wenn zwischen beiden Arbeitsverhältnissen ein innerer
sachlicher Zusammenhang besteht, etwa weil dem AN die Fortsetzung seiner bisherigen Tätigkeit
schon in Aussicht gestellt worden war. Im Übrigen ist eine Anrechnung von Vordienstzeiten wie
auch eine Abkürzung der Wartezeit entgegen der (einseitig zwingenden) Bestimmung des § 1 I
KSchG stets durch einzel- oder kollektivvertragliche Regelung möglich, weil sie den AN günstiger stellt.
Zweck der Wartezeit ist es, dem ArbG die Möglichkeit zu geben, den AN innerhalb der ersten 6 Monate auf Probe beschäftigen zu können, ohne bereits an das
Verbot sozial ungerechtfertigter Kündigungen gebunden zu sein.
• Zum anderen muss der ArbG im Augenblick der Kündigung nach § 23 I KSchG
in dem Betrieb, dem der Gekündigte angehört, in der Regel mehr als 10 AN mit
Ausnahme Auszubildender vollzeitig beschäftigen. Teilzeitbeschäftigungen werden anteilig berechnet.
Nach dem Urteil des BAG v. 24.1.2013 - 2 AZR 140/12 – in DB 2013, 1494 sind hierbei auch im
Betrieb beschäftigte Leih-AN zu berücksichtigen, wenn sie auf einem Arbeitsplatz tätig sind, der
zum regelmäßigen Bestand des Betriebes gehört, ob er nun mit einem eigenen oder mit einem entliehenen AN besetzt ist.
Aus Gründen des Vertrauensschutzes bleibt denjenigen AN, die bei Anhebung des Schwellenwertes von mehr als 5 auf mehr als 10 AN ab 1.1.2004 bereits Kündigungsschutz genossen, der
Kündigungsschutz erhalten, sofern ihre Gruppe nicht unter den alten Schwellenwert absinkt.
Betrieb im Sinne des § 23 KSchG ist die Organisationseinheit, die über einen Leitungsapparat
verfügt, der die nach Maßgabe des KSchG relevanten Entscheidungen selbständig treffen kann.
Die Aufspaltung eines Unternehmens in mehrere diesbezüglich unselbständige oder nur scheinbar
selbständige Betriebsstätten, in denen die Zahl der Beschäftigten den Schwellenwert nicht überschreitet, führt darum nicht zu kündigungsschutzfreien Kleinbetrieben.
Zweck des § 23 I KSchG ist es vor allem, Kleinbetriebe vor den finanziellen Folgen
des allgemeinen Kündigungsschutzes in Gestalt vor allem der Weiterbeschäftigungspflicht (unten § 36) und den Abfindungsregeln der §§ 1a (unten § 31 III.), 9, 10
KSchG (unten § 38) zu schützen.
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Gemäß § 14 II KSchG gilt das KSchG auch für leitende Angestellte mit der Besonderheit, dass der ArbG einen Auflösungsantrag nach § 9 KSchG (unten § 38) ohne
Begründung stellen kann. Demgegenüber sind die in § 14 I KSchG genannten Personen keine AN.
II. Das Verbot sozialwidriger Kündigungen
1. Die Vorgaben des § 1 KSchG
Nach § 1 I KSchG ist die ordentliche Kündigung gegenüber einem AN, dessen Arbeitsverhältnis unter das KSchG fällt, „rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist.“ § 1 II 1 KSchG verdeutlicht diese Aussage durch die Feststellung, dass die
Kündigung sozial ungerechtfertigt ist, „wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist.“ § 1 II 2 Nr. 1 b) KSchG sowie Satz 3 dieses Absatzes heben hervor, dass die Kündigung „auch sozial ungerechtfertigt“ ist, wenn die
Möglichkeit besteht, den AN auf einem anderen Arbeitsplatz weiterzubeschäftigen.
Die Bestimmungen des § 1 II 2 Nr. 1 a), III bis V KSchG betreffen Besonderheiten
nur der betriebsbedingten Kündigung.
Nach der Rechtssprechung des BAG sind bei richtlinienkonformer Auslegung des § 2 IV AGG die
Diskriminierungsverbote der §§ 1 bis 10 AGG bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des
KSchG in der Weise zu beachten, dass sie Konkretisierungen des Begriffes der Sozialwidrigkeit darstellen (BAG v. 6.11.2008 - 2 AZR 523/07 - in NZA 2009, 361). (Oben § 29 VI.).
2. Die Geltung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips
In dem Bemühen, das Verbot einer sozial ungerechtfertigten Kündigung interessengerecht zu konkretisieren, haben Rechtswissenschaft und Rechtsprechung aus den in § 1
KSchG enthaltenen Vorgaben die Erkenntnis abgeleitet, dass ein vernünftiger Ausgleich zwischen dem grundgesetzlich geschützten Interesse des AN an der Erhaltung
seines Arbeitsplatzes und dem ebenso grundgesetzlich geschützten Interesse des
ArbG, unternehmerische Entscheidungen über Anzahl und Auswahl seiner Beschäftigten eigenverantwortlich treffen zu können, unter Anwendung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips herbeizuführen ist (oben unter § 3 III. 2. vor (1) sowie zu (6)). Danach ist der in der Kündigung des Arbeitsverhältnisses liegende Eingriff in die
Grundrechtsposition des AN nur dann sozial gerechtfertigt, wenn er eine zum Schutz
der betrieblichen Interessen des ArbG nicht nur geeignete, sondern auch erforderliche und darüber hinaus angemessene Maßnahme ist. Die Kündigung darf
sich mit anderen Worten nicht als eine Übermaßreaktion des ArbG erweisen.
Positive Aussagen über die Voraussetzungen der sozialen Rechtfertigung der Kündigung trifft § 1 II 1
KSchG zum einen dadurch, dass er drei Störungstatbestände nennt, die durch eine Kündigung beendet werden dürfen. Das Gesetz beschreibt sie als Gründe in der Person oder im Verhalten des AN
oder als dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des AN in diesem Betrieb entgegenstehen. Rechtswissenschaft und Rechtsprechung haben für jeden dieser Gründe spezifische inhaltliche Anforderungen entwickelt (unten III. 1., IV. 1., V. 1.).
Das Vorliegen eines hiernach legitimen Kündigungsgrundes kann allerdings für sich allein eine Kündigung noch nicht rechtfertigen. Darum wird der legitime Kündigungsgrund auch nur als „an sich geeigneter Kündigungsgrund“ bezeichnet. Ob er im konkreten Fall wirklich zur Beendigung des Ar-
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beitsverhältnisses führt, hängt vielmehr davon ab, dass auch die auf ihn gestützte Kündigung legitim
ist. Man spricht deshalb von einem zweistufigen Prüfungsverfahren: Die Feststellung, dass ein als
solcher geeigneter Kündigungsgrund vorliegt, bildet die Grundlage für die anschließende Prüfung, ob
die zur Beseitigung der dadurch gekennzeichneten Störung ausgesprochene Kündigung verhältnismäßig ist. Der den Kündigungsgrund bildende Störungstatbestand ist nur der Anlass dafür, die
Kündigung als ein zur Beseitigung der eingetretenen Störung im Grundsatz geeignetes Mittel in Erwägung zu ziehen.
Diese Zweiteilung findet ihren Niederschlag in der weiteren positiven Aussage des § 1 II KSchG, insoweit er die Forderung aufstellt, dass die Kündigung durch einen dieser Gründe „bedingt“ sein
muss. In dieser Wortwahl kommt zum Ausdruck, dass allein das Vorliegen eines dieser Störungstatbestände noch nicht zur Kündigung ausreicht. Es ist vielmehr unerlässlich, die Feststellung zu treffen,
dass die Kündigung zur Beseitigung der im Kündigungsgrund liegenden Störung nicht nur geeignet, sondern auch erforderlich ist. Das ist aber nur dann der Fall, wenn zu diesem Zweck kein
gleichermaßen geeignetes, aber milderes Mittel zur Verfügung steht, wie etwa die in § 1 II 2 Nr. 1
b) KSchG und Satz 3 dieses Absatzes beschriebene Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen
Arbeitsplatz in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens (= Geeignetheit
und Erforderlichkeit der Kündigung).
Aus der negativen Aussage des § 1 II 1 KSchG, dass die Kündigung dann nicht sozial gerechtfertigt
ist, wenn sie nicht durch einen der dort aufgeführten drei Kündigungsgründe bedingt ist, kann jedoch
nicht geschlossen werden, dass allein aus dem Bedingtsein der Kündigung durch einen der genannten
Kündigungsgründe schon die soziale Rechtfertigung der Kündigung folgt. Aus ihr kann nur abgeleitet
werden, dass eine Kündigung, wenn sie sozial gerechtfertigt ist, immer durch einen Kündigungsgrund
bedingt ist. Damit ist das Bedingtsein der Kündigung durch einen der genannten Kündigungsgründe
zwar eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung ihrer sozialen Rechtfertigung
(Dathe a.a.O. S. 88). Mit seiner negativen Formulierung eröffnet § 1 II 1 KSchG vielmehr den Weg,
zusätzlich zum Bedingtsein der Kündigung durch einen der drei Kündigungsgründe auf die Notwendigkeit einer Abwägung der Interessen von ArbG und AN abzustellen, die der sozialen Schutzbedürftigkeit des AN Rechnung trägt (= Angemessenheit der Kündigung).
3. Die Anwendung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips
Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses dient dem Zweck, eine durch Gründe in der
Person oder im Verhalten des AN oder durch ein betriebliches Weiterbeschäftigungshindernis herbeigeführte Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen zu beheben.
Als empfangsbedürftige Willenserklärung wird sie mit dem Zugang der Kündigungserklärung wirksam (oben § 28 IV. 2. unter (3)). Da es sich um eine ordentliche Kündigung handelt, beendet sie das Arbeitsverhältnis aber erst mit dem Ablauf der Kündigungsfrist. Bezogen auf diesen Zeitpunkt, ggf. noch darüber hinaus,
(nachfolgend unter c) (1)), muss sie für den Kündigenden im Augenblick des Zugangs
der Kündigungserklärung als die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, die im Kündigungsgrund liegende Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen zu beenden, erkennbar sein.
a) Die Geeignetheit der Kündigung
Die Kündigung ist eine geeignete Maßnahme, wenn es durch ihren Einsatz möglich
ist, die eingetretene Störung mit dem Ablauf der Kündigungsfrist zu beseitigen.
Das setzt voraus, dass der den Kündigungsgrund bildende Störungstatbestand in diesem Zeitpunkt (noch) vorliegt. Ist die kündigungsrelevante Störung bis zu diesem
Zeitpunkt entfallen, z.B. weil der wegen einer Dauererkrankung personenbedingt
gekündigte AN vor Ablauf der Kündigungsfrist gesundet oder der für eine betriebsbedingte Kündigung Anlass gebende Auftragsmangel vor Ablauf der Kündigungsfrist
bis auf weiteres endet, fehlt es an der Geeignetheit der Kündigung. Der Wegfall
der Störung kann vor allem bei langen Kündigungsfristen vorkommen.
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Ob die Kündigung deswegen allerdings rechtsunwirksam ist, hängt davon ab, ob der
Kündigende diese Tatsache im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung erkannt hat oder erkennen musste. Dazu nachfolgend unter 4.
Hat ein legitimer, an sich geeigneter Kündigungsgrund hingegen in Wahrheit nie
bestanden, ist die darauf gestützte Kündigung ohne weiteres rechtsunwirksam.
b) Die Erforderlichkeit der Kündigung
Das Merkmal der Erforderlichkeit der Kündigung gebietet, von mehreren gleich geeigneten Mitteln dasjenige anzuwenden, das den Betroffenen am wenigsten belastet.
Man spricht auch vom Gebot des ultima-ratio-Prinzips, die Kündigung des AN nur
als das unausweichlich letzte Mittel anzuwenden, um die im Kündigungsgrund liegende Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen zu beenden. Steht dem ArbG zu
diesem Zweck bei Ablauf der Kündigungsfrist ein gleichermaßen geeignetes, aber
milderes Mittel zur Verfügung, ist die Kündigung nicht erforderlich.
Ob die Kündigung deswegen allerdings rechtsunwirksam ist, hängt davon ab, ob der
Kündigende diese Tatsache im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung erkannt hat oder erkennen musste. Dazu nachfolgend unter 4.
(1) Wie § 1 II 2 Nr.1b) KSchG einschließlich Satz 3 dieses Absatzes erkennen lässt, kommt der
Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen Arbeitsplatz seines ArbG als gegenüber der Kündigung milderes Mittel besondere Bedeutung zu. Bevor der ArbG eine personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Kündigung ausspricht, trifft ihn daher die „Initiativlast“ (ErfK/Oetker, §
1 KSchG Rn. 254) zu prüfen, ob eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit des AN „an einem anderen
Arbeitsplatz in dem selben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens“ (§ 1 Absatz 2
Satz 2 Nr.1b) besteht oder „die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers nach [dem AN wie dem
ArbG; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 390 ff.] zumutbaren Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen“
(§ 1 Absatz 2 Satz 3 Altn. 1) dort möglich ist. Die Prüfung erstreckt sich über den Betrieb hinaus auf
das gesamte Unternehmen, nicht aber auf den Konzern.
Der ArbG ist nicht verpflichtet, einen freien Arbeitsplatz erst durch geeignete Organisationsmaßnahmen zu schaffen. Vielmehr muss der Arbeitsplatz beim Zugang der Kündigung frei sein oder bis zum
Ablauf der Kündigungsfrist frei werden. Es sollte sich in erster Linie um einen vergleichbaren Arbeitsplatz handeln, so dass der AN, falls er den Arbeitsplatzwechsel ablehnt, schon durch Weisung des
ArbG (und nicht erst im Wege einer Änderungskündigung) dorthin versetzt werden kann. In einem
mitbestimmten Betrieb ist aber in jedem Fall § 99 BetrVG zu beachten! Darüber hinaus erfasst die
Prüfung auch „eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers unter geänderten Arbeitsbedingungen …
(sofern) der Arbeitnehmer sein Einverständnis hiermit erklärt hat“ (§ 1Absatz 2 Satz 3 Altn. 2).
Kommt es hierüber zu keiner Einigung zwischen ArbG und AN, kann es als gegenüber der Beendigungskündigung milderes Mittel zu einer Änderungskündigung kommen (unten § 35).
Im Fall von Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen kann der AN keine Weiterqualifizierung
für eine höherwertige Tätigkeit verlangen, sondern nur eine Einarbeitung in die besonderen Anforderungen eines seinem bisherigen gleichwertigen Arbeitsplatzes.
Entgegen dem Wortlaut des § 1 II Satz 2 und 3 KSchG gilt dies alles auch dann, wenn der Betriebsrat nicht widersprochen hat oder kein Betriebsrat besteht! Eine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit ist nach dem ultima-ratio-Prinzip immer zu berücksichtigen!
Der gemäß § 1 II 2 Nr. 1 a) KSchG die Sozialwidrigkeit der Kündigung auslösende Verstoß gegen
eine Auswahlrichtlinie nach § 95 BetrVG betrifft praktisch nur die zwischen ArbG und Betriebsrat
in einer Betriebsvereinbarung festgelegten Regeln zur Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen (§ 1 IV KSchG). Dazu unten § 31.
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(2) Zu weiteren der Kündigung vorrangigen Maßnahmen, die speziell zu den einzelnen Kündigungsgründen passen, siehe nachfolgend III. 3., IV. 3. und V. 3.
c) Die Angemessenheit der Kündigung
Das Merkmal der Angemessenheit verlangt, dass das Interesse des ArbG an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des AN am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt des Ablaufs der Kündigungsfrist bei vernünftiger Gewichtung überwiegt. Es geht darum, im Wege einer Interessenabwägung zu prüfen, ob
dem ArbG trotz personen-, verhaltens- oder betriebsbedingt entstandener Störung, zu
deren Beseitigung die Kündigung das sowohl geeignete als auch erforderliche Mittel
ist, nicht doch zugemutet werden kann, auf die Kündigung zu verzichten, weil der
Vorteil, den sie ihm bringt, in keinem Verhältnis zu dem Nachteil steht, den sie dem
AN zufügt. Das führt zu zwei verschiedenen Überlegungen.
(1) Bei allen drei Kündigungsgründen
kommt es dazu, über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus den Blick auf die künftige Entwicklung des gestörten Arbeitsverhältnisses zu richten, um die mutmaßliche
Fortdauer der Störung einzuschätzen.
Danach fehlt die Angemessenheit der Kündigung, wenn erkennbar wäre,
• dass der den Kündigungsgrund bildende Störungstatbestand nach dem Ab-
lauf der Kündigungsfrist innerhalb einer dem ArbG für die Hinnahme der
Störung noch zumutbaren Zeitspanne ohne die Kündigung entfallen würde,
• dass nach dem Ablauf der Kündigungsfrist innerhalb einer dem ArbG für die
Hinnahme der Störung noch zumutbaren Zeitspanne ein milderes Mittel zur
Beseitigung der Störung zur Verfügung stehen würde.
Ob die Kündigung deswegen allerdings rechtsunwirksam ist, hängt davon ab, ob der
Kündigende diese Tatsachen im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung erkannt hat
oder erkennen musste. Dazu nachfolgend unter 4.
Die Zumutbarkeitsgrenze für den ArbG, die personenbedingte, verhaltensbedingte oder betriebsbedingte Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus hinzunehmen, dürfte in Anlehnung an die Rechtsprechung des BAG zur Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen, wenn die Beeinträchtigung des ArbG allein auf Entgeltfortzahlungskosten beruht, bei
höchstens drei Monaten liegen (Vgl. Dathe a.a.O. S.151 f. unter Bezugnahme auf BAG v. 5. 7. 1990
– 2 AZR 154/1990 – in AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 26 unter II. 3. a).
(2) Nur in den Fällen der personen- und der verhaltensbedingten Kündigung
kommt es darüber hinaus dazu, im Rückblick auf den bisherigen Verlauf des Arbeitsverhältnisses, die besonderen Umstände des Störfalls und die soziale Situation
des AN die Fakten zu berücksichtigen, die es dem ArbG im Einzelfall gebieten
können, die eingetretene Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen hinzunehmen.
Hierbei kommen zum einen die bei der betriebsbedingten Kündigung schon im Rahmen der Sozialauswahl nach § 1 III 1 KSchG maßgebenden Daten der Dauer der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters, der Unterhaltspflichten und der Schwerbehinderung des AN in Betracht. Darüber hinaus können
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hier aber z. B. auch der bisherige Verlauf des Beschäftigungsverhältnisses, die Bedeutung der verletzten Pflicht, das Ausmaß der eingetretenen Störung, der Grad des Verschuldens des AN, Mitschuld des
ArbG, die Berufsbedingtheit des Kräfteverfalls oder der Erkrankung u. ä. Gesichtspunkte als Beurteilungskriterien herangezogen werden.
Bei der betriebsbedingten Kündigung hingegen findet eine Interessenabwägung
zwischen ArbG und AN aus sozialen Gründen nicht statt; denn es ist dem ArbG außer
in den vorstehend unter (1) aufgeführten zeitlich begrenzten Sonderfällen nicht zumutbar, den entstandenen Arbeitskräfteüberhang hinzunehmen. An die Stelle einer
Interessenabwägung zwischen ArbG und AN aus sozialen Gründen tritt bei der betriebsbedingten Kündigung die Sozialauswahl nach § 1 III KSchG im Verhältnis
der AN untereinander, die wegen vergleichbarer Arbeitsplätze gleichermaßen kündigungsbedroht sind, um den oder die AN zu ermitteln, dem oder denen die Kündigung
aufgrund ihrer sie weniger belastenden Sozialdaten eher zuzumuten ist (unten § 31).
4. Das Prognoserisiko des Arbeitgebers
a) Jeder Kündigungsgrund beruht auf Umständen, die denknotwendig in der
Vergangenheit entstanden sind. Sofern die von ihnen ausgehende Störung in der
Vergangenheit ihren Abschluss gefunden hat, besteht kein Kündigungsgrund mehr.
Eine dennoch ausgesprochene Kündigung trüge den Charakter einer unzulässigen
„Vorratskündigung“ für den Fall, dass es künftig wieder mal zu einer Störung kommt.
Die Kündigung dient dem Zweck, die Fortdauer einer Störung zu unterbinden.
Das setzt voraus, dass die durch die Gründe in der Person oder im Verhalten des AN
oder durch ein betriebsbedingtes Weiterbeschäftigungshindernis eingetretene Störung
über ihren in der Vergangenheit liegenden Anlass hinaus das Arbeitsverhältnis in die
Zukunft hinein beeinträchtigt. Zumindest müssen die im Augenblick des Wirksamwerdens der Kündigung obwaltenden Umstände die Prognose zulassen, dass
ohne die Kündigung das Arbeitsverhältnis weiterhin gestört bleibt. Man spricht
darum von der Zukunftsbezogenheit der Kündigung. Welchen Zeitraum die Prognose
umfassen muss, wird maßgeblich durch das Verhältnismäßigkeits-Prinzip bestimmt.
b) Die Anwendung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips bringt es mit sich, dass der
Kündigende im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung teilweise mit dem
Risiko von Prognosen bezogen auf die Verhältnisse bei Ablauf der Kündigungsfrist und ggf. noch darüber hinaus belastet ist. Das gilt zum einen hinsichtlich des
Vorliegens des kündigungsrelevanten Störungstatbestandes noch im Zeitpunkt des
Ablaufs der Kündigungsfrist (vorstehend unter 3. a): Geeignetheit) und in Ansehung seiner Fortdauer über eine dem ArbG für die Hinnahme der Störung noch zumutbare Zeitspanne hinaus (vorstehend unter 3. c) (1): Angemessenheit). Das gilt
zum anderen hinsichtlich der Frage nach einem milderen Mittel als dem der Kündigung, das dem ArbG bis zum Ablauf der Kündigungsfrist (vorstehend unter 3. b):
Erforderlichkeit) oder erst nach diesem Zeitpunkt innerhalb einer ihm für die Hinnahme der Störung noch zumutbaren Zeitspanne (vorstehend unter 3. c) (1): Angemessenheit) zur Verfügung steht.
Die Prognosen sind tragfähig, wenn sie sich für einen verständigen ArbG aus den im
Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung bestehenden Verhältnissen rechtfertigen lassen. Liegt ein Störungstatbestand vor, der einen (an sich geeigneten) personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Kündigungsgrund bildet, kommt es also da-
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rauf an, ob aus der Sicht eines objektiven Betrachters im Augenblick des Zugangs der Kündigungserklärung die (negative) Prognose begründet erscheint,
dass die im Kündigungsgrund liegende Beeinträchtigung der betrieblichen
Interessen nicht vor Ablauf der Kündigungsfrist entfällt (Geeignetheit),
• dass bis zu diesem Zeitpunkt nicht ein milderes Mittel als das der Kündigung zur Verfügung steht, die Störung zu beseitigen (Erforderlichkeit) und
• dass die Störung nicht innerhalb einer dem ArbG für die Hinnahme der Störung noch zumutbaren Zeitspanne nach diesem Zeitpunkt ohne die Kündigung entfällt oder dass ihm in diesem Zeitraum ein milderes Mittel zur Beseitigung der Störung nicht verfügbar sein wird (Angemessenheit).
c) Stellt sich bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der vom ArbG ausgesprochenen
Kündigung heraus, dass ein mit den Gegebenheiten im (damaligen) Kündigungszeitpunkt vertrauter verständiger ArbG mindestens eine dieser Prognosen nicht getroffen hätte, ist die Kündigung rechtsunwirksam. In dieser Rolle eines objektiven
Betrachters ex ante befinden sich die Arbeitsgerichte und stellen sich im Kündigungsschutzprozess die Frage, ob auf der Grundlage der im Verlauf des Prozesses gewonnen Erkenntnisse über die im Kündigungszeitpunkt vorliegende Situation eine Kündigung damals hätte ausgesprochen werden dürfen.
Wie die Kündigung nach heutigem Kenntnisstand zu beurteilen wäre, ist unerheblich. Eine Ausnahme
hiervon bildet die Verdachtskündigung (unten § 32 II. 2. b).
Beachte: Ebenso wie in Ansehung des Bestehens eines legitimen, an sich geeigneten Kündigungsgrundes (oben 2) kommt es auch bei der im Rahmen der Prüfung
der Angemessenheit der Kündigung erforderliche Interessenabwägung aus sozialen
Gründen (vorstehend unter 3. c (2)) nicht zu einer Prognose, denn es geht dabei
ausschließlich um die Berücksichtigung feststehender Fakten. Liegt kein an sich geeigneter Kündigungsgrund vor oder ist eine für die Interessenabwägung erhebliche
Tatsache in die Abwägung nicht einbezogen bzw. bei der Abwägung nicht angemessen berücksichtigt worden, ist die Kündigung ohne weiteres rechtsunwirksam.
Das gleiche gilt in Ansehung der Tatsachen, die bei einer betriebsbedingten
Kündigung für die Sozialauswahl maßgebend sind.
d) Nach dem Zugang der Kündigung eintretende Ereignisse und Entwicklungen, die
die im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung zulässig prognostizierte Situation verändern, spielen keine Rolle. Erweist sich eine bei Kündigungszugang zutreffende Prognose infolge damals nicht voraussehbarer Veränderungen im Nachhinein als falsch, bleibt die Kündigung wirksam. Es gilt die Faustregel: Einmal
wirksam, immer wirksam! (Gamillscheg).
Erweist sich jedoch eine bei Kündigungszugang zutreffende Prognose aufgrund des Eintritts neuer
Umstände noch in dem Zeitraum bis zum Ablauf der Kündigungsfrist als unzutreffend, kommt
ausnahmsweise ein Anspruch des gekündigten AN auf Wiedereinstellung in Betracht. Es sind dies
die Fälle, in denen es an der Geeignetheit der Kündigung zur Beseitigung einer Beeinträchtigung der
betrieblichen Interessen z.B. darum fehlt, weil der Kündigungsgrund vor Ablauf der Kündigungsfrist
weggefallen ist; so wenn der wegen einer Dauererkrankung gekündigte AN in diesem Zeitraum gesundet (oben unter 3. a). Ist die Gesundung hingegen erst danach eingetreten, bleibt die Kündigung
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geeignet und ist die Kündigung rechtswirksam, sofern nicht im Zeitpunkt der Kündigungszugangs erkennbar gewesen ist, dass der AN innerhalb einer dem ArbG noch zumutbaren Zeitspanne nach Ablauf der Kündigungsfrist arbeitsfähig werden würde. Dann nämlich würde es an der Angemessenheit
der Kündigung fehlen (oben unter 3. c (1).
e) Es ist Aufgabe des AN, im Kündigungsschutzprozess substantiiert darzulegen,
dass wenigstens eine Prognose des ArbG fehlerhaft gewesen ist. Den ArbG trifft
nach § 1 II 4 KSchG im Gegenzug die Beweislast dafür, dass die objektiven Verhältnisse im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung die Prognosen bezogen
auf die Verhältnisse bei Ablauf der Kündigungsfrist und darüber hinaus rechtfertigten.
5. Kein gesondertes Prognose-Prinzip neben dem Verhältnismäßigkeits-Prinzip
Neben dem Verhältnismäßigkeits-Prinzip auch noch auf ein „Prognose-Prinzip“ abzustellen, wie dies vor allem in den Fällen der personenbedingten Kündigung vorherrschend vertreten wird, in denen die Leistung des AN wegen Krankheit ausfällt, ist
bei konsequenter Anwendung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips entbehrlich. Es ist
keinesfalls erforderlich, vor Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Kündigung erst
einmal festzustellen, ob der an sich geeignete Kündigungsgrund der Krankheit des
AN im konkreten Fall die negative Prognose rechtfertigt, dass die z.B. vorliegende
Langzeiterkrankung oder die krankheitsbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit in
absehbarer Zeit keine Aussicht auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit bietet
oder dass z.B. häufige Kurzerkrankungen sich auf nicht absehbare Zeit wiederholen
werden. Derlei Fragen beantworten sich ohne weiteres bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeits-Prinzips.
Die in der Feststellung der Geeignetheit der Kündigung enthaltene Prognose, dass der
den Kündigungsgrund bildende Störungstatbestand noch bei Ablauf der Kündigungsfrist vorliegt (oben unter 3. a), und die in der Feststellung der Angemessenheit der
Kündigung u.a. enthaltene Prognose, dass die kündigungsrelevante Störung über die
dem ArbG nach Ablauf der Kündigungsfrist für die Hinnahme der Störung im Einzelfall noch zumutbare Zeitspanne hinaus fortbesteht (oben unter 3 c (1)), decken die
negative Prognose - wie vorstehend unter 4. a) und b) deutlich wird - vollständig ab,
ohne dass es noch der Zuhilfenahme eines „Prognose-Prinzips“ bedarf.
III. Der personenbedingte Kündigungsgrund
1. Der an sich geeignete Störungstatbestand
Der personenbedingte Kündigungsgrund entstammt der Sphäre des AN. Er erfordert
das Vorliegen einer Störung des Arbeitsverhältnisses durch eine Pflichtverletzung des
AN in Gestalt der Nicht- oder Schlechtleistung. Im Gegensatz zum verhaltensbedingten Kündigungsgrund beruht die Pflichtverletzung hier aber nicht auf einem willensgesteuerten Fehlverhalten des AN, sondern darauf, dass dem AN aufgrund von
persönlichen Umständen, die er nicht willensgesteuert beherrschen kann, die Möglichkeit oder Fähigkeit fehlt, seine arbeitsvertraglichen Pflichten zu erfüllen. Mangels
Verschuldens des AN handelt es sich um eine Pflichtverletzung im (lediglich) objektiven Sinn.
Jede Nicht- oder Schlechtleistung ist schuldrechtlich eine Pflichtverletzung mindestens im objektiven Sinne sowie arbeitsrechtlich eine Beeinträchtigung der betriebli-
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chen Interessen und damit ein Störungstatbestand, der zu einer Kündigung führen
kann (ErfK/Oetker § 1 KSchG Rn. 68). Da die personenbedingte Nicht- oder
Schlechtleistung aber kein Verschulden des AN voraussetzt, soll sie im Grundsatz
von Ausnahmen abgesehen sozusagen als Ausgleich für das fehlende Merkmal des
Verschuldens erst dann einen Kündigungsgrund abgeben, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen geführt hat. Das gilt vor allem
in den Fällen, in denen die personenbedingte Pflichtverletzung auf Krankheit beruht; denn der AN soll vor der Gefahr geschützt sein, seinen Arbeitsplatz aufgrund
einer im Regelfall vorübergehenden Schwächeerscheinung ohne sein Verschulden
allzu schnell zu verlieren.
a) Hauptfall eines personenbedingten Kündigungsgrundes ist die Krankheit des AN.
(1) Im Fall einer Langzeiterkrankung, kommt es für die Feststellung eines kündigungsrelevanten Störungstatbestandes zum einen auf die Art der Erkrankung sowie auf die Dauer der bisher aufgelaufenen
Fehlzeiten an, die ein gewichtiges Indiz für die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit des AN bilden. Zum
anderen muss die anhaltende Arbeitsunfähigkeit des AN zu einer erheblichen Belastung der betrieblichen Interessen geführt haben und weiter führen, regelmäßig in Gestalt von Betriebsablaufstörungen.
Dabei kommt es u. a. auf die Bedeutung des Arbeitsplatzes für den Betrieb an und darauf, ob es für
den ArbG möglich und wirtschaftlich tragbar ist, Überbrückungsmaßnahmen zu ergreifen. Als solche
kommen z.B. die Beschäftigung von Ersatzpersonal, die Schaffung von Vertretungsmöglichkeiten und
die Vornahme organisatorischer Umstellungen in Betracht (ErfK/Oetker § 1 KSchG Rn. 133).
(2) Im Regelfall ungleich störender als die Langzeiterkrankung eines AN sind häufige Kurzerkrankungen. Dies gilt vor allem für kleinere Betriebe, für die das Vorhalten einer Personalreserve, die solche Ausfälle abfangen soll, finanziell oft nicht tragbar ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass mit einer
Personalreserve ausgestattete Großbetriebe häufige Kurzerkrankungen großzügiger hinzunehmen hätten.
Für die Feststellung eines kündigungsrelevanten Störungstatbestandes kommt es zum einen auf die Art,
die Häufigkeit und die Dauer der bisher aufgetretenen Erkrankungen an, die die Wiederholungsgefahr
indizieren. Zu dem weiteren Erfordernis einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen siehe zunächst vorstehend unter (1). Darüber hinaus sind im Fall häufiger Kurzerkrankungen bei
wiederholten Erkrankungen jeweils unterschiedlicher Ursache Belastungen mit über sechs Wochen pro
Jahr hinausgehenden Entgeltfortzahlungskosten von Bedeutung. Erhebliche Beeinträchtigungen können ferner aus Störungen im Produktionsablauf folgen, dies insbesondere bei Arbeit in der Gruppe,
ferner aus der wiederholt vorübergehenden Beschäftigung von Aushilfskräften, aus der Verärgerung
von Kunden über Verzögerungen, aus dem Verlust von Kundenaufträgen und dem Unfrieden in der
Belegschaft infolge wiederholter Vertretungsnotwendigkeiten sowie der Durchführung von Überarbeit
(über die regelmäßige betriebliche Arbeitszeit hinaus) oder Mehrarbeit (über die regelmäßige gesetzliche Arbeitszeit hinaus) (ErfK/Oetker § 1 KSchG Rn 140).
Gerade häufige Kurzerkrankungen nähren den Verdacht, dass sich der AN gehen lässt und es sich angewöhnt hat, jeder kleinen Unpässlichkeit nachzugeben oder gar ganz bewusst gelegentlich „seine
Grippe zu nehmen“. Insoweit befindet sich dieser Störungstatbestand in einer Grauzone zwischen einem personenbedingten und einem verhaltensbedingten Kündigungsgrund. Letzterer würde als
regelmäßig schuldhafte Pflichtverletzung eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen gerade nicht voraussetzen; siehe nachfolgend unter IV. In diesen Fällen gelingt es jedoch nur selten, die
Schuldfrage zu klären. Bemerkenswert ist allerdings die häufig anzutreffende Erkenntnis, dass ein
ernstes Gespräch des ArbG mit dem AN darüber, wie es in Zukunft weitergehen soll, oft Wunder
wirkt. Zu der entsprechenden Problematik im Fall der Minderleistung des AN siehe nachfolgend unter
b).
(3) Wie im Fall von Eignungsmängeln (nachfolgend unter b) ist im Fall krankheitsbedingter Minderung der Leistungsfähigkeit der kündigungsrelevante Störungstatbestand einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen eingetreten, wenn die Arbeitsleistung in dem Maße hinter den
berechtigten Erwartungen des ArbG zurückbleibt, dass sie in keinem wirtschaftlich vernünftigen Verhältnis mehr zur Entlohnung steht. Von einer schweren Störung im Verhältnis von Leistung und Ge-
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genleistung kann bei einer Leistungsminderung von mehr als 1/3 gegenüber der durchschnittlichen
Leistung vergleichbarer AN gesprochen werden.
(4) Im Fall krankheitsbedingt dauernder Leistungsunfähigkeit wird der kündigungsrelevante Störungstatbestand einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen aus der Tatsache abgeleitet, dass dem AN die Ausübung der geschuldeten Tätigkeit unmöglich geworden ist.
(5) Leistungsausfälle infolge von Alkohol- und Drogensucht erfüllen den Tatbestand der Krankheit.
Sie sind personenbedingte Kündigungsgründe, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen geführt haben und weiter führen. Es finden vor allem die für Langzeiterkrankungen geltenden Maßstäbe Anwendung (vorstehend unter (1)). Hinzu kommt, dass die Tätigkeit des AN
mit Gefahren für ihn selbst und Dritte verbunden ist. Da der ArbG stets befürchten muss, dass der AN
nicht nüchtern ist, ist er auf seinem Arbeitsplatz kaum mehr einsetzbar.
b) Fachliche Eignungsmängel körperlicher und/oder geistiger Art, die sich z.B. durch unzureichende
Kenntnisse, Fertigkeiten oder Fähigkeiten sowie das Nichtbestehen von Prüfungen bemerkbar machen,
sind ein personenbedingter Kündigungsgrund. Sie führen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der
betrieblichen Interessen, wenn die Arbeitsleistung in dem Maße hinter der nach ihrer Tätigkeit vergleichbarer AN zurückbleibt, dass sie zu der Entlohnung in keinem wirtschaftlich vernünftigen Verhältnis mehr stehen. Von einem nicht mehr hinnehmbaren Ungleichgewicht kann bei einer Leistungsminderung von mehr als 1/3 gegenüber der durchschnittlichen Leistung vergleichbarer AN gesprochen
werden. (Vgl. oben § 26 II. 1. sowie BAG v. 11.12.2003 - 2 AZR 667/02 - in NZA 2004, 784 sowie
BAG v. 17.1.2008 - 2 AZR 536/06 - in NZA 2008, 693). Durch eine sorgfältige Personalauswahl, begleitende Beobachtung und Unterstützung des AN in der Probezeit, ggf. zunächst eine nur befristete
Einstellung, wiederholte Schulungen und eine aufmerksame Personalführung sollte derlei vermieden
werden können.
Auch persönliche Eignungsmängel, vorwiegend charakterlicher Art, können zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Verhältnisse führen, etwa in Gestalt von mangelnder Kooperationsfähigkeit, Entscheidungsschwäche, mangelnder Fähigkeit zur Menschenführung, autoritärer Führungsstil, fehlender pädagogischer Befähigung. Hierbei kann es auch zu einer Druckkündigung kommen
(nachfolgend unter i).
Der Eignungsmangel insbesondere in Gestalt der fachlichen Minderleistung kann seine Ursache auch
darin haben, dass der AN seine Leistungsfähigkeit willensgesteuert nicht ausschöpft und sich also
mindestens keine Mühe gibt, wenn nicht gar ganz bewusst langsam und nachlässig arbeitet. Eine dergestalt schuldhafte Pflichtverletzung setzt den AN einer verhaltensbedingten Kündigung aus, die keine
erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen voraussetzt (siehe nachfolgend unter IV.).
Die Grenze zwischen der willensgesteuerten Nachlässigkeit und der unwillentlichen Unfähigkeit
ist jedoch fließend. Überdies gelingt es in diesen Fällen oft nicht, die Schuldfrage zu klären. Anstelle
einer Abmahnung kann jedoch auch ein ernsthaftes Gespräch zwischen ArbG und AN darüber, wie es
in Zukunft weitergehen soll, zu einer Verbesserung der Situation führen. Zu der entsprechenden Problematik im Fall häufiger Kurzerkrankungen des AN siehe vorstehend unter a) (2).
c) Das Lebensalter als solches ist kein personenbedingter Kündigungsgrund, doch kann eine altersbedingte Leistungsminderung bei erheblicher Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen einen personenbedingten Kündigungsgrund bilden. Es gelten die Maßstäbe der krankheitsbedingten Leistungsminderung (vorstehend a (3)).
d) Beschäftigungsverbote wegen rechtskräftiger Versagung des Aufenthaltstitels nach §§ 4 III, 18
AufenthaltsG oder der Arbeitsgenehmigung für Staatsangehörige der neuen EU-Mitgliedstaaten nach §
284 SGB III bilden ohne weiteres einen personenbedingten Kündigungsgrund, weil sie den Einsatz des
AN im Betrieb generell unmöglich machen. Das Fehlen der jeweils erforderlichen Erlaubnis zur Berufsausübung z.B. als Kraftfahrer (Führerschein), Pilot (Fluglizenz), Arzt (Approbation) macht die
Ausübung der vertraglich geschuldeten Tätigkeit unmöglich und kann darum ein personenbedingter
Kündigungsgrund sein, wenn der AN nicht anderweitig einsetzbar ist.
e) Die haftbedingte Arbeitsverhinderung bildet, abhängig von der Dauer der Haft sowie von Art
und Ausmaß der daraus folgenden betrieblichen Auswirkungen, einen personenbedingter Kündigungsgrund. Für den Fall einer Untersuchungshaft wird der ArbG den ersten Haftprüfungstermin abwarten
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müssen. Auch ohne das Vorliegen einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen
können außerhalb des Dienstes begangene Straftaten zu einer personenbedingten Kündigung führen, wenn sie „einschlägig“ sind, weil sie das Arbeitsverhältnis konkret berühren (z.B. Vermögensdelikt eines Bankangestellten, Trunkenheitsfahrt eines Berufskraftfahrers oder Zugführers bei der Bahn,
BTM-Delikt einer Krankenschwester).
f) Der Arbeitsplatzschutz deutscher AN nach § 2 I ArbPlSchG für Wehrübungen wird in Deutschland auch von AN aus einem EU-Staat in Anspruch genommen werden können. Überschreitet der
Wehrdienst eines ausländischen AN, dessen Heimatstaat nicht der EU angehört, den Zeitraum von
zwei Monaten, liegt darin allerdings regelmäßig ein personenbedingter Kündigungsgrund.
g) Glaubens- und Gewissenskonflikte des AN, die ihm übertragenen Arbeiten vertragsgemäß auszuführen, machen die vertraglich geschuldete Tätigkeit des AN unmöglich und können zu einer personenbedingten Kündigung führen, wenn der AN nicht anderweitig einsetzbar ist (oben § 3 III. 3. (2)).
h) Ist der AN bei einem Tendenzunternehmen oder einer Religionsgemeinschaft bzw. kirchlichen Einrichtung (siehe § 118 BetrVG sowie oben § 6 IV. 2. bis 4.) als Tendenzträger beschäftigt, darf der
ArbG von ihm erwarten, sich mit den Zielen des Unternehmens im Wesentlichen zu identifizieren und
durch seine Arbeitsleistung an ihrer Verwirklichung mitzuwirken. Läuft die persönliche Haltung des
AN bzw. die von ihm erbrachte Arbeitsleistung dem Tendenzzweck zuwider, liegt ein personenbedingter Kündigungsgrund vor.
i) Es kommt vor, dass der ArbG einem AN kündigt, weil die Belegschaft, der Betriebsrat oder ein Geschäftspartner dies von ihm unter Ausübung von Druck verlangt. Man spricht in diesem Fall von einer
Druckkündigung. Sofern sich das Entlassungsbegehren bei objektiver Betrachtung auf eine in der
Person oder im Verhalten des AN liegenden Störung der zurückführen lässt, bildet es einen besonderen, an der Person des AN anknüpfenden und darum personenbedingten Kündigungsgrund, wenn es
dem ArbG trotz intensiver Bemühungen nicht gelingt, dem Druck entgegenzuwirken und die Kündigung das einzige Mittel ist, von dem Betrieb Schaden abzuwenden.
Fehlt es hingegen an einem dem AN zuzurechnenden Anlass für die Drucksituation, kann es nach der
Rechtsprechung des BAG zu einer betriebsbedingten Kündigung kommen. Das gilt insbesondere in
den Fällen, in denen ein Vertragspartner des ArbG den Druck dadurch ausübt, dass er mit Auftragsentzug droht. Entstünden für den ArbG bei Verwirklichung der Drohung schwere wirtschaftliche Schäden, muss der ArbG aus wirtschaftlichen Gründen handeln. Der Kündigungsgrund ist darum seiner
Sphäre zuzuordnen.
2. Zur Geeignetheit der personenbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe
oben unter II. 3. a).
3. Zur Erforderlichkeit der personenbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe schon oben unter II. 3. b) zur Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen Arbeitsplatz seines ArbG.
Darüber hinaus kommt als der personenbedingten Kündigung spezifisch vorrangige
Maßnahme vor allem in den Fällen häufiger Kurzerkrankungen (Nichtleistung) oder
anhaltender Minderleistung bzw. wiederholter Schadensfälle (Schlechtleistung) ein
klärendes Gespräch in Betracht, in dem der ArbG auf den Störungstatbestand hinweist und mit dem AN Maßnahmen zur Abhilfe bespricht. Da in diesen Fällen nicht
auszuschließen ist, dass der AN sich nur einfachen gehen lässt, kann ein solches Gespräch Wunder wirken. Im Übrigen fordert die Rechtsprechung neuerdings vom
ArbG, vor jeder personenbedingten Kündigung wegen Arbeitsunfähigkeit das in § 84
II SGB IX geschilderte betriebliche Eingliederungsmanagement durchzuführen, und
zwar unabhängig davon, ob der AN behindert ist oder nicht (BAG v. 12.7.07 - 2 AZR
716/06 - in NZA 08, 173).
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Im Fall von Alkohol- oder Drogensucht soll von einer negativen Prognose nur ausgegangen werden dürfen, wenn der AN eine Entziehungskur ablehnt oder eine derartige Maßnahme sich als erfolglos erweist.
4. Zur Angemessenheit der personenbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe schon oben unter II. 3 c).
Da krankheitsbedingte Störungen zumeist vorübergehender Natur sind, kommt dem
a.a.O. unter (1) aufgeführten Gesichtspunkt, dass die nach Ablauf der Kündigungsfrist innerhalb einer dem ArbG noch zumutbaren Zeitspanne eintretende Wiederherstellung des AN die Angemessenheit der Kündigung entfallen lässt, besondere Bedeutung zu. Er spielt eine entscheidende Rolle für die negative Zukunftsprognose
(siehe oben unter II. 5.).
Überdies kann dem AN eine allgemeine Interessenabwägung aus sozialen Gründen zugute kommen (oben unter II. 3. c (2).
Lehnt ein alkoholabhängiger AN eine Entziehungskur bzw. Therapie ab, kann der ArbG in aller Regel
davon ausgehen, dass der AN von seiner Alkoholkrankheit in absehbarer Zeit nicht geheilt sein wird
(BAG v. 20.3.2014 – 2 AZR 565/12 – in ArbRB 2014, 165).
IV. Der verhaltensbedingte Kündigungsgrund
1. Der an sich geeignete Störungstatbestand
Wie der personenbedingte, so entstammt auch der verhaltensbedingte Kündigungsgrund der Sphäre des AN und erfordert das Vorliegen einer Störung des Arbeitsverhältnisses durch eine Pflichtverletzung in Gestalt der Nicht- oder Schlechtleistung.
Im Gegensatz zum personenbedingten Kündigungsgrund ist die Pflichtverletzung hier
aber dadurch gekennzeichnet, dass der AN seine arbeitsvertraglichen Pflichten im
Wesentlichen willensgesteuert verletzt und damit im Regelfall schuldhaft handelt.
Darin liegt eine Pflichtverletzung nicht nur im objektiven, sondern zugleich im
subjektiven Sinne.
Da die verhaltensbedingte Kündigung grundsätzlich ein Verschulden des AN voraussetzt, liegt in der anlassgebenden Nicht- oder Schlechtleistung anders als im Fall
der personenbedingten Kündigung selbst dann ein an sich geeigneter Kündigungsgrund, wenn die Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen noch nicht erheblich
ist. Geringe Schuld des AN kann allerdings bei der Prüfung der Frage, ob die Kündigung im Sinne des Verhältnismäßigkeits-Prinzips angemessen ist, eine Rolle spielen.
Typische Fälle verhaltensbedingter Kündigungsgründe sind unentschuldigtes Fehlen, Unpünktlichkeit, Erledigung privater Angelegenheiten während des Dienstes, Surfen im Internet zu privaten
Zwecken; Bummelei infolge Überziehens der Pausen, Zeitunglesens, Computerspielens und ausgedehnter privater Telefonate; eigenmächtiges Verlassen des Arbeitsplatzes, Verletzung eines betrieblichen Alkohol- oder Rauchverbots, Missachtung von Weisungen, unsorgfältiges Arbeiten, Störung des
Betriebsfriedens, aufdringliche Werbung für Parteien, Religionsgemeinschaften und Sekten, schadenstiftendes Verhalten, Verrat von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen, Beleidigung von Arbeitskollegen, sexuelle Belästigung von Mitarbeitern.
Aus der Sicht des ArbG kann es geboten sein, neben einer verhaltensbedingten Kündigung zugleich
eine entsprechende ordentliche Verdachtskündigung auszusprechen für den Fall, dass der Gekündig-
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te die vom ArbG behauptete/n Pflichtverletzung/en beharrlich bestreitet, den dringenden Tatverdacht
jedoch nicht entkräften kann. BAG 21.11.13 – 2 AZR 797/11 – ArbR 14, 101 / ArbRB 14, 71
Eine Verdachtskündigung kommt in Betracht, wenn Tatsachen den dringenden Verdacht belegen,
dass der AN eine Pflichtverletzung begangen hat, die im Falle ihrer Erweislichkeit eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen würde. Sie ist jedoch nur wirksam, wenn der ArbG alle zumutbaren
Anstrengen zur (allerdings vergeblichen) Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere
dem AN im Wege der Anhörung die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat.
Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verdachtskündigung kommt es entgegen dem Normalfall der Kündigung (oben § 30 II. 4.) nicht auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung
beim AN, sondern auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Kündigungsschutzprozess an, auf deren Grundlage das Urteil ergeht. Wird der dringende Tatverdacht noch bis zu diesem
Zeitpunkt ausgeräumt, gewinnt der AN seinen Prozess. Stellt sich die Haltlosigkeit des Verdachts erst
danach heraus, kann der AN vom ArbG Wiedereinstellung verlangen, sofern sein Arbeitsplatz noch
verfügbar ist. Mindestens hat der AN Anspruch auf eine entsprechende Ehrenerklärung in der Form eines Zeugnisses oder in sonst wie geeigneter Weise.
2. Zur Geeignetheit der verhaltensbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe
oben unter II. 3. a).
3. Zur Erforderlichkeit der verhaltensbedingten Kündigung im konkreten Fall
siehe schon oben unter II. 3. b) zur Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen
Arbeitsplatz seines ArbG.
Weil der AN sein Verhalten im Grundsatz willensmäßig steuern kann, ist eine verhaltensbedingte Pflichtverletzung im Regelfall nur dann kündigungsrelevant, wenn auch
künftige Störungen zu besorgen sind. Darum kommt als der verhaltensbedingten
Kündigung spezifisch vorrangige Maßnahme die Abmahnung des AN wegen der
störenden Pflichtverletzung in Betracht mit der Folge, dass die Kündigung erst im
Wiederholungsfall als das zur Beseitigung der Störung erforderliche Mittel infrage
kommt, wenn nicht zunächst einmal eine weitere Abmahnung geboten sein sollte oder eine Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen Arbeitsplatz seines ArbG
(dazu schon oben unter II. 3. b) die eingetretene Störung beseitigen kann.
Um ihre Funktion erfüllen zu können, muss die Abmahnung drei Elemente enthalte: (a) die Beanstandung einer Pflichtverletzung, (b) die Aufforderung, sich künftig vertragsgemäß zu verhalten und (c)
die Warnung vor der möglichen Konsequenz in Gestalt einer Kündigung im Falle einer erneuten
Pflichtverletzung vergleichbarer Art. Sie sollte schriftlich ausgesprochen und zur Personalakte genommen werden. Eine unberechtigte Abmahnung darf der AN in entsprechender Anwendung des §
1004 BGB aus der Personalakte entfernen lassen (oben § 3 III. 3. (1).
Einer vorangehenden Abmahnung bedarf es dann nicht, wenn von vornherein feststeht, dass sie die eingetretene Störung nicht beseitigen kann; denn sie ist dann kein
gegenüber der Kündigung geeignetes milderes Mittel. So etwa im Fall einer Pflichtverletzung, die das Vertrauensverhältnis zwischen ArbG und AN auf Dauer belastet.
Neben dem ArbG ist jeder zur Abmahnung berechtigt, der dem Betroffenen gegenüber weisungsberechtigt ist oder vom ArbG hierzu bevollmächtigt wurde. Die Abmahnung unterliegt nicht der Mitbestimmung des Betriebsrates.
4. Zur Angemessenheit der verhaltensbedingten Kündigung im konkreten Fall
siehe schon oben unter II. 3. c).
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Dass die verhaltensbedingt eingetretene Störung nach Ablauf der Kündigungsfrist innerhalb einer dem ArbG noch zumutbaren Zeitspanne ohne eine Kündigung von alleine entfällt und es darum an der Angemessenheit fehlt, dürfte selten sein.
Immer noch kann dem AN aber eine allgemeine Interessenabwägung aus sozialen
Gründen zugute kommen (oben unter 3. c) (2).
V. Der betriebsbedingte Kündigungsgrund
1. Der an sich geeignete Störungstatbestand
Das Gesetz bezeichnet die betriebsbedingte Kündigung als „durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt.“ Der Kündigungsgrund entstammt insoweit der Sphäre des ArbG, als er einer betrieblichen Umgestaltung Rechnung trägt, die der ArbG
in Ausübung seiner Leitungsfunktion für notwendig erachtet.
a) Im Regelfall geht es darum, dass der ArbG sich dazu entschließt
•
entweder als Reaktion auf wirtschaftliche Probleme, wie sie infolge von
Auftrags- oder Rohstoffmangel, Absatzschwierigkeiten oder Kreditrestriktionen entstehen können
•
oder als reiner Gestaltungsakt zur Verwirklichung seiner betriebswirtschaftlichen Erkenntnisse, Vorstellungen oder Absichten
sich dazu entschließt, eine unternehmerische Entscheidung zu treffen, deren Vollzug den Beschäftigungsbedarf verringert, etwa durch die Umstellung, Einschränkung oder Einstellung von Produktionsbereichen oder die Auflösung von Abteilungen
bis hin zur Stilllegung des Betriebs, auf Grund von Rationalisierungsmaßnahmen
durch den Einsatz personalsparender Maschinen, der Einführung neuer Fertigungsmethoden, der Straffung der Arbeitsabläufe, der Leistungsverdichtung, des Abbau von
Hierarchieebenen, der Auslagerung von Tätigkeiten usw. Hierdurch entfallende Beschäftigungsmöglichkeiten führen nach § 615 BGB zu „Lohn ohne Arbeit“. Der darin
liegende Störungstatbestand des Arbeitskräfteüberhangs wird kündigungsrelevant, sobald die Organisationsentscheidung „greifbare Formen“ angenommen hat.
Eine das Arbeitsverhältnis beendigende Kündigung, durch die bei Fortbestand der Arbeitsplätze lediglich teures Personal entlassen werden soll, um es durch die Neueinstellung billigerer Arbeitskräfte zu
ersetzen, ist eine unzulässige Austauschkündigung. Eine Entgeltkürzung kann allerdings im Wege
einer betriebsbedingten Änderungskündigung herbeigeführt werden. Das setzt jedoch voraus, dass andernfalls der Abbau von Arbeitsplätzen oder gar die Stilllegung des Betriebs droht (unten § 34).
Keine unzulässigen Austauschkündigungen sind betriebsbedingte Kündigungen, die als Folge der Entscheidung des ArbG ausgesprochen werden, bisher von seinen AN wahrgenommene Tätigkeiten
künftig durch andere Unternehmer ausführen zu lassen. Ist der mit der Wahrnehmung dieser Tätigkeiten beauftragte Unternehmer reiner Nachfolger in der Funktion, liegt ein Betriebsübergang im
Sinne des § 613a BGB, der betriebsbedingte Kündigungen beim Auftraggeber hindern würde, nicht
vor (unten § 40 I. 5.). Überträgt der ArbG die Erledigung solcher Aufgaben aber künftig auf Leih-AN,
tragen deswegen gegenüber seinem Stammpersonal ausgesprochene betriebsbedingte Kündigungen
den Charakter unzulässiger Austauschkündigungen. Um derlei von vornherein zu begegnen, ist der Betriebsrat des Entleihbetriebs nach § 14 III AÜG vor dem Einsatz eines Leih-AN nach § 99 BetrVG zu
hören und kann nach § 99 II Nr. 3 BetrVG die Zustimmung zur Entleihe verweigern.
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Die unternehmerische Entscheidung darf sich nicht allein in der Kündigung erschöpfen. Die Kündigung muss sich vielmehr als Folge einer innerbetrieblichen Organisationsaktes erweisen, andernfalls es an der Betriebsbedingtheit der Kündigung
fehlt. Es reicht auch nicht, sie nur mit Schlagworten, wie „wegen Auftragsmangels“,
„aus Rationalisierungsgründen“ oder „wegen des Abbaus von Produktionskapazitäten“ zu erklären. Im Kündigungsschutzprozess jedenfalls muss der ArbG im Einzelnen darlegen, welche außer- oder innerbetrieblichen Umstände zu welcher Organisationsmaßnahme geführt haben und wie sie sich auf die Beschäftigungsmöglichkeiten auswirkt.
Auf ihre wirtschaftliche Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit hingegen soll die
unternehmerische Entscheidung nicht überprüft werden dürfen. Als Grund hierfür wird hauptsächlich angeführt, dass es nicht Aufgabe der Arbeitsgerichte ist, dem
ArbG eine „bessere“ oder „richtigere“ Unternehmenspolitik vorzuschreiben. Nur um
groben Rechtsmissbrauch zu verhindern, soll es geboten sein, die Unternehmerentscheidung daraufhin zu überprüfen, ob sie offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist (BAG v. 26.9.2002 – AZR 636/01 – in NZA 2003, 549). Insoweit
allerdings trifft im Grundsatz den AN im Kündigungsschutzprozess die Last, derlei
Umstände darzulegen und zu beweisen (BAG v. 23.4.08 – 2 AZR 1110/06 – in NZA
2008, 939).
Der Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit bedeutet immer eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Verhältnisse. Da es dem ArbG nicht zuzumuten ist,
die unproduktive Zahlung von Lohn ohne Arbeit aus sozialen Erwägungen auf Dauer
hinzunehmen, kennt die betriebsbedingte Kündigung auch keine zusätzliche allgemeine Interessenabwägung zwischen ArbG und AN aus sozialen Gründen. An ihre
Stelle tritt die Sozialauswahl nach § 1 III KSchG unter den AN, die durch vergleichbare Arbeitsplätze gleichermaßen kündigungsbedroht sind (unten § 31).
Der betriebsbedingte Wegfall eines oder mehrerer Arbeitsplätze führt damit nicht zwangsläufig zur
Kündigung genau des oder der AN, die auf eben diesen Arbeitsplätzen beschäftigt sind. Der ArbG ist
vielmehr verpflichtet, unter all den AN, die auf vergleichbaren Arbeitsplätzen beschäftigt sind, im
Wege der Sozialauswahl denjenigen oder diejenigen zu ermitteln, dem bzw. denen die Kündigung am
ehesten zugemutet werden kann. Bei der Auswahl hat der ArbG die Dauer der Betriebszugehörigkeit,
das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des AN zu berücksichtigen und ggf. nach den Vorgaben einer Auswahlrichtlinie nach § 95 BetrVerfG (siehe auch §§ 1 II Satz 2 Nr.1a,
IV KSchG) - zu gewichten (unten § 31).
b) Fälle einer betriebsbedingten Kündigung, die nicht auf die Beseitigung eines
Arbeitskräfteüberhangs gerichtet sind, liegen in der Änderungskündigung zur Entgeltkürzung wegen wirtschaftlicher Existenzgefährdung des Betriebs, ferner in der
Kündigung eines AN, für dessen Einstellung der Betriebsrat die Zustimmung nach §
99 II BetrVG verweigert hat sowie ggf. in der Druckkündigung (dazu oben III. 1. i.)).
2. Zur Geeignetheit der betriebsbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe
oben unter II. 3. a).
3. Zur Erforderlichkeit der betriebsbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe
schon oben unter II. 3. b) zur Weiterbeschäftigung des AN auf einem anderen Arbeitsplatz seines ArbG.
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Darüber hinaus kommt als der betriebsbedingten Kündigung spezifisch vorrangige
Maßnahme der Abbau von Überstunden und Leiharbeit, bei hohem Arbeitskräfteüberhang auch die Einführung von Kurzarbeit in Betracht, obwohl diese Maßnahme
ausschließlich der vorübergehenden Verkürzung der betriebsüblichen Arbeitszeit zu
dienen bestimmt ist.
4. Zur Angemessenheit der betriebsbedingten Kündigung im konkreten Fall siehe
oben unter II. 3. c).
Kann der ArbG nur einen Teil der AN, die betriebsbedingt gekündigt werden sollen, auf freien Stellen
weiterbeschäftigen, hat er zum Zwecke ihrer Besetzung analog § 1 III KSchG eine Sozialauswahl
durchzuführen (ErfK/Oetker § 1 KSchG Rn. 253).
VI. Die Prüfungsschritte
Um annähernd sicherzustellen, dass die Kündigung eines AN vom Arbeitsgericht
nicht mangels sozialer Rechtfertigung für rechtsunwirksam erklärt wird, müssen vor
Ausspruch der Kündigung folgende Fragen geklärt werden:
1. Liegt ein im Sinne des § 1 II KSchG legitimer, als solcher geeigneter personen-,
verhaltens- oder betriebsbedingter Kündigungsgrund wirklich vor?
2. Berechtigt die im Augenblick des Zugangs der Kündigungserklärung obwaltenden
Verhältnisse bei objektiver Betrachtung zu der negativen Prognose,
a) dass der Störungstatbestand nicht vor Ablauf der Kündigungsfrist entfällt (= die
Kündigung ist das zur Beseitigung der Störung durch Beendigung des Arbeitsverhältnisses geeignete Mittel),
b) dass dem ArbG vor Ablauf der Kündigungsfrist nicht ein milderes Mittel als das
der Kündigung zur Verfügung steht, den Störungstatbestand zu beseitigen (= die
Kündigung ist das zur Beseitigung der Störung durch Beendigung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Mittel),
c) dass der Störungstatbestand nicht innerhalb einer dem ArbG für die Hinnahme der
Störung noch zumutbaren Zeitspanne nach dem Ablauf der Kündigungsfrist ohne die
Kündigung entfällt oder dem ArbG in diesem Zeitraum ein milderes Mittel zur Beseitigung des Störungstatbestandes nicht verfügbar sein wird (= die Kündigung ist das
zur Beseitigung der Störung durch Beendigung des Arbeitsverhältnisses angemessene Mittel)?
3. Gibt es in den Fällen der personen- oder verhaltensbedingten Kündigung aufgrund einer allgemeinen Interessenabwägung zwischen dem ArbG und dem AN
keine sozialen Gründe, aufgrund derer dem ArbG zuzumuten ist, die eingetretene
Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen als das gegenüber dem Arbeitsplatzverlust des AN kleinere Übel hinzunehmen?
4. Hat in dem Fall einer betriebsbedingten Kündigung statt einer allgemeinen Interessenabwägung zwischen dem ArbG und dem AN eine korrekte Sozialauswahl
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unter den kündigungsbedrohten AN nach Maßgabe von § 1 III, IV KSchG stattgefunden?
VII. Zur Beweislast im Kündigungsschutzprozess
1. Im Kündigungsschutzprozess muss der ArbG nach § 1 II 4 KSchG die Tatsachen darlegen und beweisen, die seine Kündigung nach § 1 II KSchG sozial gerechtfertigt erscheinen lassen:
● die Tatsachen, die die Existenz eines als solchen geeigneten Kündigungsgrundes
belegen (vorstehend unter 1.),
die Tatsachen, die die Zulässigkeit der negativen Prognosen unter vorstehend 2. a)
bis c) belegen,
die Tatsache, dass in den Fällen der personen- oder verhaltensbedingten Kündigung keine sozialen Gründe der Entlassung entgegenstehen (vorstehend unter 3.)
2. Im Fall der betriebsbedingten Kündigung muss der AN nach § 1 III 3 KSchG die
Tatsachen darlegen und beweisen, die die Kündigung als sozial ungerechtfertigt erscheinen lassen, weil die Sozialauswahl fehlerhaft ist. Wenn er die Sozialdaten seiner Arbeitskollegen nicht kennt, hilft ihm der Auskunftsanspruch nach § 1 III 1
Halbs. 2 KSchG.