Artikel zu diesem Thema aus der Februar

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Artikel zu diesem Thema aus der Februar
EUROPÄERIN
DES JAHRES
201 3
STIMME der
WAHRHEIT
AGNIESZKA ROMASZEWSKA
Agnieszka Romaszewska
ist die 18. Preisträgerin
der Reader’s DigestAuszeichnung. Diese
wurde 1996 eingeführt,
um Europäer zu
würdigen, die durch
außergewöhnliche
Leistungen unser
Leben verändern
Sie kämpft gegen den Präsidenten
von Weißrussland, den letzten
Diktator Europas. Ihre Waffe ist
ein polnischer Fernsehsender in
Warschau. Agnieszka Romaszewska
ist Europäerin des Jahres 2013
V O N R O G E R B OY E S
FOTOS VON MIQUEL GONZALEZ
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R
uhe jetzt!“, zischt Agnieszka trägt kaum Schmuck, nur eine lange
Romaszewska in durchdringen­ Halskette und eine Armbanduhr, die
dem Bühnenflüstern. Die Uhr locker am schmalen Handgelenk sitzt.
im Regieraum des Warschauer Fern­ Ihrem Handy kann sie nur schwer
sehsenders zeigt kurz vor 19 Uhr an. widerstehen. Als es summt und vib­
Die Hektik am Set legt sich unvermit­ riert, wandern ihre Augen unwillkür­
telt, und der Countdown des Studio­ lich hin. Assisten­ten halten sich bereit
leiters läuft ab: „drei, zwei, eins ... Ac­ und warten auf Entscheidungen.
tion!“ Romaszewska atmet auf und
Doch der Eindruck trügt – Romas­
entspannt sich. „Jetzt hören Sie gleich zewska ist alles andere als zerbrech­
die Wahrheit“, erklärt sie.
lich. Ihre unmittelbare Erfahrung mit
Es folgen die Abendnachrichten, einem kommunistischen Internie­
die aber nicht für Polen gedacht sind, rungslager, ihre Ausweisung aus
sondern für das Nachbarland – Weiß­ Weißrussland und eine lange Famirussland, amtlich die Republik Bela­ lien­geschichte des Widerstands haben
rus, einen Polizeistaat mit fast 10 Mil­ ihr das Stehvermögen gegeben, ihren
Kampf gegen einen Mann fort­
zuführen, dessen Regime von
der ehemaligen US-Außenministerin Condoleezza Rice als
„letzte verbleibende echte Dik­
tatur im Herzen Europas“ be­
schrieben wurde.
Romaszewska
deckt die Lügen
des weißrussischen
Regimes auf
KARTE: © ANDRÉ MORA
W
lionen Einwohnern. Im ersten Beitrag
eißrussland ist ein Binnen­
geht es um eine 15-tägige Gefängnis­
staat, umschlossen von Po­
strafe, die gegen einen jungen weiß­
len, Litauen, Lettland, Russ­
russischen Dissidenten verhängt land und der Ukraine. Alexander Lu­
wurde, weil er sich in Minsk über eine kaschenko regiert seit mehr als 18
Leninstatue lustig gemacht hatte.
Jahren mit eiserner Hand, lässt seine
Der Sender Belsat TV bringt zehn Gegner wegsperren und schlägt jeden
Stunden am Tag Nachrichten, Talk­ Versuch nieder, eine freie Presse auf­
shows und Dokumentarfilme aus der zubauen oder zu bewahren.
übrigen Welt in die Wohnzimmer
In den vergangenen fünf Jahren hat
einfacher weißrussischer Bürger. Er Romaszewska, die der Leitung von
vermittelt den Menschen eine klare Belsat TV angehört, beständig an Lu­
Botschaft: Die Welt dreht sich nicht kaschenkos Autorität gekratzt und die
allein um ihren Staatschef Alexander Lügen des Regimes aufgedeckt, wie
Lukaschenko.
jeder weißrussische Arbeiter verfol­
Die 51-jährige gebürtige Polin Ro­ gen kann, wenn er von der Arbeit
maszewska wirkt zerbrechlich. Sie kommt und den Fernseher einschaltet.
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Reader’s Digest 02/13
Für den Sender arbeiten rund zwei Romaszewska und ein Kollege schneiden
Dutzend weißrussische Dissidenten bei Belsat in Warschau ein Video, das den
und Polen. Romaszewska nennen sie weißrussischen Präsidenten zeigt
„die Chefin“ oder einfach „Aga“. Sie gewinnt den Eindruck, dass sich das
bezeichnet sie als ihre „Kinder“ (ei­ Team einer außergewöhnlichen Mis­
gene hat sie nicht) und das Studio sion verschrieben hat.
spöttisch als „unser Königreich“. Man
Eine Frau, die während der Nach­
richtensendung auf dem Bildschirm
aus Weißrussland berichtet, kommt
LETTLAND
mir irgendwie bekannt vor. „Gut mög­
lich“, meint Romaszewska. „Sicher
RUSSLAND
LITAUEN
haben Sie auf dem Weg ins Studio ihr
Foto
an der Pinnwand gesehen. Es
Minsk
zeigt, wie sie bei einer Demonstration
gegen Lukaschenko von seinen Scher­
WEISSRUSSLAND
Warschau
gen misshandelt wird – und trotzdem
arbeitet sie noch für uns.“
„Wir haben mehr als 100 freiberuf­
POLEN
liche Mitarbeiter, die an acht ver­
UKRAINE
schiedenen Standorten in Weißruss­
land für uns arbeiten – ein ganzes
Der Binnenstaat Weißrussland
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Netz“, berichtet Romaszewska. „Da­
mit wir das spüren, müssten schon 20
oder 30 Leute inhaftiert werden, und
selbst dann würden wir von hier, von
Warschau aus, weiter senden.“
Die Zahl der Satellitenschüsseln hat
sich vervierfacht, seit der Kanal auf
Sendung ist. Mittlerweile verfolgen
rund 20 Prozent der weißrussischen
Haushalte den in weißrussischer
Sprache ausgestrahlten Sender Belsat.
Durch YouTube ist seine Reichweite
sogar noch größer.
Theoretisch könnte Lukaschenko
die Antennen von den Dächern reißen
lassen oder durch hohe Besteuerung
unbezahlbar machen. „Das haben sie
anfangs auch versucht“, erzählt Ro­
maszewska mit einem flüchtigen Lä­
cheln. „Doch wenn er die Schüsseln
abmontiert, nimmt er den Menschen
auch den Zugang zu Kanälen wie Eu­
rosport, und es ist nun einmal sehr
gefährlich für einen Diktator, seinem
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Volk die Unterhaltung zu verweigern.
Deshalb hat er es aufgegeben.“
S
eit Generationen engagiert sich
Romaszewskas Familie schon
im Kampf gegen autokratische
Regierungen. Eine ihrer Großmütter
hatte am Warschauer Aufstand gegen
die Nazis teilgenommen, die andere
war in einem deutschen Konzentrati­
onslager verschwunden. Ihre Urgroß­
mutter gründete in Zakopane in den
Bergen Südpolens 1911 die erste ge­
meinsame Schule für Jungen und
Mädchen – nach ihrer Rückkehr aus
dem Exil, in das sie hatte gehen müs­
sen, weil sie aufrührerische Traktate
verbreitet hatte, die sie ins Land ge­
schmuggelt hatte.
Ihre Eltern, Zofia und Zbigniew Ro­
maszewski, waren Mitglieder des ab­
weichlerischen Komitees zur Vertei­
digung der Arbeiter (KOR), eines der
intellektuellen Zentren der Opposi­
tion. Als General Wojciech Jaruzelski
am 13. Dezember 1981 in Polen das
Kriegsrecht ausrief, standen ihre El­
tern ganz oben auf der Liste derer, die
zusammengetrieben und interniert
werden sollten.
Der Zufall wollte es, dass nur die
damals 19-jährige Agnieszka zu Hause
war, als die Polizei an jenem Abend
vor der Tür stand. Ihre Mutter war auf
der Geburtstagsfeier von Freunden,
ihr Vater in Danzig. Der Polizist
schaute auf seine Liste, fragte, ob sie
Zofia Romaszewska sei, und erklärte
– offensichtlich beflissen, seine Ver­
haftungsquote zu erfüllen: „Sie tun’s
auch.“ Dann führte er sie ab.
Reader ’s Digest 02/13
Die Geschichtsstudentin war in ei­ zittern.‘ Darauf sagte ich: ‚Ja, ich bin
ner der Gewerkschaft Solidarność nervös, aber ich werde das trotzdem
angeschlossenen unabhängigen Stu­ nicht unterschreiben.‘ Da begriff ich:
dentengewerkschaft aktiv. Ihr Ver­ Selbst wenn ich Todesangst hatte, egal
lobter Jarosław Guzy – heute ihr Ehe­ was kam, ich konnte immer noch Nein
mann und erfolgreicher Anlagebera­ sagen. ‚Ihr könnt mich töten‘, erklärte
ter – leitete die Studentengewerkschaft ich ihm, ‚aber unterschreiben werde
und wurde in jener Nacht ebenfalls ich das trotzdem nicht.‘“
verhaftet, was Agnieszka aber nicht
Heute bekennt sie, dass sie niemals
wusste. Guzy kam ins Gefängnis im unterzeichnet hätte – aus einem ganz
Warschauer Stadtteil Białołe˛ka. Ro­ einfachen Grund: Sie hätte ihrem Va­
maszewska wurde nach Goldap ver­ ter sonst nie wieder in die Augen
frachtet, in ein entlegenes Inter­- schauen können. Als sie, ihr Verlobter
nierungslager, und dort in einem un­ und ihre Eltern schließlich freigelas­
gewöhnlich kalten Winter fünf sen wurden, merkten sie, dass sie un­
Monate lang gefangen gehalten.
ter ständiger Beobachtung durch die
So nah wie in jenem Lager,
das an der damaligen Grenze
zur Sowjet­union lag, war sie
Weißrussland zuvor nie gekom­
men. Nach außen hin wirkte sie
gefasst und schien sich mit ei­
ner Bestrafung abzufinden. Im
Inneren aber zerfraßen sie Sor­
gen um ihre Eltern. Ihr war klar, dass Geheimpolizei standen. „Das hat uns
sie entweder festgesetzt oder auf der zusammengeschweißt“, berichtet sie.
Flucht waren. „Es war kalt, und mir
war elend“, erinnert sie sich. Das war
ach dem Zusammenbruch des
ihre erste richtige Bewährungsprobe
Kommunismus 1989 wurde
als Widerstandskämpferin im Einsatz
Romaszewska Journalistin. Sie
– als Gegnerin der Diktatur.
machte sich einen Namen als Kriegs­
„Ein Polizist im Lager verlangte, berichterstatterin auf dem Balkan und
dass ich eine Loyalitätserklärung für war als offizielle Wahlbeobachterin
das Regime unterzeichnen sollte, und im Kosovo, in Aserbaidschan und in
begann gleich, sie mir zu diktieren. anderen Krisenherden tätig. „Ärger
Ich schrieb alles auf. Dann blaffte er: gehört zu Aga wie das Pferd zur Kut­
‚Unterschreiben!‘“ Die Erinnerung da­ sche“, erzählt einer ihrer engen Weg­
ran erschüttert Romaszewska sicht­ gefährten aus Solidarność-Tagen.
lich. „Ich erwiderte: ‚Nein, das sind
Doch es war Weißrussland, mit
nicht meine Worte.‘ Er entgegnete: dem sie sich bald immer intensiver
‚Sie sind ja so nervös, dass Ihre Hände beschäftigte. Hellhörig geworden war
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Mit 19 Jahren wird
Romaszewska in ein
Internierungslager
verfrachtet
N
FOTO: © GETTY
Alexander
Lukaschenko,
Präsident
der Republik
Belarus
sie vor knapp zehn Jahren wegen der
Verfolgung der 300 000 Angehörigen
der polnischsprachigen Minderheit.
Ihre Berichte im polnischen Staats­
fernsehen über die Regierung Luka­
schenko machten sie in Weißrussland
bekannt. So bekannt, dass das Regime
ihre Sendungen unterband. Stattdes­
sen musste sie auf heimlich gefilmtes
Material zurückgreifen, das nach Po­
len geschmuggelt wurde.
Ihr Traum, ordnungsgemäß akkre­
ditierte Korrespondentin des pol­
nischen Fernsehens in Minsk zu wer­
Belsat TV muss
auf heimlich
gefilmtes Material
zurückgreifen
den, schien im Jahr 2005 Wirklichkeit
zu werden. „Doch schon bei der An­
kunft am Flug­hafen wurde ich aus
dem Verkehr gezogen. Sie hielten
mich 24 Stunden lang in einem klei­
nen Büro fest und wiesen mich dann
aus“, berichtet Romaszewska.
I
hre Leistung beim Aufbau eines un­
abhängigen Fernsehsenders wird
von vielen anerkannt, die sich für
die Sicherung der Menschenrechte im
postkommunistischen Osteuropa ein­
setzen. Sie beschaffte Mittel vom pol­
nischen Außenministerium, vom pol­
nischen Fernsehen, aus Schweden,
Norwegen und Holland. Sie hat nicht
nur Korrespondenten in Polen und
Weißrussland stationiert, sondern
auch in London, Brüssel, Prag und
Moskau. Mike Harris, leitender Mitar­
beiter der britischen Organisation In­
dex on Censorship, die für freie Mei­
nungsäußerung eintritt, kommentiert:
„Es ist so wichtig, dass der Sender von
Weißrussen geleitet wird, nicht von
der BBC oder Voice of America.“
Mads Meinert vom Nordischen Mi­
nisterrat, der den Sender seit 2009
unterstützt, bekräftigt das. „Belsat ist
der einzige Fernsehsender, der in
Weißrussland als Gegengewicht zur
staatlichen Propaganda Nachrich­
ten und andere Sendungen aus­
strahlt“, erklärt er. „Ich befürworte
die Ernennung von Agnieszka Ro­
maszewska zur Europäerin des Jah­
res voll und ganz.“ Und US-Präsi­
dent
Barack Obama weckte in einer Rede
die Hoffnung, dass sich das Fernseh­
projekt seine weitere Finanzierung
sichern kann – nicht nur mit Geld aus
der Europäischen Union, sondern
auch aus den USA.
„Wir müssen das als Investition in
die Zukunft betrachten, nicht als läs­
tigen Aufwand“, sagt Romaszewska
mitten in ihrer aus allen Nähten plat­
zenden, engagierten Nachrichten­
redaktion mit Minibudget. Wie diese
Zukunft aussieht? „Wie ein freies de­
mokratisches europäisches Nachbar­
land – ohne Lukaschenko.“
Wer Kritik übel nimmt, hat etwas zu verbergen. H. Schmidt, Bundeskanzler a. D.
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Reader’s Digest 02/13