Luzie und die Angst

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Luzie und die Angst
Luzie und die Angst
Jan Henrik ist krank. Er muss am Herzen operiert
werden. Die Operation ist gefährlich. Doch über
seine Angst mag der Junge nicht sprechen. Deshalb denkt er sich Geschichten aus.
„Jan Henrik wird das Herz aufgeschnitten. Das
klopft zu schnell“, erklärt die vierjährige Schwester Kristina. Genervt wendet sich ihr Bruder ab. In
sieben Tag muss er in die Uniklinik in Frankfurt
am Main, um einen angeborenen Herzfehler operieren zu lassen. Bedächtig
fährt der Achtjährige mit der Hand
durch das Fell seines Lieblingsmeerschweinchens. „Luzie hat genau am
gleichen Tag wie ich Geburtstag“, sagt er.
Seine Fingernägel hat er vor
Unruhe abgeknabbert. In einem Wissensbuch für Kinder
zeigt er: „So sieht das Herz
aus.“ Während er die Zeichnung betrachtet, spannen sich
die Muskeln in seinem Nacken,
seine Beine zappeln, seine
Fäuste wühlen sich in die Bettdecke. Schweigen. Jan Henrik
weiß, dass während der Operation sein Herz eine Zeit lang
nicht schlagen darf. Er weiß,
dass er deswegen an eine
Herz-Lungen-Maschine angeschlossen werden wird. Er
weiß, dass etwas schiefgehen kann. Oft verschwin-
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det er in diesen Tagen in die virtuelle Welt der Pokémon. Unermüdlich trainiert er die kleinen bunten Geschöpfe darauf, gefährliche Feuerstürme,
Aquawellen und Solarstrahlen zu überstehen – im
Computerspiel hat jeder mehrere Leben. Aber Jan
Henrik denkt sich auch selbst Geschichten aus.
Fest nimmt er dabei Max, seine große Seekuh aus
hellgrauem Plüsch, in den Arm. Dann taucht er ab
in seine Phantasiewelt und beginnt zu erzählen:
Eines Tages kam Luzie, das Meerschweinchen, zu
einem Sumpf. Sie sackte in den Boden ein, aber
sie nahm all ihren Mut zusammen und lief weiter,
obwohl sie sich fürchtete. Als sie den Sumpf durchquert hatte, sah sie ein Orakel aus Stein, das mindestens 900 Jahre alt war. Es hing als ein großer
Mund an der Wand. Luzie blickte nach oben und
beobachtete eine große, dunkle Wolke, die sich
auf die Erde hinabsenkte. Als sie näher kam, verwandelte sie sich in eine schneeweiße Möwe.
Aber da erschien plötzlich ein großer, roter
Fuchs. Das Orakel rief: „Liebe Möwe, verfolge bitte den Fuchs, damit das Meerschweinchen in Sicherheit ist.“
Und die Möwe jagte den
Fuchs in seine Höhle.
Jan Henrik ist kein krankes
Kind, das mit schwachem Herzen und aschfahlem Gesicht im Bett liegen muss.
Vor einigen Wochen hat er den Freischwimmer gemacht. Jetzt rennt er mit seinen Freunden, der vierjährigen Kristina und seinem sechsjährigen Bruder
Lukas durch den Garten, füllt Wasserbomben und
wirft sie mit Schwung an die sonnengelbe Hauswand. Er spürt nicht, dass eine seiner Herzklappen flattert wie ein schlappes Segel. Weil sein Herz
mehr arbeiten muss, um trotzdem das gesamte Blut
in der Lunge mit Sauerstoff anzureichern, hat sich
der Muskel der rechten Kammer vergrößert. Vielleicht kann Jan Henriks Herzklappe repariert werden, falls nicht, braucht er einen künstlichen Ersatz.
„Mein Schutzengel ist eine Seele mit Flügeln. Sie
sieht aus wie ein Engel – ebenso wie ein weißer
durchsichtiger Mensch, der fliegt“, sagt Jan Henrik. „Wenn die Ärzte jetzt nichts tun, wird sein Herz
irgendwann vor der Anstrengung kapitulieren“,
sagt seine Mutter. Auf den Knien der 42-jährigen
Marion Steiner liegt ein vollgestopfter Aktenordner, in dem sie und ihr Mann Jürgen alles über den
Herzfehler ihres Sohnes abheften, den Mediziner
als Fallot’sche Tetralogie bezeichnen.
„Ich bin deshalb schon mal mit 13 Monaten operiert worden“, erzählt Jan Henrik und zeigt eine
lange Narbe auf seiner Brust. Er weiß, dass es damals Komplikationen gab: Fieber, Infektionen, Nierenversagen, Wiederbelebung. „Es ist meine Seele, die sich fürchtet. Sie ist ganz grün, weil ihr vor
Angst ganz schlecht ist“, sagt der Achtjährige. Meistens redet er nur zögerlich über den Weg, den er
gehen muss. Aber in seiner Phantasie wehrt er gefährliche Attacken ab. Das Orakel fragte: „Wie heißt
du, kleines Meerschweinchen?“ „Luzie.“ – „Ich heiße Freddy“, sagte das Orakel. „Und ich bin Dennis“, sagte die Möwe. „Warum bist du zu mir gekommen, Luzie?“, fragte Freddy. „Ich wollte die
Welt sehen“, sagte Luzie. Da bekam das Orakel
auch Lust, auf Wanderschaft zu gehen. Darum suchte Luzie Gesteinsbrocken, die aussahen wie Augen, und solche, die aussahen wie Füße. Sie schob
die Fußsteine unter den Mund des Orakels und verfrachtete gemeinsam mit der Möwe die Augensteine auf den Mund. „Zusammen sind wir unbesiegbar“, sagte Luzie. Aber da griff der große rote Fuchs
erneut an. „Aus euch mache ich Meerschweinchenfilet und Möwenbraten!“, rief er. Aber das Orakel
brüllte: „Nein! Nicht mit mir!“ Da kniff der Fuchs
den Schwanz ein und rannte ganz schnell davon.
Eine Woche später. Jan Henrik muss ins Krankenhaus. Schon beim Frühstück klingt seine Stimme
flach. „Er spart Energie“, sagt Marion Steiner. Den
Eltern ist auch nicht zum Reden zumute. Als sie mit
ihrem Sohn auf der Station für Kinderkardiologie
ankommen, spüren sie die Unruhe. Telefone schrillen, Monitore piepsen, Babys weinen, ein kleiner
Junge fährt mit dem Dreirad durch den Flur,
Schwestern und Ärzte laufen geschäftig in die Zimmer. An der gelben Tür zum Untersuchungszimmer klebt ein Bild vom grinsenden Ernie aus der
Sesamstraße. Die Erwachsenen reden über Risiken
und Chancen, tauschen lange Sätze aus, gespickt
mit Fremdwörtern. Der Arzt nimmt Blut aus Jan
Henriks Armbeuge und legt eine Kanüle in seine
linke Handvene. Als eine kleine Pfütze Blut auf das
Laken tropft, beginnt Jan Henrik zu weinen. Irgendwann geht sein Weinen in ein nach Luft schnappendes Schluchzen über. Da tröstet es auch nicht,
mit dem Stethoskop das eigene Herz abzuhören.
„ Es kann nach der Operation etwas passieren. Ich
weiß nicht mehr viel, aber in ganz seltenen Fällen
kann ich dann Allergien kriegen oder Blutergüsse“, sagte Jan Henrik später und als er seine Geschichte weiterspinnt, sagt er: „Es könnte da auch
jemand krank werden.“ Dann wurde es Hochwinter. Überall lag Schnee und es war eiskalt. Luzie,
Dennis und Freddy liefen zu einem großen Wald,
um dort miteinander zu leben. In der Zukunft sah
das Orakel, dass bald ein Wolf angreifen wird. Aber
weil es auch sah, dass er in eine Falle tappen wird,
erzählte es seinen Freunden nichts von der dro15
henden Gefahr. Bei jedem Schritt,
den Freddy machte, bebte die Erde.
Einmal landete Dennis vor ihm auf
der Straße und da trat das Orakel
ihm aus Versehen auf den Federschwanz. So konnte die Möwe nicht
mehr fliegen, und Freddy trug sie.
Als sie den Wald erreichten, legten
sich die drei unter eine Eiche und
tankten Energie auf. Dennis tat sein
gerupfter Bürzel weh. Er jaulte
fürchterlich und fand es blöd, dass
er bei Gefahr nicht wegfliegen konnte. Er übte
zwar, aber es war hoffnungslos. Er fiel immer auf
den Schnabel. Erst nach einer Weile wuchsen ihm
alle Federn wieder nach.
Einen Tag vor der Operation sucht Jan Henrik immer seltener die Blicke der anderen. Er taucht ab
in die Welt der Pokémon, legt ein Puzzle nach dem
anderen, zieht Spiele aus dem Regal und lenkt sich
mit dem „Verrückten Labyrinth“ und „Wortfix“ ab.
Für einen Moment wird auch eine Untersuchung
zum Spiel: „Jetzt kommt das Schlammbad“, ruft er,
als der Arzt für eine Ultraschalluntersuchung aus
einer Tube kühles Gel auf Jan Henriks Brustkorb
quetscht. Still betrachtet der Junge das Bild seines
Herzens auf dem Monitor. Später pflückt er draußen auf dem Spielplatz einen ausgeblühten Löwenzahn, pustet dessen Samen in die Luft und wünscht
sich, dass bei der Operation alles gut geht. „Mein
Schutzengel kommt mit in den Operationssaal,
denn den kann man ja nicht sehen. Und da wird
er dann aufpassen.“
Eine Beruhigungstablette macht Jan Henriks Blick
am Morgen der Operation glasig. Vor Müdigkeit
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kann er kaum
sein PokémonSpiel festhalten. Auf seinem OP-Hemd
leuchten kleine
gelbe Teddys.
„Jetzt geht’s
gleich los – Janimon gegen
den Rest der
Welt“, sagt seine Mutter. „Das ist jetzt Power-Pokémon mit Menschen“, antwortet der Achtjährige. Die Schwestern
schieben sein Bett aus dem Zimmer, leise ratschen
die Rollen auf dem Boden. Der Weg führt durch
weißgekachelte Kellergänge in kühlem Neonlicht.
Unter der Bettdecke umklammert Jan Henrik zwei
Stofftiere: Max, die Seekuh, und Flecki, den Dalmatiner. Seine Eltern beugen sich vor der stählernen Tür zur Operationsabteilung noch einmal kurz
über ihren Sohn, dann reißen sie sich los und eilen davon. Ihre Schritte sind kaum verhallt, als die
Tür sich schließt. Jan Henriks Gesicht ist toternst.
Trotzdem huscht ganz kurz ein Lächeln darüber,
als Schwester Marta Maria ihn begrüßt: „Hallo, ich
habe dir Erwin mitgebracht!“ Sie drückt ihm einen
flauschigen Stoffigel in den Arm. Jan Henrik sieht
ruhig in Marta Marias Augen. Sie spritzt das Narkosemittel und sein Körper entspannt sich. Morgensonne flutet den Operationssaal. „Im OP-Raum
hängt meine Seele unter der Decke. Und der
Schutzengel schwebt auch da. Die beiden gucken
zu und passen auf, dass alles gut geht“, hat Jan Henrik gestern gesagt.
Es ist neun Uhr, als der Herzchirurg das Skalpell
ansetzt. Draußen in der Stadt öffnen die Cafés ihre
Türen. Marion und Jürgen Steiner halten Kaffeebecher in den Händen. Eine frühere Arbeitskollegin, die sie zufällig treffen, lenkt sie ab. Jetzt nur
nicht immerzu an die Operation denken. Sie kaufen ein neues Pokémon-Spiel für Jan Henrik und
für Marion eine Uhr.
Inzwischen haben die Ärzte im Operationssaal
entschieden: Jan Henrik braucht keine künstliche Herzklappe. Sein Herzfehler kann mit
einer Rekonstruktion behoben werden. Um
zwölf Uhr ist es geschafft. Jan Henrik kommt
auf die Intensivstation. Dort herrscht Geschäftigkeit. Überwachungsgeräte bimmeln, Monitore leuchten, Schwestern und Ärzte
gehen um Jan Henriks Bett, wechseln
Infusionen, kontrollieren das Beatmungsgerät und legen dicke Spritzen in Geräte, die nach und nach
Medikamente in Jan Henriks Blut
drücken. Jan Henrik hat Glück. 24
Stunden später darf er schon zurück auf die normale Station.
Kaum ist er halbwegs wach, fragt
er: „Wann gehen wir endlich nach
Hause?“ Fünf Tage später: „Jetzt
müssen wir nur noch ,Ende‘ sagen,
denn jetzt fängt eine neue Geschichte an“, sagt Jan Henrik: Max, die Seekuh hat mit ihrem tonnenschweren Gewicht die Schutzgitter in ihrem Zirkusgehege zur Seite gedrückt und ist ausgebrochen.
Sie robbt durch einen unterirdischen Gang in
einen nahen Park. Dort gibt es zwei Teiche.
In einem leben viele Fische, aber im anderen ist alles ausgestorben. In dieses Wasser rutscht Max mit einem großen
Bauchklatscher. Da reißt sich
auf der Wiese der kleine Dalmatiner Flecki von der
Leine und fällt zu Max ins Wasser. Aber Flecki kann
nicht schwimmen und zum Glück stupst ihn Max
an Land. Am Ufer piekt der Igel Erwin aus Versehen den Flecki mit seinen Stacheln in den Schwanz,
so dass Flecki aufheult. Damit es nicht mehr wehtut, spritzt Max Flecki mit Wasser voll. Und dann
ziehen die drei Freunde zusammen los.
Als eine Krankenschwester das Zimmer betritt, dreht sich Jan Henrik weg. Sie misst
nur seinen Blutdruck, aber sofort steigen
ihm Tränen in die Augen. Er starrt aus
dem Fenster und reißt sich zusammen. Es
wird Zeit, nach Hause zu gehen. „Ich glaube, die Luzie denkt, dass ich nicht mehr
wiederkomme, weil ich in einer ganz tiefen
Schlucht ausgerechnet mit dem Kopf auf
einen blöden, spitzen Felsen gefallen bin.
Daheim knuddel ich sie erst mal richtig
durch“, sagt Jan Henrik und untersucht
einen kleinen, verschorften Einstich am
rechten Handgelenk: „Schau mal, was
für ein riesiges Loch! Aber das heilt jetzt.
Und mein Herz hat bestimmt auch angefangen sich zu reparieren.“ Er wendet den Blick ab, als er fragt: „War da
viel Blut? War es im Operationssaal dunkel?“ Aber Erklärungen beruhigen ihn
nicht. Heilungsgedanken und Schreck
liegen noch nah beieinander. Manche
Kinder wachen nach so einer Operation
nachts von Alpträumen auf. Sie weichen
ihren Eltern nicht von den Fersen, kapseln
sich ab oder reagieren schnell aggressiv.
„Es braucht eben einige Zeit, bis alles verheilt ist“, sagt Jürgen Steiner. Als Jan Henrik nach zehn Tagen die Krankenhaustür
hinter sich schließt, leuchtet ein schmaler,
roter Strich auf seiner Brust. Die Wunde hat
sich schon mit schützendem Narbengewebe umhüllt. „Meine Seele und mein Schutzengel, die sind jetzt gelb wie Gold“, sagt
Jan Henrik. „Weil sie sich freuen, dass es
mir gut geht.“
Sabine Laerum
aus: chrismon 12/2005
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