Körperdiskurse

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Körperdiskurse
Corinna Schlicht & Thomas Ernst (Hg.)
Ernst/Schlicht (Hg.) • Körperdiskurse. Gesellschaft, Geschlecht und Entgrenzungen
Der menschliche Körper wird in den Kulturwissenschaften
und dort insbesondere in der Geschlechterforschung als eine
Größe verstanden, die nicht jenseits ihrer diskursiven Konstruktion wahrgenommen werden kann. Künstlerische Werke
sind die herausragenden Reflexionsorte, an denen die Körperdiskurse einer bestimmten Kultur beleuchtet werden. Dabei variieren Semantik und Wertungen je nach historischem
Diskurszusammenhang, in dem Körper, ihre Zustände, ihr Begehren und ihre kulturelle Wahrnehmung zum Gegenstand
werden.
Die literaturwissenschaftlichen Beiträge des vorliegenden
Bandes untersuchen die künstlerische Reflexion über Körper
am Beispiel deutschsprachiger Liedtexte, wie sie sich im 20.
Jahrhundert vom Chanson der Weimarer Republik über die
Popmusik, den Punk und das politische Lied bis hin zum Rap
entwickelt haben.
Körperdiskurse
Gesellschaft, Geschlecht und
Entgrenzungen in deutschsprachigen
Liedtexten von der Weimarer Republik
bis zur Gegenwart
ISBN 978-3-942158-82-4
9 783942 158824
UVRR
Universitätsverlag Rhein-Ruhr
Corinna Schlicht & Thomas Ernst (Hg.)
Körperdiskurse
Gesellschaft, Geschlecht und
Entgrenzungen in deutschsprachigen
Liedtexten von der Weimarer Republik
bis zur Gegenwart
Universitätsverlag Rhein-Ruhr, Duisburg
Umschlaggestaltung
UVRR / Mike Luthardt
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ISBN
978-3-942158-82-4 (Printausgabe)
ISBN
978-3-942158-83-1 (E-Book)
Satz
UVRR
Druck und Bindung
Format, Jena
Printed in Germany
Inhalt
Thomas Ernst & Corinna Schlicht
Körperdiskurse in deutschsprachigen Liedtexten von der
Weimarer Republik bis zur Gegenwart. Eine Einleitung..................................... 5
Pia Eisenblätter
Sexualität, Schönheit, Selbstbestimmung – Körperdiskurse
in Liedtexten der Weimarer Republik................................................................ 19
Christian Steltz
Wenn Hure nicht gleich Hure und Lude nicht gleich Lude ist –
Anmerkungen zu anti-bürgerlichen Liedern von Bushido und Brecht.............. 41
Nina Kaiser
„Gedanken werden sterilisiert – Worte durch Zensur kastriert.“
Körperrepression in Liedtexten von Punkbands der DDR................................ 59
Corinna Schlicht
„Du musst dir alles geben.“ Hedonistische Daseinsbejahung
als Gegendiskurs in den Liedern Konstantin Weckers...................................... 83
Linda Leskau
Superpunk. Zur Subversion der Normalität..................................................... 111
Thomas Stachelhaus
Hungrige Herzen, gierige Körper und flüchtige Bindungen
in Songtexten der jüngsten Gegenwart............................................................ 125
Jan Franzen
Wirklich alles „Easy“? Die Konstruktion weiblicher Körperbilder
in der Musik Cros und ihre popularkulturelle Rezeption................................ 145
Fabian Wolbring
„Rap ist Männersache!“ – Hypermaskulinität und ,männliches‘
Sprechen im deutschsprachigen Rap............................................................... 169
Thomas Ernst & Corinna Schlicht
Körperdiskurse in deutschsprachigen Liedtexten
von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart. Eine
Einleitung
Der menschliche Körper wird in Anlehnung an Michel Foucaults Diskursanalyse spätestens seit den 1990er Jahren – insbesondere in den Cultural Studies,
der Geschlechterforschung und den Postcolonial Studies – als eine Größe verstanden, die nicht jenseits ihrer kulturellen bzw. diskursiven Konstruktion wahrgenommen werden kann. In Überwachen und Strafen beschreibt Foucault den
Individualkörper paradigmatisch als Verortung gesellschaftlicher Macht, der als
unterworfener wie produktiver Körper einen ambivalenten Status besitzt: „Aber
der Körper steht auch unmittelbar im Feld des Politischen; die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn; sie umkleiden ihn, sie markieren ihn, dressieren
ihn […]. [Z]u einer ausnutzbaren Kraft wird der Körper nur, wenn er sowohl
produktiver wie unterworfener Körper ist“ (Foucault 1976, 37). Will man die
diskursiv produzierten Körperbilder und -narrative verstehen, muss man ihre
entsprechenden medialen Darstellungen analysieren. Als Literatur- und Medienwissenschaftler*innen verstehen wir dabei künstlerische Diskurse – insbesondere Literatur, Theater, Film, Fotografie, bildende Kunst und Netzkunst – als
entscheidende Reflexionsorte solcher Körperkonstruktionen.
Der vorliegende Band will sich diesem Forschungsfeld widmen, indem er
speziell die Darstellung von Körperlichkeit in deutschsprachigen Liedtexten
perspektiviert, wobei wir auf diesem Wege erstens literarische Texte als zentrales Reflexionsmedium gesellschaftlicher Machtverhältnisse fokussieren und
zweitens die germanistische Literaturwissenschaft noch stärker für populärkulturelle und intermediale Themen öffnen wollen.
Wenn wir über Körperdiskurse in deutschsprachigen Liedtexten von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart nachdenken, müssen wir zuvor dieses Thema auf vier Ebenen reflektieren: Zu klären wären die Begriffe von Körper und
Körperbilder sowie die Theorien, mit deren Hilfe man sie überhaupt beschreiben
kann; es ist danach zu fragen, inwiefern die Textsorte ‚Lied‘ als ein sehr spezifischer Gegenstand der Literaturwissenschaft beschreibbar ist; ferner ist zu überlegen, inwieweit sich Körperbilder und -narrative in deutschsprachigen Liedern
systematisieren lassen; und wir müssen schließlich darüber nachdenken, warum
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Thomas Ernst & Corinna Schlicht
wir uns auf die deutsche Sprache und die Zeit von der Weimarer Republik bis in
die Gegenwart konzentrieren (und welche Implikationen dies hat, welche Ausschlüsse diese Setzung produziert etc.).
1.
Körper, Körperbilder und ihre Theorien
Wer literaturwissenschaftlich nach ‚dem Körper‘ fragt, muss sich zwangsläufig
zu drei Ebenen verhalten: Zunächst wird er/sie sich auf einer obersten Ebene zu
Theorien der Gesellschaft und der Kultur positionieren müssen, dann auf einer
mittleren Ebene zu den gesellschaftlichen Körperdiskursen und schließlich auf
einer unteren Ebene der konkreten Analyse zu künstlerischen Reflexionen der
Körperlichkeit. Die Positionierung zu Gesellschaft und Kultur schließt ein, dass
sich der/die Forscher*in zu den gesellschaftlichen Machtverhältnissen verhält
und diese beispielsweise explizit in den Analysen thematisiert oder aber sehr bewusst mit ihnen umgeht. In letzterem Fall müsste der/die jeweilige Forscher*in
klären, mithilfe welcher Theorien er/sie eine Gesellschaft und ihre Machtverhältnissen zu analysieren versucht.
Auf einer oberen Ebene, die nach den gesellschaftlichen Machtverhältnissen
allgemein fragt, ließen sich beispielsweise binäre Matrizen aufmachen: Hegemonie versus Subversion, Affirmation versus Opposition, Mehrheitsgesellschaft
versus Subkultur/Minorität, Normalität versus Abweichung. Zudem wäre zu
klären, ob beispielsweise die Gesellschaft der Gegenwart als eine Kontroll- oder
als eine Disziplinargesellschaft verstanden wird, welche Rolle die Biopolitik als
ein zentrales Element moderner Gesellschaftsregulierung spielt und inwiefern
der menschliche Körper als ein Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Machtbeziehungen und Machtverhältnisse verstanden werden muss.
Auf einer mittleren Ebene ließen sich die gesellschaftlichen Körperdiskurse genauer beschreiben, wobei wir davon ausgehen, dass das gesellschaftliche
Wissen über den biologischen Körper immer schon diskursiv vermittelt ist. Konsequenterweise müsste man also danach fragen, ob sich überhaupt ein ‚empirischer‘ oder ‚realer‘ physischer Körper auf der einen Seite von den Konstruktionen eines Körpers in Liedtexten auf der anderen Seite unterscheiden ließe. Der
generelle Konstruktionscharakter von Körpern zeigt sich gerade darin, dass sie
oft zum Gegenstand dichotomischer Differenzierungen und Raster werden, was
sich in unserem Kontext beispielsweise in Dichotomien zeigt wie der Mensch
als Mängelwesen versus der Mensch als edle göttliche Schöpfung, und korrespondierend: der Körper und seine Mängel versus der Körper in seiner edlen
schönen Perfektion. Ebenfalls binär unterschieden werden Körperzustände wie
Begehren versus Nicht-Begehren, berauscht versus nüchtern, schön versus hässlich, jung versus alt, gesund versus krank, viril/reproduktiv versus steril/kas-
Einleitung7
triert, diszipliniert/kalt versus sexuell/heiß. Rund um den sexualisierten Körper
lässt sich eine ganze Fülle von dichotomischen Differenzierungen beschreiben:
der zwangsheterosexuelle versus der homo-/bi-/transsexuelle Körper, der männliche versus der weibliche Körper – und diese Unterscheidung ist natürlich
wiederum aufgeladen mit einer Differenzierung von primären und sekundären
Geschlechtsmerkmalen wie Phallus versus Vagina. Schließlich muss in diesem
Zusammenhang der Körper als Performanz beschrieben werden in seinen verschiedenen Funktionen der Inszenierung, Verkleidung und Theatralik.
Bei der Analyse all dieser verschiedenen Differenzen, die Elemente diskursiven Wissens sind, sind Theorien wie die Diskursanalyse in der Nachfolge Michel Foucaults wesentliche Bezugspunkte, um beispielsweise die biopolitischen
Diskurse oder Disziplinierungen des Körpers herauszuarbeiten, oder postfeministische Ansätze im Sinne der Schriften von Judith Butler, welche die Analyse
von Gender Performances wie Cross Dressing oder Gender-Pastiches ermöglichen. Zur Geschlechterparodie etwa führt Butler aus:
Tatsächlich besteht ein Teil des Vergnügens, das Schwindel-Gefühl der
Performanz, darin, daß man entgegen den kulturellen Konfigurationen
ursächlicher Einheiten, die regelmäßig als natürliche und notwendige
Faktoren vorausgesetzt werden, die grundlegende Kontingenz in der
Beziehung zwischen biologischem Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender) anerkannt [sic!]. Statt des Gesetzes der heterosexuellen
Kohärenz sehen wir, wie das Geschlecht und die Geschlechtsidentität
ent-naturalisiert werden, und zwar mittels einer Performanz, die die
Unterschiedenheit dieser Kategorien eingesteht und die kulturellen Mechanismen ihrer fabrizierten/erfundenen Einheit auf die Bühne bringt.
(Butler 1991, 202f.)
Auf einer unteren Ebene muss dann die Analyse der künstlerischen Reflexion
von Körperlichkeit – wie beispielsweise in Liedtexten – vollzogen werden. Die
Künste gelten hierbei als der zentrale Reflexionsort von Körperlichkeit, in dem
bereits bestehende Konzeptionen und Konstruktionen von Körperlichkeit verhandelt werden, sowie als der Ort eines semiotischen Spiels mit Bedeutungszuschreibungen an Körper. Das Medium Literatur, mit seinem intensiven Verhältnis zu Schrift und Sprache, eignet sich dabei besonders zur Reflexion von
Körperlichkeit, da das gesellschaftliche Wissen über Körper primär ein sprachlich vermitteltes ist.
Wenn wir uns in diesem Zusammenhang vor allen Dingen mit der Untergattung Lied bzw. Liedtext beschäftigen, so halten wir dieses für einen besonders
guten Gegenstand, weil Lieder im Regelfall ein besonders populäres Medium
sind (vgl. Reisloh 2011, 11), in dem sich gängige Körpernarrative vermitteln.
Über Schallplatten, CDs, Konzerte und Videoclips sowie Radio und Internet
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Thomas Ernst & Corinna Schlicht
werden Lieder rasant und massenhaft verbreitet und gehört, dabei jedoch nicht
nur nach- und mitgesungen, sondern teilweise auch getanzt oder umgedichtet.
Somit haben Lieder einen besonders aktiven Rezeptions- und einen hohen Identifikationsfaktor – in einer anderen Form als beispielsweise die literarischen
Gattungen Theatertexte oder Romane. Doch nutzt das Lied körperliche Prozesse
und Inszenierungen in einer hohen Intensität sowohl bei seiner Produktion, wenn
wir beispielsweise das Singen und das Bedienen von Instrumenten bedenken, als
auch bei seiner Rezeption, denn das Hören, das Mit- und Nachsingen oder das
Tanzen zur Musik sind körperliche Reaktionen – wobei im Vordergrund dieses
Bandes weniger performative oder rezeptive Aspekte als vielmehr die Analyse
der (sprachlich vermittelten) Körperbilder und -narrative stehen.
2.
Lieder und Liedtexte als Gegenstände der
Literaturwissenschaft
Beim Lied handelt es sich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive um eine
spezifische Untergattung der Lyrik, die immer schon auf ihre Performanz in Verbindung mit anderen Medien wie Stimme und Musikinstrumenten angelegt ist,
und eigentlich in unangemessener Form reduziert wird, wenn man sie nur als
textliches Artefakt analysiert. Da jedoch die literaturwissenschaftlichen Analysen von Liedern in ihrer textlichen Gestalt bislang gegenüber eher (musik-)
soziologisch und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Untersuchungen zu Jugendkulturen und Musikszenen1 eine Ausnahme darstellen, soll in diesem Band
die textorientierte Untersuchung von Liedern zentral stehen.2 Zudem sind die
1
2
Beispiele für solche eher (musik-)soziologischen Analysen, in denen die Texte nur als
ein Element unter vielen eine Rolle spielen, sind u. a. Poschardt 1997; Kemper/Langhoff/Sonnenschein 1999; Loh/Verlan 2000; Verlan/Loh 2006; Büsser 2000; Teipel 2001;
Chlada/Dembrowski/Ünlü 2003; Schütte 2008. In kulturwissenschaftlichen (Pop-)
Musikanalysen interessieren jenseits der rein textlichen Ebene vor allem die Politiken
und Distinktionen der Popkultur, die aus Perspektive der Cultural Studies u. a. die Konstruktionen sozio-ökonomischer, ethnischer, geschlechtlicher oder sexueller Identitäten
analysieren, vgl. u. a. Behrens 2003, Büsser 2001, Eismann 2007, Holert/Terkessidis
1996, Karnik 2003, Volkmann 2011, Weinzierl 2000.
In den 1970er Jahren gab es eine erste Hoch-Zeit der Musiktextanalyse, vgl. u. a. Faulstich 1978; Riha 1979; Urban 1979; Wiora 1971; Zimmermann 1972. Diese Analysen
interessieren sich allerdings vor allem für das ‚politische Lied‘. In den letzten Jahren
gab es nur noch vereinzelte Ansätze, Songtexte breiter literaturwissenschaftlich zu analysieren, vgl. u. a. Achermann/Naschert 2005, JUNI-Magazin für Literatur und Politik.
Deutsches Lied. Hefte 39/40, 41/42 (2007) sowie vor allem das Weblog Deutsche Lieder. Bamberger Anthologie (URL: deutschelieder.wordpress.com); im Zentrum weiterer
Untersuchungen stehen weiterhin die politischen Gehalte der Songtexte, vgl. u. a. Fliege
1997; Seiler 2011; Rehfeldt 2007; Schlösser 2007; Kruse 2013. Textorientierte Unter-
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zu untersuchenden diskursiven Produktionen und Reflexionen der Körper vor
allem sprachlicher Art, weswegen eine starke Textfokussierung notwendig erscheint. Aspekte wie die Musikalität und die Performativität treten daher bei den
Beiträgen in den Hintergrund.
Gerade die Texte also, die „Refrains und Strophenzeilen aus Popsongs[,]
prägen unsere Alltagssprache“ (Waechtler/Bunke 2011, 10), so dass es sich
lohnt, sie systematisch als Untergattung der modernen Lyrik in den Blick zu
nehmen und nicht bloß als populäre Ware abzutun. In seiner Untersuchung eines
Songs der Gruppe Blumfeld kommt Dirk Weissmann in eben diesem Sinne zu
dem grundsätzliche Schluss, „dass eine pauschale Aburteilung des Popsongs als
klischeehafter Gebrauchstext zu kurz greift und dass eine hermeneutisch-philologische Herangehensweise an Erzeugnisse der so genannten Populärkultur
durchaus fruchtbar sein kann“ (Weissmann 2011, 263). Schon Sebastian Peters
hat in seiner rezeptionsorientierten Untersuchung Ein Lied zur Lage der Nation,
die sich mit den politischen Implikationen von Popsongs beschäftigt, die Liedtexte ins Zentrum gestellt (vgl. Peters 2010), wobei er auch „die performative
Inszenierung von Musik berücksichtig[t]“ (ebd., 22).3 Somit verstehen sich literaturwissenschaftliche Analysen von Songtexten als Archivarbeiten, die blinde Flecken im kulturellen Gedächtnis beseitigen wollen. In diesem Sinne muss
auch die zweibändige Dokumentation Deutsches Lied verstanden werden, die
„aufschlussreiche Durchsichten dessen, was in der Gemengelage von Musik und
Text in den vergangenen (mindestens) hundert Jahren geschehen ist“ (Ackermann/Delabar/Würmann 2007, Vol. 1., 11), versammelt.
Wenn wir uns nun Liedern als Textsorte zuwenden, dann ist es notwendig,
einige fundamentale Fragen zu ihrer Kategorisierung zu klären. Hierzu zählt beispielsweise die Frage, inwiefern sich ein konkretes Lied von anderen lyrischen
Typen überhaupt abgrenzen lässt (Ballade, Elegie, Ode etc.). Eine Unterfrage
kann sein, ob sich die jeweiligen Lieder eher als lyrische oder eher als epische
Texte einordnen lassen (wie im Fall von Balladen). Schließlich wäre zu fragen,
wie sich die lyrische Textsorte ‚Lied‘ in Subtypen differenzieren ließe und welchem Typus der jeweilige Text zuzuordnen wäre.
Eine literaturwissenschaftliche Analyse bleibt unvollständig, wenn es ihr
nicht gelingt, ihren jeweiligen Gegenstand auch sinnvoll und differenziert in
3
suchungen finden sich ferner bei Goer/Greif/Jacke 2010 sowie bei Waechtler/Bunke
2011.
Textorientiert arbeitet auch das Projekt Stadt.Land.Pop. aus dem Jahr 2008, das die
Songtexte in den Mittelpunkt stellt, und zwar in regionalgeschichtlicher Perspektive.
Walter Gödden beschreibt in seinem Rückblick auf das Projekt: „In der westfälischen
Literaturgeschichte fand die Pop-Welt bislang kaum statt.“ (Gödden 2009, 181; vgl.
auch Baßler u. a. 2008) Bei der Untersuchung populärer Medien geht es also immer auch
um die Etablierung der von der Forschung bislang marginalisierten Kulturbereiche.
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Thomas Ernst & Corinna Schlicht
die spezifischen literaturhistorischen Traditionslinien ihrer jeweiligen Gattung
einzuordnen (wobei es je nach Gegenstand unterschiedlich wichtig ist, seine literaturhistorischen Bezüge aufzuzeigen). Zudem ist es eine relevante Frage, ob
sich die jeweiligen Lieder einer spezifischen musikalischen oder literarischen
Richtung zuordnen lassen (Rap versus Slam Poetry; Politsong versus engagierte
Literatur etc.). Zu untersuchen wäre auch, ob es im jeweiligen Text ein spezifisches Arsenal an Figuren bzw. Protagonist*innen oder Antagonist*innen gibt
(wie beispielsweise Zuhälter versus Prostituierte, Fabrikarbeiter*innen versus
Fabrikbesitzer*innen).
Schließlich ist es gerade beim Liedtext eine relevante Frage, inwiefern das
lyrische Ich bzw. der Protagonist des Textes auch als eine autobiografische Inszenierung gelesen werden kann (z. B. im Gangsta-Rap). Hier spielt die Tatsache, dass die Texte auf ihre Performanz durch eine/n Sänger*in angelegt sind,
der/die im Vortrag den Inhalt des Textes authentifiziert, eine entscheidende Rolle
im Verhältnis von Autor*in, Performer*in, Text und Rezipient*in.
Schließlich muss bei einer Analyse der spezifische mediale Status eines Liedtextes geklärt werden: Wird der Liedtext nur als ein isoliertes Element oder zum
Beispiel in Verbindung mit seiner Performanz durch eine/n Sänger*in oder verschiedene Künstler*innen thematisiert? Wird eine potenzielle oder sogar empirisch beobachtete Reaktion eines Publikums auf den Text Teil der Analyse? Wird
das Lied in seiner Veröffentlichung auf einem Datenträger wie einer LP oder
einer CD, in Verbindung mit seinem Videoclip oder einer spezifischen Liveperformance analysiert? Wird nur eine und dann die originale Version des Liedes
analysiert oder spielen auch Coverversionen oder Umdichtungen, also Variationen eines Originals, eine Rolle?
Daneben muss geklärt werden, wie populär und wie frei verfügbar bzw. zensiert ein jeweiliger Liedtext ist. Hier spielt es natürlich eine entscheidende Rolle,
ob wir es im Kontext der Entstehung sowie der Verbreitung eines Liedes mit
einem demokratischen Staat oder einem autoritären Regime zu tun haben und
welche Rolle Subkulturen bzw. ein musikalischer Untergrund in der jeweiligen
Kultur einnehmen. Während demokratische Gesellschaften über ihre Charts und
die Unterscheidung von Hochkultur, Mainstream und Subkultur ihre Machtverhältnisse verhandeln, werden in autoritären Staaten (teilweise allerdings auch
in demokratischen Staaten) Texte zensiert, indiziert und beispielsweise nur für
Erwachsene rezipierbar gemacht, worauf dann wiederum subversive Textspiele
reagieren.
Schließlich muss noch das Verhältnis von Musik, Identität und Identifikation
untersucht werden. Dabei interessiert, wie und von wem Lieder in Prozessen
der Aneignung bzw. Konsumtion rezipiert werden: einem Lied kann von spezifischen gesellschaftlichen Milieus, Szenen oder politischen Bewegungen der
Einleitung11
Status eines identitätsstiftenden Kulturgutes zugeschrieben werden. Die Cultural
Studies als Forschungsrichtung, die sich insbesondere mit der Erforschung der
(musikalischen) Populärkultur beschäftigen, bieten bei der Untersuchung der
gesellschaftlichen Relevanz der jeweiligen Lieder ein entsprechendes methodisches Instrumentarium an.
3.
Körperbilder in Liedern
Wenn man Körperbilder in Songtexten untersucht, können vier Kategorien bei
der Beschreibung der jeweiligen Körperkonstruktionen helfen, wobei die ersten
drei Kategorien recht konkret sind und die vierte eher allgemein gehalten ist.
Erstens wäre hier der Liebeskörper zu nennen. Diese Kategorie wird in Texten
wirksam, die von physischem Begehren, von Schmerz, Liebesleid und Liebestod sowie von der Sexualität erzählen. Männer- und Frauenkörper stehen seit
jeher als Objekte der Begierde im Fokus von Sänger*innen, wenn z. B. 1930 die
schönen Beine der Elisabeth (Robert Katscher) gepriesen werden. Von sexueller
Gier und männlicher Befriedigung singt Konstantin Wecker, wenn er bekennt:
„Ich habe deinen Körper ausgebeutet, / dir dich aus deinem vollen Mund gesaugt, / und jede Stunde hat mich neu gehäutet. / Du hast mich satt gemacht
und ausgelaugt“ (Aus: Ich habe deinen Körper ausgebeutet, 1974). Max Raabe
legt in den 1990er Jahren im Stile der Chansons der sog. ‚goldenen Zwanziger‘
einen Text vor, in dem ein Mann verzweifelt ausruft: „Carmen hab Erbarmen,
ich bin müde. Carmen, in deinen Armen werdʼ ich frigide“. (Aus: Carmen, hab
Erbarmen, 1996) In Bonnie und Clyde beschwören die Toten Hosen 1996 den
romantischen Liebestod – um nur einige Beispiele zu nennen.
Zweitens ist der Bereich der Körpervitalität zu betrachten. Hierzu zählen
Texte, die Jugend, Körperkraft, Lebensfreude und Hedonismus besingen. Bei
den Fantastischen Vier, insbesondere bei Thomas D., formiert sich die Lebensfreude zu einem Selbsterweckungsruf, etwa in Krieger (1995): „er wacht auf aus
dem traum, den das kollektiv träumt / […] der krieger zeigt dir ein stück freies
land / einen platz in deinem kopf, den er fand und gibt dir seine hand / die du
berührst und du spürst, ihr seid eins, es geschieht.“ Herbert Grönemeyer besingt
1983 selbstreferentiell den körperlichen Effekt von Musik, der in diesem Fall
einer tauben Frau den sinnlichen Ausgleich zum erfahrenen Mangel bietet: „Sie
mag Musik nur, wenn sie laut ist / Das ist alles, was sie hört / Sie mag Musik nur,
wenn sie laut ist / Wenn sie ihr in den Magen fährt / Sie mag Musik nur, wenn sie
laut ist / Wenn der Boden unter den Füßen bebt / Dann vergißt sie, dass sie taub
ist“ (Aus: Musik, nur wenn sie laut ist, 1983).
Im Gegensatz dazu steht drittens die Kategorie des morbiden Körpers: Texte,
die vom Altern, von physischen wie mentalen Krankheiten oder vom Sterben
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Thomas Ernst & Corinna Schlicht
erzählen, gehören in diese Kategorie. Element of Crime etwa rufen ironisch aus:
„Sagʼ, dass ich verrückt bin und ich schwörʼ dir, / du kriegst eine geschmiert. /
Finger weg von meiner Paranoia, / die war mir immer lieb und teuer. / Nie ließ
sie mich so kalt im Stich wie du“ (Aus: Paranoia, 2005). Körperliche Versehrtheit thematisieren ironisch die Wise Guys: „Herpes ist für mich ‘n Klacks, / denn
ich habʼ ja Zovirax. / Allergien sind auch im Spiel – / nicht mehr lang, dank Fenistil. / Die Verstopfung ist egal, / habe ja Laxoberal.“ (Aus: ansonsten gesund,
2006).
Viertens umfasst das Feld des kulturellen Körpers Texte, die umstrittene kulturelle Fragen thematisieren, die sich auf Körperlichkeiten beziehen und beispielsweise von der Sexualität, dem Geschlecht oder Ethnizität zwischen Normierung und Entgrenzung handeln. Schon 1929 wehrte sich Claire Waldorf mit
dem Chanson Wegen Emil seine unanständige Lust (Jula Arendt, Paul Strasser)
gegen das Schönheitsdiktat ihrer Zeit und positionierte sich eindeutig gegen
operative Maßnahmen: „Ick lass mir nich die Nese verpatzen / wegen Emil seine
unanständje Lust. / Ick lass mir nicht det Fett aus de Oberschenkel kratzen /
wegen Emil seine unanständje Lust. […] / Ick lasse kenen Doktor ran an meine Brust / wegen Emil seine unanständje Lust.“ Marius Müller-Westernhagen
spricht Ende der 1970er Jahre mit seinem Song Dicke gängige Vorurteile gegen
fettleibige Menschen aus: „Dicke haben schrecklich dicke Beine / Dicke haben
‘n Doppelkinn / Dicke schwitzen wie die Schweine / stopfen Fressen in sich rin /
Und darum bin ich froh, daß ich kein Dicker bin / denn dick sein ist ne Quälerei /
ja ich bin froh, daß ich soʼn dürrer Hering bin / denn dünn bedeutet frei zu sein“.
Genderfragen werden ständig thematisiert; als Beispiel sei an das Tank-GirlImage von Lucilectric erinnert: „Wasʼn das fürʼn wundervoller Hintern, / der da
neben an ʼnem Tresen steht? / Und der Typ, der da am Hintern noch mit dran
ist, / hat sich grade zu mir umgedreht. / Und ich lachʼ ihm zu.“ (Aus: Mädchen,
1994). Bis in schulische Lesebücher hat es bekanntlich Herbert Grönemeyers
Männer-Ballade von 1984 geschafft. Jüngst singen Die Ärzte: „Manche Männer
lieben Männer, manche Frauen eben Frauen, / da gibtʼs nix zu bedauern und nix
zu staunen. / Das ist genauso normal, wie Kaugummi kauen, / doch die meisten
werden sich das niemals trauen“ (Aus: M&F, 2012). Provokativ rappt Lady Bitch
Ray: „Deutsche Schwänze kann man alle knicken! / Ich bin geil aber Deutschland kann nicht ficken!“ (Aus: Deutsche Schwänze, 2006) Besonders der Rap
widmet sich Fragen der Ausgrenzung. Schon 1992 besingen Advanced Chemistry dieses Gefühl mit der Single Fremd im eigenen Land. Nachdem am 11. Juni
2000 der Mosambikaner Alberto Adriano in Dessau bei einem Skinhead-Angriff
getötet wurde, schlossen sich verschiedene afro-deutsche HipHop-Musiker zu
den Brothers Keepers zusammen, die sich mit ihren Songs dem Thema Rechtsradikalismus widmen. Alberto Adriano ist die Single Adriano (letzte Warnung)
Einleitung13
gewidmet. Auf diesem Album rappt auch Samy Deluxe: „dieser song geht raus
an all die bürger von babylon, / mit angst vorm schwarzen mann doch auf dem
weg ins solarium, / habt ihr euch jemals vorgestellt wieʼs ist, wenn man morgens
aufsteht, / rausgeht, und als einziger anders aussieht“ (Aus: Sag mir wie es wär,
2001).4
4.
Das Korpus: Deutschsprachige Texte und die Zeit von der
Weimarer Republik bis in die Gegenwart
Wenn man sich der Reflexion von Körperlichkeit in Liedtexten zuwendet,
muss man zwangsläufig den zu untersuchenden Kanon begrenzen, um zu
möglichst differenzierten Ergebnissen kommen zu können. Als germanistische
Literaturwissenschaftler*innen konzentrieren wir uns daher auf deutschsprachige Liedtexte sowie auf die Zeit zwischen der Weimarer Republik und der Gegenwart, die wir für besonders produktiv halten.
Die Aufsätze analysieren Liedtexte aus sehr unterschiedlichen deutschsprachigen Gesellschaftsformationen: der Weimarer Republik, der Exilzeit, der
DDR sowie der Bundesrepublik mit ihren jeweiligen unterschiedlichen politischen, kulturellen, musikalischen sowie körpertheoretischen Perspektiven. Konkret werden untersucht: Chansons der Weimarer Republik von Claire Waldorff,
Margo Lion oder Marlene Dietrich (Beitrag von Pia Eisenblätter) sowie – im
Zusammenhang mit Brechts Huren- und Ludenliedern – Texte des GangsterRappers Bushido (Christian Steltz), westdeutsche Liedermacher wie Konstantin
Wecker (Corinna Schlicht), der DDR-Punk von Planlos oder Schleim-Keim
(Nina Kaiser) sowie der Pop der Gegenwart, konkret Jennifer Rostock, Mia,
Rosenstolz (Thomas Stachelhaus), der Trash-Pop am Beispiel der Band Superpunk (Linda Leskau) und der deutsche HipHop am Beispiel von Cro (Jan Franzen) sowie Kool Savas (Fabian Wolbring). Dabei interessiert uns vor allem, ob
es zwischen diesen verschiedenen Zeiten, Kulturen, musikalischen Gattungen
und Künstlern Entwicklungslinien oder Differenzen gibt, die sich auf die Konstruktion von Körperlichkeit beziehen.
Inhaltlich finden sich in den Liedtexten einerseits der Bereich des kulturellen Körpers, beispielsweise in Liedtexten, die von Homo-/Hetero-/Bisexualität,
Genderperformanzen, Hautfarben/Ethnizität zwischen Diffamierungen und
konventionellen Festlegungen handeln, sowie andererseits die Ebene des physiologischen Körpers, der aktiv und vital sein Begehren, z. B. in Liebesempfindungen, äußert, sich aber auch passiv als Objekt von Gewalt, Verletzungen
und letztlich der Morbidität und Letalität erweist. Die Beiträge bilden somit ein
4
Vgl. dazu u. a. Pelzer 2006.